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Jörg Türschmann (Freiburg)


Susanne Dürr (2001): Strategien nationaler Vergangenheitsbewältigung. Die Zeit der Occupation im französischen Film. Tübingen: Stauffenburg.


Filmgeschichte und Geschichte im Film in ein Verhältnis zueinander zu setzen, ist im gegenwärtig weit verbreiteten filmphilosophisch geprägten Wissenschaftsdiskurs keine dankbare Aufgabe. Zum einen finden solche Untersuchungen oft nur bei historisch Interessierten Anklang, die dann die Art der filmischen Darstellung der betreffenden geschichtlichen Periode weniger interessiert. Zum anderen ist es das Interesse an der außerfilmischen Geschichte, das aus filmästhetischer Sicht den Verdacht aufkommen lässt, hier gehe es erst in zweiter Linie um filmhistorische Bauformen. Doch bereits der Titel von Susanne Dürrs Dissertation beantwortet diese Herausforderung an eine interdisziplinäre Perspektive aus Geschichts- und Filmwissenschaft mit dem Hinweis, dass alle untersuchten Filme zu ihrer Zeit mit einer bestimmten Absicht in Umlauf gebracht werden: Dürr zufolge nämlich dienen sie im jeweiligen historischen Kontext der "nationalen Vergangenheitsbewältigung". Sie sind daher weder einseitig der Dokumentation geschichtlicher Ereignisse verpflichtet, noch können sie allein als Vertreter filmhistorischer Stilrichtungen begriffen werden.

Der Vergleich von Untertitel und Inhaltsverzeichnis zeigt allerdings eine thematische Akzentverschiebung. Geht es laut Untertitel mit der Occupation um die Besetzung Frankreichs durch die Deutschen, so beschäftigt sich der Hauptteil der Arbeit mit der Résistance als einem "Mythos" – ein Terminus, den Dürr mit Lévi-Strauss begründet. Den Zusammenhang von Occupation und Résistance erklärt sie allerdings umgehend in ihrer Einleitung damit, dass mit Hilfe eines solchen Mythos den "dunklen Jahren" der Besetzung durch die Filme ein positiver, unverrückbarer Kern nationaler Identität entgegengehalten werden soll: "Wesentliche Mytheme sind dabei etwa die kollektive Beteiligung des französischen Volkes an der Résistance, die Reduktion der Kollaboration auf eine Handvoll ‚Verräter‘ sowie die letztendliche Befreiung aus eigener Hand ohne wesentliches Zutun der Alliierten" (20). Dieser Mythos ist bis in die Gegenwart hinein wirksam. Daher kann Dürr schlüssig die Wahl ihres Korpus aus neun Filmen damit begründen, dass nach solchen Klassikern des politischen Films wie René Cléments La bataille du raille (1945) oder nach Duviviers Marie Octobre (1958) auch Beispiele aus der jüngeren Filmgeschichte wie Claude Berris Lucie Aubrac (1997) die Résistance nach wie vor feiern.

Dürr beschränkt sich aber nicht auf die einfache Polarität zwischen Gut und Böse in Form von Besetzung und Widerstand. Vielmehr berücksichtigt sie auch, dass der Résistance-Mythos als Vorlage für Filmkomik und "Dekonstruktion" eben dieses Mythos gedient hat. Die Vergangenheitsbewältigung erfolgt bis heute im Film also wenigstens auf dreifache Weise: nämlich durch die Tradierung des unhinterfragten Mythos einer wirkmächtigen Résistance sowie durch die "Komisierung" und durch die "Dekonstruktion" dieses Mythos.



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In dieser Reihenfolge scheint mit den Begriffen auch ein filmhistorischer Ablauf benannt zu sein. Doch nimmt Dürr die Schichtung aller drei Formen zur Vorraussetzung. Zwar ist die Etablierung und Verherrlichung des Mythos vorrangig eine Erscheinung des Nachkriegsfilms, und auch die anderen beiden Schichten der komischen und der dekonstruktiven Verarbeitung des Mythos mögen sich in der Folge schwerpunktmäßig bestimmten film- und gesellschaftshistorischen Epochen zuordnen lassen. Doch besteht die Originalität von Dürrs Untersuchungsansatz in der Ausgangsthese, dass alle drei Formen der Auseinandersetzung mit der Résistance seit dem Ende der Besetzung bis heute zu finden seien. So sind Resnais’ Hiroshima mon amour (1959) und Malles Lacombe Lucien (1974) ‚zeitgemäße‘ Beispiele für die Dekonstruktion des Mythos, deren Tradition jedoch ebenso durch Jean-Pierre Melvilles viel früher entstandenen Film Le silence de la mer (1947) nachweisbar ist. "Eine Auswahl, die nur die ‚epochentypischen‘ Filme berücksichtigte, ginge demnach an der Realität vorbei" (17), schreibt sie und verdeutlicht damit implizit eine Forschungsperspektive, die sich auch an anderer Stelle als gewinnbringend herausstellen könnte: die Untersuchung eines jeweils historisch determinierten Dialoges über einen Abschnitt nationaler Geschichte mit Hilfe des Films.

Eine Scharnierfunktion zwischen der Affirmation und der Dekonstruktion des Résistance-Mythos besitzen für Dürr die Beispiele seiner "Komisierung". Hierfür behandelt sie René Cléments Le père tranquille (1946), Gérard Ourys La grande vadrouille (1966) sowie Jacques Audiards Un héros très discret (1995). Innerhalb des Paradigmas der Komisierung erfolgt eine aufschlussreiche Feindifferenzierung, die nach drei Richtungen strebt: Die Filmkomödie lässt sich "sowohl für den Mythos verpflichten (wie im Fall des Père tranquille), wie sie auch zu seiner Dekonstruktion (etwa in Un héros très discret) beitragen kann oder aber ihn lediglich als ‚Ermöglichungsstruktur‘ für das Ausspielen des komischen Paradigmas gebraucht (wie in La grande vadrouille)" (17). Somit reflektiert dieser mittlere Abschnitt im Kleinen den gesamten Aufbau der Arbeit ausgehend vom unbeschädigten Mythos über seine Komisierung bis hin zu seiner Dekonstruktion. Dürr betritt mit der Analyse der Filmkomödie als Reflex auf die Besatzungszeit Frankreichs sicherlich Neuland. Denn neben der vermutlich hierzulande nie betrachteten französischen Filmkomödie als "Strategie nationaler Vergangenheitsbewältigung" der Okkupationszeit bringt es der Gegenstand mit sich, filmästhetische Fragestellungen auf das Engste mit einem Blick auf den außerfilmischen historischen Kontext verknüpfen zu müssen.

So wie es sich für die Grundanlage ihrer Arbeit als ergiebig erweist, so begegnet Dürr dieser interdisziplinären Herausforderung auch im Fall der Filmkomödien auf eine unprätenziöse, methodisch gesehen pragmatische Weise, ohne auf den systematisch, weil typologisch begründeten Brückenschlag zwischen den einzelnen Untersuchungsbeispielen verzichten zu müssen. Sie bedient sich gegenüber den ersten beiden Filmen – Le père tranquille und La grande vadrouille – zweier Typenbeschreibungen der Komödie durch Rainer Warning, der zwischen der Komödie mit einer "dominanten" und einer "reduzierten" Paradigmatik unterscheidet.



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Im ersten Fall ist die Filmhandlung nur eine "Ermöglichungsstruktur" von Komik, wodurch sich vielfältige Anlässe für komische Einlagen bieten, die für sich genommen einen hohen Attraktionswert besitzen. Im zweiten Fall liegt Komik vor, "indem es [das Paradigma der komischen Handlung] die anderweitige, sonst nicht komische Handlung zu einer komischen macht" (85 f.). Anhand exemplarisch protokollierter Filmpassagen kann Dürr zeigen, dass Cléments Le père tranquille zum zweiten Typ und Ourys La grande vadrouille zum ersten gehört. Interessant ist dieses Ergebnis mit Blick auf Cléments Résistance-Klassiker La bataille du rail. Während Clément noch ein Jahr zuvor die Résistance mythisch überhöhte, "erfüllte Le père tranquille die Identifikationsbedürfnisse des Kleinbürgers, der eher den petainistischen Idealen zugeneigt das Ende des Krieges abgewartet hatte" (98). Anders als bei Clément bringt Oury den Zuschauer dazu, über die Figuren zu lachen (105). Mag diese Form zwar dem Aufbau von Ressentiments gegenüber dem Aggressor zuträglich sein und insofern einen neuen Blick auf diese Zeit ermöglichen, so herrscht letztlich doch "das Bemühen um die Fortschreibung des Mythos Résistance" (110).

Abseits der Vorschläge Warnings zur typologischen Beschreibung komischer Erzählungen versucht Dürr mit dem dritten Beispiel der Komisierung des Résistance-Mythos – Jacques Audiards Un héros discret (1995) – zu zeigen, "wie die Vermittlung von Geschichte immer schon perspektivisch gebrochen ist" (121). Im Ergebnis zeigt sich eine Multiperspektivität und der Verlust einer durchgängig bestimmbaren Erzählinstanz. Auf diese Weise wird ein Umgang mit der Résistance und darüber hinaus mit der Occupation deutlich, der von einfacher Schuldzuweisung und heroischer Überhöhung absieht und das Ergebnis der Bewertung dieses Abschnitts der französischen Geschichte in der steten Auseinandersetzung mit ihm sieht. Dürr weist in Zusammenhang mit diesem Film auf "einmontierte Zeitzeugen oder die angeblichen Dokumentarsequenzen" hin, die sich "gar der Lüge überführen" (125). So ist es die Kollision der verschiedenen Perspektiven, die für sich spricht. Dies lässt an die Tradition des französischen Dokumentarfilms denken, wie sie – nur um zwei der bekanntesten Beispiele zu nennen – unter anderem Marcel Ophuls mit Hôtel Terminus (1988) und zuletzt Bertrand Tavernier mit Laissez-passer (2002) vertreten. Diesen Strang französischer Filmgeschichte verfolgt Dürr freilich nicht, auch wenn im Titel ihrer Arbeit von der "Zeit der Occupation im französischen Film" die Rede ist. Eher schon knüpft ihre Analyse dieses Films mit Blick auf die Multiperspektivität – bei allen Unterschieden – an den Nachweis von Wiederholungsstrukturen in einem hin und wieder als Nouveau Cinéma titulierten Kino an, für das Alain Resnais’ Hiroshima mon amour (1959) steht – Dürr zufolge ein "pazifistisches Pamphlet", das sie der Dekonstruktion des Mythos Résistance zurechnet.

Insofern also dieser mittlere Abschnitt den gesamten Aufbau der Arbeit wiedergibt, leitet er auch entsprechend folgerichtig über zur Dekonstruktion des Mythos. Es handelt sich bei den hier untersuchten Beispielen um Rollenspiele, in denen die Protagonisten nicht ohne Weiteres ihren scheinbar angestammten Positionen zugeordnet werden können. So sind eben nicht alle Deutschen auf ganzer Linie böse und unkultiviert (Le silence de la mer), so sind deutsche Besatzer für Französinnen attraktive Partner (Hiroshima mon amour), und so stellt der Faschismus auch eine Versuchung für eine orientierungslose Jugend in Frankreich dar (Lacombe Lucien).



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Der Mythos Résistance ist nach wie vor präsent, doch stellt er für den Zuschauer kein einfaches Angebot zur Entlastung von der historischen Verantwortung dar, welche die Vertreter aller beteiligten Parteien auf sich zu nehmen haben. Dieses Ergebnis ist bedeutsam, weil es in jeder Hinsicht zeigt, dass unter die Aufarbeitung der Geschichte niemals ein Schlussstrich gezogen werden kann und dass eben immer wieder um ein kritisches Verständnis dieser folgenreichen Begegnung von Deutschen und Franzosen gerungen werden muss.

Dürrs Arbeit bietet einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere Studien zum Thema. Umso bedauerlicher ist es, dass die neun Filme, die sie untersucht aus einer Menge von "200 Produktionen zum Thema Besatzungszeit" (21), in ihrer Filmografie nur mit äußerst knappen Daten bedacht sind (177). Denn etwa der Hinweis auf mögliche Videofassungen könnte die Initiative zu weiteren Untersuchungen erleichtern. Auch eine erweiterte Auswahl von Titeln aus eben jenen 200 Filmen mit den entsprechenden filmografischen Angaben wäre sicher wünschenswert gewesen. Dennoch ist aufgrund der schlüssigen Differenzierung des Korpus davon auszugehen, dass die wichtigsten Formen des filmischen Umgangs mit dem Mythos Résistance und der Occupation berücksichtigt sind, wenn auch eine umfassende gesellschafts- und politikgeschichtliche Einschätzung der betreffenden Filme noch aussteht – eine Arbeit, die von einer detaillierten, korpusorientierten Analyse wie der Dürrs nicht erwartet werden, die aber sehr gut daran anknüpfen kann. Dass das Thema Résistance bzw. Occupation auch in der gegenwärtigen Filmproduktion große Aktualität besitzt, steht außer Frage. Dies belegt Gérard Jugnots Film Monsieur Batignole (2002), der in einer abenteuerlichen und aufwändig inszenierten Geschichte einen Kollaborateur und Denunzianten, welcher seine jüdischen Nachbarn verrät, zu einem Partisanen privater Natur veredelt, nur weil er einen Jungen aus eben jener Familie rettet, die er zuvor deportieren ließ. Dieser Film hat trotz seiner reichen Ausstattung und hohen Schauwerte bis heute keinen deutschen Verleih gefunden. Wenn sich für das deutsche Publikum nicht Filme dieses Themas aus angelsächsischer Sicht annehmen wie die englisch-australisch-deutsche Koproduktion Charlotte Gray (Gillian Armstrong; 2001), dann bleibt nichts anderes übrig, als auf gut recherchierte, detaillierte Untersuchungen wie die von Dürr zu hoffen, die auch über die französischen Filme berichten, welche hierzulande möglicherweise niemals ohne Weiteres zu sehen sein werden.

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