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Esther Bahne (München)



Die Ranken des 'Nachtgewächses':
Djuna Barnes' modernistischer Rekurs auf die Ästhetik des Grotesken



Nightwood Entwining Itself: Djuna Barnes' Modernist Appeal to the Aesthetics of the Grotesque
Despite its obvious employment of literary strategies used by modernist avantgarde texts, Djuna Barnes's "Nightwood" has been considered by critics as a category of its own – and as artistically flawed. Barnes's impossible narration makes it hard to place her, yet a closer look reveals that there is an organizing principle behind the text: the figure of the grotesque and its aesthetics. Using Andrew Field's approach to "Nightwood" as a grotesque text as a starting point, the paper will demonstrate Barnes's effective use of the grotesque as her central literary strategy and organizing figure. This not only includes the dimensions of plot, narrative and character but also, on a more abstract level, the self-referential 'ornaments' and stylistic 'grotesqueries' of the text itself. The lasting irritation of "Nightwood" is the effect of Barnes's consequent and relentless use of the aesthetics of the grotesque, as the textual realization of the confrontation and the shock of modernity.



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Djuna Barnes "Nightwood" gilt als eines der 'notorisch schwierigen Werke' der Moderne. 1 Die (spärlichen) Kritiken vom Erscheinungsdatum bis heute sind sich vor allem über die Problematik seiner Rezeption einig: die Disparität oder, negativer, 'Unstrukturiertheit' des Textes, die Hybridität unterschiedlichster Stile und die Rätselhaftigkeit des elaborierten, bildhaften Ausdrucks. Frühe Rezeptionen lehnen das Werk zum Großteil als 'unverständlich' ab.2 Wenn überhaupt, beschäftigt man sich mit der 'Tragik' der Handlung und stößt sich an der Darstellung von 'Perversität'.3 Nachhaltig beeinflusst durch Eliots einleitende Worte kommt der auffälligen Erzählweise des Romans (über die Anerkennung seiner 'poetischen' Leistung hinaus) dabei lange keine Aufmerksamkeit zu.4 Erst vierzig Jahre später wird "Nightwood" als experimenteller, fragmentarischer Text wieder entdeckt; vor allem feministische Studien analysieren das Werk auf seine Dekonstruktion von Sprache und binärer Kategorien hin.

Doch auch über diesen neuen Ansatz scheint der 'idiosynkratische' Text nicht in der Kategorie 'modernistisch' aufzugehen: "Nightwood" wird ein eigenes Paradigma innerhalb der Moderne eingeräumt. "(It) shared (its) signatures with the avantgarde" (Gerstenberger 1989: 130), bedient sich jedoch eines Stils, der auf irritierende Weise nicht nur 'unmodern', sondern geradezu altertümlich wirkt.5 Kannenstine, der sich ebenfalls an der Unzeitgemäßheit der prototypischen expatriate gestoßen hatte, löst den Widerspruch für sich in der Schlussfolgerung auf, Barnes finde zu ihrer modernen Stimme "by a new application of abandoned traditions" (Kannenstine 1977: 21).




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Tatsächlich kann er letztere jedoch weder benennen noch die Vorgehensweise der Autorin spezifizieren und scheitert damit selbst an jener Frage, auf die die Kritiken immer wieder zurückfallen: "It is precisely Barnes's relation to literary tradition that so troubles assessments of her work: readers do not know where to 'place' her." (Benstock 1986: 242)

Eine Antwort auf diese Problematik versucht diese Untersuchung zu leisten, und sie findet für ihre Lesart einen Vorläufer in einem Ansatz von Andrew Field. In seiner Beurteilung Djuna Barnes' als "a modernist and an ancient" sucht Field den so tief empfundenen Widerstreit zwischen Avantgarde und Anachronismus in "Nightwood" nicht aufzulösen, sondern als inhärente Spannung einer bewusst verwendeten, traditionalen Ästhetik zu deuten. Mit Blick auf Barnes 'malerhaften Stil' und 'verbale Ornamentalisierung' merkt er an: "The unifying principle (of her work) can best be defined in the fundamental meanings of the word 'grotesque'" (Field 1983: 33).

Der Begriff des Grotesken, der auch dieser Arbeit zugrunde liegt, leitet sich aus der in der Renaissance wiederentdeckten und -belebten antiken Ornamentkunst ab. Die Rankenbilder dieser Kunst, die Menschen, Tiere und Pflanzen, Figürliches und Nichtfigürliches zusammenflicken, zeichnen sich aus durch die Verletzung der Ordnungen (der Natur und der Repräsentation) und die Selbst-Referenz der Werke auf ihre eigene Künstlichkeit und Gemachtheit und zugleich ihre Unergründlichkeit.6 Diese Eigenschaften stellen diese Renaissance-Kunst tatsächlich in die unmittelbare Nähe der Kunst und Literatur der Moderne.

Die Theoretisierung des Grotesken als Ästhetik erfolgte über die Beschreibung der "Seltsamkeit und Mannigfaltigkeit" (Chastel 1997: 7) dieser Manifestationen hinaus vor allem über die disruptive Wirkung des Grotesken auf den Rezipienten. Der Betrachter sieht sich urplötzlich mit dem Absonderlichen und Uneindeutigen konfrontiert, in das sich das Bekannte und Sichergeglaubte verkehrt. Er reagiert mit einem Gemisch widersprüchlicher Gefühle, die sich zwischen verwirrter Amüsiertheit auf der einen und Beklemmung und Beunruhigung auf der anderen Seite bewegen. Die Pole dieser Spannung erfuhren durch die einzelnen Theoretiker gerade auch im Zuge ihrer Übertragung auf die Literatur unterschiedliche Gewichtung.

Wolfgang Kayser verstand das Groteske als düstere, beklemmende Grundqualität, die er vor allem in modernistischen Texten (aber auch in romantischen Werken als deren impliziten Vorläufern) identifizierte.7 Dagegen verwies Michail Bachtin auf die Komik, die im Gestus des grotesken Ordnungsverstoßes durch Verzerrung und Absurdität liege.8 Dabei leitete er entgegen der weithin etablierten Etymologie diesen Gestus nicht aus den 'Grotten'-Malereien, sondern aus der Tradition der volkstümlichen Karnevalskultur ab, und belegte seine Motivik anhand des rinascimentalen Werkes Rabelais' (das Barnes sehr bewunderte).9




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In neueren Arbeiten wie bspw. von Bernard McElroy wird betont beiden Aspekten des Grotesken10 "the fearsome and the playful"11 Rechnung getragen, als Ausdruck ihrer grundlegenden Doppelheit – ein Verständnis, das diese Arbeit übernimmt. Dennoch bewahrheitet sich in "Nightwood", was Kayser als Ausdruck der generellen 'Krise' der Moderne deutet: In Barnes nächtlicher Welt kippt die Balance der Ästhetik hin zu einer Dominanz des Düsteren und zuweilen Monströsen, und so fügt sich das Werk dem Vokabular des Unheimlichen, Schockierenden weit besser als dem des 'befreienden Lachens'.

Das 'Prinzip' des Grotesken bringt Field selbst nicht in einer Analyse des Textes zur Anwendung; nach der Entwicklung seines Argumentes auf weniger als einer Seite kommt er nicht mehr darauf zurück. Als später einzelne feministische Kritiken des Werkes, wie die von Sheryl Stevenson, auf das Groteske rekurrieren, konzentrieren sie sich weitgehend auf Barnes Darstellung von grotesken Körpern.12 Sie wagen sich dabei aber nicht an die 'Ornamentalisierung', die Field erwähnt, und unternehmen nicht den Versuch einer Einordnung des gesamten Werkes.

Dagegen möchte ich anhand ausgewählter Teile von "Nightwood" den Versuch unternehmen, den Fieldschen Ansatz in einer ganzheitlichen Betrachtung des Textes umzusetzen. Das Groteske soll dabei als ästhetische Grundlage sowohl der ornamentalen 'Stil'- als auch der Darstellungs-Ebene verstanden werden. In ihrem 'schwierigen Werk', so lautet die Hypothese, bedient sich Barnes spezifischer grotesker Verfahren, die sich grob danach differenzieren lassen, ob sie über groteske Figuren funktionieren, über groteske Situationen (in die die Figuren eingebunden werden), oder ob der Text auf abstrakterer Ebene über ornamentale, d.h. komplexe, non-lineare und selbst-referentielle Strukturen arbeitet. In der Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Ebenen der 'grotesken Schreibweise' zielt diese Untersuchung jedoch nicht auf eine eindeutige analytische Trennung. Entsprechend der Symptomatik des Grotesken können diese Verfahren nie separat voneinander stehen, sondern verschränken sich, wirken durch- und ineinander – gerade auch über die Dimensionen der Darstellungs-/Handlungs- und der Erzählebene hinweg. Enthalten bleibt hierbei die Fragestellung, ob das Groteske in der Tat als eine Art "unifying principle" zu fungieren vermag, das die Bewertung "Nightwoods" als "not [...] well-wrought" (Benstock 1986: 265) widerlegt: eine Überlegung, die in der Schlussbetrachtung dieser Arbeit noch einmal aufgenommen wird.

In Annäherung an den Text werden im Folgenden zwei Kapitel von "Nightwood", die beide bei den Rezipienten des Werkes besonderen Widerspruch auslösten, exemplarisch 'im Lichte des Grotesken' betrachtet. "Bow Down" erschien dem Großteil der Kritiker, angeführt von Eliot, als dem weiteren Werk nicht zuträglich:13 sie bewerteten dieses erste Kapitel als 'Anti-Einleitung',14 die sprachlich, stilistisch und thematisch in Widerspruch zum Gesamttext stehe. Von "Watchman, what of the Night?" versprachen sich die Leser Aufklärung über die komplexen Verwicklungen der Handlung und warteten auf die 'Philosophie' der Autorin, wie Barnes kritische Freundin Emily Coleman es ausdrückte.15 Stattdessen setzte ihnen Barnes einen so ausufernden wie rätselhaften Monolog vor, dessen 'Philosophie der Nacht' die Geschichte gänzlich verdunkelte. Postuliert wird, dass die Brüche und Enttäuschungen der Leser-Erwartungen in diesen Kapiteln nicht nur 'gewollte' Verrätselung eines idiosynkratischen Textes darstellen, wie die neueren Kritiken einräumen; vielmehr wird hier davon ausgegangen, dass diese 'Irritationen' Vehikel der "Inhalte und Strukturen" und Medien der "Schaffenshaltung" (Kayser 1960: 133) der Autorin und Generatoren der beabsichtigten "Wirkungen"sind – entsprechend den Implikationen der ästhetischen Kategorie des Grotesken, auf die sich das Werk stützt.




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2 Bow Down

2.1 Die Vorgeschichte

Barnes beginnt ihr Werk als Simia eines historischen Romans.16 Auf sechs-einhalb Seiten präsentiert (erzählt) sie die Geschichte Guidos, des jüdischen Außenseiters, der verzweifelt um Anpassung und Einfügung in eine Welt ringt, deren Ordnung ihm fremd ist – und unzugänglich bleibt.

Der eigentlichen Handlung des Werkes, den Verwicklungen der zentralen Charaktere in der Zeit um 1920, vorangestellt, entstammt diese 'Vorgeschichte' der Generation der Vor-Moderne. Schon Eliot erschien sie irrelevant für die folgenden Geschehnisse, beleuchtet sie doch lediglich die biographische Herkunft von Felix, nur einer der zentralen Figuren. Tatsächlich jedoch führt diese 'Vorgeschichte' hin zu eben jenem Verlust an Einheit und Ordnung, der das Schicksal der modernen Welt "Nightwoods" bestimmen wird und verbildlicht die Verkehrung zum Grotesken.

Der Rückblick zu Felix Eltern, für Felix selbst das letzte Fragment einer "exact history" (7),17 demonstriert zunächst keine modernistischen Techniken. Hier wird nicht nur der narrative Stil einer traditionellen, geschlossenen Erzählung gewahrt, vielmehr wirkt die Sprache geradezu altertümlich, überladen mit detaillreichen Ausschmückungen. Doch diese 'poetische' Bildhaftigkeit birgt bereits etwas Unbehagliches, das die 'normale' mimetische Narration überschreitet: Sie verliert sich im Exzess. In Guidos "racial memories" (2) verkompliziert sich die Satzstruktur, zahllose Nebensätze blockieren den eigentlichen Hauptsatz und erschweren das Lesen, bis der Ausgangspunkt verloren zu gehen droht. Die an sich bereits eloquente Beschreibung des Ereignisses, mit der der Text beginnt, die Niederkunft Hedvigs, wird unterbrochen von der ausufernden Visualisierung Hedvigs als arrangierte Figur (1). Bilder und Exkurse wuchern, obstruieren die Linearität der Abfolge zugunsten der Details. Die Sprache steigert sich ins Ornamentale und betritt so den Boden des Grotesken.

"As an aesthetic category, the grotesque is physical, predominantly visual" konstatiert McElroy (1989: 6). Die unmittelbarste Wirkung des Grotesken liegt auch in Bow Down im visualisierbaren, 'lebendigen' Verstoß gegen die Norm: der materialisierten Verfremdung durch die Darstellung grotesker Szenen und v.a. Figuren. Dabei gehorcht die gegenständliche, figürliche Ebene des Grotesken den gleichen (Anti-)Regeln und (Gegen-)Prinzipien wie die strukturelle Ebene.

Das Ungleichgewicht des Grotesken, von dem auf der strukturellen Ebene die 'Maßlosigkeit' der ornamentalen Sprache zeugt,18 charakterisiert auch die Figuren in "Nightwood". Guido, zunächst als extravaganter, prätentiöser "gourmet and [...] dandy" eingeführt, erscheint vor allem in der Beschreibung seines übermäßig dicken Körpers verzerrt. Die gesamte Figur reduziert sich auf einen hervorquellenden Bauch, das heißt die niederen Partien: nach Bachtin eine Erniedrigung des Menschen zum rein Materiellen, das keinen Platz für das Geistig-Spirituelle lässt.19 Das Bild des Fettleibigen gleitet ins Unmenschliche ab. Die verbindende Analogie zur Frucht lässt den Mann in diese übergehen: er wird zur Frucht – sein Innerstes als Füllung aus "heavy rounds of burgundy, schlagsahne and beer" (1).




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Die Herabsetzung der Figur setzt sich in ihrer Unvereinbarkeit mit ihrer Umgebung, ihrem Versagen vor der geltenden Ordnung fort. Guidos Charakter (wie auch die Charaktere der Generation der Moderne) verliert sich in Selbst-Erniedrigung und scheitert offenbar in jenem ungleichen Kampf zwischen Welt und Selbst, den McElroy als die zentrale Spannung des Grotesken bezeichnet.20 Guido begreift sich selbst als "victim" aufgrund der "degradation" (2) seines Volkes durch die Christen vor 400 Jahren im römischen Corso. Aus dieser 'historischen' Demütigung schöpft er auf perverse Art "remorseless homage" (2) für die Ausbeuter. Die groteske Figur, nach McElroy "the humilated man" (McElroy 1989: 22), unterwirft sich der dominanten Kultur und ihrer strikten hierarchischen Ordnung, die ihn ausschließt. In jener Bewegung nach unten, die der Titel des Kapitels andeutet, geht Guido vor ihr wie ein Tier zu Boden.21

Die 'Perversität' dieser Szenerie zwingt jedoch nicht nur Guido in die Rolle des Opfers, sondern wendet sich in typischer grotesker Gleichzeitigkeit auch gegen den Beobachter.22 Unmenschlich, tierisch erscheinen auch die edlen Zuschauer auf den Rängen des Amphitheaters. Dabei ist es ihre voyeuristische Rolle, die die Identifikation mit einem weiteren Teilnehmer an der 'Geschichte' aufruft: die des Lesers. Er selbst fühlt sich in jenen paradoxen "cold yet hysterical abandon" (2) der Zuschauer dieses antiken Spektakels hineingezogen, das die früheste Form jenes Zirkusses darstellt, der später die Generation der Moderne fasziniert. Sich selbst in einem "fine flicker of perverse glee" ertappend (McElroy 1989: 16), ist er zugleich abgestoßen und angezogen von den Bildern des Grotesken.23

Diese gegenläufige und widersprüchliche Wirkung der grotesken Ästhetik setzt sich auch innerhalb des Handlungsgefüges der Geschichte fort. Auch Guidos Frau reagiert verunsichert angesichts der abnormen Gestalt und Zerrissenheit ihres Mannes. In ihr suchte der Jude italienischer Abstammung, "heavy with impermissible blood" (3), die Verbindung zum Reinen. Sie stellt in befremdlichem cross-gender-Kontrast zu seiner Schwäche und Melancholie sein Ideal der männlichen Kraft dar. Doch auch ihre Figur hat im grotesken Gesamtbild keinen Bestand, sondern verwandelt sich ebenfalls in etwas Unmenschliches. Hedvig verschmilzt mit der militaristischen Wiener Ordnung: Unter ihren Füßen wird der Tanzboden zum "tactical manoeuvre" (4); der Rhythmus des Walzers, gespielt "in the duelling manner" (5), entspricht dem Puls ihres Blutes. Während Guidos burleske Zeichnung ihn in die Nähe der Figuren Rabelais stellt, erscheint die Vertreterin des gesellschaftlichen Ideals 'unheimlich',24 in absurd-beängstigender Verkehrung "as sinister [...] as a doll's house" (4).

Spätestens über dieses Motiv der entmenschlichten Puppenfigur und vor allem des düsteren Hauses Guido und Hedvig Volkbeins wird die Nähe des Textes zur grotesken Schauergeschichte der Romantik deutlich:25 Die überladene, exotische Dekoration der Zimmer, in deren Beschreibung sich die Erzählung ergeht, könnten jene des Brautzimmers von Poes "Ligeia" sein, phantasiert vom Meister des "Grotesque and Arabesque" selbst.26 Wie Poes Erzähler erschafft Guido um seine Geliebte "a fantastic museum of their encounter" (5): Er versucht, den Moment zu bannen, in dem es ihm möglich erschien "to be one with her" (3). Das Subjekt, das in sich selbst gespalten und sich seiner eigenen Identität nicht mehr sicher ist, sucht hier projektiv nach einer Einheit mit und durch den Anderen. Unvereinbar mit seiner Welt und deren "alien" "constituents" (3),27 bemüht sich Guido um eine integrative, gesellschaftsfähige Identität – ein einstudierter Akt, der zur "saddest and most futile gesture of all" (3) wird: der Imitation. Guido schafft sich ein fiktives Ich und wird damit selbst künstlich – in direkter Verkörperung der Widernatürlichkeit der grotesken Malereien. Unter der Fiktion (dem 'Baron') bleibt, wie in den einzelne Teile collagenhaft zusammenzwingenden Ornamenten, auch sein Ursprung darunter deutlich sichtbar für jeden,28 "(who) cared to look" (7).




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In typisch grotesker Dopplung stützt sich Guido mit seiner "pretence" (3) zugleich auf einen weiteren fiktiven Akt (von tatsächlich professionellen pretenders): die Porträts seines "claim to father and mother" sind ihrerseits die von Schauspielern und sehen ihm – dem grotesken Kontingenzprinzip entsprechend – rein zufällig ähnlich. Wie in Guidos Maskierung werden in diesen Bildern "the Romantic and the Religious"(6), der Adel und das Christentum, als bloße Pose entwertet. Damit bereiten diese absurden Gemälde den Boden der grotesken Welt von "Nightwood". Ihre pretence einer Ordnung, gegründet auf soziale Hierarchie, religiöse Wahrheit und das erhabene Subjekt der Romantik, ist das einzige Erbe Guidos: Seine moderne Generation, so die Implikation, findet sich in einer Welt bar jeder sicheren, 'realen' Grundlage wieder.


2.2 Der Bruch zur Moderne: "old wives' tales"

Die alte Welt von 1880 wirkt befremdlich, düster, unheimlich – doch sie existiert noch in einem festen Rahmen. Guidos ideale Werte wie auch seine Selbstwahrnehmung entspringen einer Ordnung, derer er sicher ist. Erst im 'Rückblick', d.h. in der Rezeption durch den modernen Leser, weitet sich die Perversion, vor allem aber auch die Willkür der grotesken Identität Guidos auf die Ordnung selbst aus.

Jäh und unvermittelt beendet Barnes die Erzählung Guidos und zugleich die scheinbar konventionelle, mimetische Narration. Von einem Satz zum anderen findet sich der Leser in die moderne Gegenwart katapultiert und muss gemeinsam mit Felix realisieren, dass von den alten Grand Narrativesnichts als Fiktionen bleiben.29 Barnes entlarvt ihre komplexe "Geschichte", im doppelten Sinne von Historie und Erzählung, im Nachhinein als von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. Die Schilderung der Erfindung einer "story" (3) durch die Hauptfigur entpuppt sich in einer weiteren Schleife als Ammenmärchen, das Felix von seiner Tante erzählt wird (die selbst möglicherweise dem fiktiven väterlichen Stammbaum entstammt) (7). Nach diesem Bruch kann Kontinuität, sowohl für die Figuren als Erben der Vergangenheit als auch für die Narrativik selbst, nur noch Fortführung der Fiktionen bedeuten. Die Stabilität einer 'Wahrheit', von "knowledge" und "facts" löst sich auf, und an ihre Stelle tritt die Willkür der Auslegung, desdesigns. Diese ('moderne') Realitätskonstruktion wird zum einen im Handeln der Charaktere deutlich: so durch Felix, der das Märchen zu seiner "exact history" (7) macht und die Lüge seines Vaters zu seiner Identität. Zum anderen stellt sich die Phantasie der Erzählerin selbst als Gestaltungsprinzip aus.30 Das Groteske des Textes beschränkt sich damit nicht auf die Wirkung seiner Verfahren, sondern verweist selbst-referentiell auf diese zurück. Der Leser wird sich der Stimme der Erzählerin bewusst, die in Kommentaren und Exkursen spürbar bleiben wird, bis sie die Stimme des Doctors ablöst.31 Das Nicht-Mimetische mischt sich mit dem Mimetischen in einer Dopplung, die den Leser jedoch zunächst auf den Spuren der Handlung belässt.

So folgt er der Beschreibung von Felix, den die Stimme der Erzählerin in auffälligem Rekurs auf die mystische Sprache des Märchens selbst als phantastische, fiktive Figur kennzeichnet.32 Ihm, der sich wie sein Vater über die – jüdische – Geschichte zu konstruieren sucht, wird diese Identität von anderen zugeschnitten: in Aberglauben, Vorurteilen und in stigmatisierender Interpretation durch die dominante Rasse.33 Der Volksmund verwandelt ihn in eine legendäre Erscheinung, "the wandering Jew".34 Wie der archetypische Doppelgänger der Romantik löst er sich in unheimliche Obskurität auf: "the Jew seems to be everywhere from nowhere". Dieser Auflösung steht die berechnende (Ver-)Formung durch die Christen gegenüber, die die "history" der Anderen qua eigenmächtiger, beliebiger Bedeutungszuschreibung zu ihrer "commodity" (10) machen.




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Über die Figur Felix tritt die Autorin also in einen Metadiskurs über das Erzählen als Sinnschöpfung ein, der jeden Unterschied zwischen Fiktion und 'Wahrheit' nivelliert und die 'Fakten' von "edicts and "laws" mit "folk story and heresy [...] and old wives' tales" undistinguierbar vermischt. Zugleich findet diese Vermengung auch auf figürlicher Ebene statt: Ganz Erbe seines Vaters gerät Felix in seinem Erscheinungsbild ins Ungleichgewicht. Er selbst wie seine Kleidung wirkt immer und überall unpassend. Felix wird zur Figur des grotesken 'Dazwischen'.


2.3 Der Zirkus als Refugium der 'Freaks'

In "the great past" (9), die Felix zur Bessessenheit wird, war die Rolle jedes Einzelnen noch historisch und gesellschaftlich legitimiert – wenn auch (wie im Falle Guidos) als die des Elenden, des Erniedrigten. In der Gegenwart haben solche Ordnungen ihre Gültigkeit jedoch eingebüßt: Felix vermag sich in den überkommenen Identitätskategorien nicht einzuordnen, er überschreitet jede Kategorie. Scheinbar ständiger 'Aussenseiter' sucht er sich schließlich eine Welt, in der "the odd" (10) der Norm der Umgebung entspricht: den Zirkus. Das geschlossene Rund der Manege, aufgerufen bereits in der 'Vorgeschichte' und später Ort der Begegnung von Nora und Robin, wird zu dergrotesken Szenerie von "Nightwood". Hier mischt sich das Glitzernd-Glamouröse mit dem Gestank des Tierischen, schreiten Prinzessinen und Könige durch eine Welt des Moders. Felix findet hier innerhalb der modernen Gesellschaft eine Parallelwelt, die dem Anspruch der 'Rationalität' (als Dogma einer hierarchischen Ordnung) die Auslebung der "desires" (11) in einem "Pandämonium der Leidenschaften" entgegensetzt.35 Auch in Felix' Welt von 1920 noch verspricht dieses uralte "entertainment" (11) dem Besucher auf phantastisch bemalten Plakaten die "unmittelbare Begegnung mit dem Absonderlichen", "mit allen Schauern dieser Welt" (Schardt 1972: 1) – gebannt unter einer Zeltkuppel.

Gerade in dieser manifesten Begrenztheit bildet der Zirkus ein autonomes Reich, das als abgeschlossenes und selbst-referentielles System funktionieren kann, ohne zunächst die reale Ordnung zu tangieren. Die typischen 'Nummern' der Vorstellung und Rollen der Akteure verletzen die Naturgesetze: eine Principessa Stasera y Stasero vereint beide Geschlechter in ihrer Person, die Akrobaten handeln gegen die Gesetze der Schwerkraft, die Schwertschlucker besiegen die Verletzlichkeit ihrer Körper. Zugleich gehorchen diese unerklärlichen Phänomene ihren eigenen mysteriösen Regeln und bedienen sich einer eigenen ungeheuerlichen Sprache,36 welche die einzelnen Elemente zu einer Einheit verbindet. Das funktionsfreie Spektakel des Zirkus stellt sich selbst als groteskes Ganzes aus, das sich maßgeblich über seine Wirkung auf die Betrachter definiert: "The emotional spiral of the circus" (12), "mysterious and perplexing, [...] never so amazing as when it seems inappropriate" (11).

Der Zirkus hatte seit jeher seinen legitimen Platz innerhalb der Gesellschaft, denn alle absurden Manifestationen sind erklärbar als "falsification" (11) und werden damit harmlos.37 Barnes' Zirkuswelt jedoch entpuppt sich als wahrhaft monströs – denn die Masken fallen nicht mit dem Vorhang. Die Erscheinungen dieses Zirkusses sind "true freaks", deren Wesen die Grenzüberschreitung selbst ist.38 Der geschwungene Rücken der attraktiven Löwenbändigerin Nadja entpuppt sich als der schweifartige Übergang zum Tierischen, und auch der Körper der Duchess of Broadback kippt ins Monströse, sobald sie sich von ihrem Trapez löst. Ihre ungewöhnlichen "coquetries" scheinen sich aus ihrem Beruf abzuleiten, als "the specialized tension common to aerial workers": "something of the bar was in her wrists, the tan bark in her walk" (12).




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Doch der Vergleich wird zu weit getragen, die Metapher wird in der Figur realisiert: Die Frau verschmilzt mit Trapez und Kostüm. Das Design ihres Anzuges "ran through her as the design runs through hard holiday candies", ihr Schritt "was as solid, specialized and polished as oak"."The stuff of the tights was no longer a covering, it was herself" – und an die Stelle ihrer Menschlichkeit und Weiblichkeit tritt etwas anderes, "unsexed" und "alien" (13).

Unter der fiktiven entertainment-Identität, so entlarvt der zweite, 'wahre' Name der Duchess of Broadback, Frau Mann, verbirgt sich die Deformation, "(altering) human identity or (suggesting) gross violation of the body's physical integrity" (McElroy 1989: 10). In grotesker Verkehrung der künstlichen Identität Guidos und seines Sohnes (die mit ihrer Fiktion Anspruch auf Realität erheben) rettet sich im Zirkus das nicht-sein-dürfende Reale in die Fiktion. Der außerkulturelle Rahmen dient diesen freaks als Tarnung; die 'realen' "beasts" (11) und das Spektakel der phantastischen Tricks lassen ihre groteske Identität weniger 'offensichtlich' erscheinen.39

Während die Zirkusleute ihre freakishness instrumentalisieren "to dazzle boys about town", und so eine Rolle im 'öffentlichen Leben' finden,40 verbleibt Felix "dazzle(d)" by "his own estrangement" (11). Tatsächlich ebenso absonderlich wie das umherziehende Volk, steht ihm dessen Überlebensstrategie nicht offen. In abruptem Zeitsprung und Ortswechsel nach Berlin versetzt, tritt Felix aus dieser Zuflucht hinaus in die 'reale' Welt der Moderne – die, bei 'Nacht' besehen, so verspricht die Führung durch die Duchess of Broadback/Frau Mann, nur eine Ausweitung des Grotesken bedeuten kann.


2.4 Aufbruch in die Nachtwelt: Der Doctor übernimmt das Wort

"Wir setzen an dieser Stelle über den Fluß", kündet Frau Mann "derisively" an (14), und markiert damit Felix wie auch für den Leser die Steigerung der grotesken Verfahren auf einer neuen Ebene – den Eintritt in die Nachtwelt, die "Nightwood" regiert. Ohne merklichen Übergang und ohne Beschreibung der Umstände, die ihn hierher brachten, findet sich der Leser in einem szenischen Erlebnisraum wieder, der Felix' Träumen entliehen zu sein scheint. Felix trifft auf eine Gesellschaft, die all seine Erwartungen an diesen Abend enttäuscht und durch eine gänzlich absurde Situation ersetzt. Anstelle des Gastgebers besetzt ein Mann von bizarrem Äußeren das Zentrum der Party. Jede Form des üblichen Small-talks unterbindend, hat Dr. Matthew O'Connor das Wort an sich gerissen. Mit dem Doctor führt Barnes an dieser Stelle das notwendige Gegengewicht des Grotesken zu der düsteren Welt von "Nightwood" und ihren teils monströsen Bewohnern ein: den absurden "comedy jester",41 der sich selbst als "the most amusing predicament" (15) bezeichnet.

The grotesque is in almost all cases composed of two elements, one ludicrous, the other fearful. [...] There are few grotesques [...] so fearful as absolutely to exclude all idea of jest. (Ruskin 1904: 151)

So wandeln sich über den Doctor an dieser Stelle jene grotesken Eigenschaften, die Felix zu einer abnormen, abschreckenden Gestalt machen (das überzogene Äußere, die Auflösung der Identität in Lüge und Fiktion) ins Absurd-Komische.42




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Die Rolle des jesters rückt den Doctor in die Nähe der Rabelaischen Groteske, deren karnevaleske Welt Bachtin zufolge durch den 'Narr' oder 'Possenreisser' angeführt wird. Er ersetzt Sinn durch Unsinn, stürzt das Hohe, Reine und Edle ins Niedere und Obszöne. Dabei bedient er sich eines charakteristischen Mediums: der schillernd-absurden Sprachgroteske.43 Barnes Doctor zieht in einem wilden Parcours bar jeden Respektes über die 'großen Themen', über Geschichte und Religion und das menschliche Schicksal her und vermischt blasphemisch das Heilige mit dem Schmutzigen und Schamlosen. In der Mélange seiner Diskurse klingt mal die dogmatische Stimme des Predigers, mal Straßen- oder Zirkusjargon durch.

Die Qualität des Alogischen44 und die Ausschläge ins Extreme, die den grotesken Sprachgebrauch Bachtin zufolge kennzeichnen, beschränken sich in "Nightwood" jedoch nicht auf "geäußerte Gedanken und Ansichten", sondern wirken auch an der Basis, den Strukturen der Sprache.45 Die groteske Rede des Doctors widersetzt sich jeder vernunftmäßigen Folge und widerspricht allen diskursiven Regeln der Argumentation. Seine disjunktive Gedankenführung unterbricht sich immer wieder selbst, lässt Absätze oder auch einzelne Sätze in einem anderen Sinnbereich enden, als der Anfang versprach. Auf augenfälligste Weise manifestiert sich hier die Verrätselung des Textes, die in allen Rezeptionen "Nightwoods" kommentiert wird: Des Doctors Sprachgroteske verwehrt Felix als Zuhörer wie auch dem Leser den direkten Zugriff auf eine Bedeutung.

Diese Praxis scheint den Text als prototypisch avantgardistisch zu kennzeichnen. Dennoch drängte sich diese Zuordnung selbst Eliot, dem 'Hohepriester' der Moderne, nicht auf. Dieses Gefühl der Diskrepanz lässt sich nun aus Barnes' besonderem Ansatz bei einer weit älteren Ästhetik erklären. Von Steins Sprachexperimenten etwa unterscheidet sich Barnes' Einsatz von Sprache wesentlich in seiner Wirkweise. Ihr Leser liest nicht im vollen Bewußtsein, Zeuge der Dekonstruktion von Sprache selbst zu werden: Er ist auf der Spur einer 'Geschichte', die er zu verstehen vermeint. Der groteske Text lässt den Betrachter glauben, er erkenne "die eigene Welt" – um ihn dann erstaunt und irritiert realisieren zu lassen, dass sich ihm diese zu entziehen beginnt.46 Zunehmend beunruhigt folgt der Leser den unerwarteten Verkehrungen und dem Abgleiten der Szene ins Unfassbare.


2.5 "Like water tumbling down": Die Situation entgleist

Das Gefühl des Lesers angesichts des Bildes der Partygesellschaft, die sich in 'parlamentarischer Haltung' (14) der abstrusen Gestalt des Doctors zuneigt, in einen Traum einzutauchen, wird durch des Doctors aggressive Ansprache zerstört. Das Gefühl des Auflösens des Bekannten aber setzt sich fort. Wie der Traum als konventionelles Stilmittel in der Literatur eingesetzt wird, um die geordnete Welt ins Wanken zu bringen, zielt dieser sich überstürzende Monolog auf die Zerstörung "(of) man's epic and tragic unity and his belief in identity and causality".47 Das ihm ausgesetzte Subjekt (Felix, aber auch der Leser) verliert die Kontrolle. Die groteske Szene des Abends verdammt Felix hilflos in die Rolle des Zuhörers. "Nothing could stop (the Doctor)", "interruption was quite useless" (15): Felix und mit ihm die Leser werden von seinem grotesken Spracherguss übermannt. Die Situation gerät aus dem Ruder und wird "somit als sich vollziehendes und nicht mehr vom Menschenverstand beherrschtes Geschehen sinnfällig" (Kayser 1960: 51).




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Das Versagen jeder Interaktion im Laufe dieses Abends äußert sich zum Teil in komischen Schlagabtauschen, die der Tradition des slapstick entlehnt sind. Es kommt zu wortwitzigen Mißverständnissen und Wiederholungskomik wie auch zu verzweifelten Einwürfen durch Felix,48 die der Doctor auf absurde Art abwehrt.49 Diese Komik geht jedoch auf Kosten des einflusslosen Opfers – und über Felix Beunruhigung erstickt das Lachen. Unaufhaltsam wie das Wasser aus "an overturned tumbler" (18) zerrinnt die Szene des Abends vor Felix Augen, löst sich in scheinbar gegenstandslose Sprache auf. "Are you both really saying what you mean, or are you just talking?"(18), fragt Nora Flood bei ihrem ersten Auftritt in "Nightwood", und spricht damit Felix wachsenden "distress" (19), seine Angst vor dem völligen Sinn- wie auch Kommunikationsverlust an.

In der Rabelaischen Tradition liegt in der Absurdität eine fröhliche Regelbefreiung, und tatsächlich bricht Felix in "uncontrollable laughter" aus. Dieses verkehrt sich jedoch augenblicklich in "something much worse", unbestimmbar und grausig, angesichts der schrecklichen Ahnung, dass "the cold [...] time crawling" (18), an die der Doctor erinnert, nichts entgegensteht als Leere. Auf diesen Ausbruch, erneut sich selbst demütigend und "deeply embarrassed" (18), folgt keinerlei Reaktion: "The company, instead of being silenced, went on as if nothing had happened" (18f).Das groteske Individuum ist inmitten der grotesken Gesellschaft isoliert, unfähig, in Kontakt zu treten – eine Situation, die die beängstigenden Geschichten Kafkas in Erinnerung ruft.50 Verzweifelt bemüht sich Felix um einen in geregelten Bahnen verlaufenden Austausch im Gespräch. Er versucht, des Doctors Abschweifungen zu reglementieren und auf ein kohärentes Thema, eine begreifliche Argumentationslinie zurückzuführen.51 Doch der Doctor entzieht sich jeder Geradlinigkeit, nutzt Felix' Einwände lediglich als Impulse für neue sprachliche Ranken. Damit löst sein grotesker Monolog nicht nur die Interaktionsstrukturen der Handlung auf, sondern greift die Erzählstrukturen selbst an.


2.6 Des Doctors groteskes Sprachornament

Den Sprung in die Moderne als dramatische Relativierung der alten Sicherheiten, den Barnes (als Schriftstellerin ihrer Zeit) bereits mit dem Bruch der 'Vorgeschichte' bedeutete, verwirklicht sie nun mittels des (grotesken) Sprachgebrauchs ihres Doctors, bricht mit alten Ordnungen. Die überkommenen Grand Narratives, Geschichte, Religion und ebenso die Narrativik selbst beruhen auf dem gleichen grundlegenden Strukturprinzip: Sie alle vermitteln den linearen Fortschritt und glauben an einen Telos. Dieser gesetzmäßigen Linearität entgegen verliert sich des Doctors Narration in einem undurchsichtigen Gemenge: An die Stelle eines absehbaren Zieles setzt er die Kontingenz. Zwar existieren zwischen den Motiven und Geschichten (lose und z.T. absurde) Verbindungen, doch liegt hierin keine logische Fortbewegung und es entwickelt sich keine These.

Die Autorin selbst stellt jegliche Sinnhaftigkeit des Monologs des Doctors in Abrede und betont, alles, was sie ausmache, seien Lautstärke und Betonung der "shorter early Saxon verbs" (15). Tatsächlich aber liegt in diesen Ausschweifungen mehr als die bloße Negation jeglichen Zugangs zur erfahr- und erkennbaren Welt, mehr also als die modernistische 'Dekonstruktion' des überkommenen Regelwerkes.




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Der Doctor löst Sprache nicht gänzlich auf, sondern führt den Leser im Durchlaufen der "Zwischenwelt" der Sprache auf unbekannten, unsicheren Boden.52 In seinen divergenten Episoden, auf bizarre Weise komisch, schauerlich und erschreckend, konfrontiert der Doctor den Leser mit bruchstückhaften Bildern, die sich in Kontrast und Divergenz zu einer sprachlichen Collage akkumulieren: dem heterogenen, zentrumslosen Ganzen einer grotesken Welt. "The painterly writer" (Field 1983: 33) kreiert ein phantastisches Ornament, unter dessen überzogenen, obszönen Verkehrungen sich dem Leser ein "untergründiger Bezug zur Wirklichkeit" (Kayser 1960: 23) aufdrängt.

"History [...] is deflowered" (15), so propagiert der Doctor mit der Eröffnung seines grotesken Sprachwerkes, es bleiben "only confusions" (22). In Konsequenz dieser Relativierung rüttelt er an allen Größen und Sicherheiten, an denen sich sein Zuhörer Felix und auch der Leser zu orientieren versuchen. In wahrer Rabelaischer Manier erfüllt er seine polemische jester-Rolle. "As a medical man", der in der Literatur der Zeit Rabelais' einem Weisen gleichkam,53 entblößt er den Menschen als nichts als Ansammlung niederer Organe, als des rein Geistigen nicht fähig und so auch nicht der tragischen Größe des "pure sorrow" (22). "You know what man really desires?" (20), fragt er Felix scherzhaft und schneidet dessen Antwort mit der provokanten Aufklärung ab, dass die edlen Werte der Menschen nichts als Selbstbetrug seien. Verächtlich verhöhnt der Doctor die Liebe als Lüge, die der Einzelne sucht, um der grotesken Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen.54 Nichts weiter sei die Religion, so polemisiert der Doctor weiter. In einem obszönen Vergleich Luthers mit einem perversen "old ram" stellt er dessen Hinfindung zu einem neuen Glauben als nichts als eine selbstgeschaffene Legende dar (20). Auch der Katholizismus ist nur eine weitere "story" (21), eine illusionäre Hoffnung auf eine höhere Macht, die das groteske Geflecht der Welt zu ordnen vermag: "Mischief unravels and the fine high hand of Heaven proffers the skein again, combed and forgiven" (21). Im Beichtstuhl endet das Märchen vom lieben Gott noch mit einem 'Ende gut, alles gut'.

"That is not man living in his moment, it is man living in his miracle" (21) – und aus diesem stößt ihn der Doctor unsanft, sucht zu irritieren und zu verunsichern. Zu diesem Zweck verlässt sich Barnes auch in der Sprachgroteske des Doctors vor allem auf die Zeichnung konkreter, visualisierbarer Figuren, die dem Leser einen grotesk verzerrten Spiegel vorhalten, und konfrontiert ihn mit lebendigen Szenen, die sich unvorhersehbar ins Bizarre wenden.55 Die Wirkung dieser Bilder ist dabei umso verstörender, weil sie nicht klar definierbar ist und ungreifbar zwischen Schrecken und bizarrer Komik changiert: "The horrible becomes more vivid precisely because we are not being called upon for a conventional response" (McElroy 1989: 20).

So entwirft der Doctor den schauerlichen und ernsthaft bedrohlichen Henker, der bizarrer Weise fragile rote Nelken liebt, um die Geschichte dann durch seine geradezu albernen, überzogenen Kommentare für den Leser völlig undurchschaubar zu machen.56 Seine Kriegsanekdote wendet sich in menschliches Leid verachtende Profanität und lässt die Szene zuletzt wie Wasser zerrinnen: Die Oberfläche des Sicht- und Erklärbaren zerreißt, Materie bleibt in unfassbarer Gleichzeitigkeit unbewegt und verschwindet dabei in eine andere Dimension. Der Leser blickt beunruhigt auf "directions and speeds that no one has calculated" (22).




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Mit der Figur Mademoiselle Basquettes, "a girl without legs, build like a medieval abuse", verbildlicht der Doctor dann seinen provokanten Kommentar über den menschlichen Hang zum Selbstbetrug: Die Geschichte des entstellten Monstrums, abartig und "fearful to see", entpuppt sich als die groteske Verkehrung der konventionellen Geschichte der tragischen Liebe (26). Ihre Moral, in ein absurdes symbolistisches Bild verpackt, richtet sich gegen den bewertenden Leser selbst – eine bizarr komische Wende des Doctors, der Frau Mann applaudiert – das eigentlich Fatale des makabren Schicksals des Fräuleins ist das illusionäre Klammern an die Liebe an sich.

Schließlich ist es jedoch der Körper von Nikka, "the Nigger", der wohl meist zitierten Gestalt des Textes, über den sich das Groteske in "Bow Down" am eindringlichsten vermittelt. Hier verschmilzt das Konkrete mit abstrakten textuellen Zeichen, die Verfremdung des Figürlichen und das Wuchern ornamentaler Strukturen wirken zusammen, um die Rezeption nachhaltig zu stören.

Nikka verbindet die Schicksale von Nadja, der Duchess und Felix. Sein grotesker Körper ist Spektakel und zugleich Mythos: Seine Haut wird im wahren Sinne des Wortes zur Projektions- und Bildfläche. "There he was" (16): schockartig präsentiert der Doctor die nackte Gestalt des schwarzen Bärenkämpfers, ringend mit seinem Tier – und lässt ihn im nächsten Moment vor den Augen des Lesers zum Monstrum mutieren. Nur vom Knie ab menschlich, verwandelt er sich in eines jener Halbwesen der ornamentalen Rankenbilder: Seine Beine schmückt dekorative "vine work" (17), seinen Rumpf überwächst ein Konglomerat von Symbolen verschiedenster Herkunft. Auf tabubrechende Art mischt sich auf diesem Körper das Heilige, Mystische und Obszöne.

Nikka, the Nigger, so deutet schon sein rassistischer Spottname an, ist eine Figur aus der realen Welt des Lesers – und doch ist er monströs, unvorstellbar, unfassbar. Darin liegt der Schock, den seine Zeichnung bereithält.57 Wie der Jude Felix Exempel einer stigmatisierten Identität, ruft sein tätowierter Körper demonstrativ typisierende Assoziationen auf.58 Diese an sich konventionellen Zeichen jedoch beginnen sich zu widersprechen, häufen sich an und überwuchern den Körper gänzlich; das scheinbar Bekannte entartet ins Extreme und verwandelt sich zu einer Figur außerhalb des Kategorisierbaren. Nikkas Körper wird damit zum Bild des grotesken Textes selbst, denn er entzieht sich jeder 'Lesart', verweist den Leser auf seine schematischen Deutungen und lässt diese demonstrativ auf das Chaos stoßen. Nichts ist sicher – auch die Narration nicht, die selbst-referentiell auf ihre eigene Unzuverläßigkeit verweist: Hörensagen mischt sich mit dem geschworenen "I give you my word" des Doctors, der zugleich auf absurde Weise rät: "believe it or not and I shouldn't" (16).59 Im Zentrum der Fabulation liegt schließlich nichts als eine weitere Geschichte (um Prince Arthur Tudor), in deren Mitte der Leser, um Sinn und Pointe gebracht, vor der Mauer eines unauflöslichen "word so wholly epigrammatic" (16) endet.

"Well! [...] What was that about, and why?"(24), fragt Felix, als er sich mit dem Doctor und Frau Mann auf der Straße wieder findet – Fragen, auf die ihm weder die Reden des jesters noch die umgebende, manifeste Szene dieser Nacht eine Antwort anbieten. Jählings sind er und der Leser kurz zuvor auf die szenische Ebene zurück gefallen, die vom Monolog des Doctors vollkommen überwuchert wurde. Erst "a sudden silence" teilt plötzlich den Sprachvorhang,60 um dem von Felix (und dem Leser) langersehnten "gentleman of quality" (12) endlich seinen Auftritt zu gewähren.




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Doch statt die Handlung mit Inhalt zu füllen, rauscht der Count lediglich dramatisch durch den Raum und wirft dann die gesamte Gesellschaft hinaus. "He put us out for one of those hopes that is about to be defeated" (25), kommentiert der Doctor ironisch – und spricht damit zugleich sowohl für seine eigene Rolle als für die gesamte Anlage des Textes.

Ein Bruch nach dem anderen stieß den Leser von der traditionell anmutenden Geschichte der Volkbeins zu der mysteriösen Erscheinung der Figur Felix, dem er nach Paris folgte, nur um schließlich unter Beschlag einer Figur zu enden, die Felix zufällig auf einem Exkurs nach Berlin traf. Noch bevor das Kapitel mit einer bizarr-komischen Slapstick-Einlage zwischen Doctor und Frau Mann abschließt, hat sich der Leser mit Felix in den Wirren des Sprachornamentes des Doctors verloren und ist sich der 'story' nicht mehr sicher.


3 Watchman, What of the Night?

3.1 Der doppelte Dialog

In den Kapiteln 2 bis 4 folgt der Leser den fatalen Verstrickungen der Charaktere Felix, Nora und Jenny mit und über die rätselhafte, mystische Figur Robin. Sie wird ihnen allen zur Obsession, denn sie fungiert als Projektionsfläche und verspricht, die Lücken in ihren Existenzen zu füllen.61 Begleitet und auch gesteuert werden die schicksalhaften Begegnungen vom Doctor. Im Handlungsgefüge kommt ihm damit zunächst die Mittlerfunktion zu: So führt er Felix zu Robin und stellt dieser auch Jenny (offiziell) vor. Darüber hinaus scheint er über Verbindungen zu den Charakteren zu verfügen, die ihm zu 'insider-Wissen' verhelfen und sogar Vorhersagen ermöglichen: Am Ende von Kapitel 5 wird er in einer rätselhaften Vision das Treffen von Nora und Robin im letzten Kapitel des Werkes heraufbeschwören, und mit dem letzten Satz von Kapitel 2 erklärt er das rätselhafte Verbleiben von Robin an ihrer Statt.

Der Text scheint sich damit auf klassische Weise um und durch eine zentrale Figur zu organisieren, die die Handlung vorantreibt – und der Autorin nicht zuletzt als Sprachrohr dient für Kommentare zum Geschehen wie auch über dieses hinaus. Diese Verbindung zwischen Handlungs- und Erzähl-/ Strukturebene verbirgt sich im konventionellen Werk, stört also die Illusion des Mimetischen nicht. Barnes dagegen spricht diese Verbindung aus. Ihr Doctor spielt mit den Ebenen und kratzt an der Hierarchie der Ordnung. "I brought her into the world and I should know" (49), begründet er sein Wissen um Noras Aufenthalt, so, wie er auch Robin aus ihrem Schlaf und damit zum Leben erweckt hat. Er präsentiert sich als Erschaffer der Charaktere – und damit als alter ego der Autorin.62

Ein "Watchman" in doppelter Hinsicht also: Er steht als Figur zwischen den Charakteren auf der Handlungsebene, blickt jedoch auch von der Ebene der Narration auf das Gesamtwerk. Als sich Nora in Kapitel 5 auf der Suche nach Erklärungen an den Doctor wendet, doppelt sich entsprechend auch dieser Dialog, in dem gleichfalls der verunsicherte Leser zum Ansucher wird. Noras Frage nach "the night" (79) bezieht sich zunächst (der linearen Lesart der Handlung nach) auf die nächtlichen Geschehnisse des vorangehenden Kapitels, in denen sie Robin vor den Augen des Doctors an Jenny verlor.




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Sie richtet ihre Frage an die Figur Dr. Matthew O'Connor, den sie in seiner schäbigen Dachkammer aufsucht. Er tritt ihr als elende Gestalt entgegen, die ihren Platz in der realen modernen Großstadt hat: Eine Randgruppenfigur wie Felix der Jude und Nora die Lesbe, entpuppt er sich als Transvestit, als Angehöriger des lasterhaften demi monde von Paris. Bereits die Insignien seines Doppellebens, die sündige Nähe von fremdländisch anmutenden chirurgischen Instrumenten und benutzter weiblicher Wäsche, entheben das Zimmer jedoch dem gewöhnlichen Elend. Die verdunkelte Grabkammer verwandelt sich in ein phantastisches Horrorkabinett,63 und ihr Bewohner mutiert in ein unfassbares, nicht-sein-dürfendes Schattenwesen: den Prinzipal der grotesken Welt von "Nightwood", der den Leser auf und über den unsicheren Boden des Werkes führte.

Diese Rolle des "Watchman" ist es, die Überhand nimmt, wenn der Dialog auf der Handlungsebene versagt und einem änigmatischem Makrodiskurs weicht. Auf Noras Frage zu "that particular night" (97) wird der Doctor erst zum Ende des Kapitels eingehen, und selbst dann lässt er sie zu keiner Einsicht in die Geschehnisse kommen. Statt dessen verfällt der Doctor in einen undurchsichtigen, abschweifenden Exkurs, der "the night" zum Ausgangspunkt weitschweifender Assoziationen nimmt. "The night", sein "favourite topic" (80), weitet sich zum 'Thema' des gesamten Werkes – und zum Gegenstand des Doctors (respektive Barnes) grotesker 'Philosophie', die nun vor dem Leser aufgespannt wird.

Dramatischer noch als bereits in der angedeuteten Selbst-Referenz des Textes in "Bow Down" gerät damit das Gefüge des Werkes ins Wanken. Das Kapitel, von dem der Leser die Belehrung, wenn nicht gar die Läuterung Noras und damit die dramatische Wende des Romans erwartet, kehrt sich gegen den Leser selbst: Das 'Lehrstück' entpuppt sich als Inszenierung für den Leser, in das nicht nur der Doctor, sondern auch die ratlose 'Schülerin' eingeweiht ist. Tatsächlich stellt Nora ihre Rolle aus, überzieht ihren Akt: Wie der Doctor bedient sie sich eingangs einer auffällig dramatischen Sprache. Der Austausch der Floskeln des Lehrgesprächs ("Doctor, I have come...", das wiederholte "Have you ever thought of" etc.) klingt theatralisch. Als sie zu sich selbst spricht, wirkt dies wie ein Shakespearisches aside, das sich direkt an das Publikum respektive den Leser wendet. In einer pathetischen Apologisierung der bizarren Gestalt des Doctors sinniert sie über dessen 'wahre' Rolle. Damit spielt sie dem Doctor zu, der ihren Part offenkundig kennt – antwortet er doch in Repetition gleich zwei ihrer (doch nur gedachten) extravaganten Ausdrücke: "gown" und "extremity" (80),64 als habe er sie gehört. In ihrem Monolog präsentiert Nora den Doctor als Meister der Alchemie – einen Weisen, der Einblick hat in die schwarze Seite, der also um die beunruhigenden Vorgänge der Nachtwelt wissen muss. So ködert sie den Leser mit der Hoffnung auf Aufklärung – und führt ihm erneut sein sinnsuchendes Leseverhalten vor.65


3.2 Das Unsägliche der Nacht

Die Nacht stellt für Nora jene Obskurität dar, in die sie Robin Abend für Abend verschwinden sieht, und mit ihr alle Stabilität ihres Daseins.66 Die nächtliche Dunkelheit birgt das Unsichere, Bedrohliche, Unverständliche – und wird zum Sammelbecken des Grotesken, das Noras Schicksal (wie die der anderen Charaktere) regiert.67




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Der Diskurs über "the night" hat somit das Unsägliche zum Gegenstand. Was hinter der Schwelle zur Finsternis liegt, "is not premediated" (80), lässt sich weder in Schemata noch in Worte fassen. "Yes, we [...] should look well around, doubting everything seen, done, spoken, precisely because we have a word for it, and not its alchemy" (83), lässt die modernistische Autorin den Doctor ihren Sprachskeptizismus äußern. So begründet, verrätselt sich seine Sprache wie bereits in "Bow Down" und nimmt dem Leser die Illusion eines unmittelbaren Zugriffs auf das Wesen der Dinge und die Bedeutung des Textes. "Have you [...] ever thought of [...] sleep?" (80), fragt er Nora – nur um ihr sicher geglaubtes Sprachkonzept sogleich zu destabilisieren. Dem (auf sein Signifikat hin) eindeutigen "sleep" setzt er die unfassbare Chiffre entgegen: "the slain white bull" (80). Die absolute Metapher verlangt vom Leser den Sprung ins Unbekannte jenseits von Wahrheit und Eindeutigkeit, auch der Sprache. Dies macht der Doctor erfahrbar durch seine groteske 'Alchemie' in der dunklen Kunst der Bilder.

Schon in "Bow Down" vermittelte sich das Groteske als unheimliche Grundqualität vor allem visuell: Der Text führte den Leser über konkrete Figuren und Situationen in diese 'Nachtwelt' ein. In "Watchman" schockieren des Doctors Sprachbilder nun mit verzerrten Vorstellungen und schrecklichen Schatten, die den Urängsten seines Gegenübers entstammen. Er führt den Leser in das Reich seiner eigenen Alpträume und bedeutet ihm damit, dass das Groteske keine abgetrennte, phantastische Welt darstellt, sondern ihn selbst bedrängt. Barnes groteske Ästhetik "transforms the world from what we 'know' it to be to what we fear it might be"(McElroy 1989: 5).




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In seinen Assoziationen zur Nacht bedient sich der Doctor (nach Kayser) typisch romantischer, aber auch moderner Motive des Bedrohlichen: Hier rankt die "unheimliche Lebendigkeit" der Pflanzenwelt, die schon der Titel des Werkes aufruft, hier beängstigt aber auch das Eigenleben des Anorganischen, der Maschinen.68 Die Nacht, so beschwört der Doctor die Beklemmung seines Lesers herauf, ist ein gigantischer, grauenvoller Baum, fiebrig und krankheitsbringend, Harz und Pech schwitzend, dessen taktile Beschreibung Schauer des Ekels über den Rücken jagt, und "an engine stalling itself upon your breast, halting its wheels against your heart" (84).

Die Stabilität der Welt des Tages, in der die Dinge ihren Platz haben und feste Regeln gelten, lösen die Schatten der Nacht auf. "The very constitution of twilight is a fabulous reconstruction of fear" (80) – vor Kontrollverlust, vor Auflösung und Instabilität, vor Entfremdung. Eine Angst, die sich durch des Doctors Bilder in grausigen Ahnungen vor dem inneren Auge des Lesers manifestiert.69 "Head foremost" (81), in Verkehrung des zuvor in Rabelais-Manier fröhlichen "bottom out and wrong side up" (80), lässt der Doctor den Leser aus dem 'wachen' Zustand in den 'Schlaf' eintauchen (der selbst zu einem unsicheren Konzept geworden ist). Diesen Wechsel in einen anderen Bewußtseinszustand belegt der Doctor mit bodenlosem Entsetzen. In seiner undeutbaren Vision von schreienden Gehörnten und "the wings of the locust" (81) klingt der fünfte Posaunenstoß der biblischen Apokalypse an:

Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde, und ihnen ward Macht gegeben [...] Und es ward ihnen gesagt, dass sie [...] Schaden sollten tun allein den Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen. [...] und ihr Antlitz gleich der Menschen Antlitz, [...] und das Rasseln ihrer Flügel war wie das Rasseln an den Wagen vieler Rosse, die in den Krieg laufen.70

Die Finsternis ist gottlos, religiöse Hoffnungen brechen hier zusammen: In einer grauenvollen Alptraumversion des Psalms 23 ersetzt der Doctor den Hirten, der "nähret [...] auf grünen Auen" durch "the night (that) feeds and prunes the cud that nourishes us to despair" (83).71 Diese Nacht ist die downside der Ordnung des Menschen: Hier tummelt sich das Lichtscheue, liegen "rape, murder and all abominations" begründet (88) – und hier kann sich das Subjekt auch seiner selbst nicht mehr sicher sein. Schlaf und Träume setzt der Doctor mit dem Verlust aller Disziplinierungen, aller Regeln gleich, über die das Subjekt seine Identität begründet. Stark an Freuds Darstellung des 'unterwanderten' Bewusstseins erinnernd, zeichnet der Doctor den Zusammenbruch des 'Ich' und den Durchbruch des 'Es', "the Beast" (84).72 "His 'identity' is no longer his own" (81), unterliegt nicht mehr der Kontrolle seiner Vernunft. "A host of merrymakers" (88) zerspielt die Integrität der Persönlichkeit des Einzelnen, nimmt seiner Subjektivität jede Ernsthaftigkeit und Bedeutung – und löst ihn auf in "unpeopled annihilation" (88). Das Subjekt verliert sich in der namenlosen, anonymen Masse. Barnes vermittelt hier eine symptomatische moderne Angst vor der bizarren Ästhetik des Grotesken.

Diese Alpträume lassen sich nicht als Phantasien abschütteln. Plötzlich konkretisiert der Doctor seinen Exkurs und kehrt seine Horrorvisionen gegen sein Gegenüber, lässt sie sich in Noras Schicksal realisieren. Ihre Angst vor dem Bruch und der Entfremdung verbildlicht er in der Gestalt des Käuzchens, dessen Schrei im Volksglauben den Tod ankündigt, und das Nora ihren Halt entreißt:

that night-fowl that caws against her spirit and yours, dropping between you and her the awful estrangement of his bowels. The drip of your tears is his implacable pulse. (89)




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Das Grauen noch steigernd fährt der Doctor fort, die Untoten der Nacht schlängen sich um den Hals der Lebenden, begleiteten auch Nora, "their beloved and waking", auf Schritt und Tritt: "and where you go, it goes [...]; to daylight, to life, to grief" (89). Die Gespenster überschreiten die Grenze der Dunkelheit und treten ins Tageslicht: Schockartig bricht der Rahmen der Nachtwelt, zerreißt der Doctor die Grenze seines eigenen Diskurses. Die Scheide zwischen Licht und Dunkel, Realität und Traum vermag das Groteske nicht zu bannen.


3.3 "Think of the two as one": des Doctors groteske 'Wahrheit'

Schandtaten und Verbrechen, passierte das nicht schon immer alles in der Nacht? – so fragt der Doctor Nora. "History" ist die Geschichte vom Guten und vom Bösen, die die Schattenseiten als Fall von der Ordnung sieht – so wie Gomorrah "a city given over to the shades" war (86), so brannte doch auch Rom des Nachts. "Yes", said Nora" (86) – und geht damit (stellvertretend für den Leser) der ironischen Argumentation des Doctors auf den Leim. Die so schauerlich besetzte Metapher der Nacht, 'Behältnis' für alle Schrecken, alles Unbegreifliche, wird vom Doctor zu weit getragen und fällt in sich zusammen. Seine Rhetorik parodiert nun die Erklärung, oder gar die Ursachen- und Schuldzuschreibung, die der Leser in seinen Ausführungen suchte: "It was at night, I swear!", und "For what is not the sleeper responsible?" "The night" ist schließlich nicht mehr als eine überbrachte, konventionelle Metapher, die vor dem Unsäglichen scheitert. "Reach(ing) and claw(ing) down the true calamity", erblickt Nora mit dem Leser das Grauen der Nacht "in colour" (86): Der Alptraum "eats away its boundaries" (87). Die erweckte Geliebte verliert das fremde Gesicht auch im Licht des Morgens nicht; der Doctor lässt sie erwachen, nur um Nora mit dem verzerrten Grinsen der Hyäne anzustarren (87).

Das Beunruhigende und Beklemmende des Grotesken lässt sich nicht in der Unwirklichkeit des Traumes auflösen: Diesen Schock vermittelt der Doctor schließlich in klaren Farben. Vampirähnliche, lichtscheue Wesen taumeln in der Mittagssonne durch die Straßen, verstört und entfremdet – und dies sind die realen Menschen der Gegenwart. Zu "those who turn the day into night" zählt der Doctor nicht nur die Drogenabhängigen und Betrunken (die ihr Bewußtsein betäuben und so aus der Realität flüchten), sondern auch "the lover", "that most miserable (of all)" (94). Wie ein Süchtiger auf Entzug wartet er panisch auf das Objekt seiner Liebe, seine 'andere Hälfte', die ihn zu komplettieren verspricht. Ohne diesen Halt ist er nicht fähig, in der Welt zu bestehen: "the body that would, in misery, be flat with the floor; lost lower than burial" ist verloren in Isolation und Kontingenz, "going backward through the target", "without aim" (95). Tatsächlich aber ist sein Warten vergebens, so der Doctor bissig, denn "this lover [...] has committed the unpardonable error of not being able to exist" (93). Eine tröstende Einheit wie auch eine größere Gemeinschaft ist illusionär: " (His) people [...] have never been made" (95).

Fast unbemerkt weitet sich die Gruppe der grotesken Figuren, die sich dem Leser zunächst als Außenseiter präsentierten (der Jude, der Schwarze, das Zirkusvolk, die Lesbe, der Transvestit), und schließt auch die 'Normalen' mit ein. Unter die 'Unmenschen' der Stadt, die "something dark and muted" um sich verbreiten, die "miserable" und "profligate", reiht der Doctor wie selbstverständlich auch "the young" (94) – das Bildnis der freaks, unvereinbar mit ihrer Welt und der alten Ordnung, wird zu dem einer gesamten Generation.




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Das Leben in der Moderne selbst erscheint als Alptraum, aus dem man nicht mehr erwacht. "The grotesque distorts [...] the surface in order to tell a qualitative truth about it" (McElroy 1989: 5), argumentiert McElroy – und hier, in der Sprachgroteske des Doctors, scheint durch das dunkle, rätselhafte Grauen der direkte Bezug der Autorin auf den Werteverlust der Moderne und die Isolation des Individuums durch. Ihr Werk erschüttert den Leser, attackiert ihn mit beklemmend-dunklen Bildern und lässt ihn verunsichert zurück. Dabei erwacht die Ahnung der grotesken 'Wahrheit' über die Welt der Gegenwart, erneut zitiert nach McElroy:

The basic assertion is [...] that the grotesque is not only a real mode of life but the only real mode once modern life has been correctly perceived. (McElroy 1989: 28)


3.4 "Be as the Frenchman": das Groteske als Strategie und 'Ideal'

"Oh!" Nora said. "Don't – don't!"(95), als der Doctor in seiner "terrible excommunication" das höchste Ideal, den "angel" der Liebe, auf alle Viere fallen lässt und Nora ihre eigene Verdammnis an den Kopf wirft.73 Sie kann von ihren Illusionen nicht ablassen und der Düsternis nicht ins Auge sehen – wie es der Doctor vorhersah. Ihr Denken funktioniert exklusiv und erlaubt kein Übertreten der Ordnung in binären Kategorien, für die Tag und Nacht stellvertretend stehen. "You are of a clean race, of a too eagerly washing people" (84), so der Doctor, und mit dieser fanatischen Bereinigung schneidet sie sich den Zugang auch zu sich selbst, d.h. dem "beast" in ihr, ab. Ihr angstvolles Klammern an fiktive Sicherheiten verleugnet "the mystery" (85), "the Great Enigma" (83) – d.h. die "real mode" (McElroy 1989: 28) des Grotesken: Tatsächlich bricht dessen "design" die auferlegte Statik, "wildcats down" (85) in einer unkontrollierbaren Bewegung.

Noras pathologische Ordnungsversuche bezeichnet der Doctor als typisch "American" (84) und kontrastiert sie mit einer Haltung, die er als wahrhaft "French" bezeichnet. "The Frenchman" geht aus des Doctors Nachtphilosophie als Exempel einer Existenz in Einklang mit der Instabilität und Relativität der Moderne hervor. In "a disorder that holds the balance" (89) lebt er mit der Gegenläufig- und Widersprüchlichkeit einer Welt, in der "its two travels", Nacht und Tag, verschmelzen, die Kategorien "in and out" stürzen (85). Es ist das Ideal der Figur des Doctors – ein jester, der (wie Rabelais) das Groteske feiert, aus dem Zusammenbruch des erkennenden Subjekts der Aufklärung und der grotesken Erniedrigung zu "his sediment, vegetable and animal" zu sich selbst findet (84).

Auf anderer Ebene entspricht die "strategy" (85) des "Frenchman" jedoch auch dem Ideal der Autorin: "(the) detour" (84), d.h. die Non-Linearität strebt auch Barnes über ihre ornamentale Textstruktur an, durch die sie den Bruch mit der konventionellen Narration zu verwirklichen sucht.74 In der Opposition des "European" (89) und des "American" kommt nicht zuletzt Barnes eigene Position als die der expatriates zum Ausdruck, die die Avantgarde in Paris suchten, um der Ordnung und 'Säuberung' des alten Literaturregimes in Amerika zu entkommen. Die dort praktizierte kanonische (und künstliche) Reinhaltung der Texte von downside und Widersinn beschreibt der Doctor wiederholt als "literal error" (89,90), als "wash(ing) away the page". Der 'wahrhafte', 'französische' Text jedoch begreift sich als "Echo de Paris" und passt sich in sprunghaft-absurden Strukturen der Beschaffenheit der Realität an.75




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An dieser, macht der Doctor explizit, orientiert sich schließlich auch seine eigene Sprachgroteske: Sie spiegelt "the mad strip of the inappropriate that runs through creation" (97).

Letztlich jedoch erweist sich die groteske Fügung der Welt als auch für den "petropus of the twilight" (92) nicht meisterbar. Eine Realität der Unsicherheiten und der Auflösung von Identität und von Gemeinschaft bietet selbst einer grenzverletzenden Gegenfigur keinen Boden. Auch das 'letzte' in sich stabile Lebensideal, die Idee der Existenz in und mit der grotesken Verkehrung, scheitert somit; "the French" erweist sich als Mythos, dem tatsächlich keine der Figuren nahe kommt. "God, I'm tired of this tirade", bricht der Doctor mit seinen änigmatischen Elaborationen über die Philosophie der Nacht und profanisiert: "The French are dishevelled and wise; the American [und dazu gehört der "Irishman" aus San Francisco selbst; E.B.] tries to approximate it with drinking (90)."

Die Rolle des Sehers kann Barnes "charlatan" (96) nur mimen; seine Floskeln verweisen auf die 'Gegenwahrheit' der grotesken Welt, bleiben inhaltlich jedoch leer: Er vermag nichts Neues anstelle der zerstörten Ordnungen zu setzen.76 So wird seine Einsicht selbst zur Qual. Mit bitter-brutalem Unterton mokiert er sich über seine Rolle: "You pound the liver out of a goose to get a paté; you pound the muscles of a man's cardia to get a philosopher" (87).

Als Konsequenz seiner 'Lehre' hat er selbst sein Herz, seine Menschlichkeit verloren; "in the grave dilemma of his alchemy" (80) muss er in Wertlosigkeit und "misery" (83) leben.

Es scheint, als bräche mit dem Umschlag im Ton des Doctors das gesamte 'Lehrstück' in sich zusammen. Nora erhebt sich – und setzt sich dann erneut, als verstieße sie gegen das 'Drehbuch' der Inszenierung. Zum ersten Mal reagiert sie unmittelbar auf den Doctor, fragt nach: "How do you stand it then? [...] How do you live at all if this wisdom of yours is not only the truth, but also the price?"(90) Als Antwort fällt der Doctor zurück in seine derbe Rabelaische Rede, beginnend mit einer gesungenen Zeile, in der er sich selbst als "nocturnal hag whimpering" verlacht. Die Gewichtung des Grotesken verkehrt sich erneut, und in bizarr-komischen Exkursen wiederholt er die blasphemische Entwertung der "wise men" und großen "things past" (91) (Felix Obsession) wie auch der menschlichen "passions" (96) (Noras Liebe), die seinen Monolog in "Bow Down" durchsetzten. Noch einmal erinnert der jester damit daran, dass das Groteske nicht in Grauen aufgeht, dass die Brüche und Vermengungen auch eine spielerische Seite beinhalten. Doch zugleich entblößt der Doctor seine jester-Haltung als Strategie, um "(his) wisdom" ertragen zu können.

Das karnevaleske Spiel ermöglicht ihm, den das sehende Erleben der entleerten Welt hat "anonymous" (82) werden lassen, in multiple Rollen zu schlüpfen. So gibt er sich im Zuge zweier scheinbar sinnentleerter Exkurse erst als "Highland Mary" (91) und dann als Stammtisch-Philosoph, findet zu Wortwitz und absurder Komik. Tatsächlich liegt in Rollenspiel und Anonymisierung aber keine Befreiung oder keine Möglichkeit einer Neudefinition. Das verbindende Thema der oberflächlich divergenten Episoden bleibt die zerstörerische "mighty uncertainty" (93): Die einfache Realität des Kühe hütenden Landmädchens und die steinerne Sicherheit eines "circular cottage" (91) entarten im dunklen 'Lichte' des Grotesken ins Unbegreifliche, Mutierende und Kranke;77 in der inszenierten absurden Kneipen-Debatte fallen die "ideas" (92) der Einzelnen gänzlich auseinander, sie zeugen von der Zerstörung einer allgemeingültigen Ordnung und der Isolation.78




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"Do you know what has made me the greatest liar this side of the moon?", fragt der Doctor einen Kneipengast in seinem finalen 'Abgesang' an die Welt und seine Rolle darin. "Telling my stories to people like you to take the mortal agony out of their guts" (135). Nicht zuletzt erzählt er seine uferlosen Geschichten auch um des Erzählens willen; der nicht-progressiven, phantasierenden Rede kommt auch eine Art anästhesierende Funktion zu. Singer argumentiert, der Doctor setze "his willful proliferation of disparate images [...] the proliferating moments of time" (Singer 1983: 69) entgegen. Die Zeit, "the cold [...] melody of time crawling" (18), die Felix in "Bow Down" so aus der Fassung bringt, so lässt sich Singers Beobachtung hinzufügen, ist Angst einflößend aufgrund ihrer unaufhaltsamen Fortbewegung in die groteske Ordnungslosigkeit. Nicht nur des Doctors Zuhörer erschrecken vor dieser Ahnung. Er selbst lenkt sich durch die ornamental-rankenden Episoden ab: "All of (this) is to rest me a little of my knowledge" (90).

Tatsächlich jedoch ist die (karnevaleske) Flucht im wahren Sinn zeitlich begrenzt. Selbst muss der Doctor anfügen: "until I can get back to it. I'm coming to something" (90). Das sinnentleerte Spiel vermag de facto nicht über den unterliegenden 'realen' Verlust aller Sicherheit hinwegzutäuschen: Weder Nora noch der Doctor selbst entkommen der Angst, und auch auf den Leser wirken des Doctors absurde Exkurse schließlich immer beklemmend. Genauso wenig können sich die Ranken der Sprachgroteske dem Fortschritt der Zeit entziehen. So effektiv sich seine Abschweifungen auch dem plot entgegen stellen – Handlung und Narration, erzählte Zeit und Erzählzeit erzwingen doch die Komplettierung der "story". Damit führt der 'französische Umweg' auch auf der Strukturebene letztlich zu keiner funktionierenden Alternative.

So brilliant Barnes strukturelle groteske Verfahren den Bruch mit der narrativen Konvention umsetzen – auch "Nightwood" muss am 'Ideal' des rein ornamentalen Schreibens scheitern, und Barnes ist sich dessen im Klaren. "The foetus of symmetry nourishes itself on cross purposes; this is its wonderful unhappiness" (97), formuliert sie das Schicksal aller Narration: Im Prozess des Lesens (wie auch schon des Schreibens) unterliegt diese zwangsläufig der Sinngebung. Der Leser sucht auch über "cross purposes" hinweg eine Geschichte zu konstruieren, und schließlich muss Barnes sie ihm bieten, um ihre "qualitative truth" zu vermitteln. "Nightwood" jedoch verwahrt sich als eine Geschichte der Brüche, der Uneindeutigkeit, entsprechend der Welt, der das Werk entstammt. Als Metakommentar zur gesamten Struktur des Textes legt Barnes ihrem Doctor in den Mund: "I have a narrative, but you will be put to it to find it" (97).


3.5 "Coming by degrees to the narrative of the one particular night"

Sein 'Lehrstück' zur "greatest generality" (89) der nächtlichen "misery" lässt der Doctor mit einem tour de force der literarischen Referenzen enden. Erst beruft er sich implizit auf Freud (in der Metapher des Hauses für das Selbst, in dem der Mensch keine Kontrolle über alle Ebenen hat), dann zitiert er aus Montaignes Essays und der Predigt John Donnes "for our general humiliation" (96-97).79 Ihrer ursprünglichen Gesinnung entrissen akkumulieren sich die Verweise auf berühmte Gedanken über Niedrig- und Hilflosigkeit des Menschen zu des Doctors eigener grotesker 'Weisheit', die für Nora so änigmatisch und nutzlos und zugleich so beunruhigend ist wie sein gesamtes Sprachwerk.




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Endlich kommt er zur Erzählung der "particular night" (97), die Nora bewegt – jedoch nicht, ohne der Ankündigung ein weiteres Mal Aufschub und Enttäuschung folgen zu lassen. Bevor er zu den Abläufen und dem 'untreuen' Verhalten Robins kommt, beschreibt er ihr die Nebenbuhlerin Jenny als eine durch und durch groteske Figur. Wie Felix doppelt sie sich in des Doctors Beschreibung: zum einen phantastischer "decaying comedy jester", zum anderen ein weiterer Charakter der 'realen' Generation der Moderne, "born at the point of death", erfüllt vom Gefühl des Verlustes und der Unvollständigkeit, auf der Suche nach "a destiny" für sich selbst (98). Dies ist nicht die Erzählung einer konventionellen Dreiecks-, bzw. (durch Felix) Vierecks-Beziehung (die der Konventionalität der Zeit natürlich bereits durch die Gleichgeschlechtlichkeit der Beziehung entrückt ist); vielmehr stellt der Doctor Nora mit Jenny eine bizarre Gegenspielerin gegenüber, deren Einfluss auf Noras Leben gänzlich unberechenbar ist.

In Konsequenz erhebt er die Erzählung der Opern-Nacht zu höchster Dramatik: "I'm coming by degrees to the narrative of the one particular night that makes all other nights seem like something quite decent enough [...]" (99).

Damit spielt er zugleich mit den Erwartungen Noras und der Leser bezüglich des 'Herzstückes' des Kapitels. Der übermäßig umfangreiche und komplexe erste Satz dieser Einführung erscheint wie eine höhnische Erinnerung an den Beginn von "Bow Down", der dem Leser die Eröffnung einer 'großen' traditionellen Narration versprach, nur um ihm die Geschlossenheit und 'Wahrheit' der Geschichte als Illusion vorzuführen. Auf ganz ähnliche Weise dient des Doctors Narration der Entwertung des anscheinend so unerhörten Ereignisses, das doch nur Teil der allgemeinen 'Nacht' ist. Das einzelne Schicksal ist bedeutungslos, das groteske 'Drama' lässt sich nicht auf die oberflächliche Handlung beschränken – und schon gar nicht mit ihr schließen.


3.6 "Fancy" und Lüge: die (rückwirkende) Destabilisierung der Geschichte

Des Doctors "narrative" ist als eine Nacherzählung angelegt, als Wiederholung der Ereignisse, die der Leser im vorigen Kapitel durch die Stimme der Erzählerin erfahren hat. Barnes stellt ihre eigene Stimme als Autorin hier unmittelbar der des Doctors gegenüber – dessen doppelte Rolle als ihr alter ego sie den Leser bereits hat spüren lassen. Des Doctors Diskurs verhandelt damit auch den Akt des Erzählens an sich. Dabei destabilisiert er sich selbst wie auch rückwirkend die bisherige Handlung, die der Leser gesichert glaubte.

Bereits in "The Squatter" hat die Autorin die nun folgende Wiedergabe des Abends durch den Doctor nachhaltig untergraben. Der Leser ist sich bewußt, dass die Sicht des Doctors (als Figur der Handlung) notwendigerweise verfälscht ist, da er Jennys Inszenierung aufsaß. Tatsächlich war er nicht Zeuge der ersten Begegnung von ihr und Robin, sondern lediglich Mittel zum Zweck der Publikmachung ihrer Liaison.80 Der Doctor selbst weist seine Beschreibung, die sich in Detaillaufnahmen wie digressiven Zusätzen verliert, aus als zusammengesetzt aus "insight" and "fancy" und weckt Vorbehalte gegen sein Erinnerungsvermögen: "I think, and I am not mistaken" (99).

Zugleich wendet er sich jedoch auch gegen die 'Fakten' selbst, die die authoriale Erzählerstimme dem Leser garantierte. In einem unscheinbaren Einschub unterbricht er seine Beschreibung und verweist auf die 'Originalversion': "As a matter of fact, the costume came later, but what do I care?" (99).




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Dabei verletzt er auf ungeheure Weise die Ordnung der narrativen Dimensionen, denn diese Referenz der 'wirklichen' Folge der Bilder bezieht sich nicht auf den Ablauf der Ereignisse, denen er als Figur beiwohnte, sondern auf die Ordnung ihrer ursprünglichen Beschreibung im Text. Der Doctor kommentiert auf Metaebene – auf die er offensichtlich Zugriff hat – und exponiert Barnes Erzählung anti-mimetisch als (willkürliche) Konstruktion der Autorin.

Diese Rolle der Erzählerin und 'Erfinderin' nun explizit annehmend, liefert der Doctor eine 'Alternativversion' der Nacht, die die Vorkommnisse in der handlungslosen, uneindeutigen Groteske auflöst.81 In scharfem Kontrast zur traumatischen Erzählung des Abends in "The Squatter" führt der Doctor die Szene der für Nora alptraumhaften Begegnung ihrer Liebsten mit ihrer Nebenbuhlerin ins Närrische. Seine Wiedergabe des 'Skandals', der tatsächlich jede skandalöse Einzelheit fehlt, wird zu einem falschen Akt, in dem der Doctor bald Freundschaft und Loyalität vorgibt, bald ohne Umschweife Desinteresse und Respektlosigkeit dem 'Unecht' gegenüber zugibt.82 Damit nimmt er der Handlung jeden Anspruch auf Tragik; die Schicksale der Einzelnen entlarvt er als nichtig.

Entsprechend spielt der Doctor auch mit dem Bild, das sich der Leser von den involvierten Charakteren gemacht hat. Im vorigen Kapitel erschien Robin so abgebrüht und wissend, wie Jenny entschlossen, ja besessen. Der Doctor beschreibt sie nun als unangreifbare "Schläferin" und Jenny als "mystified" angesichts der Ereignisse, in die "the night" sie wie ohne ihr Zutun verwickelt hat (100). "God knows, I bled for her" (102), ruft der Doctor pathetisch aus – um seinen Ton im nächsten Moment zu ändern und Jenny doch der Bösartigkeit und 'Gier' anzuklagen und zu fluchen: "I wouldn't piss on her if she were on fire!" (106). Während dem Leser in "Bow Down" zunächst einzelne Episoden und Szenen unerklärlich blieben, untergräbt der Doctor nun nachhaltig jede Bewertung der Handlung: Schuld und Unschuld, Opfer- und Täterrollen sind in der grotesken Welt nicht entscheidbar, bleiben lächerliche Konstrukte angesichts der allumfassenden Verwirrungen.

Die 'richtige Geschichte' unterminiert der Doctor nun endgültig mittels eines Verfahrens, auf das bereits Singer in seiner Untersuchung des Werkes stieß: der expliziten Lüge. Zunächst fallen dem Leser einzelne Elemente des Berichtes als 'unwahr' auf. "The old sow of a Danish count" (99), den der Doctor in den Raum fegen lässt, tauchte in der Originalerzählung nicht auf. Tatsächlich lässt der Doctor diese spielerische Fehlinformation sofort wieder fallen. Im Anschluss verspricht er, scheinbar auf Nora (und den Leser) eingehend, auf die 'wahre' Geschichte zurückzukommen, erdichtet stattdessen jedoch die absurde, blasphemische Wendung, er habe das Bilderbuch-Pärchen Robin und Jenny vor den Altar (des fiktiven Gottes) geschleift (100). Als textuelle Strategie setzt die Lüge nicht nur die Verkehrung, sondern auch die Doppelheit des Grotesken um. Die Geschichte des Lügners kennt immer mehr als eine Variante, denn "the lying consciousness knows two purposes", ist sich also zweier Ziele gleichzeitig bewusst.83 Diese Dopplung wird offenkundig, als der Doctor die Abfahrt in jene folgenschwere Nacht schildert und dabei seine Rolle 'beschönigt'. Die Einladung von Jenny, die er hier zitiert, erhielt er den Informationen der allwissenden Erzählerin nach nicht; auch war das Ziel der Fahrt kein Abendessen bei ihr zu Hause (103).84 Stattdessen fuhr der Doctor aus Eigeninitiative mit, motiviert durch Beweggründe, die Barnes vorausweisend in "The Squatter" als 'voyeuristisch' enttarnte:




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The doctor [...] was more uncomfortable perhaps than anyone in the room and yet [...] could not forbear scandal, in order to gossip about the "manifestations of our time" at a later date [...] (71).

Als Beteiligter (und auch in dieser nicht-voyeuristischen Betroffenheit klingt wohl die Stimme der Autorin durch) scheut er vor der Beobachtung der verzweifelten Besessenheit Jennys und der Aussichtslosigkeit des Begehrens der Charaktere zurück; er scheint seine Rolle als Zeuge kaum ertragen zu können. So kommentiert er: "I went into a lather of misery watching them [...]"(100). In der Rolle des Erzählers bzw. der Erzählerin muss er die Ereignisse der "particular night" jedoch begleiten und so dem Leser in irritierend inkonsistenten Bewertungen zwischen Hohn, Verlachung und Beklagen vorführen, um, so lässt sich nun subsumieren, seiner eigentlichen, zweiten Absicht zu dienen: der Vermittlung der grotesken Beschaffenheit der 'Nachtwelt', von der die "manifestations" der Handlung zeugen und in der sie sich auflösen.

Über die beunruhigende Rätselhaftigkeit der Welt von "Nightwood" (zunächst vor allem visuell vermittelt über monströse Figuren und groteske Szenen) haben der Doctor und die Erzählerin den Leser in die Rolle des sinnsuchenden 'Schülers' und so in den direkten, bewussten Diskurs mit dem Text als sinngebende Instanz gelockt. Diesen Diskurs inszeniert der Doctor in seinem 'Lehrstück'; hier begegnet er der konventionellen Lesart des Lesers, d.h. seiner Suche nach konsonanten Informationen, und setzt ihr unmittelbar die explizite Verweigerung von 'Wahrheit', Sicherheit und 'Normalität' entgegen. Das Geschehen wird durch die Narration nicht zugänglich, denn auch der Narrativik selbst wird (wie alle realitätsschaffenden Grand Narratives) ihre konstitutive, ordnende Kraft abgesprochen.

Über diese Verunsicherung der Wahrnehmung des Lesers generiert der Doctor schließlich durch seine nächtliche 'Philosophie' einen 'Schock des Erkennens': Er deckt die Analogie von phantastischer 'Nachtwelt' und moderner Realität auf. Die intensiv erlebte Instabilität und Verkehrung spiegelt, wenn auch in einem Zerr-Spiegel der grotesken Überziehung und Entstellung, die realen Unsicherheiten der Welt des Lesers.


3.7 Zerrinnende Bilder

Nach Abschweifungen, Lügen und Erfindungen verbleiben von den eigentlichen Geschehnissen jenes Abends nur Anspielungen, die für Nora gänzlich uneinsichtig sind. Wesentliche Handlungselemente vernachlässigt der Doctor, erwähnt weder das "English girl" als weiteren Passagier der Kutsche (reiht sie aber dennoch wie aus dem Nichts in sein Abschlussbild ein; 106), noch schildert er die Steigerung von Jennys Besitzanspruch hin zur gewalttätigen Eskalation. Erneut sind es nur die rätselhaften, verstörenden Bilder des Doctors, die die Destabilisierung der Erzählung überstehen – und die er Nora als schreckliche Visionen mit auf den Weg gibt.

Jenny, Robin und sich selbst erkennt sie im Sprachbild des Doctors als Teil einer tödlichen Collage: ihre Leiber verschränkt "like the poor beasts that get their antlers mixed, and are found dead that way" (100). In der materiellen Erfahrung von "misery" (100) und Leid gefangen, kommen sie zu keinem Verständnis, kein Sinnhorizont öffnet sich. So unerklärlich, abgeschnitten sowohl von Motivation und Begründung, stellt sich Nora schließlich auch die traumatische Szene der Opernnacht dar.




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Aus jedem Zusammenhang gelöst, blicken ihr die Figuren aus einem isolierten Bild entgegen: die Engländerin mit einem Ausdruck grotesken Widerspruchs zwischen "pleased and frightened", das Kind "in terror" erstarrt, zugleich jedoch rennend, fliehend, in einer Bewegung unterhalb der Oberfläche.85 Schockartig reißt das starre Bild: Der Horror lässt Jenny zittern, Robin stürzt vornüber, das Blut schießt rot aus ihrer Wunde – der Schrecken setzt sich unfassbar und unaufhaltbar fort.86

In "rigid silence" (105) angesichts der Unbegreiflichkeit des grotesken Ganzen, in das sie sich eingebunden, bzw. eingezwungen findet, geht Nora in der Endvision des Doctors unter; ihre Anwesenheit ist vergessen, wenn der Doctor (über sie in der dritten Person sprechend) dem Leser als seinem wahren 'Schüler' ihre Zukunft voraussagt.87 Ihr Schicksal ist das des hoffnungslos Begehrenden, isoliert und 'beerdigt' (106), das die Verlorenheit der 'Untoten' der gesamten Generation der Moderne aufruft.88 Nora findet zu keiner Erklärung oder gar Lösung ihrer "misery". Die "Nacht", die über ihr hereinbricht und ihr Liebe, Sicherheiten, selbst das Wissen um die eigene Identität nimmt, entpuppt sich in des Doctors Bildern als die generelle Beschaffenheit ihrer Welt. Kein Trost bleibt, nicht einmal der der Resignation. Der Schluss des Kapitels zeigt, dass sich im grotesken Ornament kein Bild fixieren und so auch nicht fatalistisch annehmen lässt: Das Leben in der Moderne bleibt ungewiss, instabil und erfüllt vom quälenden Bewußtsein des Verlustes.


4 Schlussbetrachtung

Mit diesem Blick auf das Unsichere und Ordnungslose entlässt Barnes am Ende dieses zentralen Kapitels (wie schließlich am Ende des Werkes) nicht nur ihre Figuren, sondern auch ihre Leser: "their heads fattened with a knowledge [...] they never wanted" (100), so die Autorin fast spöttisch. "Nightwood" unterliegen die 'Themen' des Modernismus: die Wahrnehmung der Destabilisierung und der Entleerung der einstigen Ideale und Werte, die Marx in seinem berühmtem Ausspruch fasste als "all that is solid melts into air".89

Die Ängste, die die Charaktere in Barnes' Werk umtreiben – vor der Auflösung des Vertrauten und des Selbst bis hin zum Verfall der Sprache, die die Erfahrungen der Moderne nicht mehr zu benennen und vermitteln vermag – sind eben jene, die die gesamte Gruppe der Modernisten in den USA und der expatriates in Europa verarbeitete. Den Ausdruck dieses Empfindens und zugleich die Mittel, das Nichtabbildbare ihrer modernen 'Geschichte' abzubilden und lebendig zu vermitteln, fand Barnes in der althergebrachten Ästhetik des Grotesken. Die Verbindung von Tradition im Rückgriff auf die grotesken Schauer der Romantik und das "vinework" der Renaissance auf der einen Seite mit dem Sprachskeptizismus und der textuellen Fragmentarisierung des Modernismus auf der anderen wirkte auf Barnes' Kritiker dabei selbst wie ein groteskes Vexierbild – alternierten ihre Rezeptionen doch unbehaglich zwischen der Betonung der altertümlichen 'Qualität' der Elisabethanischen Tragödie und der experimentellen Radikalität des Textes.90 Es ist, als hätte Barnes solche unverständigen, einseitigen Lesarten sowohl erwartet als auch befürchtet; selbst-reflexiv fragt sie durch den Doctor: "And must I, perchance, like careful writers, guard myself against the conclusions of my readers?" (94)




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Andrew Fields' (en passant) vorgestellter Ansatz jedoch hält, was er verspricht: Er ermöglicht eine Lesart, die beide Eindrücke in einer integrativen Wahrnehmung vereint. Im 'Lichte des Grotesken' fügen sich die desolate Oberflächenhandlung, die undurchsichtigen, 'exotischen' Tropen und der gebrochene, 'unstrukturierte' Erzählstil des nur scheinbar widersprüchlichen Werkes in der Tat zu einem Ganzen.91

Als Ausdruck von Barnes "Schaffenshaltung" und ihrer 'qualitativen Gegenwahrheit' über den Zustand der Gegenwart lassen "Nightwoods" groteske Szenen und Figuren die Verkehrung der Moderne erfahrbar werden, stören ornamentale Textstrukturen alte Wahrnehmungs- und Lesemuster, decken Selbst-Referenz und Dopplungen des Textes, Fiktionalität und Willkür der eigenen und auktorialen Sinngebungen auf. Schließlich weiß der Text vor allem in krassen, unfassbaren Bildern seine sprachliche Beschaffenheit zu transzendieren – und unmittelbar auf den Rezipienten zu wirken.92 Dessen Reaktion bleibt so uneindeutig wie das gesamte Werk: Der Leser von "Nightwood" schwankt in seinen Gefühlen, ist amüsiert, doch zugleich auch beunruhigt und verwirrt.

Dennoch wird gerade in dieser über Inhalte und Strukturen erzielten Wirkung das "unifying principle" des disparaten Werkes am deutlichsten erkennbar. So widersprüchlich die ausgelösten Gefühle ausfallen: Nie kann sich der Leser eines Eindrucks sicher sein – und nie lässt das Groteske die Gleichgültigkeit des Betrachters zu. Die groteske Ästhetik ist eine Ästhetik des Schocks, den Barnes in den Schock der Konfrontation mit dem Uneindeutigen und Unerklärlichen ihrer Zeit übersetzt. Auf diesen richten sich letztlich all ihre heterogenen Strategien aus; und, ob im Verriss der pervers-unverständlichen Geschichte, oder im Lob der rätselhaften Poetik und der Anerkennung der tiefgreifenden Destabilisierung – in dieser offenkundig intendierten Erregung der Gemüter ihrer Kritiker und der Anregung zur Reflektion liegt Barnes' eigentlicher und bleibender Erfolg.

Oh, it's a grand bad story, and who says I'm a betrayer?
I say, tell the story of the world to the world! (161)


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Anmerkungen

1 Vgl. Singer (1983: 47).

2 Vgl. die Aufbereitung der Rezeptionsgeschichte nach Field (1983: 214) und ihre Wiedergabe durch Benstock (1986: 245).

3 Vgl. Benstock (1986: 245).




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4 Durch sein Vorwort zu "Nightwood" prägte T.S. Eliot die Rezeption des Werkes für die nächsten Jahrzehnte entscheidend. Er kommentierte, das Werke "would appeal primarily to readers of poetry". Lob gebühre dem Werk vor allem aufgrund seines "musical pattern"; angesichts der problematischen Handlung empfand er es gar für nötig, den Leser zu bitten, nicht vorschnell über die "horrid sideshow of freaks" zu urteilen. Endgültig versetzte er dem Werk den Stempel eines nicht für ein (Massen-) Publikum geeigneten Textes mit dem Hinweis, "(its prose) demands something of the reader that the ordinary novel-reader is not prepared to give." Eliot (1937: xii, xvi).

5 Vgl. erneut Benstocks Analyse der Rezeptionsgeschichte (1986: 243).

6 Vgl. hierzu z.B. Chastel (1997; Originalausgabe 1988), Hocke (1957), Kayser (1960).

7 Vgl. Kayser (1960).

8 Vgl. Bachtin (1987).

9 Ihre Hommage an Rabelais ging schließlich so weit, dass sie ihn als einzig angemessenen literarischen Maßstab an jenes Werk anlegte, das sie zu der überwältigten Aussage veranlasste, nach dieser Lektüre könne sie nie wieder nur eine Zeile schreiben: "Ulysses" – "the great Rabelaisian flower", vgl. Stevenson (1991: 81); zitiert aus Interviews (1985: 288 ff.).

10 Vgl. McElroy (1989).

11 "The balance between the fearsome and the playful depends not in the subject matter, but on the artist's attitude and the response he seem to be encouraging in his reader", so McElroy (1989), S.14. Nach Kayser ließe sich hinzufügen, dass diese "attitude" im Zusammenspiel mit dem zeitgenössischen kulturellen Umfeld des Autors begriffen werden muss: Das Kippen der Balance ist demnach symptomatisch für die Kultur in der "Krise".

12 Stevensons Arbeit, wie der Großteil der feministischen Betrachtungen, nimmt hierbei Rekurs auf die Konzepte Bachtins, dessen Ansatz im Folgenden beschrieben wird.

13 Eliot (1937: xii) nahm in seinem Vorwort die Kritik eines Großteils der Leser mit folgender Bemerkung voraus: "When I first read the book I found the opening movement rather slow and dragging, until the appearance of the doctor".

14 Vgl. z.B. Gerstenberger (1989: 132): Auch sie bewertet "the often neglected first chapter of the novel (as) an anti-introduction".

15 Stromberg (1989: 111) gibt Colemans Kritik an Barnes aus einem Brief wieder, den diese Barnes 1935 nach der Lektüre des endgültigen Manuskripts noch vor der Veröffentlichung schrieb: "Dann wieder wirft sie ihr vor, sie habe sich nicht entscheiden können, ob das Leben tragisch sei oder einfach ein furchtbares Durcheinander, aus dem man das Beste machen muss. Sie habe die tiefste Intuition, aber sie könne deren Funde nicht zu einer Philosophie korrelieren. Ein paar Zeilen weiter erklärt sie, was sie unter "Philosophie" versteht: das nämlich, was ein Schriftsteller über das Leben denkt, das er beschreibt".

16 Nach der spätantiken Rhetorik ist simia eine Äffung: Simia ist all das "was 'Abstrakta', aber auch 'Artefakten' sind, mit allem was – im Sinne des Concettismus – etwas vortäuscht". Vgl. Hocke (1957: 75).

17 Im folgenden beziehen sich alle in Klammern angegebenen Seitenzahlen auf Barnes: "Nightwood" (1961).

18 Vgl. z.B. Bachtin (1987: 345): "Übertreibung, Hyperbolik, Übermaß und Überfluss sind nach allgemeiner Auffassung eines der wichtigsten Merkmale des grotesken Stils.". Vgl. auch Kaysers Beschreibungen, etwa (1960: 22 f.).




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19 Vgl. Bachtin (1987: 345 ff.), insbesondere Kapitel 5 "Die groteske Körperkonzeption und ihre Quellen", in dem er auf die Rabelaische Degradierung "auf der materiell-leiblichen Ebene" eingeht.

20 Vgl. McElroy (1989: 17; 22).

21 "...the remorseless homage to nobility, the genuflexion the hunted body makes from muscular contraction, going down before the impending and inaccessible, as before a great heat." NW, S. 2-3.

22 Das Gleichzeitige stellt ein wesentliches Kennzeichen der grotesken Ornamentkunst dar: Ihre Bilder sind immer 'Kippbilder'. Mal lassen sie einzelne Figuren hervortreten, mal verschwimmen diese vor dem Hintergrund des Ganzen des Rankenbildes, vgl. z.B. Chastel (1997).

23 McElroy (1989: 16) fasst die paradoxe, beunruhigende Wirkung des Grotesken entsprechend:"the grotesque lures even as it repels (and) fascinates us with our own irrational dreads".

24 Vor allem Kayser (1960: 39) betonte die Berührung des Grotesken mit dem "Unheimlichen", das für ihn in der Verfremdung der Welt liegt: "Das sich einmischende Grauen angesichts der zerbrechenden Ordnungen". Bachtin wandte sich explizit gegen eben diese Analogie.

25 Die Wachsfigur und die belebte/nicht-belebte Puppe stellt Kayser (1960: 33) als typisches Motiv heraus, "das Groteskes birgt und in der Romantik so häufig gestaltet worden ist"; in der leblosen Künstlichkeit erscheint die angedeutete "Lebensähnlichkeit" grauenvoll.

26 Die Identifikation der romantischen Gestaltung des Grotesken à la Poe als Vorgeschichte(n) zu "Nightwood" steht in Einklang mit Kaysers Verständnis: Er erklärt das Groteske der Moderne weitestgehend aus den Vorgängern in der Romantik heraus.

27 Vgl. McElroy (1989: 22), der "alienation" als "issue" des Grotesken in der Moderne zurücknimmt hinter "irreconcilability".

28 Vgl. Fußnote 77 zu Kapitel II 4: In der Gestaltung der Ornamentbilder bleiben die deformierten, fragmentarisierten Figuren als Versatzstücke erkennbar.

29 Vgl. Kayser (1960: 136): "Die Plötzlichkeit, die Überraschung (der Entfremdung der Welt) gehört wesentlich zum Grotesken".

30 Die Phantasie des Künstlers ist auch in der grotesken Ornamentkunst das einzige für den Betrachter offenbare Gestaltungsprinzip; über diese phantastische Willkür hinaus scheint das Ornament keiner konventionellen Ordnung zu gehorchen. Vgl. Chastel (1997); Hocke (1957) beruft sich in ähnlicher Weise auf das Konzept der phantasia.

31 Der Doctor wird seine Rolle als "Sprachrohr" der Autorin auf ungeheure Weise in "Watchman, what of the night?" selbst ausstellen, indem er sich explizit mit der Erzählerin auf eine narrative Ebene stellt.

32 Wie bereits der fehlende Zeilenumbruch andeutet, setzt sich die märchenhafte Fabulation fort: "What had formed Felix from the date of his birth [...] was unknown to the world[...]. No matter where and when you meet him you feel he has come from [...] some secret land that he has been nourished on but cannot inherit, for the Jew seems to be everywhere from nowhere." (NW 7).

33 Der stereotype Jude "[...] knew figures as a dog knows the covey", "mastered seven languages", "(and) how he came by his money [...] no one knew" (nicht jedoch, so die Implikation, auf 'öffentlichen', rechten Wegen; NW 8).

34 "Wandering Jew: a legendary figure, said to have been condemned by Christ to wander the earth until the 2nd advent". The New Oxford Dictionary of English (1998: 2080).




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35 Schardt (1972: 2)

36 In seiner semiotischen Studie des Zirkusses als System definiert Bouissac (1976: 8) den Zirkus selbst als eine Sprache: "a set of rules for cultural transformations, displayed in a ritualistic manner that tempers this transgressive aspect". Ähnlich der Bachtinschen Annäherung an den Karneval betont er die befreiende Funktion des kulturellen Freiraums. Zitiert bei Jane Marcus (1991: 248).

37 Nach Kayser (1960: 54 ff.) lässt die Möglichkeit einer Erklärung, wie die Zuschreibung auf einen Traum oder einen Trick das Groteske in sich zusammenfallen: jede Form der Sinngebung (speziell auch der religiösen, z.B. durch das Bild des Teufels) löst die unheimliche Spannung auf.

38 Vgl. McElroy (1989: 10): "The true freak challenges the conventional boundaries between male and female, sexed and sexless, animal and human, self and other and reality and illusion, experience and fantasy, fact and myth". Tatsächlich weitet die Duchess nach der Überschreitung einer Grenze - "having surmounted two mediums, earth and air" - dieses "talent" des freaks auch auf die weiteren bei McElroy aufgeführten Dualismen aus. (NW 14).

39 So lenkt auch "the more obvious tail of her lion" von Nadjas halb-tierischem Körper ab (NW 12).

40 Die öffentliche Selbst-Inszenierung der Zirkusleute, Resultat ihrer tatsächlichen Unvereinbarkeit mit der (überkommenen) Norm der Gesellschaft, ist auch die Strategie des Doctors. Auch er erfindet seine Rolle(n) der 'Unterwelt' (NW, S. 31), stellt seine freakishness aus. In "Go Down, Matthew" ruft er schließlich aus: "And what am I? I'm damned and carefully public!" (NW 163)

41 In "Watchman, what of the night?" beschreibt der Doctor Nora als "decaying comedy jester", die ihn in dieser eigentlich ihm gebührenden Rolle noch übertreffe (NW 98).

42 Wie Felix ist der Doctor ein pretender – er gibt sich als 'Medizinstudent' aus, nennt sich zugleich 'Doctor', verfolgt allerdings lediglich ein 'Interesse in Gynäkologie'. Die zweifelhafte Herkunft, bei Felix unheimlich, gereicht dem Doctor zu einem paradoxen Scherz: eigentlich Ire, kommt er doch von der "Barbary Coast", ein alter Name für die mediterrane Küste Nord-Afrikas. In einem Zusatz spezifiziert die Autorin diese Adresse allerdings als eine Straße in San Francisco, an der 'barbarischen' West-Küste der USA – ein typischer Witz aus New York bzw. von der Ost-Küste. Auch des Doctors Äußeres ("shaggy eyebrows, a terrific widow's peak") wirkt hier eher komisch, nicht entstellt, obwohl auch er zu einer 'entschuldigenden' – d.h. nach McElroy "humiliated" – Haltung neigt.

43 Bachtin analysiert den grotesken Sprachgebrauch vor allem auf der Ebene des Redeinhalts: die ordinäre Betonung des Materiell-Leiblichen, Flüche und Verwünschungen und ihr Zusammenfließen mit dem Gegenteiligen, die Entthronung des Ernst im Zynismus verkehren die konventionellen Werte. Vgl. Bachtin (1987: 187 ff.), speziell das zweite Kapitel: "Die Sprache des Marktplatzes".

44 Vgl. Bachtin (1987: 167): "In dieser sprachlichen Sphäre ernsthafte Behauptungen [...] zu situieren, scheint unmöglich [...] weil diese Sphäre etwas Alogisches besitzt, etwas, das die gewohnte Distanz zwischen Dingen, Phänomenen und Werten zerstört".

45 Vgl. Kayser (1960: 51): "Was an dieser Rede grotesk wirkt, das ist [...] dieses sich überstürzende, Nahes und Fernes vermischende, alle logischen Verknüpfungen und jeden festen Satzbau schließlich sprengende Reden".

46 Kayser (1960: 27): "Uns [...] ergab sich als das Wesen des Grotesken, dass es sich nicht um ein unverbindliches Eigenreich und völlig freies Phantasieren handelt (das es gar nicht gibt). Die groteske Welt ist unsere Welt – und ist es nicht"; "Dazu gehört, dass, was uns vertraut und heimisch war, sich plötzlich als fremd und unheimlich enthüllt. Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat." (136)

47 Vgl. Kristeva (1986: 53), die Traum und Tagtraum als 'pathologische Seelenzustände' begreift. Diese begreift sie, in Rückgriff auf Bachtin, als von eminenter struktureller (weniger thematischer) Bedeutung: "[...] they indicate that he has lost his totality and no longer coincides with himself".




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48 Nach einer der absurd-komischen Gesten, in der Felix versucht, sich zu erheben, vom Doctor jedoch nieder gepresst wird, beginnt z.B. der folgende slapstick-Dialog: "'The fine is very good,' (the Doctor) said. Felix answered, 'No, thank you, I never drink'" (NW, S. 19), wieder aufgenommen einige Seiten später: "The doctor lifted the bottle. 'Thank you', said Felix, 'I never drink spirits.' 'You will', said the doctor" (NW 23).

49 "'Wait!' said Felix. 'Yes?' said the doctor." Dann wechselt er zurück zu seiner absurden Rede, um Felix nach Noras Einwurf ironisch nachzuäffen: "'Wait!' the doctor answered" (NW 21).

50 Auch Kafkas Geschichten widmet sich Kayser in seiner Studie, bezeichnet sie jedoch als 'latent grotesk': der Schock der Verzerrung der eigenen Welt, die ihm zufolge dem Grotesken zugrunde liegt, finde in Kafkas Geschichten so nicht statt, weil die Welt selbst nie 'normal' war, sondern von vornherein entfremdet ist, Kayser (1960: 107).

51 So z.B.: "'Are you acquainted with Vienna?' Felix inquired", um nach des Doctors pointenloser Abschweifung nachzuhaken: "I was not thinking of its young boys but of its military superiority, its great names" (NW 17).

52 Vgl. Kayser (1960: 113).

53 Vgl. Bachtin, etwa (1987: 404 f.).

54 In seinem Abgesang in "Go down Matthew" formuliert der Doctor die Illusion und Lüge der Liebe als Schutz gegen die groteske Realität noch einmal genauer: "[...] most people [...] want to love and be loved, when there is only a bit of lying in the ear to make the ear forget what time is compiling" (NW 147).

55 Die Plötzlichkeit der Verfremdung ist wesentlich für die Wirkung. Die unerwartete Verfremdung, Verzerrung und Verkehrung ins Unbekannte generieren den Schock, über den sich die Ästhetik vermittelt. Vgl. Fußnote 29 dieser Arbeit.

56 "At that my bowels turned turtle, seeing him in my mind's eye stropping the cleaver with a bloom in his mouth, like Carmen, and he the one man who is supposed to keep his gloves on in church! [...] The hair on my back was standing as high as Queen Anne's ruff, [...] and at that moment I got heart failure for the rest of my life" (NW 24).

57 Vgl. Fußnote 45.

58 Marcus (1991: 225) entschlüsselt die Tätowierungen Nikkas, des kindlich-unberührten Engels, der mystisch-unzivilisierten Magiesymbole und der (Sklaven-) Galeere, als Verweise auf die Geschichte der Schwarzen aus der weißen Perspektive . Hierin liegt also ein weiterer Verweis auf den interessengesteuerten Umgang mit "history as commodity" (vgl. NW, S. 10). Nikkas "loin-cloth all abulge" (NW, S. 16) verweist schließlich eindeutig auf den notorischen weißen Mythos der animalischen, bedrohlichen schwarzen Sexualität.

59 Der Bericht des Doctors bezieht sich auf "all that has been said about the black boys", und legitimiert sich durch "it's said" (NW 16).

60 Mit dem Eintritt des Count teilt sich "a torrent of Italian, which was merely the culmination of some theme he had begun in the entrance hall", "halved" wie ein stofflicher Sturzbach (NW 24).

61 Felix, besessen von den 'großen Erzählungen' und 'großen Männern' der Vergangenheit, glaubt durch Robin mit der dieser Vergangenheit in Verbindung treten zu können. In ihr selbst glaubt er, das 'Alte' zu erkennen, stilisiert sie zu mystischer, stiller Größe; durch ihre Kinder glaubt er, der Vergangenheit Ehre zu erweisen. In Noras lesbischem Begehren Robins liegt nicht nur die Suche nach der Vervollständigung ihrer Selbst, die erneute Balancierung durch den Anderen und der Bruch mit der Isolation – dies suchen letztlich alle drei von Robin Besessene.




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Die homosexuelle Liebe wurde psychologisch (bis Lacan) lange auch direkter verstanden als "a search for an image of the self [...], a search for confirmation of one's identity through the double" (Benstock 1986: 247). Nora selbst äußert sich: "A woman is yourself [...], on her mouth you kiss your own" (NW 143; ferner: "She is myself"; NW 127). Jenny schließlich kann selbst keine eigenen Erfahrungen aufnehmen, sondern spielt, bzw. imitiert das Leben nur. Auch sie rekrutiert ihre Vorstellung von Gefühlen aus der Vergangenheit und stiehlt zugleich "first-hand"-Leben und Werte von anderen, in diesem Fall von Nora (NW 66). Robin verspricht ihr Teilnahme an "the past that she can't share, and the present that she can't copy" (NW 24).

62 Singer (1983: 60) kommt über den Vergleich der schiefen Metaphern des Doctors und der allwissenden Erzählerin zu einem ähnlichen Schluss: "Dr. O'Connor [...] becomes a vehicle for transcending the opposition narrator/character", seiner Ansicht nach "...along the very lines that the destabilized trope transcends the literal/figurative dichotomy".

63 Auf die Irreale, phantastische Seite dieser Szene verweist auch Noras Kommentar angesichts des Doctors "wig with long pendent curls" ("God, children know something they can't tell; they like Red Riding Hood and the wolf in bed!" (NW 9). Sie sieht das gold-gelockte Rotkäppchen mit dem bösen Wolf verschmelzen und erinnert so in Reminiszenz an die Märchenstimme von Felix Tante erneut an die Fiktivität der Narration.

64 Nora "said to herself: "Is not the gown the natural raiment of extremity?". Der Doctor antwortet: "The Bible lies the one way, but the night-gown the other." (NW, S. 80), und etwas später klingt als Echo an: "La nuit, qui est une immense plaine, et le coeur qui est une petite extremité!" (NW 82)

65 In scharfem Kontrast zu Noras inszeniertem Soliloquium stehen ihre Gedanken ("She thought" gleich nach "She said to herself" [NW 80]); offenbar ist sie hier aus ihrer 'zweiten' Rolle entlassen und findet in den Rahmen der Handlung zurück. Hier nimmt ihre Sprache einen weit weniger dramatischen Ton an, und ihre Gedanken gleiten zurück zu des Doctors perverser Sexualität und dem abscheulichen Zimmer als Zeichen seiner zwielichtigen Identität. So revidiert sie jede Erhöhung des jester, die in ihrem Pathos lag, zerstört die geweckten Hoffnungen. Sie erinnert damit daran, dass es das groteske Prinzip "Nightwood" ist, dass der Leser in seinen Erwartungen wie in seiner Sinnsuche enttäuscht wird.

66 Siehe das Kapitel "Night Watch": "Robin's absence, as the night drew on, became a physical removal, insupportable and irreparable", NW, S. 59, vgl. auch Fußnote 60.

67 Bezeichnenderweise wählt auch Kayser (1960: 135) immer wieder "die Welt des Nächtlichen" als einen beschreibenden Rahmen für die das "unentwirrbare Geschlinge" des Grotesken – als Vorstellungsraum, in dem "das Nachtgetier und das kriechende Getier, das in anderen, dem Menschen unzugänglichen Ordnungen lebt".

68 Vgl. Kayser (1960: 135).

69 "The Great Enigma can't be thought unless you [...] come upon thinking with the eye that you fear, which is called the back of the head", so der Doctor (NW 83).

70 Die Bibel, NT: Die Offenbarung des Johannes, Kapitel 9, Vers 3-9.

71 Die Bibel, AT: Der Psalter, Psalm 23.

72 Auch Kayser (1960: 137), dessen Charakterisierung des Grotesken als 'unheimlich' sich bereits wesentlich auf Freuds Konzept des 'Unheimlichen' stützt, versucht sich an der tiefenpsychologischen Terminologie: "Wir könnten eine neue Wendung gebrauchen: das Groteske ist die Gestaltung des Es"; Anschließend weitet er das Impersonale aber zu einer "kosmischen" Bedeutung externer Kräfte.




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73 Die grotesken Flüche des Doctors scheinen sich an die körperlich-reduzierenden, obszönen Flüche Rabelais anzulehnen. Barnes schöpft aus dieser Erniedrigung jedoch keine Komik, kein befreiendes Lachen: Erneut führt ihr "decaying comedy jester" (98, vom Doctor eigentlich zur Charakterisierung Jennys genutzt) in der Verkehrung der Ordnung in die Beklemmung und Düsterkeit, wie es Kayser dem modernen grotesken Werk generell attestiert.

74 Bereits in der Verbindung von Noras Ordnungsversuchen mit allgemeingültigen künstlichen Regelwerken verbildlicht Barnes diese Regeln in "the design wildcats down the charter mortalis" (85) als Schriftstück. Wie die im weiteren genannten Metaphern verbindet auch diese das groteske "design" der Welt mit dem des Textes. Die panische Reaktion Noras auf den Schock des "crime" (d.h. des Ordnungsverstoßes) und den Kontrollverlust ("the hair moves and drags upward, [...] your conscience belly out and shaking") spiegelt zugleich die erwartete und angestrebte Wirkung des grotesken Werkes, das den Schock des Lesers zu provozieren sucht.

75 Das 'wahre' Leben wird hier gefasst als das der Straßen und "bed sheets" (NW, S. 89) von Paris, schließt also das Ausgestoßene und Ungehörige ein. Nicht zuletzt ist dies der Kommentar einer Autorin, die Juden und Schwarze, Lesben und Transvestiten nicht zu einer "sideshow of freaks" (Eliot 1937: xvi; vgl. auch Fußnote 4) verdammt, sondern als die archetypischen Vertreter der Moderne centerstage präsentiert. In diesem 'Ideal' liegt jedoch kein politisches Plädoyer: Der groteske Text relativiert die Grand Narratives, doch er kann und will keine Antwort auf die entstehende Leere liefern. Wenn Barnes die exklusiven Kategorien 'dekonstruiert', wie es besonders neuere feministische Kritiken sehen, so stellt sie an ihrer Statt weder eine neue, offenere Ordnung, noch kann sie den Zusammenbruch der überkommenen Regeln als Befreiung feiern. Die Welt "Nightwoods", zu der der Verlust der Sicherheiten und Werte geführt hat, verbleibt voller Angst und birgt keine Utopie.

76 Im Rabelaischen "Karneval" entführte der "weise Narr", dem Einsicht in die "inoffizielle Wahrheit" zugesprochen wurde (etwa Bachtin 1987: 303), und der speziell in der Figur des Arztes auftrat als " Philosoph [...], einem Gott gleich" (ebd.: 404), aus einer Welt allzu starren Regeln. Der Karneval barg eine temporäre komische Befreiung von den offiziellen Werten und der Ordnung, die dann wieder in Kraft traten. Der jester der Moderne jedoch kann nicht in einen fröhlichen Freiraum entführen, denn das Groteske ist selbst zum Status quo geworden und hat jede absichernde Ordnung zerstört. Vor dieser desolaten Wahrheit verzweifelt auch der jester selbst zum Ende des Werkes.

77 "[...] It looked like [...] a centipede. And you look down and choose your feet, and, ten to one, you find a bird with a light wing, or an old duck with a wooden knee, or something that has been mournful for years" (NW 91).

78 In seinen wirren "argument(s)" (NW 92) spricht der Doctor den Individuen eine Unterscheidung nach "faces", d.h. Individualität, ab; dennoch sei auch in der nächtlichen Verdunklung ihre Herkunft noch erkennbar. Dieses Verständnis der Verfremdung entspricht dem Prinzip der grotesken Ornamentmalerei: Die Figuren verlieren ihre Menschlichkeit in widernatürlicher und disharmonischer Verbundenheit, dennoch bleiben sie als Versatzstücke erkennbar und machen so ihre Entstellung sichtbar. In der grotesken Auflösung liegt damit keine Befreiung sondern schreckliche Entmenschlichung.

79 Die Wahl John Donnes ist auch als literarische Referenz in Hinblick auf Barnes sprachliche Gestaltung interessant. So bediente sich Donne in seinen religiösen Dichtungen mit Vorliebe des elaborierten "conceits", des Doppelsinns, konstruierter rätselhafter Paradoxien, um das auszudrücken, was nicht ausdrückbar war (in seinem theologischen Werk also das Göttliche). Dies ist ein Verfahren, das typologisch in die Nähe des Manierismus gestellt wird, damit aber auch Barnes Verfahren des Grotesken nahe steht.

80 "The meeting at the opera had not been the first, but Jenny, seeing the doctor in the promenoir, aware of his passion for gossip, knew she had better make it seem so; as a matter of fact she had met Robin a year previously" (NW 69).




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81 Des Doctors Anonymität und Bisexualität bzw. Ungeschlechtlichkeit lässt sich somit auch als (überdeutlicher) Verweis auf die Verschmelzung mit der (weiblichen) autorialen Stimme lesen. Die Auflösung der Identitäts-Kategorien, so wird hier erneut deutlich, findet sowohl auf der Ebene des Erlebens der Figuren wie auch über die Ebenen der Erzählung hinweg statt.

82 Zunächst gibt der Doctor emphatisch an, auch habe das 'Unrecht' an Nora vermeiden wollen, "because you are a friend of mine and a good poor thing, God knows" (NW, S. 102); und verflucht sich dann selbst – denn er handelte ohne Umschweife gegen ihr Interesse ("Certainly, damn it!" [NW 102]) und betrog die 'Freundschaft' ohne jeden Skrupel: "God help me, I went! For who will not betray a friend or, for that matter, himself for a whisky and soda, caviare and a warm fire" (NW 103).

83 Vgl. Singer (1983: 54) zur Psychologie der Lüge, die er an Lacans Rhetorik-Analyse anlehnt.

84 Der Doctor zitiert Jenny als in groteskem Eifer aussprechend: "You must come to my house for late supper" und kommentiert in falschem, unverschämtem Pathos: "God help me, I went! For who will not betray a friend or, for that matter, himself for a whisky and soda, caviare and a warm fire" (NW 103).

85 Diese Bewegung erinnert an die grausige Dematerialisierung der Kuh in "Bow Down" (NW 23), und verbildlicht erneut die unkontrollierbaren, unberechenbaren Richtungen des Grotesken.

86 So lassen sich auch die Bilder der Ornamentkunst nicht festhalten. Jeder fixierte Eindruck löst sich in Spielarten auf. Dem Blick des Betrachters bietet sich kein Ruhepol und kein Ende: Jedes Element ist der Ganz- und Einheitlichkeit beraubt und in die Verbindung zum nächsten gezwungen.

87 Tatsächlich erfüllt sich das enigmatische Bild des Hundes, über den Nora und Robin sich wieder finden, mit dem letzten Kapitel, ohne jedoch eine Schließung der 'Geschichte' anzubieten: Vielmehr kulminiert das Werk mit dem "anti-climax" "The Possessed" in der vollkommenen Verdunkelung. Während sich diverse Ausdeutungen der 'Verwilderung', Verwandlung Robins in den Kritiken finden, ist sich das Gros darüber einig, dass das Werk nach einem scheinbaren existentialistischen Schluß über "Go Down Matthew" erneut alle Deutungen öffnet und in Unsicherheit ausläuft. Oszillierend zwischen (hysterischem) Lachen und Grauen schließt das Werk so mit der wohl 'groteskesten' Szene des Werkes.

88 In dem Bild von Nora und Robin als "buried at opposite ends of the earth" (obwohl physisch am Leben) rekurriert der Doctor auf das sich an die Beschreibung der vampirähnlichen Jungen der Gegenwart anschließende Bild des "lovers" "in misery", "lost lower than burial" (NW 95). Somit erinnert er noch einmal an das Gesamtschicksal der Generation der Moderne.

89 Diesen Ausspruch macht Berman (1983) zum Titel seines erfolgreichen Werkes über das Gefühl einer ganzen Epoche – und einer Generation, der auch Barnes angehörte.

90 Eliot schließt sein prägendes Vorwort mit der Anleitung: "What I would leave the reader prepared to find is the great achievement of a style, the beauty of phrasing [...] and a quality of horror and doom very related to that of Elizabethan tragedy" (1937: xvi). Noch in der 1999er Ausgabe von Kindlers Neues Literatur Lexikon wiederholt der Kritiker Drews diese Lesart fast wörtlich.




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91 Vgl. Singer (1983: 47).

92 Vgl. Kotzinger zum ornamentalen Text: "Eine Rede/Text soll dem Rezipienten qua des ihm eigenen Vermögens der phantasia eine ästhetische Unmittelbarkeitserfahrung verschaffen [...]. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Aufgabe des Textes darin besteht, in seiner Wirkung seine sprachliche Beschaffenheit zu transzendieren." (Kotzinger 1992: 223).

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