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Thomas Stahl (Regensburg)



Konfigurationen des Fremden
in Mori Ôgais Deutschlanderzählung Die Tänzerin



Configurations of otherness in Mori Ôgai's The Dancing Girl
Mori Ôgai's literary debut, the novellette Maihime (The Dancing Girl), published in 1890, broke all conventions of Japanese narrative traditions since it presented the first instance of a first-person narration written by a Japanese author. It is also one of the three so-called 'German stories', in which Ôgai incorporated his personal experiences, gained while he was a student in Germany in the late 19th century. Based on the obvious biographical background and a close reading of the text the following discussion attempts to explore how Maihime represents experiences of otherness. Therefore the main focus of the analysis will be on three elements: Firstly, the story develops a portrait of German reality in a detailed presentation of a foreign culture, seen through the eyes of a stranger in unknown surroundings. Secondly, the experience of cultural otherness is felt as a necessary condition for the protagonist's own cultural emancipation, which leads to an increasing liberation from oppressive social conventions and a new knowledge of his own identity. Finally, it will be shown that the main characters, the Japanese protagonist and his German lover, are both in similar ways defined through categories of otherness and strangeness.



1 Einführung

Der hier zu Lande kaum bekannte Mori Ôgai1 (1862–1922) ist in Japan ein 'Klassiker', die Erzählungen des zuweilen auch 'Goethe Japans' genannten Schriftstellers, Übersetzers und Arztes gehören zum Lektürekanon an japanischen Schulen, sein Name fehlt in keiner Publikation zur modernen japanischen Literatur. Er ist, wie Ursula Berndt urteilt, "einer der Großen der japanischen Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte", gleichzeitig aber auch "eine Symbolfigur für fruchtbare deutsch-japanische Beziehungen" (Berndt 1994: 97).2




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Maßgeblich hierfür war auch Ôgais persönliche Erfahrung der Fremde während seines vierjährigen Aufenthalts im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der auch die Grundlage für sein literarisches Debüt und seine wohl bekannteste Erzählung mit dem Titel Die Tänzerin (Maihime, 1890) bildet.3 Dieser Text steht im Zentrum der folgenden Untersuchung, die ausgehend von biographischen und entstehungsgeschichtlichen Hintergründen drei wesentliche Konfigurationen des Fremden analysieren will, wie sie sich in Die Tänzerin präsentieren. Zunächst wird untersucht, wie die Erzählung kulturelle Fremde als Bild deutscher Wirklichkeit in einem interkulturellen Vermittlungsprozess darstellt. Das Fremde als Auslöser und notwendige Bedingung für einen Selbstfindungs- und Emanzipationsprozess des Protagonisten steht im Mittelpunkt des folgenden Abschnittes. Am Ende soll gezeigt werden, dass Fremdheit ein konstitutives Merkmal der Figuren selbst darstellt, dass die Figuren somit durch Kategorien des Fremden definiert und charakterisiert werden.



2 Die Tänzerin im biographischen und entstehungsgeschichtlichen Kontext

Mori Ôgai war 1884 als Leutnant und Militärarzt der japanischen Armee nach Deutschland abkommandiert worden, mit dem Auftrag, das deutsche Sanitätswesen und medizinische Hygiene zu studieren – ein langjähriger Wunsch ging für Ôgai in Erfüllung.4 "Stolz und ungebrochen mein großes Ziel verfolgend, im Traume fahre ich auf dem Schiff in weite Ferne" (zit. nach Schamoni 1987b: 18), schrieb Ôgai in einem Gedicht kurz vor seiner Abfahrt nach Europa.

Bei seiner Ankunft in Berlin riet ihm der japanische Diplomat Aoki:

Studium – das ist nicht nur Bücherlesen. Wenn Sie nur genau beobachten, wie die Menschen in Europa denken, wie sie leben und wie sie miteinander umgehen, dann kann Ihr Aufenthalt hier durchaus von Nutzen sein. (Ôgai 1987: 8)

Diese Empfehlung entsprach Ôgais persönlicher Vorstellung von seinem Aufenthalt in Deutschland. Er widmete sich in den folgenden Jahren seinen wissenschaftlichen Studien mit großem Einsatz, hielt aber gleichzeitig die Augen offen und war ein aufmerksamer Beobachter. Er machte sich mit der deutschen Kultur vertraut und studierte die deutsche Literatur und Literaturtheorie. Ôgai lernte zahlreiche Menschen kennen, Mitstudenten, Angehörige des Militärs und Bürger aller Schichten im Alltag, machte vielfältige Erfahrungen. Als er 1888 nach Japan zurückkehrte, um eine glänzende Karriere im Staatsdienst zu durchlaufen, hatte er wie kein anderer japanischer Schriftsteller seiner Generation Europa 'erfahren'.

Im Jahr 1911 erinnert sich Mori Ôgai in einem halbautobiographischen Text mit dem Titel Illusionen (Môsô) an seinen inzwischen mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Aufenthalt in Deutschland:

Ich war Mitte zwanzig und reagierte mit der Sensibilität eines jungen Mädchens auf die Ereignisse der Außenwelt, während ich in meinem Inneren über eine Kraft verfügte, die noch nie an ihre Grenzen gestoßen war. Ich befand mich in Berlin. (Ôgai 1989a: 108)




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Alles Neue und ihm noch Fremde notierte Ôgai in sein Deutschlandtagebuch, das eine detaillierte Dokumentation seiner Zeit in Deutschland und seiner Erfahrungen in der Fremde darstellt.5 Dieses Tagebuch ist, wie Schamoni schreibt,

eine sehr erfreuliche Lektüre. Man verfolgt einen jungen Mann, der […] lernt, arbeitet, mit Menschen verkehrt. […] Man spürt die unersättliche Neugier und die Energie eines jungen Mannes aus einem Entwicklungsland. (Schamoni 1987a: 8)

Als Beispiel sei hier Ôgais Bericht über seine Ankunft in München am 8. März 1886 zitiert:

In den Straßen der Stadt herrschte heute ein buntes und reges Treiben hin und her, man sah allerorten Männer und Frauen mit Masken und in recht sonderbarer Bekleidung. Das ist wohl der sogenannte Carneval […]. Es entspricht vielleicht in etwa unseren Bon-Tänzen. Am Abend war ich […] im Centralsaal. Hier war ein Maskenball in vollem Gange. Auch ich hatte mir eine Maske gekauft, sie aufgesetzt und betrat in diesem Aufzug den Saal. Ein junges Mädchen in einem Kleid mit grünem Muster auf weißem Untergrund und einer schwarzen Maske forderte mich zum Tanzen auf. Ich erklärte ihr: "Ich bin Ausländer und kann nicht tanzen." Das Mädchen erwiderte: "Dann möchte ich Sie aber bitten, mit mir zusammen ein Glas zu trinken." Ich nahm sie beim Arm und führte sie an einen Tisch, bestellte etwas zu trinken, und wir waren so recht vergnügt. Auf dem Heimweg begleitete ich das Mädchen bis zu seiner Haustür, wo sie mir erklärte: "Hier wohne ich mit meiner Tante. […] Ich heiße Babette. Bitte besuchen Sie mich doch einmal." Ich habe sie nicht besucht. So habe ich nie erfahren, ob sie es aufrichtig gemeint hat. (Ôgai 1987: 86–87)

In dieser Episode zeigt sich auch die wohl wichtigste Erfahrung Ôgais in Deutschland. Denn hier erlebte der in den strengen Normen des Neokonfuzianismus und den starren Konventionen der japanischen Adelsgesellschaft erzogene Sohn einer traditionsreichen Samurai-Familie eine persönliche Befreiung, er erfuhr eine bis dahin nie erlebte Freiheit. Dieses Gefühl der Freiheit und der Emanzipation prägte Ôgais Persönlichkeit und auch seine Literatur entscheidend. Nach vier Jahren Auslandsaufenthalt kehrte er 1888 reich an Erfahrungen und mit neuen Kenntnissen schließlich als "ein entscheidend veränderter Mensch" (Schamoni 1987a: 8) nach Japan zurück.6

Zu Ôgais Veränderung beigetragen hat sicherlich auch ein Erlebnis aus seiner Berliner Zeit, das man allerdings in seinen ansonsten penibel geführten Aufzeichnungen vergebens sucht: Die Beziehung zu der Berlinerin Elise Wiegert erwähnt Ôgai in seinem Tagebuch mit keinem Wort. Dennoch darf man annehmen, dass dies wohl eine der bedeutungsvollsten und brisantesten Erfahrungen Ôgais war, die auch sein weiteres Leben entscheidend prägte. Die Trennung von seiner deutschen Geliebten scheint Ôgai laut Schamoni "in eine tiefe Krise gestürzt zu haben." (Schamoni 1976: 63) Nach seiner Abreise folgte ihm Elise Wiegert sogar nach Japan, allerdings ohne Mori Ôgai dort wiederzusehen. Der musste sich dem Willen seiner Familie und Vorgesetzten beugen, diese unstandesgemäße Beziehung zu beenden. Elise Wiegert wurde von Ôgais Familie zur Heimreise aufgefordert. Diese erkannte schließlich die Vergeblichkeit ihres Wartens und kehrte nach Deutschland zurück. Ôgai heiratete ein Jahr später dem Willen seiner Familie gemäß die Tochter eines hohen Marineoffiziers. Alle Aufzeichnungen über seine deutsche Geliebte musste er auf Betreiben seiner Familie vernichten und auch die Berliner Eintragungen seines Tagebuchs umschreiben, so dass man von dieser Beziehung nur durch die Aussagen Dritter weiß.

Das Scheitern der erhofften Emanzipation und auch das Erleben des eigenen Versagens in dieser Situation, in der sich Ôgai seinem Pflichtgefühl und dem konfuzianischen Gehorsamsgeist beugte, sind Ausgangspunkte für seine Novelle Die Tänzerin. Es ist die Geschichte "einer jungen heftigen, tragisch endenden Liebe, aber auch die Geschichte einer gescheiterten Emanzipation" (Berndt 1994: 101), eine 'Liebesgeschichte' des Japaners Ôta Toyotarô aus einer angesehenen Familie und des jungen Berliner Mädchens Elise, eine Balletttänzerin aus einfachen Verhältnissen.




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1987 wurde Maihime an Originalschauplätzen in west- und ostdeutsch-japanischer Koproduktion verfilmt. Allerdings lassen sich erhebliche Abweichungen der Handlung des Films von der Textvorlage ausmachen. Denn das Drehbuch verarbeitet neben Maihime noch weitere Texte Ôgais. Es sind vor allem sein Deutschlandtagebuch und der halbautobiographische Text Vita Sexualis (1930), aber auch die beiden Texte Wellenschaum (Utakata no ki, 1890) und Der Bote (Fumizukai, 1891), die zusammen mit der Tänzerin die sogenannten 'drei deutschen Novellen' Ôgais bilden. Deren Handlung ist jeweils in einer anderen deutschen Stadt – Berlin, München, Dresden – angesiedelt, und Ôgai arbeitet in diese Texte Begebenheiten und Erfahrungen seines Studienaufenthaltes ein. Mit dieser 'deutschen Trilogie' gab Ôgai auch sein Debüt in der Literatur seines Heimatlandes.

Die sogenannte Berliner Erzählung Die Tänzerin, die als erste der drei Novellen erschien, war dabei als erste Ich-Erzählung der japanischen Literatur etwas unerhört Neues, mit diesem Text brach Ôgai mit fast allen Konventionen japanischen Erzählens.7 Für Schamoni ist diese Novelle

die bedeutsamste der drei [deutschen Erzählungen, Anm. d. Verf.]. Sie ist jedenfalls geistesgeschichtlich die interessanteste, da sie Ôgais persönliche Problematik und die Problematik der japanischen Intelligenz jener Zeit verbindet. (Schamoni 1976: 66)

Über den autobiographischen Hintergrund, darüber, ob und inwieweit tatsächlich Verbindungen zu Ôgais persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen zu finden sind, gibt es unterschiedliche Deutungen und unzählige wissenschaftliche Publikationen.8 Eindeutig stehe zwar fest, wie Schamoni hervorhebt, dass Ôgai persönliche Erfahrungen verarbeitet, allerdings könne man "keine einfachen Gleichungen" aufstellen, "weil Ôgai in raffinierter Weise Teile von Selbsterlebtem, Gehörtem, Gesehenem und Gelesenem zu neuen Personen, Schauplätzen und Handlungen zusammenfügt." (Schamoni 1976: 67)9 Natürlich sind auch schon früher Elemente persönlicher Erfahrungen in der japanischen Literatur verarbeitet worden, aber, so ist sich Schamoni sicher,

nie zuvor war der Text so zentral aus der persönlichen Erfahrung entstanden, ja, war darüber hinaus das Schreiben selbst so wie hier Teil der Bewältigung dieser die ganze Person erschütternden Erfahrung gewesen. (Schamoni 1989: 215)

 

3 Das Fremde als Repräsentation deutscher Wirklichkeit

Noch 1897 erklärte der Autor, auf die kursierenden Gerüchte über seine Affäre zu einem deutschen Mädchen und die autobiographischen Hintergründe der Novelle angesprochen, er habe in Maihime ein fiktives Ereignis, das in Berlin stattfindet, erzählen und sich dabei mehr oder weniger auf die Beschreibung der Lebensumstände und Örtlichkeiten konzentrieren wollen (vgl. Bowring 1975: 174). So schreibt er in Maihime manches von "Kutschen, die lautlos über asphaltierte Fahrbahnen rollen" (9) oder von "Damen und Herren, die paarweise auf den steingepflasterten Gehsteigen Unter den Linden flanieren" (9), er erklärt, dass man in den Berliner Hauptstraßen Sand streut und diese mit dem Schneepflug von Schneemassen befreit, und beschreibt die deutschen Silvesterbräuche – Details, die bei einem japanischen Leser Ende des 19. Jahrhunderts Erstaunen und vielleicht sogar Befremden ausgelöst haben dürften. Über Informationen über "die nordeuropäische Kälte, die durch Steinwände und Wollkleidung drang" (21), und einen Kachelofen, mit dem der Speisesaal eines Hotels beheizt wird, kommt für das japanische Publikum kulturelle Fremde zum Ausdruck.




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Der Text setzt auf diese Weise einen interkulturellen Vermittlungsprozess in Gang. Mit zahlreichen lokalen, für den japanischen Leser fremden Details lässt Ôgai ein Bild deutscher Wirklichkeit entstehen, das durch die Augen eines Fremden vermittelt wird.

Von dieser deutschen Wirklichkeit, vom Berlin jener Jahre, vom ihm fremden pulsierenden Leben in der Innenstadt, von der Allee 'Unter den Linden', vom Brandenburger Tor, vom Schloss und den vielen Cafés ist der Ich-Erzähler der Novelle, der Japaner Ôta Toyotarô, fasziniert und berauscht: "Alles und jedes erregte mein Auge", berichtet er über seine Ankunft "in der Mitte dieser neuen Metropole Europas", außer Stande "alles aufzunehmen" (9–10). Die Beschreibung dieser exotischen Fremdwelt gewinnt an Authentizität und sichert beim japanischen Leser das Bewusstsein, einer tatsächlichen 'Fremde' zu begegnen, indem Ôgai sie in Beziehung setzt zu ihm bekannten, eigenkulturellen Details. Diese lösen ganz spezifische Vorstellungen aus, die der Autor im gleichen Augenblick wieder auflöst, ins Gegenteil verkehrt und dadurch die Andersartigkeit des Schauplatzes hervortreten lässt, eine Andersartigkeit, die auch in Namen, ja in der Sprache selbst begründet ist: "Übersetzt man 'Unter den Linden' mit 'Bodaijuka' ('Unter den Bäumen der Erleuchtung'), so stellt man sich dabei einen abgeschiedenen, stillen Ort vor." (9)10 Die durch den Straßennamen erzeugte – japanische – Vorstellungswelt wird durch ein unmittelbar nachfolgendes "Aber seht […]." (9) sogleich als unzutreffend aufgehoben.

 

4 Das Fremde als Auslöser und Bedingung von Selbsterfahrung

In der Thematisierung der Übersetzung des Namens 'Unter den Linden', in der sich Bedeutung und japanische Assoziationen und Konnotationen widersprechen, wird eine weitere Dimension der Fremderfahrung eröffnet. Der Ort 'Unter den Linden' als Stellvertreter für die Fremde an sich wird zu einem Ort der Selbstfindung, zum Ausgangspunkt für eine persönliche Erfahrung und Entwicklung durch das vertiefte Erleben dieser Fremdwelt. Es ist der Ort, an dem der Protagonist Ôta ein tieferes Verständnis seines 'Ichs' erreicht. Dementsprechend stellt sich die Novelle auch als bekenntnishafte Rückerinnerung Ôtas auf dessen Rückfahrt von Deutschland nach Japan dar, in der er seine Erfahrungen reflektiert.

Die Narration beginnt mit einem einführenden Monolog, der gleichsam den Rahmen der Novelle abgibt. Bezeichnenderweise befindet sich Ôta auf einem Schiff, das im Hafen von Saigon, also zwischen Europa und Japan, vor Anker liegt. Es ist Nacht und das Schiff soll am nächsten Morgen ablegen. Die anderen Passagiere sind an Land gegangen, um in einem Hotel zu übernachten, Ôta ist "allein […] zurückgeblieben" (7) und denkt darüber nach, wie sehr er sich verändert hat, seitdem er vor fünf Jahren am gleichen Ort auf einem Schiff Richtung Westen vorbeigekommen war:

Es war vor fünf Jahren. Mein langgehegter Wunsch war in Erfüllung gegangen und ich hatte den amtlichen Auftrag zum Studium in Europa erhalten. Bis hierher, zum Hafen von Saigon, gekommen, erschien mir alles, was ich sah, alles, was ich hörte, neuartig, und mein wortreiches Reisetagebuch belief sich täglich wohl auf mehrere tausend Wörter. […] Das Heft, das ich diesmal vor Antritt der Heimreise gekauft habe, um ein Tagebuch zu führen, besteht immer noch aus unbeschriebenem Papier. Vielleicht habe ich während meines Studiums in Deutschland eine Haltung des nil admirari entwickelt? Nein, da gibt es einen anderen Grund. (7)




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Ôta leidet an einem quälenden, tiefen Schmerz und versucht nun, seine Geschichte "in groben Zügen niederzuschreiben" (8), um sich dadurch zu befreien, sich gleichsam freizuschreiben. Der Musterschüler, jüngster Absolvent der Juristischen Fakultät seit Gründung der kaiserlichen Universität Tokyo und Ministerialbeamter, hatte sich nach seiner Ankunft in Berlin zunächst mit blindem Eifer, "mit der vagen Erwartung von Erfolg und Ruhm und einer an Fesseln gewöhnten Lernfähigkeit" (9), dem Studium des deutschen Rechtswesens gewidmet. Das Auslandsstudium, die Reise "in die Ferne, in die Stadt Berlin" (9), betrachtet er anfangs ausschließlich im Rahmen seiner Sohnes- und Standespflichten. "Die Chance […], mir Ruhm zu erwerben und für den Aufstieg meiner Familie zu sorgen", ist Antrieb für seine unermüdliche Anstrengung. Ôta folgt einfach "dem Weg, auf den mich andere geschickt hatten" (12), geradeaus und ohne eigene Ziele.

Nach drei Jahren in der Fremde beginnt er allerdings zu zweifeln, stellt sein bisheriges, von Unterordnung und Loyalität bestimmtes Leben in Frage und gewinnt unter anderem durch das Erleben der universitären Freiheit zunehmend an Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein. Er spürt nun, dass seine Vorgesetzten ihn zu einer beliebig verwendbaren "Maschine" (11) zu machen versuchten, und kommt zu der Erkenntnis, dass er in dem Bestreben, seinen Pflichten und den Erwartungen seiner Familie und Vorgesetzten nachzukommen, sich selbst verloren habe, er also die ganze Zeit gar nicht er selbst gewesen sei:

So vergingen drei Jahre wie im Traum. […] all die Jahre hatte ich als ein bloß passiver, mechanischer Mensch gearbeitet, ohne es selbst zu merken. Jetzt war ich fünfundzwanzig und spürte […] in mir eine unbestimmte Unruhe. Das tief in mein Inneres versunkene Ich trat langsam an die Oberfläche und schien mit jenem falschen Ich, welches ich bis gestern gewesen war, den Kampf aufzunehmen. (10–11)

Ôta fordert größere Freiheit und geistige Unabhängigkeit ein. Er beginnt, Gelerntes kritisch zu hinterfragen, versucht, "den Geist des Rechts" (11) zu begreifen, und weigert sich mehr und mehr, Anordnungen unkritisch auszuführen. Dadurch entspricht er nicht mehr den Ansprüchen seiner Vorgesetzten und gefährdet so seine Position und finanzielle Absicherung. Die "freie[n] Atmosphäre der Universität" (10) erfahrend löst sich Ôgais Protagonist langsam aus den Zwängen, in die ihn seine Stellung innerhalb der japanischen Gesellschaft presste. Es beginnt ein Prozess der Entdeckung des 'wahren Ichs', ein Prozess der Individualisierung und des Strebens nach Selbstbestimmung. Darüber hinaus entwickelt er von diesem Zeitpunkt an ein Interesse für Geschichte und Literatur und wendet sich dadurch immer mehr ab von seinem eigentlichen Auftrag, mit dem er nach Deutschland geschickt wurde. Er, der Fremde, entfremdet sich dadurch auch von seinen in Berlin studierenden Landsleuten, die ihn immer mehr mit Misstrauen betrachten, ihn verspotten und verleumden.

Der Entfremdungs- und gleichzeitig Emanzipationsprozess wird vorangetrieben durch die zufällige Begegnung mit der Tänzerin Elise. Auf seinem Nachhauseweg von einem Spaziergang über die Allee 'Unter den Linden' sieht Ôta "ein junges Mädchen, an das verschlossene Kirchentor gelehnt, leise vor sich hin weinen." (13) Mitleidig spricht der Japaner sie an und fragt, ob er ihr helfen könne. Sie erzählt dem Fremden, dass ihr Vater am Tag zuvor gestorben sei, die Familie aber kein Geld für die Beerdigung habe. Ihr Chef, der Direktor des Victoria-Theaters, bei dem sie im Ballett tanzt, versuche nun, auch mit Unterstützung ihrer Mutter, ihre Not auszunutzen und sie zu zwingen, ihm zu Willen zu sein. Der junge Japaner begleitet sie nach Hause, überwindet das Misstrauen der Mutter und verspricht – finanziell – zu helfen. Von da an besucht Elise regelmäßig Ôtas Wohnung, die Beziehung zwischen den beiden wird enger, bleibt aber immer noch freundschaftlich-platonisch.




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Ôta wird jedoch von japanischen Kommilitonen bei seinen Vorgesetzten verleumdet. Auf deren Behauptung hin, er vernachlässige sein Studium, treibe sich in zwielichtigen Gegenden herum und habe eine anstößige Affäre mit einem deutschen Ballettmädchen, wird Ôta suspendiert. Gleichzeitig wird ihm aber angeboten, wenn er sofort in die Heimat und damit in die japanische Gesellschaft zurückkehre, werde ihm "ein Weg bereitet" (17).

Der auf Ôta ausgeübte Druck verschärft Krise und Identitätskonflikt. Hin und her gerissen zwischen seinem Wunsch nach Individualität und der Loyalität gegenüber Familie und Staat bittet er um eine Woche Bedenkzeit und ist versucht, auf das Angebot einzugehen. In dem Augenblick aber, in dem er die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhält, entfällt für ihn die gesellschaftliche Pflicht als ältester Sohn, und die Verbindung zu seiner Heimat scheint sich nun vollends aufzulösen. Von nun an gibt es für Ôta kein Unterordnen mehr. Bis zu diesem Zeitpunkt war sein "Umgang mit Elise […] reiner, als es Außenstehenden erscheinen mochte." (17) Jetzt aber beginnt Ôta

plötzlich eine stärkere Liebe für sie zu empfinden, so daß mir eine Trennung nicht mehr möglich schien. […] Wie im Traum hatte sich unser Verhältnis entwickelt: Ich konnte nicht mehr anders. (18)

Ôta entscheidet sich gegen allen Druck, in Berlin zu bleiben, er geht seinen Weg der Selbstfindung weiter. Seine Vorgesetzten entziehen ihm daraufhin das Stipendium und jegliche Unterstützung. Fortan arbeitet er als Korrespondent für japanische Zeitungen, und auch wenn sein Studium darniederliegt, wie er immer wieder betont (vgl. 20), erweitert er gerade durch diese neue Arbeit seinen Horizont. Nun erst ist es ihm möglich, seine Kenntnisse über Deutschland zu vertiefen und ein Verständnis für die ihn umgebende Fremde zu entwickeln:

Dabei erweiterte sich mein Wissen, welches bisher nur einen einzigen schmalen Weg gekannt hatte, ganz von selbst, es wurde umfassend und erreichte ein Niveau, von dem die meisten meiner in Berlin studierenden Landsleute nur träumen konnten. (20)

Auch die Beziehung zu Elise bringt ihn näher mit der Realität der Fremdwelt in Kontakt, konfrontiert Ôta mit etwas völlig Neuem. Bis dahin bewegte er sich auch in Deutschland in einer gesellschaftlichen Schicht mit der vergleichbar, aus der er selbst stammt. Durch die Beziehung zu dem deutschen Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, noch dazu mit dem moralisch fragwürdigen Beruf einer Tänzerin, bricht er nicht nur endgültig aus der japanischen Gesellschaft aus, sondern er verlässt dadurch auch seinen eigenen Stand und gibt seinen gesellschaftlichen Status, seine gesellschaftliche Rolle auf.

Ôta begibt sich in eine Position zwischen zwei Welten, sowohl in kultureller als auch in sozialer Hinsicht, wobei er immer mehr in die ihm fremde Welt hineingleitet. Trotz seiner journalistischen Arbeit zwingen ihn seine geringen finanziellen Mittel zu einer "bescheidene[n] Lebensführung", und schließlich zieht er in die etwas heruntergekommene Wohnung von Elise und ihrer Mutter in der Klosterstraße, "eine enge, düstere Seitenstraße", wo über hölzernen Balkongeländern "Bettzeug und Nachthemden zum Auslüften" hingen, wo im Eingang einer "billigen Wirtschaft […] ein alter Jude mit langen Schläfenlocken wartete" (13). Durch die Erfahrung der ihm fremden Lebensumstände rückt er Elises Welt wieder ein Stück näher, entfernt sich gleichzeitig immer weiter von seiner eigenen.11

Ein Jahr später nimmt ein Schulfreund namens Aizawa Kenkichi, der von Ôtas Geschichte gehört hat und mit dem einflussreichen Politiker Graf Amakata gerade in Berlin angekommen ist, mit ihm Kontakt auf. Aizawa versucht, Ôta wieder in den Rahmen der gesellschaftlichen Normen ihrer Heimat zu stellen und seinem Freund den Weg zurück in die japanische Gesellschaft zu eröffnen. Er verlangt von Ôta, er solle "das Vertrauen des Grafen gewinnen" (23), die Beziehung zu Elise abbrechen und wieder zu einem gehorsamen Mitglied seiner Gesellschaft werden, um dadurch seine Ehre wiederherzustellen.




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Aizawa fungiert als "Sprachrohr der [japanischen, Anm. d. Verf.] Gesellschaft" (Schöche 1987: 90), er macht Ôta schließlich mit dem Grafen bekannt, der die sprachlichen Fähigkeiten Ôtas mehrfach in Anspruch nimmt. Durch ihn wird Ôta Schritt für Schritt aus der Fremdwelt, und damit auch weg von Elise, wieder zurück in seine eigene Welt gezogen. Zunächst spricht der Graf "nur geschäftsmäßig mit mir, später dann fragte er mich nach meiner Meinung über neuere Ereignisse in der Heimat. Manchmal erzählte er mir auch über Fehler und Mißerfolge anderer Mitglieder der Delegation und lachte darüber" (24). Langsam wird Ôta auf diese Weise an seine eigene Gesellschaft, an seine Kultur herangeführt und damit Elise entfremdet. Dazu trägt auch die Teilnahme an einer Delegation nach Russland und das dortige Erleben des "sich in den Orden und Epauletten spiegelnde[n] Glanz[es]" (26) bei.

Elise realisiert den Prozess der Entfremdung, spürt, dass Ôta ihr immer mehr entgleitet. Sie befürchtet von 'ihrem' Toyotarô verlassen zu werden: "Nein, so angezogen siehst du nicht wie mein Toyotarô aus. […] Verlaß mich nicht, auch wenn du reich und vornehm wirst." (22) Ôta selbst ist ohnmächtig, erkennt, dass sein Emanzipationsversuch zum Scheitern verurteilt ist:

War ich nicht wie der Vogel, der mit gebundenen Füßen losgelassen, einen Moment lang stolz auf seine Freiheit die Flügel schlägt? Es gab kein Mittel, die Schnur an meinen Füßen zu lösen. Früher hatte mein Vorgesetzter im Ministerium mich mit dieser Schnur dirigiert. Nun hielt – leider – Graf Amakata diese Schnur in seinen Händen. (28)

Unfähig und willenlos schafft er es nicht, sich von der Gebundenheit endgültig zu lösen, seinen Anspruch auf Selbstständigkeit aufrecht zu erhalten. Akribisch führt der Text vor, welche Gedanken und widerstreitenden Gefühle durch den Konflikt zwischen Erziehung und Konventionen seiner Heimat und der Lebensweise und den Ansichten, die er sich in der Fremde angeeignet hat, Ôta durchleben muss.

Das Hin und Her zwischen zwei Welten und die "Verwirrung in [s]einem Inneren" (30) über die Frage nach seinem 'Daheim' wird durch kurz aufeinander folgende Aussagen der Repräsentanten der jeweiligen Welt ausgedrückt und im Sprechen über Ôtas 'Heimkehr' auf den Punkt gebracht. Auf der einen Seite ist es Elise, die für sich in Anspruch nimmt, Ôta eine Heimat zu bieten, wenn sie ihn bei seiner Rückkehr aus Russland begrüßt: "Gut, daß du heimgekehrt bist! Ich wäre gestorben, wenn du nicht gekommen wärst." (28) Auf der anderen Seite wird aber Ôta wenige Tage später vom Grafen Amakata gefragt, ob er "keine Lust habe, mit ihm nach Osten heimzukehren." (29)

Ôta ist innerlich gespalten, hin und her gerissen zwischen der Liebe zu Elise, die mittlerweile ein Kind von ihm erwartet und auch bereit ist, mit ihm "in den Osten zu gehen" (27), und der "Sehnsucht nach der Heimat" (29), der Angst, "im Menschenmeer dieser riesigen europäischen Großstadt begraben" (30) zu werden. Letztlich schlittert Ôta ohnmächtig in eine Zusage an Amakata hinein, verschweigt aber immer noch sowohl die Beziehung zu Elise als auch deren Schwangerschaft:

Wenn ich jetzt diese ausgestreckte Hand nicht ergriffe, würde ich nicht nur mein Vaterland verlieren, sondern auch jede Möglichkeit, meine Ehre wiederherzustellen, […]. Ach, welche Treulosigkeit, daß ich "Ihr Wunsch ist mir Befehl" antwortete! (30)

Ôta entscheidet sich für eine Rückkehr nach Japan, verrät dadurch seine Liebe zu Elise, handelt dabei aber genau so, wie seine Gesellschaft es von ihm erwartet. Von Gewissensbissen und Selbstzweifeln geplagt, irrt er durch das winterliche Berlin und bricht bewusstlos zusammen. Halberfroren und unter dem Schnee begraben kommt er zur Besinnung und schleppt sich nach Hause, wo er erneut das Bewusstsein verliert. Während Ôta im Fieber liegt, berichtet Aizawa Elise den Entschluss ihres Geliebten. Als der einige Wochen später aus dem Fieber erwacht, findet er Elise als "bedauernswerte[n] Wahnsinnige[n]", als "lebende[n] Leichnam" (32) wieder – "eine plötzlich aufgetretene Paranoia aufgrund einer übermäßigen seelischen Erschütterung" (32) ohne Hoffnung auf Heilung, wie ein Arzt feststellt. Ôta, auf den in Japan schließlich eine Karriere als Staatsbeamter wartet, lässt Geld für sein noch ungeborenes Kind zurück und fährt "Richtung Osten" (32) ab.




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Der letzte Satz, mit dem auch die Zeitebene des Rahmens der Novelle erreicht wird, kennzeichnet noch einmal die verwirrt-zwiespältige Stimmung Ôtas: "Ach, einen Freund wie Aizawa Kenkichi findet man schwerlich noch einmal; aber in mir bleibt bis heute etwas, was ihn haßt." (33)

Zweifellos verarbeitet diese Novelle Ôgais persönliche Erfahrung, die er in Deutschland machte. Aber bei allem Persönlichen hatte die geschilderte Problematik auch etwas Allgemeingültiges für die damalige junge Generation der neuen japanischen Intelligenz. Denn es geht auch um die Frage des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft, die letztlich mit der Niederlage und dem Scheitern eines individuellen Emanzipationsversuchs beantwortet wird. Aber auch wenn sein Versuch am Ende misslingt, führen die Erfahrungen, die Ôta in der 'Fremdwelt' macht, zu einer persönlichen Entwicklung. Bereits in seinem einführenden Monolog stellt er fest: "Tatsächlich bin ich, der ich nun nach Osten heimkehre, nicht der gleiche wie der, der damals nach Westen fuhr." (7) Aus der Fremdperspektive hat er nicht nur "das Auf und Ab der Welt kennengelernt" (7), sondern hat sich selbst erfahren in der Veränderung, hat begriffen, "wie wechselhaft [s]ein eigenes Herz ist" (7). Die Erfahrung der Fremde ist dabei Voraussetzung für diese Entwicklung.

 

5 Das Fremde als konstitutives Merkmal der Figuren

Das Thema der Fremdheit, die Kategorie der Fremde tritt in Ôgais Text in vielerlei Gestalt und Funktion auf. Die Erfahrung der Fremde ist Auslöser für Ôtas Wunsch nach Selbstbestimmung, aber gleichzeitig auch zentrales Element des interkulturellen Vermittlungsprozesses, den Ôgais Text leistet. Diese Vermittlung der Fremde geht aber über die bereits dargestellte Beschreibung der Exotik des Schauplatzes hinaus, auch die Hauptfiguren der Erzählung selbst sind bestimmt durch Konfigurationen des Fremden.

So ist beispielsweise Ôta geprägt durch seine Rolle als Fremder in Berlin, als Ausländer. Bereits durch die Beschreibung seines Äußeren wird er als exotischer Fremder charakterisiert. Als er zum ersten Mal mit Elise zusammentrifft, "schrak [sie] zusammen und blickte mein gelbliches Gesicht an." (14) Japanern ist zwar das Bild der 'gelben Rasse' bekannt, dennoch können sie diese Metaphorik in ihrem Eigenbild nicht nachvollziehen, so dass das "gelbliche Gesicht" Ôtas für einen japanischen Leser einen gewissen Verfremdungseffekt beinhaltet. Diese Beschreibung muss als der Blick eines japanischen Schriftstellers durch eine 'europäische Brille' gesehen werden. Obwohl Gedanken des Japaners Ôta, wird dieser doch aus der Perspektive eines deutschen Mädchens beschrieben. Und auch im Verlauf der Erzählung sind es vor allem Merkmale körperlicher Andersartigkeit, sein exotisches Aussehen, die Elise an Ôta attraktiv findet: "Ach, nur im Traume habe ich deine dunklen Augen gesehen." (29) Indem Ôgai nicht das für einen Japaner fremdartige und exotische Aussehen der deutschen Elise in den Mittelpunkt rückt, sondern das für japanische Leser Vertraute als fremdartig erscheinen lässt, kann er Ôtas Gefühl der Fremdheit in der ihn umgebenden Gesellschaft und gleichzeitig auch die Entfremdung von seiner eigenen Herkunft für die japanischen Leser erfahrbar und nachvollziehbar machen.

Ôta erscheint aber nicht nur der deutschen Umwelt als Fremder, seine Fremdheit geht noch darüber hinaus. Fremdheit ist das Grundprinzip von Ôtas Existenz. Er kennt sich selbst am wenigsten und ist sich selbst mehr und mehr entfremdet. Die Erfahrungen, die er in der Ferne macht, führen zu einer grundlegenden Erschütterung des Gewohnten und zur Erkenntnis der Selbstentfremdung, was sich auch auf eine Verwirrung über seine Rolle als Mann bezieht:




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Diese Seelenverfassung war mir wohl angeboren. Vielleicht hatte ich sie auch entwickelt, weil ich nach dem frühen Tode meines Vaters von meiner Mutter aufgezogen worden war. (12)

Die Begegnung mit dem Fremden wird zu einer Begegnung mit sich selbst, führt zu einer Verunsicherung des Eigenen und provoziert einen prüfenden Blick auf das eigene Leben.

Gleichzeitig entfremdet Ôta sich auch von seinen japanischen Landsleuten, wird ihnen fremd: "Sie verspotteten mich und beneideten mich wohl auch. Aber sie taten es, weil sie mich nicht kannten." (12) Ôta zieht sich in diese Fremdheit zurück, indem er sich "von ihrer Gesellschaft fernhielt" (13). Auch auf dem Weg zurück nach Japan bleibt er allein, den anderen Passagieren und seinen Landsleuten entfremdet: "Ich allein bin zurückgeblieben", während sich die Mitreisenden an Land amüsieren. Aber auch die Menschen in Deutschland, die Einheimischen, nimmt der junge Japaner stets als Fremde wahr, er ist ein Fremder unter Fremden: "Was müssen wohl die Fremden über den Japaner gedacht haben, […]." (19)

Ôta ist ein von außen 'Hinzugekommener', er gehört nicht 'dazu', was es ihm aber auch ermöglicht, anders zu erleben und zu handeln. Er hilft in einer Situation, in der die Einheimischen achtlos vorübergehen, einem Mädchen in verzweifelter Lage. Der Japaner sieht sich als Helfer in der Not, glaubt, dass gerade ein Fremder besondere Möglichkeiten habe: "Vielleicht kann gerade ein hier fremder Ausländer Ihnen helfen?" (14) Obwohl fremd, kann Ôta gegenüber der hilfsbedürftigen Elise als Helfer und als sozial Überlegener auftreten. Das Erkennen dieser Überlegenheit erst lässt ihn so handeln, er selbst wird durch seine "kühnen Worte" überrascht (14).

In dieser Situation ist es eben nicht der Fremde, der der Hilfe bedarf, und Ôta bleibt auch im weiteren Verlauf der Überlegene, der Gebende. Erstaunlicherweise ist es gerade der Japaner, der das deutsche Mädchen, das "wegen der Armut ihres Vaters nur eine ungenügende Erziehung genossen hat" (17), mit deutschen Bildungsgütern, mit deutscher Kultur und Literatur bekanntmacht. Ôgai konstruiert innerhalb seiner Novelle einen interkulturellen Vermittlungsprozess, in dem die Rollen zweifach vertauscht erscheinen. Der Fremde in der Rolle des Gebenden vertritt nicht seine eigene Kultur, sondern vermittelt die ihn umgebende fremde Kultur an eine Angehörige dieser Kultur: "Ihr [Elises, Anm. d. Verf.] Geschmack bildete sich langsam, sie sprach besseres Deutsch und bald machte sie auch weniger orthographische Fehler in ihren Briefen." (18) Erstaunlich ist die Darstellung dieser Wissensvermittlung in einem "Lehrer-Schüler-Verhältnis" (18) zwischen einem Japaner und einer Deutschen auch deshalb, da in der historischen Realität die Relation sich genau umgekehrt zeigte: Die Europäer traten als Lehrmeister der Japaner auf, vermittelten europäische Werte und Kultur. So verkörpert Ôta hier auch das für Japaner vertraute Bild des fremden Lehrers, das aber gleichzeitig aus dem bekannten Kontext gelöst und damit verfremdet wird.

Für den japanischen Leser repräsentiert aber vor allem Elise das Fremde. Auch sie wird wie Ôta – nun aber durch eine 'japanische Brille' – in ihrer exotischen Fremdheit beschrieben, wenn Ôta beispielsweise von ihren "blauen, reinen Augen mit ihrer fragenden Traurigkeit" (13) spricht oder ihr Haar beschreibt, das "von einer blassen, goldenen Farbe" (13) ist. Gleichzeitig wird sie aber in der Tradition des japanischen Schönheitsideals gezeichnet: "Sie war überaus schön. Über das milchweiße Gesicht lief im Schein der Lampe eine leichte Röte. Die schmalen zarten Hände und Füße paßten nicht zu einem Mädchen aus einer armen Familie." (15) Elise ist für ihn "eine einsam erblühte Blume" – ebenfalls ein Topos der Schönheit in der japanischen Tradition.12 Das deutsche Mädchen ist nicht nur für den Leser, sondern auch für den Protagonisten selbst die Verkörperung des Fremden, mit ihrer Welt ist er trotz seiner Kenntnisse über die deutsche Kultur nicht vertraut; erst durch sie bricht nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland das Fremde in sein Leben ein.




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So wie sich Ôta von seiner Welt entfremdet, wird auch Elise durch die Beziehung zu dem Japaner ihrer eigenen Welt fremd:

Und manche werden auch mit Verwunderung hinter dem […] Mädchen […] hergeblickt haben, wenn es an Tagen, an denen es Proben hatte, gegen ein Uhr auf dem Heimweg vorbeikam und mit mir die Gaststätte verließ. (19)

Dem Ich-Erzähler selbst ist bewusst, dass diese Beziehung für Außenstehende sonderbar erscheinen muss. Damit wird auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Liebesbeziehung über kulturelle Grenzen hinweg berührt, an der Ôgais japanisches Publikum sicherlich großes Interesse hatte. Diese Frage wird nur indirekt und nicht durch Ôta, sondern durch das 'Sprachrohr' der japanischen Gesellschaft, Aizawa, beantwortet. Dieser spricht der Verbindung zwischen seinem japanischen Freund und dem deutschen Mädchen jegliche Grundlage und Berechtigung ab:

Und was meine Beziehung zu jenem Mädchen betreffe: auch wenn sie mich aufrichtig liebe, auch wenn unsere Verbindung inzwischen sehr eng geworden sei, so handele es sich doch nicht um die Liebe, die auf der Kenntnis der Fähigkeiten und des Charakters des Anderen beruhe. In diese Beziehung sei ich nur aus Anpassung an ein konventionelles Verhalten hineingeschlittert. (24)

Eine wirkliche Liebe könne demnach zwischen einer deutschen Frau und einem japanischen Mann nicht entstehen, ein Verstehen des Anderen über kulturelle Grenzen hinweg ist in Aizawas Augen nicht möglich.

Die Novelle Die Tänzerin mit ihren vielfältigen Aspekten von Fremde und Fremdheitserfahrung weitet sich nicht zuletzt an dieser Stelle zu einem "Dokument eines frühen Zusammenpralls zweier Welten in Berlin" (Bellmann 2000: s.p.). Zeit seines Lebens setzte sich Mori Ôgai mit den Konsequenzen dieses Zusammenpralls auseinander; die Aufarbeitung seiner eigenen zwiespältigen Position zwischen Ost und West und die Diskussion des Verhältnisses von 'Europäisierung' und japanischer kultureller Tradition sind zentrale Elemente seines literarischen Schaffens, vorgeführt am Beispiel der Novelle Die Tänzerin. Es ist wohl "vor allem der fremde Blick" (Patzer 1994: 43), der auch heute noch an Ôgais Berliner Novelle fasziniert, ein Blick, "mit dem wir unsere eigene Welt neu sehen […], mehrfach gespiegelt und gebrochen durch die Brille eines gebildeten und 'multikulturell' denkenden Japaners" (Patzer 1994: 43).

 

Bibliographie

Bellmann, Günther (2000): "Mori Ogai in der Klosterstraße", in: Berliner Morgenpost online, 28. Februar 2000 [http://archiv.berliner-morgenpost.de/archiv2000/000228/berlin/ story37320.html; Stand: 20.04.2001].

Berndt, Ursula (1994): "Nachwort zu: Mori Ôgai: Das Ballettmädchen. Eine Berliner Novelle." Aus dem Japanischen von Jürgen Berndt und einem Nachwort von Ursula Berndt, Berlin, 97–104.

Bowring, Richard (1975): "The Background to Maihime", in: Monumenta Nipponica, 30, 167–176.

Katô, Shuichi (1990): Geschichte der Japanischen Literatur. Die Entwicklung der poetischen, epischen, dramatischen und essayistisch-philosophischen Literatur Japans von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bern/München/Wien.




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Ôgai, Mori (1987): Tagebuch eines Deutschlandaufenthaltes 1884–1888. Übersetzung aus dem Japanischen von Heike Schöche, Berlin.

Ôgai, Mori (1989a): "Illusionen", in: Im Umbau. Gesammelte Erzählungen. Ausgewählt, aus dem Japanischen übertragen und erläutert von Wolfgang Schamoni, Frankfurt/M., 107–127.

Ôgai, Mori (1989b): "Die Tänzerin", in: Im Umbau. Gesammelte Erzählungen. Ausgewählt, aus dem Japanischen übertragen und erläutert von Wolfgang Schamoni, Frankfurt/M., 7–33.

Patzer, Georg (1994): "Mori Ôgai. Im Umbau", in: Japan Magazin, 5, 43.

Schamoni, Wolfgang (1976): "Nachwort zu: Mori Ôgai: Wellenschaum. Eine Erzählung aus dem München Ludwigs II". Übersetzung von Wolfgang Schamoni, München, 48–79.

Schamoni, Wolfgang (1987a): "Der Umweg über die Fremde. Das Europaerlebnis des japanischen Schriftstellers Mori Ôgai (1862–1922)", in: Heidelberger Jahrbücher, 31 (1987), 1–19.

Schamoni, Wolfgang (1987b): Mori Ôgai. Vom Münchner Medizinstudenten zum klassischen Autor der modernen japanischen Literatur. München.

Schamoni, Wolfgang (1989): "Nachwort zu: Mori Ôgai: Im Umbau. Gesammelte Erzählungen". Ausgewählt, aus dem Japanischen übertragen und erläutert von Wolfgang Schamoni, Frankfurt/M., 211–228.

Schöche , Heike (1987): "Persönlichkeit und Frühwerk des japanischen Schriftstellers Mori Ôgai (1862–1922) unter dem Gesichtspunkt des Einflusses seines Deutschlandsaufenthaltes 1884–1888 auf sein literarisches Schaffen," Bd. 1, Diss. Berlin.

 

Anmerkungen

1 Bei japanischen Namen ist der erste jeweils der Familienname, der zweite der persönliche Name. Mori Ôgais bürgerlicher Name lautet Mori Rintarô, Ôgai ist sein Schriftstellername. Solche Künstlernamen werden oft auch ohne Familiennamen gebraucht.

2 Für den japanischen Literaturwissenschaftler Shuichi Katô ist Mori Ôgai der Mensch, der die Konfrontation der modernen Kultur Westeuropas mit dem kulturellen Erbe Japans in ihrem größten Ausmaß miterlebte, "sich im kulturellen Bereich dieser Auseinandersetzung am entschiedensten stellte und eine differenzierte Synthese beider Kulturen versuchte." (Katô 1990 : 517).

3 Maihime; Erstveröffentlichung Januar 1890 in der Zeitschrift Kokumin no tomo. Es liegen in deutscher Sprache verschiedene Übersetzungen vor. Grundlage für die im Folgenden angestellten Betrachtungen ist die Übersetzung von Wolfgang Schamoni (Ôgai 1989b). Verweise auf diese Ausgabe erfolgen durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Anschluss an das jeweilige Zitat.

4 Japan hatte 1854 begonnen, sich nach mehr als zwei Jahrhunderten der Abschließung der Außenwelt zu öffnen. Seitdem und vor allem nach der sogenannten Meiji-Restauration (1868) befand sich Japan im Umbau vom mittelalterlichen Feudalstaat zu einem modernen Staatswesen und schickte, um zu lernen und dafür notwendige Kenntnisse zu sammeln, Wissenschaftler und Studenten in alle größeren europäischen Länder und in die USA.




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5 In seinem Deutschlandtagebuch hielt Ôgai vom 12. Oktober 1884 bis zum 14. März 1888 fast täglich seine Erlebnisse fest; Originaltitel: Zaidokuki ('Tagebuch eines Deutschlandaufenthaltes'), 1899 als Doitsu-Nikki ('Deutschlandtagebuch') für die Veröffentlichung überarbeitet, aber erst 1937 erstmals veröffentlicht.

6 Vgl. auch Schamoni (1976: 63): "Als Ôgai im Juli 1888 […] zur Heimreise aufbrach, war seine seelische Verfassung nicht mehr von dem gleichen Selbstbewußtsein geprägt wie auf der Hinreise."

7 Berndt spricht in diesem Zusammenhang von einem "Versuch Ôgais, für sich selbst umzusetzen, was er aus einer umfangreichen und eifrigen Lektüre europäischer Dichtung gelernt hatte, aber immerhin ein Versuch, der auf die damalige japanische Literatursituation geradezu revolutionär wirkte, nicht zuletzt durch den neuen Prosastil, den Ôgai damit einführte." (Berndt 1994: 101) .

8 Vgl. Bowring (1975: 170–171): "There is clearly much in Maihime that corresponds to Ôgai’s own experiences in Germany, but the degree to which he incorporated reality into the story is a source of perennial discussion. […] The temptation to treat Maihime as a biographical document is just too strong. A favorite approach is to see in the story a tale of the compromise and defeat of a newly liberated youth by the oppressive forces of a 'feudal' tradition; […]."

9 Neben seinen persönlichen Erlebnissen verarbeitet er aber auch die Geschichte von Takeshima Tsutomu, der wie Ôgai Angehöriger der japanischen Armee und 1887 als Student nach Deutschland kam. Ôgai kannte Takeshima bereits seit 1882. Sein Kommilitone war in finanzielle Schwierigkeiten geraten und bei seinen Vorgesetzten verleumdet worden. Der Aufforderung, nach Japan zurückzukehren, widersetzte er sich und wurde mit der Begründung, er schade dem Ansehen der japanischen Armee, entlassen. Takeshima starb 1890 in Dresden an den Folgen einer Krankheit, die in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Unterernährung stand. Kein Zufall kann es sein, wenn Ôgai den Protagonisten seiner Erzählung den Namen Ôta gibt; denn so heißt auch der Heimatort von Takeshima.

10 In Japan wird der Baum, unter dem Buddha die Erleuchtung erlangte, mit einer aus China eingeführten Baumart identifiziert. Diese wird in Japan deshalb 'bodaiju' ('Baum der Erleuchtung') genannt, was auch die Übersetzung für das deutsche Wort 'Linde' ist.

11 Mit der Darstellung der Klosterstraße als Gegenbild zur Allee 'Unter den Linden', als Opposition zum Entwurf des "Lichtermeeres der Großstadt", kann Ôgai ein 'authentisches' Bild deutscher Wirklichkeit konstruieren. Damit lässt er auch ein den gängigen japanischen Vorstellungen dieser Zeit widersprechendes Europa-Bild entstehen und dekonstruiert das Bild vom sowohl kulturell als auch wirtschaftlich und sozial überlegenen Europa. Auch der japanische Titel der Erzählung lässt sich in diesem Kontext lesen. Denn mit dem religiös konnotierten Begriff Maihime werden in Japan Tempeltänzerinnen bezeichnet, wobei Elise ein Ballettmädchen aus ärmlichen Verhältnissen ist und am Rande der Prostitution steht. Entgegen der japanischen Bedeutung des Titels und damit den Erwartungen der Leser widersprechend bezeichnet Ôgai in seiner Erzählung das Tanzen als "niedrige[s] Gewerbe" (17) und das "Los einer Tänzerin" als "wahrlich elend" (17).

12 Die Frau als Symbol der Fremde hat in der japanischen Literatur eine lange Tradition. In der japanischen Mythologie ist überdies die fremde Frau oft mit magisch-unheimlichen Attributen behaftet, was auch auf die Beschreibung von Elise zutrifft: "In den Augen [Elises] […] war ein Zauber." (16)

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