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Regine Brossmann (Stuttgart)



Funktionen der Dialogform: Platons Dialoge und Diderots Le Neveu de Rameau



Functions of Dialogue: Plato's Dialogues and Diderot's Le Neveu de Rameau
Le Neveu de Rameau presents a dialogue between the 'Neveu', a musician ('Lui'), and an enlightened moral philosopher, the alter ego of Denis Diderot ('Moi'). It deals with loosely connected topics from both ethics and aesthetics, among them opera, theatre, 'pantomime', but also the Aristotelian theory of mimesis; egoism or altruism as forces necessary for the functioning of society, the 'right of the strongest' vs that of the weak, Idealist moral imperatives vs. Materialist determinism, and the precarious position of the artist in the society of the Ancien Régime. Using the fictive orality of the dialogue form, the author inscribes himself in a tradition that is said to have started with Plato. Yet, unlike Plato's orality, Diderot's simulated orality is not rooted in a criticism of scripture since literature in scriptural form, aided by the printing press, was an essential medium for spreading the ideas of Enlightenment. Diderot uses Plato's form of the 'Socratic dialogue' but changes it from a teacher-pupil dialogue to a de-facto debate between equals since 'Lui' in the course of the dialogue successfully slips from the 'pupil' into the 'teacher' role. There are references to Plato's Gorgias, a dialogue on rhethoric and ethics, the contents of which are implicitly applied to literature. Diderot used the dialogue as a source (most explicitly the Socrates-Kallikles debate on ethics) but obliterated its metaphysical implications. On a deeper level, Diderot is shown to be engaged in a dialogue with the Platonic intertext(s), not only with Gorgias, but also with the Platonic triad of the True, the Good und the Beautiful, the unity of which, according to Diderot, is irrevocably lost.


Einleitung

Platon in seiner Wirkung auf den Enzyklopädisten Denis Diderot vergleichend zu untersuchen erscheint vielleicht auf den ersten Blick überraschend, wird doch der erstere meist als der Ahnherr der abendländischen Metaphysik angesehen, während der letztere zu einem atheistischen und materialistischen Standpunkt gefunden hatte und damit als erklärter Gegner der metaphysischen Tradition gilt.

Berührungspunkte zwischen Platons Denken und demjenigen Diderots bestehen jedoch auf dem Gebiet der Kunsttheorie, da der letztere dazu beitrug, das Moment der spontanen, unverfügbaren Inspiration, ja der Ekstase nahe am Wahnsinn (mania) als eigentliche Quelle künstlerischen Schaffens zu rehabilitierten, eine Vorstellung, die in der europäischen Geistesgeschichte auf Platon zurückgeht. Die pantomimische Schauspielkunst von Rameaus Neffen trägt solche Züge. Allein der ursprünglich religiöse Interpretationshintergrund derartiger Erlebnisse (göttliche Inspiration, Gottbesessenheit) entfällt nun. Diderot, der den Genie-Begriff an die Stelle der alten klassischen Regelpoetik setzte, wurde damit unter anderem auch zu einem indirekten Wegbereiter der Romantik.

 

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Doch auch er bediente sich wie zuvor die Klassik im antiken Bildungsfundus, in der Aufklärung aktualisierte er jedoch die Antike unter neuen Vorzeichen. Le Neveu de Rameau (Diderot 1983 = NR) beruft sich einerseits auf die antike Satirentradition. Ursprünglich trug das Werk den Untertitel "Satire seconde" und Diderot schickt ihm ein Motto aus Horaz' 7. Satire des II. Buchs voraus.1 Die Satire ist eine formal kaum definierte Gattung, die unter anderem – wie zahlreiche Horazsche Satiren – auch ein Dialog sein kann. Inhaltlich ist sie meist ein kritisches Charakter- und Gesellschaftsbild und als sog. menippische Satire kann sie auch philosophischem Gedankengut verpflichtet sein.

Diderots Satire Le Neveu de Rameau ist zugleich ein philosophischer Dialog – eine seriösere, anspruchsvolle Gattung, die auf eine Reihe antiker Vorbilder zurückblicken kann. Zu diesen zählen neben Ciceros philosophischen Dialogen vor allem diejenigen Platons. Letztere hatten sich bei allem Wandel in der Bewertung der antiker Autoren seit ihrer Wiederentdeckung in der italienischen Renaissance einer vergleichsweise konstanten Wertschätzung erfreut, die in Italien wie in Frankreich seit der Renaissance zu einer produktiven Wirkungsgeschichte als literarisches Modell geführt hatte, die niemals ganz abgerissen war und sich über den libertinage érudit und die Frühaufklärung bis in die Aufklärung hinein fortsetzt.

Diderot, der sich auf der formalen Ebene der Dialoggattung in jene Tradition stellt, die mit Platon begann, geht es auch um eine kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit dem großen 'Klassiker' der antiken Philosophie. Diese erfolgt mittels des Dialogs zwischen 'Moi', einem Diderot selbst nicht unähnlichen bürgerlichen Aufklärer, und 'Lui', Rameaus Neffen, einem Bohémien und gescheiterten musikalischen Genie. Beide sind mit Platons Gorgias als gemeinsamem Bildungsgut vertraut. In ihrer Diskussion, in der es neben Fragen der Ästhetik unter anderem auch um ethische Werte geht, machen sich beide daraus unterschiedliche Argumente sowie ein Gleichnis des Sokrates zu eigen.

Der Dialog Gorgias trägt den Untertitel "Über die Beredsamkeit" und dazuhin die Bezeichnung "umstürzend", eine Gruppenbezeichnung platonischer Dialoge, die von antiken Philologen stammt und hier den Kern die Sache trifft: der Gorgias ist ein scharfer Angriff die herrschende politische und gesellschaftliche Moral im der – wie Platon glaubte – bei aller äußerlichen Blüte im Inneren dekadent gewordenen Athen des Perikles. Gorgias beschäftigt sich in erster Linie mit den Möglichkeiten und Grenzen, aber auch den politischen und gesellschaftlichen Aufgaben der Rhetorik; letztere führen zu allgemeinen Betrachtungen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Politik und Ethik.

Im Neveu stellt sich die Frage nach der Rolle der Rhetorik einer absoluten Monarchie in ganz anderer Weise als für Platon in der athenischen Republik. Rhetorik ist für 'Moi' – und vor allem für 'Lui' unter zunächst einmal eine Teildisziplin der Dichtkunst und damit der Ästhetik – eine Tradition, die seit der Renaissance wirksam war. Damit wird die Rhetorik aus Oralität oder Semi-Oralität der antiken Kultur in eine Kultur der Schriftlichkeit transformiert, ein impliziter, nirgendwo in Le Neveu de Rameau explizit reflektierter Prozess, der jedoch Konsequenzen hatte. Mit der Aufgabe der mündlichen Kommunikationssituation ging der Verlust der Rückfragemöglichkeit wie auch der nonverbalen Zeichenebene einher, ein Verlust, den die fiktive Oralität des literarischen Dialogs auf verschiedene Weise zu kompensieren versucht. Dies wird im folgenden der Gegenstand des ersten Kapitels sein.

 

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Der Schriftsteller und Kunsttheoretiker Diderot brachte ästhetischen Fragen aller Art, poetologischen wie auch musiktheoretischen,2 ein großes Interesse entgegen. Zwar strebt auch 'Moi' – wie Platons Sokrates – eine Rhetorik (bzw. Literatur) an, die zur Besserung der Mitmenschen wie auch der gesellschaftlichen Missstände beiträgt. 'Lui' dagegen interessiert mehr die Frage nach der ästhetisch gelungenen Verbindung von Rhetorik, Musik und lebenswahrem Affektausdruck ('cri de la nature'); sie diskutieren dies ausführlich an Beispielen aus Oper und Drama – ein Hinwendung des Künstlers zur Oralität wie zur Öffentlichkeit.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts existierte durchaus eine gesellschaftspolitische Rhetorik, die – wie Diderot selbst oder die physiocrates – mehr oder weniger offen Kritik äußerte und die Forderung nach Reformen erhob, dabei jedoch gezwungen war, zumal wenn eine legal gedruckte Publikation angestrebt wurde, dies unter den Bedingungen von Zensur zu tun. Diderot selbst entwickelte in seinen zu Lebzeiten legal veröffentlichten Werken – namentlich in der Encyclopédie – Strategien, die Zensur zu umgehen, die sich auch seinen fiktionalen Werken niedergeschlagen haben, darunter auch in Le Neveu de Rameau. Er selbst hielt diesen Text dennoch für zu brisant, um ihn zu veröffentlichen – dies geschah bekanntlich erst nach seinem Tod und auf mehr als verschlungenen Wegen.3

Diderot lässt 'Moi' und 'Lui' die Fragen Platons nach dem Wahren, des Guten und dem Schönen diskutieren. Für Platon konvergierten diese drei noch in einer Einheit im Bereich des Metaphysischen, doch in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ist diese Einheit unwiderruflich zerbrochen, auch wenn 'Moi' noch versucht, die Einheit zu retten, Versuche, die für 'Lui' jedoch zum Scheitern verurteilt sind. Die Einheit des Wahren und Guten scheitert an der politischen und sozialen Realität; diejenige des Schönen und des Guten daran, dass das Böse in der Kunst ebenso, wenn nicht gar besser wirke; und diejenige des Schönen und des Wahren an den Gesetzen der Wirkungsästhetik. Schön wirke in der Kunst nicht das unmittelbar Lebenswahre, sondern vielmehr das, was am besten den Anschein von Lebenswirklichkeit erweckt. Nicht zuletzt scheitern die platonischen Ideen auch an der unidealen Realität, denn im historischen Kontext der Aufklärung wird aus der alten sokratischen Frage nach Wesen und Definition von Begriffen unversehens diejenige nach ihrer praktischen Realisierbarkeit. Diderot lässt 'Lui' neben der 'pragmatischen' auch die 'utilitaristische' Frage einbringen : Welchen Nutzen hat das Wahre, das Gute und das Schöne für die Gesellschaft und / oder das Individuum? Dabei erscheint 'Moi' eher der Nutzen der Gesamtgesellschaft und 'Lui' derjenige des Individuums wichtig, das angesichts seiner vitalen und irreduziblen Grundbedürfnisse vor allem nach Selbsterhaltung strebe. Le Neveu de Rameau stellt damit nicht zuletzt auch die Begegnung des philosophischen Idealismus von 'Moi' mit dem Materialismus von 'Lui'dar. An eben dieser Begegnung zerbricht die platonische Ideen-Trias. Mit ihrem Zerfall spaltet sich der Dialog in ethische ästhetische und Einzelfragen auf, die sich locker abwechseln. Damit ist auch die ästhetische Einheit des Dialogs als Kunstwerk bedroht, doch wird der auseinanderstrebende Inhalt noch durch die Charaktere und die Gesprächssituation, d.h. letztlich durch die dramenähnliche Dialogform selbst zusammengehalten. Da dieser letzteren somit eine nicht unbedeutende Rolle zukommt, wird sie auch aus diesen Grund im Kapitel I ausführlich untersucht werden.

 

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Le Neveu de Rameau erfüllt im übrigen wie ein klassisches Drama die Einheit der Zeit (das Gespräch dauert nur etwa eine halbe Stunde, von ca. fünf bis halb sechs Uhr nachmittags), die Einheit des Ortes (das Café de la Régence) sowie die der Handlung (ein Dialoggespräch als verdeckter Prestigekampf und dramatisches agon, ein Aspekt, der im Abschnitt V dieser Studie genauer betrachtet wird). Diderot hat sich als Dramatiker (Le fils naturel; Le père de famille) von den klassischen Regeln gelöst und gilt als der Begründer des bürgerlichen Trauerspiels. In seinen Dialogen sind jedoch noch Nachwirkungen der Klassik zu spüren.

Das Zerbrechen der Einheit des Schönen und des Wahren stellt auch die alte aristotelische Mimesis-Ästhetik zur Disposition. Abstrakte philosophische Gedanken können noch so zwingend wahr sein, sie sind jedoch musikalisch nicht umsetzbar. Der Kunst dabei – wie Platon – ihre Entfernung von einer angeblichen 'wahren Welt der Idee' vorzuwerfen käme 'Lui' bei seinem materialistischen Denkansatz nicht in den Sinn. 'Lui' erhebt vielmehr die Forderung, dem Lebenswahren zum künstlerischen Ausdruck zu verhelfen, darunter vor allem dem Ausdruck der Leidenschaften wie dem 'cri de la nature' oder der natürlichen Diktion im (Musik-)Drama. Damit radikalisiert er einerseits den imitatio-Gedanken. Mit der Schilderung der Kunstproduktion des 'Neveu', den 'pantomimes', überschreitet. Diderot jedoch bereits die Grenzen der Mimesis-Ästhetik in Richtung einer Selbstreflexivität der Kunst, denn der Dialog Le Neveu de Rameau ist nichts anderes als eine Kunstkritik als literarisches Kunstwerk Dies soll im weiteren in Kapitel IV. ("Die 'pantomimes': eine Kritik des aristotelischen Mimesis-Begriffs") sowie in VI. "Nochmals ästhetische Fragen" ausführlich behandelt werden. Der aristotelischen Apologie der fiktionalen Kunst gegen den platonischen Vorwurf der Lüge schließt Diderot sich jedoch an.

Der Verlust der antiken Einheit des Schönen und des Guten stellt auch die Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Moral auf eine neue Weise, worauf ich in Kapitel VI. "Nochmals ästhetische Fragen" eingehen werde. Auch hier ist 'Lui' die treibende Kraft der Erkenntnisfindung.

Das Zerbrechen der Einheit des Wahren und des Guten führt schließlich aus dem Bereich der Kunst hinaus in denjenigen der gesellschaftlichen Realität im Frankreich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Diderot konstatiert die Krise des politischen und gesellschaftlichen Systems des Ancien Régime, eine Krise nicht nur der politischen, sondern vor allem auch der ethischen Legitimation und damit auch eine Krise der ethischen Werte. Eine ähnliche Diagnose hatte einst auch Platon im Gorgias dem inneren Verfall der attischen Demokratie gestellt, wenn auch von einem entgegengesetzten politischen Standpunkt aus. Auf die Parallelen der ethischen Debatten von Gorgias und Le Neveu de Rameau wird in VII. näher eingegangen werden.

 

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I. Der Dialog als janusköpfige Gattung: fiktionale Mündlichkeit in der Schriftlichkeit

Diderots Le Neveu de Rameau wird gattungsmäßig zumeist als literarischer Dialog (seltener als Dialogroman) eingestuft und oft als besonders vollendetes Beispiel des genannten Genres betrachtet. Doch was ist ein 'literarischer Dialog', zumal ein solcher der Aufklärung ? Eine Gattung, die dem Drama nahesteht, zugleich als Transportmittel aufklärerisch-philosophischer Inhalte fungiert – und dazuhin in hohem Maße anschlussfähig an die Romanform ist.

Der literarische Dialog steht an einer 'Schnittstelle' von inszenierter Mündlichkeit innerhalb fiktionaler Schriftlichkeit. Er ist damit im Grunde bereits per se eine janusköpfige Gattung: Er stellt eine fiktionale Inszenierung von Mündlichkeit dar, die sich die formalen Charakteristika der Mündlichkeit zu eigen macht; doch bedient er sich als literarische Gattung der schriftlichen Form. Als Fiktion eines Gesprächsprotokolls wird der Schriftlichkeit jedoch nur der sekundäre, nachträgliche Vorgang der Aufzeichnung zugewiesen, nicht jedoch der primäre schöpferische Vorgang der Entstehung. Auch die französische Aufklärung fand diese Ansicht als Teil einer über 2000 Jahre alten abendländischen Überlieferung vor.

Platon – mit Xenophon zusammen der Ahnherr der Tradition, Philosophie in Dialogform schriftlich niederzulegen – bezeichnet in seinem Dialog Phaidros den geschriebenen Logos gleichwohl als ein bloßes Abbild der Rede des Wissenden – eine implizite Abwertung der Schrift. Der Schrift kommt nur eine Funktion als Erinnerungsmittel zu, dem der Lehrmeister mündlich interpretierend "zu Hilfe kommen" müsse. In der alleinigen Verbreitung der Schrift sieht der Philosoph eher eine Gefahr, da sie ohne Rückfragemöglichkeit missverstanden werden könne. Deshalb wird der Philosoph auch nur einen Teil seiner Lehre der Schrift anvertrauen; etliches wurde innerhalb der Platonischen Akademie mündlich tradiert und erst von Platons Schülern aufgezeichnet.4

Sicherlich steht Platons Schriftkritik im Phaidros damit im Gegensatz zu den Intentionen Diderots und der französischen Aufklärer allgemein, die durch die möglichst weite Verbreitung ihrer Schriften Einfluss auf die öffentliche Meinung in allen Schichten der Gesellschaft nehmen wollten und für die die Bücher und der Buchdruck die Garanten der Unumkehrbarkeit der Aufklärung waren: "[...] les lumières conservées par l'imprimerie" (Diderot 1765, Bd. 9 "Législateur", 362 B).

Als Vorbild des aufklärenden philosophe fungiert für Diderot und andere unter den Aufklärern zwar nicht der Metaphysiker Platon, sondern Sokrates, der jedoch selbst nichts aufgezeichnet hat (dies übernahmen sein Schüler Platon und der Geschichtsschreiber Xenophon) – ein Rekurs auf die idealisierten Anfänge der abendländischen Philosophiegeschichte. Sokrates steht für die Hinwendung der frühgriechischen Philosophie zum Menschen, zur conditio humana und zur Ethik, für die sokratische Absicht wie auch Methode, seine Mitmenschen im direkten dialogischen Gesprächskontakt 'aufzuklären' und dadurch – so hoffte er – auch moralisch zu bessern, sowie für die Einheit von Lehre und Leben (bzw. Tod). Ich zitiere hier die kenntnisreiche Monographie von Ruth Groh Ironie und Moral im Werk Diderots:

 

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Die Vorliebe der philosophes, sich untereinander den Namen Sokrates beizulegen, ist bekannt. (s. Mittelstraß 1970: 101; Böhm 1929). Insbesondere Diderot wurde oft so genannt. Das Schicksal des Sokrates galt als Musterbeispiel für die Gefährdung des wahrheitssuchenden Philosophen durch die staatlichen Ordnungsmächte. (Groh 1984: 36)

Im Neveu de Rameau fragt 'Moi' denn auch: "De Socrate, ou du magistrat qui lui fit boire la ciguë, quel est aujourd'hui le déshonoré?" worauf 'Lui' einwendet: "En a-t-il moins été mis à mort?" (NR, 400). – Dass Diderot dieses Thema beschäftigte, belegt auch ein Entwurf für ein Drama vom Tod des Sokrates, den er in seine dramenästhetische Schrift De la poésie dramatique aufnahm (Diderot 1994: 198–199).

Selbst zum Märtyrer der Philosophie werden wollte Diderot, der aufgrund der Lettre sur les aveugles (1749) bereits das Turmgefängnis von Vincennes kennengelernt hatte, dann doch nicht; ein solches Märtyrertum wäre gemäß seiner Konzeption der Rolle eines philosophe auch sinnlos gewesen. Die Aufklärer waren angetreten, durch die Kraft der Vernunftargumente zu überzeugen und nicht durch das exemplarische Leben und Sterben einer charismatischen Vorbildfigur.

Was Sokrates betrifft, so hatte dieser ausschließlich im mündlichen Dialog gelehrt und seine Philosophie selbst nicht aufgezeichnet; sie ist uns nur durch die Dialoge Xenophons und Platons überliefert. Somit gewinnen die Dialoge vor allem Platons den Status der Urquellen der abendländischen Philosophie überhaupt – und, da von den Vorsokratikern zumeist nur Fragmente erhalten sind, auch den der ursprünglichen Form von Philosophie. Der Dialog stellt dabei die einzig adäquate Form dar, die Sokrates' spezifische Art des 'Lehrens' durch 'Nicht-Lehren' darstellen konnte, indem sie sowohl die gewonnenen Erkenntnisse als auch zugleich die nicht davon zu trennende 'sokratische Methode' der dialektischen Hinführung bewahrt.


Kommunikationsmittel in Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Eine direkte mündliche Unterredung im Dialog – realer oder fiktional inszenierter Art – bietet als Kommunikationsform in der Tat ihre spezifischen Vorteile. Wenn ein Lehrer-Schüler-Verhältnis vorliegt, kann die Persönlichkeit des Meisters in der Präsenz ihre pädagogische Wirkung in viel höherem Maße entfalten als in jeglichem schriftlichen Lehrwerk. Das Lehrgespräch erlaubt beiden Seiten Rückfragen zur Kontrolle des Verständnisses; die Präsenz des Lehrers motiviert und stimuliert in stärkerem Maße als jedes noch so gute Buch.

 

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Dazu kommt, dass jegliches Gespräch – nicht nur das pädagogische – ganz anderen psychologischen Gesetzen gehorcht als der Lesevorgang. Dies reicht von der Art der Herstellung des Kontakts in einer beginnenden Gesprächssituation verglichen mit derjenigen von Autor und (potentiellem) Leser, den es zu fesseln gilt, es setzt sich fort in der psychologischen Dynamik des Gesprächs, in dem neben Sachthemen untergründig auch persönliche Konflikte wie z.B. eine Art heimlicher 'Statuskonkurrenz' verhandelt werden können, und auch in seinem oft eher assoziativen Aufbau. Ein schriftlicher Dialog sieht sich als fiktionale Form des Gesprächs damit per Definition vor die Aufgabe gestellt, einen Kompromiss zwischen mündlichen und schriftlichen Kommunikationsweisen herzustellen.

Dies ist mit spezifischen Schwierigkeiten verbunden, denn im 'echten' Gespräch sorgt die Präsenz der Sprecher und der sie verbindenden Gesprächssituation für eine Vermehrung der Kommunikationsmittel und -ebenen: zu den verbalen treten die nonverbalen Zeichen, die 'pantomime' der Gestik bzw. die 'paralinguistischen' Zeichen des Klangs der Stimme (auch der 'cri de la nature', der manchen Gestalten Diderots im Zustand tiefster Erschütterung entfährt, gehört in diesen Kontext). Durch diese Vielfalt der kommunikativen Kanäle, unterstützt durch die Präsenz eines situativen Kontexts wird die Mehrdeutigkeit von Sprache reduziert und somit das Potenzial von Missverständnissen eingeschränkt. Man muss jedoch hinzufügen, dass diese in der schriftlich-fiktionalen Form des Dialogs wegfallen, die Kommunikation also nicht mehr gesichert ist, es sei denn, dass alle nonverbalen Zeichen ebenfalls in Sprache übertragen werden, was wiederum eine Instanz erfordert, die dies vernimmt. Da es kaum 'natürlich' wirken würde, wenn die Dialogteilnehmer selbst ihre nonverbalen Signale gegenseitig im Gespräch verbal thematisierten und auch Didaskalien, 'Bühnenanweisungen' wie im Drama, wenig geeignet erscheinen, bleibt nur die Möglichkeit, eine Erzählerinstanz in den Dialog einzuführen, der dadurch tendenziell aufhört (oder Gefahr läuft aufzuhören), ein reiner Dialog zu sein. Die Erzählerfunktion kann dabei von einem der Dialogteilnehmer übernommen werden, was den Vorteil bietet, dass dieser in der Rolle des Berichterstatters gleichzeitig für den 'Wahrheitsanspruch' des Dialogs bürgt. In Le Neveu de Rameau ist es 'Moi', der als einleitender Erzähler den bizarren Charakter des 'Neveu' vorstellt und während des Dialogs als der Bericht erstattende Erzähler der 'pantomines' von 'Lui' fungiert.


Der beteiligte Erzähler als Vermittungsinstanz

Diese doppelte Rolle des Bericht erstattenden Zeugen und zugleich Teilnehmers am Dialog, die die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Carol Sherman als "double witness" (Sherman 1976: 48) bezeichnet, musste Diderot nicht neu erfinden. Sie stellt eine Fiktion dar, die bereits Platons Dialog Protagoras eigen ist. Der an der Unterhaltung selbst teilnehmende Zeuge habe diese anschließend aufgezeichnet; seine Aufzeichnung aus der (frischen oder ferneren) Erinnerung ergab den uns vorliegenden Dialog. Diese Technik des "doppelten Zeugen" als Dialogteilnehmer bietet dabei den Vorteil, dass die Dialogform als solche gewahrt bleiben kann und der Dialog sich nicht notwendig in einen Roman verwandelt, wie es geschieht, wenn ein allwissender Erzähler eingeführt wird.

 

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Ein Erzähler, der zugleich einen der (meist zwei) Dialogteilnehmer darstellt, ist immer auch ein subjektiver Berichterstatter, der 'parteilich' in dem Sinne ist, dass er ja mit einer der 'Parteien' identisch ist. Was man vielleicht versucht wäre, als Nachteil anzusehen, wendet Diderot in einen Vorteil: denn als Aufklärer ist es gerade sein Anliegen, den Leser zur Kritikfähigkeit gegenüber interessierter Parteilichkeit von Berichterstattern zu erziehen ! Ein subjektiver, 'ein-seitiger' Standort des Berichterstatters ist dann relativ ungefährlich, wenn man genau weiß, wo dieser Standort verortet ist – und den liefert die Form des Dialogs in geradezu dramatischer Inszenierung gleich mit.

Oder aber man führt eine auktorial-allwissende Erzählerstimme ein, die mit dem Anspruch des unparteiischen Außenstehenden auftritt. Da eine solche auktoriale Erzählerstimme das typische Gattungsmerkmal des Romans darstellt, wird dadurch der Dialog allerdings zum Dialogroman im eigentlichen Sinne, der – wie etwa Jacques le fataliste – damit auch eine umfangreichere Rahmenhandlung sowie eine größere Zeitdauer umfassen kann als der reine Dialog. Denn letzterer unterliegt de facto wie auch das klassische Drama den Einheiten des Ortes, der Zeit und der Handlung.

Was die 'nonverbalen Botschaften' der das Wort begleitenden 'pantomime' betrifft, die bei Diderot sehr wichtig sind und die auch in seiner Theorie des Dramas breiten Raum einnehmen, so wird ein Berichterstatter naturgemäß eher über die nonverbalen Zeichen des bzw. der anderen Anwesenden als über die eigenen erzählen. Letzteres spielt eine Rolle in Le Neveu de Rameau, in dem der Berichterstatter 'Moi' die mimischen Darbietungen schildert, mit denen der 'Neveu' seine Ausführungen illustriert (und gleichzeitig seine vielfältigen künstlerischen Talente demonstriert).

Auf die Beziehungen dieser Darstellungen zur Sprachphilosophie Rousseaus kann hier nur kurz verwiesen werden, insbesondere auf diejenigen zu seiner Theorie der Entstehung der Sprache aus der Gebärde über das Zwischenglied der Lautgebärde, welche zusammengenommen die ursprüngliche, unverstellte Form der Sprache darstellten, kann hier nur kurz verwiesen werden.


Produktive Ausräumung von Missverständnissen

Die Vorteile der fiktionalisierten Situation der mündlichen Unterredung beschränken sich jedoch nicht auf die Präsenz der Gebärde und der Stimme, die unmissverständlich sind und sich weit weniger bewusst kontrollieren lassen als das trügerische Wort. Im Bereich des argumentativen Dialogs, sei er nun rein expositorisch oder aber ein echtes Streitgespräch, bietet die Situation des Gesprächs auch den Vorteil, dass sich ein Missverständnis durch Nachfragen leicht aufdecken und korrigieren läßt. Ein solches kann durch eine Nichtübereinstimmung des 'Codes' von Sender und Empfänger auftreten, die z.B. unter ein und demselben Begriff beide jeweils etwas vollkommen Verschiedenes verstehen.

 

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Ein Grund dafür ist die grundsätzliche Mehrdeutigkeit jeder natürlichen Sprache. Was von einigen Philosophen des 18. Jahrhunderts wie z.B. Leibniz als Mangel betrachtet wurde, dem es in einer projektierten Universalsprache abzuhelfen galt, wurde und wird von Dichtern jedoch seit jeher bewusst für literarisch-ästhetische Zwecke eingesetzt. Eine weitere Ursache für die verschiedene Interpretation von Begriffen besteht in der stets gegebenen individuellen Verschiedenheit der Erfahrungen von Sender und Empfänger, die sich bei unterschiedlicher sozialer Lebenswelt verstärkt auswirken kann; so z.B. der Gegensatz zwischen Bürger und. parasitärem Bohemien in Le Neveu de Rameau.

Begriffe können nicht zuletzt auch deswegen unterschiedlich interpretiert werden, weil sie je nach ideologischem Standpunkt verschieden definiert bzw. konnotiert sind. Des weiteren führen die gegensätzlichen ideologischen Standpunkte der Dialogteilnehmer zu einem völlig unterschiedlichen Verständnis der Begriffe des ethisch Guten bzw. Schlechten, von 'Tugend' und 'Laster'. Das gleiche gilt für die Diskussion um die 'Vergeudung' bzw. den 'nutzbringenden Gebrauch' des künstlerischen Talents.

Was den philosophischen Dialog der Aufklärung betrifft, so wäre auch zu klären, welche Rolle dort die bewusste Inszenierung des Missverständnisses im Dialog als Mittel der philosophischen Wahrheitssuche bzw. als Mittel des sokratischen Beweises der Unwissenheit des Gegenübers zwecks anschließender Führung zur Erkenntnis spielt. Bekanntlich beruhen die 'sokratischen Dialoge' zumindest in ihrem ersten Teil darauf, dass Sokrates seinem Gesprächspartnern zunächst nachweist, dass sie Begriffe gebrauchen, ohne sie zu verstehen, d.h. ohne zu einer klaren Definition in der Lage zu sein. Insofern besteht ein sokratischer Dialog aus der Inszenierung einer Serien von Missverständnissen, die dann in der positiven Belehrung, dem zweiten Teil, zum richtigen Verständnis führen soll.

Man wird deshalb auch danach fragen, inwiefern eine Unklarheit bzw. Mehrdeutigkeit der Begriffe von Diderot nicht auch bewusst angestrebt wurde, sei es, um Diskussionen über sie zu ermöglichen, sei es, um bei heiklen Themen die Zensur zu unterlaufen. In dem Moment, in dem man sich ihrer bewusst wird, lassen sich Missverständnisse im mündlichen Dialog durch Nachfragen relativ leicht beheben. Wo dies unterbleibt, ist dieses Bewusstsein noch nicht vorhanden oder es darf vielleicht auch – aus Gründen der Vorsicht vor der Zensur – nur implizit im Leser erweckt, aber nicht explizit geäußert werden.


II. Schriftlichkeit als Medium der Aufklärung

Gegenüber allen bisher angesprochenen Thesen von der 'Inszenierung der Mündlichkeit' als einer privilegierten Form von Kommunikation oder als der ältesten Form der Philosophie betont Helmut C. Jacobs, dass der Schriftlichkeit gerade durch den fortschreitenden Prozess der Aufklärung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts viel an Prestige zugewachsen war. Gerade das immense Unterfangen der Encyclopédie – eine Summe und zugleich kritische Bestandsaufnahme des gesamten Wissens auf aktuellem Stand – hatte das Prestige der Schriftlichkeit im 18. Jahrhundert bedeutend gehoben:

 

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Tatsächlich erfährt die Schriftlichkeit im Kontext der Autoren der Encyclopédie eine Aufwertung. Die verschriftlichte Sprache wird von den philosophes als Medium mit einer Vielfalt neuer Funktionen bewußt kreativ gestaltet und als exploratives, maieutisches Mittel zur Erkenntnisstiftung aufgefaßt, das über ein ungeheures Potential an kommunikativen Möglichkeiten verfügt, um den Leser wirkungsvoll zu affizieren und zu enthusiasmieren. (Jacobs 2001: 314)


Herausbildung neuer Formen schriftlicher Kommunikation

An der Herausbildung dieser "Vielfalt neuer Funktionen" von Sprache, darunter diejenige als "exploratives, maieutisches Mittel der Erkenntnisstiftung" hat auch die Notwendigkeit, an der Zensur vorbei zu kommunizieren, in nicht unbedeutender Weise mitgewirkt. Ruth Groh hat in ihrer Monographie Ironie und Moral im Werk Diderots in besonderem Maße auf diesen Aspekt hingewiesen (Groh, 1984: 32 – 48).

Eine mögliche Strategie zur Täuschung der Zensur bestand darin, diejenige Instanz, die brisante Aussagen macht, in ein 'Narrengewand' zu kleiden – sie wird oft unter den Verdacht der folie gestellt, wie der im Café als Schauspieler auftretende 'Neveu', der Diener Jacques, den sein Herr gegenüber der Wirtin durch eine Handbewegung als gestörten Geistes bezeichnet, weil ihm die 'insolence' seines Dieners peinlich ist, oder D'Alembert, der in Le Rêve de D'Alembert im Zustand des Deliriums eines Fiebertraums erstaunlich klar räsonniert. Des weiteren zählen zu den Strategien, um die Zensur zu unterlaufen, auch die Gewohnheit, auf potentiell anstößige Aussagen sofort eine Distanzierung oder ein Dementi folgen zu lassen sowie beim Referieren konservativ-orthodoxer Positionen implizite Ironie-Signale einzuflechten, letzteres oft in Form pathetischer Übertreibungen.

Die literarische Dialogform ermöglicht dabei die Anwendung aller dieser Verfahrensweisen paradoxerweise in höheren Maße als die für die Schriftlichkeit 'typischeren' Formen wie die Abhandlung oder der Essay, denn der Dialog inszeniert als dramatisierte Form die Aussageinstanz und damit deren Subjektivität, die man dann schützend zur unzuverlässigen Instanz erklären kann.

Aber es gab noch andere Gründe, die Dialogform derjenigen z.B. einer philosophischen oder wissenschaftlichen Abhandlung vorzuziehen. Wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Carol Sherman argumentiert, spielte dabei auch die zunehmende Ablehnung der überkommenen Rhetorik und Logik eine Rolle, mittels deren Stil- und Strukturelemente (wie z.B. schmückende Redefiguren, dialektische oder syllogistische Argumentationsweisen) bisherige Traktate dieser Art gewöhnlich aufgebaut waren. Rhetorik und Logik, jene beiden traditionellen, letztlich noch aus dem Mittelalter stammenden (Schul-)Disziplinen, wurden vom aufgeklärten Bürgertum im Hinblick auf die Wissenschaften immer mehr mit überholtem scholastischen Denken und gelehrten Pedantismus, in sozialer Hinsicht mit der Vorherrschaft des Klerus und der höfischen Aristokratie assoziiert, was bei einem aufklärerischem Gedankengut nahestehenden Publikum entsprechende Antipathien hervorgerufen hätte: "There, criticism of pedantry paralleled the distaste for demonstrative logic and discourse" (Sherman 1976: 28).

 

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Dieser Ablehnung eines autoritativ-lehrhaften Habitus entsprach ins Positive gewendet die Vorliebe des gebildeten Lesepublikums für einen 'leichten', ebenso verständlichen wie unterhaltsamen Konversationsstil wie beispielsweise den der Diderotschen Salons. Die Natürlichkeit des Ausdrucks wurde dabei zu einem positiven Wert und ging einher mit einem zunehmenden Gewicht der behandelten Sachthemen gegenüber dem Streben nach rein stilistischer Brillanz.

Diderot selbst schätzte den Stil der Essais Montaignes, « l'auteur des ces essais qui seront lus tant qu'il y aura des hommes qui aimeront la vérité, la force, la simplicité."» (Diderot 1765: Encyclopédie Bd. 13, "Pyrrhonienne ou sceptique philosophie", 612), dessen locker-assoziativ strukturierte 'Formlosigkeit' eine gattungsmäßige Innovation des Autors darstellte, die aus der Ablehnung der Rhetorik wie auch der traditionellen Gattungen entstanden und den individuellen Aussageabsichten optimal angepasst war.

Herbert Dieckmann (1966) will aufzeigen, "daß das Bewußtsein der notwendigen Beziehung zwischen Literatur und Philosophie nicht nur zum Wesen, sondern auch zum Programm der Aufklärung gehört" (Dieckmann, 1966:11). Der literarische Ehrgeiz der philosophes habe nicht zuletzt auch darin bestanden, die literarische Form zu finden, die dem Ausdruck ihrer Gedanken am angemessensten war und die gleichzeitig auch geeignet war, das größtmögliche Publikum zu erreichen. Diderot habe in seinen Dialogromanen bzw. mit Erzählelementen angereicherten Dialogen eine solcherart geglückte Verbindung gefunden, die beiden Anforderungen gleichermaßen gerecht wurde.

Damit wird bei der Bewertung der Dialoge Diderots der Akzent von der Fortsetzung einer langen Tradition zur Innovation hin verschoben, die nicht zuletzt auch auf der Ebene der Form stattfand: und diese Innovation bestand in der Vermischung bzw. Kontamination verschiedener Gattungen (Dialog, Roman, Erzählung, Drama), deren Grenzen er überschritt und verwischte, um mit Hilfe der Darstellungsmittel mehrerer Genera eine möglichst vielgestaltige Darlegung und Entfaltung seiner Gedanken zu ermöglichen.


III. Typen und Funktionen Diderotscher Dialoge

Carol Sherman unterscheidet aufgrund ihrer Funktion drei verschiedene Typen des Diderotschen Dialogs: den expositorischen, den dramatischen und den dramatisch exemplifiziernden Dialog :" the expository, the dramatic, and the dramatic-exemplary" (Sherman 1976: 44).

Beim expositorischen Dialog liegt kein echter Widerstreit von Meinungen vor, die Dialogform stelle damit eine inhaltlich nicht zwingend motivierte bloße Stilfigur dar: "This is pseudodialogue: the form is strictly a figure of style" (Sherman 1976: 45). Als Beispiele führt sie den Entretien sur le Fils naturel und Le paradoxe sur le comédien an.

 

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Ein echter Konflikt der Ideen und der Standpunkte sei dagegen dem dramatischen Dialog eigen, der für C. Sherman mit dem sokratischen Dialog gleichzusetzen ist: "These may be called true, dramatic, or Socratic dialogues: they present conflicting ideas and incarnate them in characters who have distinct personalities." Beispiele für den letzteren seien u.a. Le Neveu de Rameau, Le rêve de D'Alembert und die Suite de l'entretien sowie der Entretien d'un Père avec ses enfants.

Der dritte Typus des dramatisch-exemplifizierenden Dialogs wird als eine Unterart des dramatischen Dialogs mit einem größeren Grad an Komplexität eingeführt, die daher rührt, dass die Exempla, die im Laufe der Argumentation vorgebracht werden, zu unabhängigen Erzählungen oder Szenen ausgebaut worden sind: "The examples that occur in the course of argumentation are frequently expanded to become independent stories or scenes upon which the interlocutors comment" (Sherman 1976: 45). Diese exemplifizierenden Geschichten oder szenischen Darbietungen können dabei einen unterschiedlichen Grad von Eigengewicht und Eigenständigkeit gegenüber dem Dialog gewinnen. Dies reicht vom bloßen erweiterten Exemplum, das dem Dialog eher noch untergeordnet ist, über eine Erzählung oder Szene, die den (neuen) Ausgangspunkt des Dialogs bildet, zu der Erzählung, die einen Rahmen – framework – für den Dialog bildet. Zu den Dialogen Diderots, in denen das Verhältnis zwischen Dialog und Exempla am ausgewogensten sei und in denen zugleich die engste Verbindung zwischen diesen beiden Teilen – "the truest interrelation between the two parts" (Sherman 1976: 46) – verwirklicht sei, zählt C. Sherman Madame de la Carlière, Ceci n'est pas un conte und Jacques le fataliste.


Le Neveu de Rameau als sokratischer Dialog

Wir wollen uns im folgenden nicht mit den expositorischen Dialogen Diderots aus dem Bereich der Dramenästhetik beschäftigen, sondern mit einem ausgewählten Beispiel aus der Gruppe des 'dramatischen' Dialogs: mit Le Neveu de Rameau. Carol Sherman bezeichnet Le Neveu de Rameau als 'sokratischen Dialog', eine Untergattung des philosophischen Dialogs: "...the Neveu can be fruitfully viewed as Diderot's most original use of the Socratic form of dialogue" (Sherman 1976: 107). Doch werden die dort diskutierten Ideen so nachdrücklich und anschaulich – und dies sogar in dramatisierter Form – 'exemplifiziert' wie in kaum einem anderen Dialog Diderots, wobei die dramatischen Szenen der 'pantomimes' oder die Erzählung vom 'Renégat d'Avignon' sehr wohl zum Ausgangspunkt von neuen Diskussionssträngen über Ästhetik und Moral werden, dass man versucht wäre, eigentlich den Neveu de Rameau als den dramatisch-exemplifizierenden Dialogtypus zu bezeichnen.

 

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Zur Gattung des Romans will C. Sherman ihn nicht rechnen, da es keine Handlung gebe in dem Sinne, dass eine Veränderung eintritt: "The fact that the work does not belong to the category of narrative fiction is most clear from ist static nature: although the philosophe is shaken by the encounter, nothing changes." (Sherman 1976: 107) Denn keine der beiden Seiten vermag die andere zu überzeugen, und zum Schluss bekräftigt der 'Neveu', dass er noch derselbe sei wie zuvor und wie er es auch immer bleiben wolle:

LUI.: Adieu, Monsieur le philosophe. N'est-il pas vrai que je suis toujours le même?
MOI.:– Helas ! oui, malheureusement.
LUI:– Que j'aie ce malheur-là seulement encore une quarantaine d'années. Rira bien qui rira le dernier. (NR, 474)

Der Bewertung des Neveu de Rameau als Dialog (und nicht als Dialogroman) ist insofern zuzustimmen, als die ausführliche einleitende Erzählung von 'Moi' nicht dem Bericht von Handlung, sondern der Einführung des Schauplatzes des Café de la Régence im Pariser Stadtviertel Palais-Royal sowie der ersten Präsentation des 'Neveu' als bizarrem Original der Pariser Bohème dient. Diese subjektive Charakterisierung durch 'Moi' erfüllt damit eine expositorische Funktion, die sich mit der des Prologs im Drama deckt: der Hinführung zum Dialog als dem eigentlichen Hauptteil. Denn die Einführung durch 'Moi' ist fast nur deskriptiver Natur; sie enthält oder beginnt – im Gegensatz etwa zur Rahmenerzählung in Jacques le fataliste – noch keine Handlung, die über das bloße Zusammentreffen der beiden Dialogteilnehmer zum vereinbarten Termin hinausführen würde. Das folgende Gespräch wahrt im übrigen sämtliche Einheiten des klassischen Dramas, d.h. diejenigen des Ortes, der Zeit und auch der Handlung (sofern man denn von einer solchen sprechen will), während zu den Merkmalen des Romans meist das Abdecken eines längeren Zeitraumes zählt.


Le Neveu als 'procès retourné'

Gleichzeitig trage der Neveu de Rameau die Züge einer Gerichtsverhandlung, eines Prozesses, den 'Moi' 'Lui' macht oder machen will: "...the Neveu represents a judiciary proceeding: Moi is the judge, and Lui, Rameau's nephew, is the case that unfolds itself before him"

Dies trifft zwar beides mindestens teilweise zu; doch Carol Shermans Typisierungen der Diderotschen Dialoge entgehen nicht den Nachteilen aller Kategorisierungen, die auch bereits Diderot und die Enzyklopädisten diesen gegenüber zur Vorsicht veranlassten: alle Kategorisierungen sind vorläufige Denkmodelle, die dazu tendieren, einen 'Systemzwang' auszuüben, der den Erkenntnisgewinn u.U. auch wieder einschränken kann. Denn was mit C. Shermans Deutungen des Neveu als sokratischem Dialog sowie als Prozess noch nicht ausgesagt ist, ist die Tatsache, dass es sich um eine sehr spezielle Form des sokratischen Dialogs wie des Prozesses handelt, bei der im Laufe des Dialogs die Rollen vertauscht werden: der angeblich Aufzuklärende 'Lui' klärt seinen Lehrmeister 'Moi' auf; der Angeklagte macht sich selbst zum Ankläger und Richter.

 

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Während 'Moi' zu Beginn die Rolle des Sokrates wie auch die des Richters beanspruchte, dreht 'Lui' während des Dialogs 'den Spieß herum', führt 'Moi' nunmehr selbst zur Erkenntnis der Kunst wie der Gesellschaft und wendet zum Schluss einige Anklagepunkte von 'Moi' wie den der Vergeudung des Talents gegen diesen zurück, ja er versucht nunmehr seinerseits den Prozess gegen 'Moi' und seine bürgerliche Wohlanständigkeit zu eröffnen, der aber abgebrochen wird, weil 'Moi' erklärt, nun keine Zeit mehr zu haben. Im Endeffekt heben diese beiden Bewegungen der sokratischen Dialektik und der Anklage einander weitgehend gegenseitig auf, so dass man das Ende in der Aporie als ein statisches bezeichnen kann. Oder aber in der Sprache der Schachspieler: die Partie endet als Remis, es gibt keinen Sieger.


Dialektik des philosophischen Ertrags

Gewinnen kann nur der Leser, für den als unwiderlegte Ergebnisse dennoch einige Erkenntnisse bestehen bleiben, die sich aber nur in Form einer sokratischen Dialektik, d.h. eines "ja, aber" wiedergeben lassen. Es entspricht der menschlichen Natur, nach möglichst unbeschränkter Befriedigung der natürlichen wie zivilisatorischen Bedürfnisse zu streben. Im Zustande der Vergesellschaftung und damit der wechselseitigen Abhängigheit aller ist dies jedoch unmöglich bzw. es würde – um mit Hobbes zu sprechen – zu einer Form des bellum omnibus in omnium führen. Deshalb muss mittels Erziehung versucht werden, den eigennützigen Antrieb der Bedürfnisbefriedigung in für das Individuum und für die Gemeinschaft nützliche Bahnen zu lenken. Dazu gehört für 'Moi' aber auch die Verpflichtung zur Verrichtung von Arbeit, die, je nach Fähigkeiten und Talenten, auch eine künstlerische Tätigkeit sein kann. Dass 'Lui' sich einer geregelten Arbeit verweigert und seinem Lebensunterhalt lieber dem Wohlwollen seiner Gönner verdanken will, wird nach wie vor negativ bewertet. Doch die Härte des moralischen Vorwurfs ist zu mildern, da gleichzeitig auch dargelegt wird, dass manche Menschen durch ihre Natur zur malfaisance determiniert sind.


IV. Fragen der Ästhetik und nach der Rolle des Künstlers

Der Neveu de Rameau behandelt neben diesen allgemeinen moralischen Fragen auch solche, die neben der gesellschaftlichen Stellung des Individuums im Allgemeinen auch die des Künstlers im Besonderen betreffen. Da der Gesprächspartner des Moralphilosophen 'Moi', der Neffe Rameaus, selbst ein vielseitig talentierter Künstler ist, gewinnen Fragen der Ästhetik und des ästhetischen Urteils hier ein viel größeres Gewicht als in den bisher besprochenen Werken. Die Kunst, über deren ästhetische Beurteilung hier diskutiert wird, ist weniger die Erzählkunst als die Musik, das Drama und die Schauspielkunst; das interessanteste Gesamtkunstwerk ist folglich die Oper, die alle drei Elemente in sich vereinigt.

 

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Die 'pantomimes': eine Kritik des aristotelischen Mimesis-Begriffs

Statt in den Dialog eingefügten Erzählungen – die es gleichwohl auch gibt – stehen hier die dramatischen Darbietungen, die pantomimes des 'Neveu', im Vordergrund. Diderot testete an ihnen den alten aristotelischen Mimesis-Begriff wie auch seinen neuen Begriff der Kunst wie auch der 'imitation'. Die 'pantomimes' sind dafür ein privilegierter Ort, denn man kann in der pantomimischen Darstellung eine 'Nachahmung' nicht nur im gemeinsprachlichen, sondern sogar im ursprünglichen Sinne sehen. Dafür spricht etwa, dass sich die Freude an der Nachahmung bereits bei Kindern, in der Aristoteles' Poetik5 den Ursprung der (mimetisch verstandenen) Kunst vermutet, sich gerade an Pantomimen, Scharaden u.ä. besonders gut beobachten lässt. Und gerade das Ziel einer 'realistischen' Nachahmung von Lebenswirklichkeit führte Diderot zur Forderung nach der Reintegration des in der Klassik minimierten gestischen Elements in das Drama und in die Literatur generell. Zu einer exemplarischen (wie auch experimentellen) Reintegration der 'pantomine' ist neben dem Drama auch die Dialogform besonders geeignet, wobei sie im philosophischen Dialog zugleich die Funktion eines moralischen exemplum übernehmen kann. Dramatische Einlagen lassen sich aufgrund der Gattungsverwandtschaft von Drama und Dialog in Le Neveu de Rameau viel leichter integrieren als etwa Erzählungen; dies gilt aber nur für den verbalen Teil der Darbietungen des 'Neveu'. Jedoch stellt gerade der eigentlich 'pantomimische' Teil von Le Neveu das ästhetische und auch das hermeneutische Problem der Produktion und Rezeption von Kunst im Dialog in noch verschärfter, raffinierter Weise. Denn während die Erzählungen im Dialog direkt als solche wiedergegeben werden können, muss der optische Eindruck der Schauspielkunst der 'pantomime' erst einmal durch Sprache vermittelt bzw. nachgeahmt werden. Dies besorgt der Dialogpartner 'Moi', der so in noch höherem Maße vom dialogimmanenten Rezipienten des Kunstwerks zu dessen sprachlichem (Mit)Schöpfer aufsteigt. Die Erzählung der 'pantomime' stellt somit die 'Nachahmung einer Nachahmung' dar. Doch damit nicht genug. In seinen Pantomimen der Instrumentalisten und der Opernarien ahmt der 'Neveu' nicht Natur, sondern Kunst nach, die in ihrem doppelten Aspekt des schöpferischen Werks von Komponisten bzw. Librettisten und des ausführenden Interpreten gezeigt wird; diese beiden wirken wiederum bei der Nachahmung der Natur zusammen. Es handelt sich also um eine mehrfach ineinandergeschachtelte indirekte Nachahmung von Natur, die Helmut C. Jacobs wie folgt auf dem Punkt bringt: "Moi vermittelt also die Nachahmung der vom Neffen vermittelten Nachahmung der vom Komponisten vermittelten Nachahmung der Natur." (Jacobs, 2001, 322). Doch wer noch genauer sein wollte, müsste ergänzen, dass der 'Neveu' Opernsänger oder Instrumentalisten nachahmt, die eine Komposition interpretieren, welche erst die Natur nachahmt: die Vermittlungsinstanzen vermehren sich also.

 

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Im Anschluss an seine Ausführungen über die Darlegung der vielen ineinander verschachtelten Nachahmungsebenen stellt Helmut C. Jacobs denn auch die Frage, "...ob die musikalischen Pantomimen des Neffen nicht auch den Endpunkt des Konzepts der Nachahmung bezeichnen, indem sie das Prinzip nicht nur an seine Grenzen treibt, sondern auch in die Aporie." (Jacobs, 2001, 322). Doch möchte ich diese Feststellung ergänzen: das Prinzip der naturalistischen Nachahmung als alleiniges Grundprinzip der Künste wird in die Aporie getrieben bzw. in seiner dogmatischen Absolutsetzung als verfehlt entlarvt, und dies nicht zuletzt deshalb, weil es dem schöpferischen Genie des Künstlers zu wenig Raum läßt. Dennoch steht am Ende nicht die Ausweglosigkeit, sondern es wird der Weg zu einer neuen Ästhetik gewiesen, die dem entspricht, was Diderot in dem Encyclopédie-Artikel "Imitation" wie folgt ausgeführt hat:

Celui qui imite rigoureusement la nature, en est historien. Celui qui la compose, l'exagère, l'affaiblit, l'embellit, en dispose à son gré en est le poète. (Diderot, Encyclopédie, s.v. Imitation)

Im Sinne des reinen Nachahmungsprinzips könnte man die indirekte Vermittlung der Natur wie der Kunst in Le Neveu über eine solche Vielzahl von Instanzen nur negativ als Informations- und Qualitätsverlust betrachten. Man könnte aber auch argumentieren, dass – ins Positive gewendet – jede dieser vielfachen Brechungen durch eine erneute Nachahmung zugleich auch eine neue Interpretation und damit eine erneute Reflexion des Dargestellten bedeutet, die diesem ein künstlerisches Mehr hinzufüge. Dies würde – konsequent zu Ende gedacht – jedoch auch bedeuten, dass von einem unschöpferisch-strikten imitatio-Prinzip abgerückt werden muss und die Verfahrensweisen der Übertreibung und der Abschwächung, vielleicht auch diejenigen der Konstruktion und der Selbstreflexivität als die 'imitation' modifizierende Kunstprinzipien anerkannt werden sollten. Auch der Begriff des Kunstschönen müsste im Sinne einer bewußten Einbeziehung des Hässlichen erweitert werden, so wie 'Lui' auf dem Gebiet der Harmonielehre auf dem ästhetischen Wert der bewußt platzierten Disharmonien besteht. Er ahmt auch nicht etwa – in Analogie zur 'belle nature ' – nur die 'schöne', d.h. die vollkommene, virtuos beherrschte Kunst nach, sondern z.T. auch bewußt die unvollkommene und fehlerhafte. In seiner Pantomime des Violinisten bricht dieser plötzlich sein Spiel ab, stimmt eine Saite neu, prüft die Stimmung und beginnt sein Spiel von neuem an der Stelle, an der er aufgehört hat. Die pantomimische Nachahmung einer solcherart skandalös defizitären Musikinterpretation stellt dabei jedoch nicht ein Weniger, sondern ein ästhetisches Mehr dar: nämlich im Sinne des solcherart erzeugten komischen Effekts der Szene, die zu einer Satire auf den wenig fähigen Violinisten wird, und die vielleicht sogar als satirisches Selbstportrait des 'Neveu' zu verstehen ist. Im übrigen wäre auch hinzuzufügen, dass eine effektvolle Pantomime zumeist auch Züge der Satire enthält, d.h. dass die Affinität zur Satire geradezu ihr Gattungsgesetz darstellt. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht bereits schon die Konstruktion der Szene, die eine Serie indirekt vermittelter "Nachahmungen der Nachahmung" zur Voraussetzung hat, von seiten des absichtsvollen Autors her als eine satirische Konzeption zu verstehen ist, die in einer Beziehung zum Untertitel "Satire seconde" steht. Es sind im übrigen in letztere zweifellos auch Züge des historischen Jean-François Rameau eingeflossen, zu denen nicht zuletzt auch die Fähigkeit zur selbstironischen, ja selbstsatirischen Kunstproduktion gehörte, die er als Verfasser eines komischen Versepos mit dem Titel La Rameïde unter Beweis stellte. Was 'Moi' betrifft, so wertet ihn Ruth Groh als autosatirisches Portrait Diderots bzw. selbstironische Verkleinerung des Moralphilosophen im Sinne des sokratischen Prinzips des Nichtwissens. (Groh, 1984: 32 ff.; 291 ff.)

 

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Der Dialog ist dabei ein höchst geeigneter Ort, die Theorie der Produktion und Rezeption von Kunst einer nicht nur kritischen, sondern sogar (auto)satirischen Untersuchung zu unterziehen, da der literarische Dialog per Definition mindestens einen Produzenten und einen Rezipienten von künstlerisch geformter Sprache gegenüberstellt. In der hybriden Mischgattung 'Dialog mit Pantomimen' (bzw. mit 'Erzählungen von Pantomimen') stehen sich die Dialogpartner gleichzeitig auch als Produzent und Rezipient (und zugleich auch Kritiker) dramatischer bzw. schauspielerischer Darbietungen gegenüber; wobei 'Moi' neben seiner Funktion des Rezipienten und des Kritikers der letzteren gleichzeitig auch die ihres Erzählers ausübt.

Le Neveu de Rameau enthält neben den 'pantomimes' bzw. deren Schilderungen dazuhin auch, wenn auch in geringerem Ausmaß, Erzählungen im eigentlichen Sinne, zumeist in der Funktion von Exempla. Neben kurzen Anekdoten, die eher als integraler Teil der Argumentation zu verstehen sind, wie derjenigen wie der Anekdote vom Abbé Le Blanc, der einen Platz in der Académie Française erstrebte, sich jedoch angesichts der ihm verschlossen bleibenden Türe nur "une bosse au front" holte (NR, 465), ragt als längste und am stärksten eigenständige Erzählung diejenige vom "Renégat d'Avignon" hervor, eine Geschichte, die selbst zum Ausgangspunkt moralischer wie ästhetischer Debatten wird. Der Renégat ist ein Schurke, der das Vermögen seines Gastfreundes, eines Juden, an sich bringt und diesen anschließend an die Heilige Inquisition ausliefert. Der Erzähler 'Neveu' will 'Moi' anhand dieses Exemplums beweisen, dass moralische Verwerflichkeit und ästhetische Faszination einander in der Kunst nicht ausschließen, dass somit das Gute und das Schöne also nicht (mehr) unbedingt identisch sein müssen. Denn auch das künstlerische Genie – das der Neffe selbst verkörpert – kann Amoralität und ästhetische Schöpferkraft in sich vereinigen. Doch 'Moi' bleibt als distanzloser Rezipient auf der Ebene moralischer Empörung stehen; er ist nicht zu der Distanz fähig, die ihm ästhetischen Genuss des Bösen ermöglichen würde.

Damit ist aber auch die bis heute nicht zu Ende diskutierte Frage der moralischen Legitimität einer Ästhetisierung des (übergroßen) Bösen aufgeworfen. Festzuhalten ist ferner, dass die Einlagen der pantomimischen wie der narrativen Art sämtlich von seiten des Künstlers 'Neveu' ausgehen, der damit so etwas wie ein Monopol der ästhetischen Stilmittel innehat.

Diderot wiederholt sich selten in seinen ästhetischen Mitteln; er bringt in fast jedem seiner größeren Dialoge und Dialogromane neue Möglichkeiten der dialogischen Gattung zur Entfaltung. In Le Neveu de Rameau ist es das dramatisch-theatralische Potenzial dieser dem Drama so eng verwandten Gattung, das zur Geltung gebracht wird: der Dialog wird zumTheaterstück, das Caféhaus wird zur Bühne der 'pantomimes' des begabten Komödianten 'Neveu' . "Zur Aufführung gelangt ein Schauspiel, das im wesentlichen die Selbstdarstellung und die Weltdarstellung des Titelhelden zum Thema hat." (Groh, 1984: 279). Doch neben der Demonstration des universellen gesellschaftlichen Rollenspiels, das als "la grande pantomime" zum Motiv des Welttheaters erhoben wird, werden die ästhetischen Prinzipien der Schauspielkunst selbst als pantomimisches 'Spiel im Spiel' vorgeführt.

 

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Damit ist der Dialog Le Neveu de Rameau, der im übrigen in Frankreich wie auch in Deutschland erfolgreich als Theaterstück inszeniert worden ist,6 mehr als alle anderen Dialoge Diderots ein Stück Theater, und zwar ein Stück 'metadramatisches' Theater, das in der Fiktion gleichzeitig auch die ästhetische Reflexion über die Schauspielkunst inszeniert, wie sie Diderot theoretisch in Le Paradoxe sur le comédien niedergelegt hatte. Inhalt und Form entsprechen sich somit: der zum Rollenspiel bzw. zum Spiel mit (und durch) Theaterrollen erweiterten Dialogform entspricht das soziale Thema des sozialen Rollenspiels des Menschen in der Gesellschaft wie das poetologisch-ästhetische Thema, das Wesen des guten dramatischen wie des guten komödiantischen Spiels.


V. Weise und Narren im Gespräch über ethische Werte

Le Neveu de Rameau und Fontenelles Totengespräche

Diderot verfasste seinen Dialog Le Neveu de Rameau in der Tradition von Fontenelles Dialogues des Morts bzw. Nouveaux Dialogues des Morts, einer Satire in Dialogform, die jeweils zwei historische Persönlichkeiten einander in den Rollen des Weisen und den Narren gegenüberstellt, um sie aus der Distanz der Jenseits-Perspektive über ihr und ihres Gesprächspartners einstiges Erdendasein philosophieren lassen. Sofern Diderot sich in seiner Ausgangskonstellation des Rollenspiels 'le sage et le fou' davon inspirieren ließ, verändert er diese doch ganz wesentlich. Sein Dialog im Caféhaus situiert sich eindeutig inmitten des Treibens der Welt; 'Lui' verweigert sich ausdrücklich der 'enthobenen' Perspektive des Montaigneschen "épicycle de mercure", die im übrigen den Unterschied zwischen dem Menschen und dem determinierten Insekt aufhebt: "...d'où l'on ne voit que deux insectes différents chacun à son devoir" (NR, 469). Doch sei der Himmel als "Sitz der Nebel" ohnehin seine Sache nicht. So wie es der große Schauspieler laut dem Paradoxe sur le comédien tun soll, will er die Menschen lieber auf Erden genau aus der Nähe betrachten, um ihre 'pantomines' zu studieren und zu imitieren:

MOI: – Et vous aussi, pour me servir de votre expression, ou de celle de Montaigne, perché sur l' épicycle de Mercure et considérant les différentes pantomimes de l' espèce humaine.
LUI: – Non, non, vous dis-je. Je suis trop lourd pour m'élever si haut. J'abandonne aux grues le séjour des brouillards. Je vais terre à terre. Je regarde autour de moi et je prends mes positions, ou je m'amuse des positions que je vois prendre aux autres. Je suis excellent pantomime comme vous en allez juger. (NR, 470)


 

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Das Rollenspiel auch des Weisen

Zwar beansprucht 'Moi' mit dem Titel philosophe für sich selbst die Rolle des Weisen und schreibt damit zu Beginn dem 'Neveu' diejenige des Narren zu. Als auktorialer Erzähler der Einführung beschreibt 'Moi' den 'Neveu' als bizarres Konglomerat aus Weisheit und Narrheit "C'est un composé de hauteur et de bassessse, de bon sens et de déraison" (NR, 395). Eine solche Charakterisierung verrät eine gewisse Herablassung von seiten des 'Moi' gegenüber der 'Narrheit' des Neveu, und dies vor allem auf dem Gebiet der Moral: "Il faut que les notions de l'honnête et du deshonnête soient bien étrangement brouillés dans sa tête" (NR, 395). Doch er schreibt ihm auch Züge des Weisen vom Typ des Sokrates zu, die sich in Gesellschaft entfalten, wenn seine Individualität Bewegung in die Uniformität seiner konformistischen Mitmenschen bringe:

Il secoue, il agite, il fait approuver ou blâmer, il fait sortir la vérité, il fait connaître les gens de bien, il démasque les coquins; c'est alors que l'homme de bon sens écoute et démêle son monde. (NR, 396)

Was hier schon im Keim angelegt ist, entfaltet sich im Dialog, während dessen immer weniger eindeutig wird, wer von beiden eigentlich 'le sage' und wer 'le fou' ist. 'Lui' fasst dies in die folgenden Worte:

Moi je suis le fou de Bertin et de beaucoup d'autres, le vôtre peut-être dans ce moment; ou peut-être vous, le mien. Celui qui est sage n'aurait point de fou. Celui donc qui a un fou n'est pas sage; s'il n'est pas sage, il est fou; et peut-être, fût-il roi, le fou de son fou. (NR, 438)

Dieses scheinbar bizarre 'raisonnement' des zweiten Satzes demonstriert zugleich die Methode: es stellt selbst eine Wahrheit im Narrengewande dar. Das scheinbare 'délire' der Deduktion des 'Neveu', das zunächst an Molière erinnert, deduziert im Gegensatz zu Dom Juans Diener richtig: Wer einen Narren braucht, ist selbst ein Narr – weil auch er weisen Rat benötigt, den er aber nur von einem Narren annehmen kann. Wer einen Narren braucht, hat Bedürfnisse, die wie alle Bedürfnisse Abhängigkeiten schaffen. Jedes Abhängigkeitsverhältnis ist immer auch ein Machtverhältnis. Doch bei gegenseitiger Abhängigkeit kann sich ein asymmetrisches Machtverhältnis auch umkehren – und sei es dasjenige zwischen König und Narren.


Der Narr als Instanz der Aufklärung

Anstößige Wahrheiten können im schützenden Gewande der folie – wie der des 'Neveu' – nur umso offener geäußert werden. Diderot schrieb über dieses Vorgehen in seinem Brief an Sophie Volland vom 31. August 1769:

Il faut souvent donner à la sagesse l'air de la folie afin de lui procurer ses entrées. J'aime mieux qu'on dise: Mais cela n'est pas si insensé qu'on croirait bien, que de dire : Ecoutéz-moi, voici des choses très sages. (Diderot 1997, Bd. V: 271)

Oder um mit den Worten des 'Neveu' zu sprechen: "Longtemps il y a eu le fou du roi en titre; en aucun, il n'y a eu en titre le sage du roi." Der Narr kann damit aber auch eine ironische Selbstverkleinerung des Weisen sein, so wie sie Sokrates praktizierte: Scio, ut nescio – Ich weiß, dass ich nichts weiß.

 

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Das Rollenspiel als Prestigekampf

Das dem Dialogroman vorangestellte Motto aus der Satire des Horaz: Vertumnis, quotquot sunt, natus iniquis – Geboren unter dem Unstern aller Wandlungsgötter – bezieht sich zunächst nur auf den unstet lebenden, weil 'närrischen' 'Neveu'; im Verlauf des Dialogs scheint es jedoch auch auf seinen Dialogpartner 'Moi' überzugreifen. Denn das 'Prinzip des beständigen Wandels' ist nicht nur das Prinzip des 'Neveu', es ist auch das Prinzip des Dialogs selbst. Diderot schrieb dazu, wiederum in seiner Korrespondenz mit Sophie Volland:

C'est une chose singulière que la conversation, surtout lorsque la compagnie est un peu nombreuse. Voyez les circuits que nous avons faits. Les rêves d'un malade en délire ne sont pas plus hétéroclites. Cependant, comme il n'y a rien de décousu ni dans la tête d'un homme qui rêve, ni dans celle d'un fou, tout tient aussi dans la conversation; mais il serait quelquefois bien difficile de retrouver les chaînons imperceptibles qui ont attiré tant d'idées disparates. (Diderot: Oeuvres. Hg.. L. Versini, 1997, Bd. V: 271)

Auch der scheinbar so zusammenhanglose ('décousu') Verlauf einer Konversation entbehrt nicht einer Organisation, auch wenn diese verborgen, eher assoziativ und damit letztlich im Psychologischen begründet ist; denn auch hier waltet nach Diderot – wie in allen Dingen – eine lückenlose, wenn auch verborgene Kette der Kausalität. Das Prinzip des beständigen, wenn auch nicht grundlosen Wandels wird im Wechsel der Themen – das Genie, die Moral, die Musik, die Ästhetik, das Individuum und Gesellschaft etc. abgebildet, Themen, die alle sachlich miteinander zusammenhängen und die auch beide Gesprächspartner, und zumal den 'Neveu' existentiell 'umtreiben', wobei letzterer zumeist den Gesprächsverlauf bestimmt.

Der Dialog organisiert sich auf einer tieferen psychologischen Ebene über die persönlichen Auseinandersetzung zwischen 'Lui' und 'Moi', die Züge eines erbitterten Prestigekampfes annimmt. 'Mois' Waffe ist die bürgerliche Moral und seine persönliche Wohlanständigkeit, mit der er den amoralischen Künstler 'Lui' demütigt; 'Lui's' Waffe ist seine ästhetische Überlegenheit des Künstlers und seine Gewitztheit, die ihn stets auf dem Gebiet kontern lässt, auf dem er die Oberhand behält. In dem Maße, wie der moralisierende bürgerliche Philosoph 'Moi' den 'Neveu' aufgrund seiner Lebensweise als müßiger Kostgänger reicher Gönner moralisch abqualifiziert, flüchtet sich der letztere in seine geniale Überlegenheit auf dem Gebiet des Ästhetischen, da er als Künstler wenigstens auf diesem seinem ureigenen Gebiet die Anerkennung von 'Moi' erringen möchte. 'Lui' kontert diese Verachtung durch die Flucht nach vorne in dem Eingeständnis seiner Verworfenheit. Die vorausgehende theatralische 'Pantomime' dient dabei jedoch als ein nonverbales Ironie-Signal, das aus seiner Rede eine Theatertirade macht und so den Übergang von der Moral zur Ästhetik markiert:

 

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Avant de commencer, il pousse un profond soupir et porte ces deux mains à son front. Ensuite, il prend un air tranquille et me dit: Vous savez que je suis un ignorant, un sot, un fou, un impertinent, un paresseux, ce que nous Bourguignons appellent un fieffé truand, un escroc, un gourmand. (NR: 405–406)

Indem er diese Epitheta ironisch antizipiert, eignet er sich das von ihm entworfene Negativ-Bild bewußt an und verwandelt es in eine Theatermaske, die sich als Waffe gegen den Beleidiger kehren lässt. Von nun an spielt er die 'böse' Rolle des Amoralisten, jedoch als eine ästhetische Virtuosenrolle, ein Wunschbild, in die sich der Künstler nun hineinsteigert: das moralisch abstoßende, aber dennoch ästhetisch faszinierende Idealbild des genialen Verbrechers, wie z.B. des 'Renégat d'Avignon'. Doch auch die prahlerischen Posen des Amoralisten sind nicht wörtlich zu nehmen; denn er blieb nicht zuletzt auch deshalb erfolglos, weil er im realen Leben nicht fähig ist auszuführen, was er in der Pantomime vorspielt. Doch nun gibt der 'Neveu' zu erkennen, was das eigentliche Motiv seiner 'Amoralisten-Pose' ist: nämlich sein Ringen um Anerkennung auf ästhetisch-künstlerischem Gebiet, die seine vorausgehende Nichtanerkennung im Hinblick auf die moralische Praxis kompensieren soll. Diese hat er nunmehr erreicht, indem in der Reaktion von 'Moi' auf die 'Pantomime des Renegaten' die ästhetische Faszination den Sieg über die moralische Verachtung davontrug: "J'ai voulu que vous connussiez jusqu'où j'excellais dans mon art, vous arracher l'aveu que j'étais au moins original dans mon avilissement, me placer dans votre tête sur la ligne des grands vauriens" (NR, 449).

Nach diesem verborgenen psychologischen Gesetz wechselt der Themenschwerpunkt von der Moral-Diskussion zur ästhetischen Debatte und wieder zurück. Scheinbar weit entfernt von einem formal-logischen Zusammenhang werden diese Debatten nach Hans-Robert Jauss dennoch miteinander sachlich verklammert durch das zugrundeliegende Thema des Zerfalls der alten platonischen Trias 'das Schöne, das Wahre und das Gute', die nicht mehr zur Übereinstimmung zu bringen sind. 'Moi'unternimmt noch den Versuch, die alte Trias zu retten – Versuche, die für 'Lui' jedoch zum Scheitern verurteilt sind: die Einheit des Wahren und Guten scheitert an der politischen und sozialen Realität; diejenige des Schönen und des Guten daran, dass das Böse in der Kunst ebenso, wenn nicht gar besser wirke; und diejenige des Schönen und des Wahren an den Gesetzen der Wirkungsästhetik. Schön wirke in der Kunst nicht das unmittelbar Lebenswahre, sondern vielmehr das, was am besten den Anschein von Lebenswirklichkeit erweckt. Der Dialog konstatiert nicht nur den Zerfall der Trias, er bildet ihn gleichzeitig auch formal ab: es strebt in der Flucht der Diskussionsthemen auseinander, was nicht mehr wie früher auf einen Nenner gebracht werden kann.

Der beständige Wandel wird auch im fortlaufenden Rollenwechsel beider Dialogpartner abgebildet. Damit steht aber nicht allein 'Lui', sondern auch 'Moi' unter diesem Unstern, da er, um seine argumentative Grundposition der idealistischen Moral als kategorischem Imperativ halten zu können, laufend seine Argumentationsweisen wechseln muss, um die moralischen Provokationen des 'Neveu' zu parieren. 'Moi', der von 'Lui' Zug um Zug geschlagen wird, versucht als Defensive immer neue Exempla – und mit ihnen neue Philosophengestalten – anzuführen – ein beständiger Rollenwechsel. 'Lui' widerlegt ihn ebenfalls mit Exempla, die er sogleich pantomimisch vorspielt.

 

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Unübersehbar deutlich wird das Prinzip des Rollenspiels und Rollenwechsels in den 'pantomines' thematisiert: nicht nur die Rolle des genialen Schelms und Lebenskünstlers, des ebenso routinierten wie talentierten Kupplers und Verführers bis hin zum genialen Schurken, auch des Musikers in den verschiedensten Disziplinen – auf der Violine, auf dem Cembalo und dem Klavier sowie als Opernsänger in den verschiedensten Rollen und Stimmlagen. In den 'pantomimes' des 'Neveu' erscheint die 'grande pantomime' der Gesellschaft als universelles Prinzips des Einnehmens von Rollen und von Posen, um etwas zu erlangen, das persönliche Bedürfnisse erfüllt oder den eigenen Interessen dienlich ist; die 'pantomime' wird damit zum großen Welttheater, wie ihm 'Moi' bestätigt: "...ce que vous appelez la pantomime des gueux est le grand branle de la terre" (NR, 471).

Doch geht die Passion des 'Neveu' für das Theaterspiel noch weiter, wenn man sein ständiges Einnehmen von Rollen und theatralisch-übertriebenen Posen dazunimmt, das nicht selten durch die 'pantomimes' unterstrichen wird: sowie das dialogische Spiel mit Rollen, Standpunkten und Posen, das sowohl 'Moi' als auch 'Lui' betreiben.

Es erscheinen auf der Bühne des Geschehens zuerst 'Moi', dann 'Lui'; in Erzählungen und pantomimischem 'Spiel im Spiel' erscheinen der berühmte Onkel 'le grand Rameau', der Financier Bertin und die Schauspielerin Mlle Hus, die 'Typenrollen' Genie und Parasit, der Reiche, der Diener, der Geizhals, der Bittsteller, der Verführer. Jean-Claude Bonnet spricht in seiner Einführung zur zum Neveu in der Garnier-Flammarion-Ausgabe von "cette capacité spongieuse d'un mimétisme absolu" .... "le Neveu se vide et se peuple à la fois dans un même mouvement vertigineux" (Diderot 1983: 40).

Das formale Rollenspiel-Prinzip schließt dabei auch die philosophisch-argumentative Ebene ein: 'Moi' wie 'Lui' betreiben auch ein Spiel mit wechselnden philosophischen Rollen und Standpunkten, die hier als stark an Personen, an fiktionale Figuren wie an reale, zeitgenössische wie historische Persönlichkeiten gebunden scheinen.

Denn Philosophie wird hier nicht allein in abstrakten Thesen im Reich des reinen Geistes vorgetragen, sondern diese werden sogleich in Figuren, Personen und Persönlichkeiten verkörpert, wobei beide Seiten diese als Exempla anführen, und die der 'Neveu' oft gleich pantomimisch darstellt. Durch diese Exempla werden ihre Ideen in einer nicht zuletzt auch physischen Dimension auf ihre Realitätstauglichkeit geprüft, da sie solcherart nicht nur verkörpert, sondern auch sozusagen 'verleiblicht' werden: denn thematisch geht es um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Triebwünsche und damit um den Eigennutz – interêt – den die Aufklärung als den Grundantrieb menschlichen Handelns entdeckt hat. Es geht um das Grundbedürfnis nach Nahrung und um die opulenten Dîners bei Bertin, um den erotischen Trieb und um Verführer und Verführte, um Kuppler, Kurtisanen und wenig spröde Actricen. Die Form des theatralisierten Dialogs entspricht hier dem, was sie demonstrieren will: die 'grande pantomime' als universelles soziales Prinzip, als Welttheater.

 

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Die Pose(n) des Weisen

Hinter dem gesellschaftlichen Treiben der Gegenwart scheinen in der moralischen Diskussion die Gestalten der antiken Philosophen Sokrates sowie des Kynikers Diogenes von Sinope auf, die 'Moi' nacheinander als Exempla, ja sogar als mögliche Identifikationsfiguren und als Rollenmodelle vorbringt, wobei er jedoch zumeist scheitert: die 'sokratische Rolle' der ironischen Selbstverkleinerung als Hinführung des anderen zur Erkenntnis – macht ihm 'Lui' alsbald mit Erfolg streitig. Die Rolle des Diogenes in der Tonne – als Emigration aus der 'pantomime' der Gesellschaft in die Autarkie weitgehender Bedürfnislosigkeit zu verstehen – wird von 'Moi' als letzte argumentative Zuflucht einführt. Doch ein Leben in der Tonne sei in Paris schon wegen des kälteren Klimas schlichtweg praktisch undurchführbar, wendet 'Lui' ein – der argumentative 'Wert' der Diogenesfigur wird von 'Lui' sofort an der realen Durchführbarkeit einer solchen Lebensweise gemessen: und diese erscheint 'Lui' zu recht als nicht gegeben. Wie wir aus anderen Schriften Diderots wissen, lehnte dieser jegliches – vorchristliche oder christliche – Einsiedlertum ab, und dies nicht zuletzt auch wegen der Nichtverallgemeinbarkeit einer solchen Lebensweise.

Diogenes zeichnete sich jedoch – wie Sokrates – auch dadurch aus, dass bei diesen frühgriechischen Philosophen eine klare Trennung von Lehre und Leben noch nicht vollzogen wurde. In diesem Sinne beurteilt heute etwa der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner Kritik der zynischen Vernunft (1983) die Gestalt des Diogenes denn auch sehr positiv:

[...] während die "hohe Theorie" von Plato an unwiderruflich die Fäden zur materiellen Verkörperung abschneidet, um dafür die Fäden der Argumentation um so dichter zu logischen Geweben zu verknüpfen, taucht eine subversive Variante von niederer Theorie auf, die die praktische Verkörperung pantomimisch grotesk auf die Spitze treibt.(Sloterdijk, Bd. 1, 1983: 205)

In dieser oben beschriebenen Weise ist der 'Neveu' selbst ein legitimer Nachfolger des 'scham-losen', sich von gesellschaftlichen Konventionen frei machenden Provokateurs Diogenes; nicht jedoch, was den asketischen und den eremitenhaft gesellschaftsflüchtigen Aspekt der Diogenesfigur betrifft.

Das Spiel mit den philosophischen Positionen beginnt die ''Einheit' der Dialogfiguren und ihrer vertretenen Standpunkte tendenziell in eine Flucht des Nacheinander aufzulösen. Der 'Neveu' tendiert als talentierter Schauspieler dazu, sich ästhetisch in eine Flucht von vorgespielten Theaterrollen aufzulösen, während seine philosophischen Ansichten relativ konstant bleiben; 'Moi' bleibt stets der Moralphilosoph und der anständige mittlere Bürger, muss aber philosophisch immer mehr an 'Lui' konzedieren und versucht seine Argumente zu parieren, indem er eine Serie verschiedener Standpunkte einnimmt, die sich mit den Rollenvorbildern verschiedener antiker Philosophengestalten identifizieren lassen, angefangen mit Sokrates bis zu Diogenes von Sinope, dem bedürfnislosen Philosophen im Fass.

 

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Platons Gorgias als Intertext zu Le Neveu de Rameau

Auf einer tieferen philosophischen Ebene, die zugleich eine Ebene der Intertextualität ist, befindet sich Le Neveu de Rameau in einem stummen Dialog mit einem anderen Dialog, nämlich Platons Gorgias als einem wichtigen Referenztext unter zahlreichen anderen, antiken wie zeitgenössischen. Denn das Gespräch zwischen ''Lui' und 'Moi' weist über weite Strecken deutliche Parallelen zu Platons Gorgias auf. Nicht nur, dass auch bereits der Dialog Gorgias seinen Ideengehalt nicht nur entwickelt, sondern wie ein Drama auch wesentlich in den disputierenden Charakteren verkörpert. Kurt Hildebrandt schreibt in seinem Nachwort zu Gorgias:

Gerade der Gorgias ist ein Beispiel, daß Vorspiel und Persönlichkeit der Redenden, also diese Grundlagen des Mythos neben dem "Logos" als rationaler Lehre, erste Voraussetzungen zum Verstehen des Gedanken-Gehalts sind. (Platon 1989: 139)

Dieser bekannte Dialog Platons behandelt unter anderem Fragen des Wertes oder Unwertes der Rhetorik unter ethischen Gesichtspunkten. Soll die Redekunst als bloßes Mittel zum Zwecke individueller Wunschbefriedigung verwendet werden, um mit ihrer Hilfe an Geld oder zur Macht zu gelangen? Oder sollte Rhetorik nicht besser als Instrument der Wahrheitssuche und der sittlichen Besserung des Gemeinwesens eingesetzt werden? Doch ist sie dazu überhaupt tauglich? Setzt ihr rechter Gebrauch - wie Sokrates ausführt - nicht bereits ein ethisches Wissen voraus ? Überall dort, wo es um die ethische Reflexion von Sinn und Zweck sprachlichen wie 'realen' Handelns geht, zeigt sich Sokrates' Dialektik der bloßen Rhetorik des Gorgias und seiner Schüler weitaus überlegen.


VI. Nochmals ästhetische Fragen

Rhetorik, Dichtkunst und Musik

Das Thema Rhetorik wird im Neveu de Rameau von "Lui" in ganz anderem Zusammenhang angesprochen – es geht um die ästhetische Debatte im Hinblick auf Drama und Oper sowie um die Vertonbarkeit der Dichtung – die dort auch zu einem dem Standpunkt des Sokrates völlig entgegengesetzten Ergebnis führt. Denn die abstrakten Rede- und Denkfiguren der dialektischen Rhetorik wie Antithese oder Paradox mögen zwar der Philosophie angemessen sein, argumentiert 'Lui', sie wirken jedoch nicht in der musikalischen Vertonung, in der die Aufmerksamkeit nicht dem Gedanken, sondern der ursprünglicheren, sinnlichen Klangqualität der Stimme gehört, die wie der 'cri de la nature' der gedanklichen Reflexion vorausgeht: "J'aimerais autant avoir à musiquer les Maximes de La Rochefoucauld, ou les Pensées de Pascal" (NR, 457). Auch dies kann als Indiz dafür gewertet werde, dass die ursprüngliche platonische Einheit des Schönen und des Guten unwiderruflich zerbrochen ist.

 

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Ästhetik, Moral und der Status der Fiktion

Für Platon geht es im Gorgias auch um den moralischen Wert der fiktionalen Literatur und der Künste überhaupt, verglichen mit der Philosophie, die laut Sokrates allein den Anspruch erheben könne, Wahrheit zu sein, während fiktionale Literatur zur 'Lüge' bzw. zur Abbildung zweiten Grades der Idee abgewertet wird.7 Letzteres zu widerlegen hat bekanntlich Aristoteles in seiner Poetik unternommen; in dem von ihm entwickelten Begriff der Mimesis sind Wahrheit und Lüge dialektisch aufgehoben, das moralisch Anstößige des Unwahren ist damit sozusagen neutralisiert. Als Philosoph, der bewußt literarisch-fiktionale Formen einsetzte, schließt sich Diderot der aristotelischen Apologie der Fiktion an. Ja, er führt die ethische Debatte um die Fiktion noch weiter: Auch das ethisch Anstößige der ästhetischen Faszination des Bösen ist für ihn in der Fiktion neutralisierbar, da diese zugleich auch moralisch belehren solle. Besser ist, der 'Neveu' gestaltet seine Fantasien schwärzester Schurkentaten in der dramatischen Kunst, als dass er versuche, sie in die Tat umzusetzen, wozu er ohnehin gar nicht fähig ist.


VII. Platon, Diderot und die großen ethischen Fragen

Für die gesellschaftspolitische Debatten von 'Moi' und 'Lui' (wie auch der Aufklärung insgesamt) noch wichtiger sind die großen moralischen Fragen nach dem menschlichen Glück, nach dem Wesen von Recht und Gerechtigkeit sowie nach dem der guten Gesellschaftsordnung, auch nach der Rolle des Philosophen in der Gesellschaft. Letztere Fragen wurden bereits von Platon u. a. im Gorgias gestellt, sie sind aber auch zentral für die französische Aufklärung, die innerhalb der durchaus heterogenen Gruppe der philosophes recht verschiedene Antworten fanden. Zahlreiche Interpreten sehen z.B. im Le Neveu de Rameau hinter dem Dialog von 'Moi' und 'Lui' auch denjenigen von Diderot mit Rousseau.

Diese entscheidenden Fragen werden in Platons Gorgias in dem Teil des Dialogs gestellt, der die Auseinandersetzung zwischen Sokrates und dem Sophisten Kallikles zum Inhalt hat. Besteht Glück in der möglichst ungehemmten Erfüllung aller Wünsche oder aber in weiser Selbstbeschränkung? Kallikles vertritt das erstere Prinzip:

[...] das ist eben das von Natur Schöne und Rechte, was ich dir nun ganz frei heraus sage, daß, wer richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen, und diesen, wie groß sie auch sind, muß er dennoch Genüge zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht, und sie hinreichend versehen mit dem, worauf eine jede Begierde geht. (Platon, Gorgias, Hg. Hildebrandt, 1989: 70)

 

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Das Problem dabei ist nur, dass die meisten Menschen dazu nicht fähig sind. Um ihre eigene Ohnmacht schamvoll zu verbergen, habe die Menge der Schwächeren die Ungebundenheit des Stärkeren zum Laster der Zügellosigkeit erklärt. Die Menge der Schwächeren habe das Recht begründet, um den Starken in Schranken zu verweisen. Das Glück der Befriedigung aller Begierden solle in der Art eines Naturrechts dem Besseren, Edleren und Stärkeren zufallen; Kallikles geht dabei wie selbstverständlich davon aus, dass diese drei Begriffe identisch seien. Sokrates unternimmt es jedoch, diese Identität in die Aporie zu treiben. Im Verlauf eines Prozesses der Klärung der Begriffe bringt er z.B. Kallikles zu dem Eingeständnis, dass der Einsichtsvollere der Bessere sei; aber der Einsichtsvolle ist nach Sokrates zugleich auch derjenige, der sich selbst zu beschränken weiß. Sokrates wird noch deutlicher: Er fasst die Verausgabung derer, die zügellos ihren Begierden folgen, in die überlieferten mythischen Bilder der Hadesstrafen für die Frevler wie die Danaiden, die mit Sieben ein durchlöchertes Fass füllen müssen:

[...] und bei diesen Ausgeschlossenen konnte nun der Teil der Seele, wo die Neigungen sind, eben wegen der Ungebundenheit und Unhaltbarkeit nicht schließen, wie ein leckes Faß, womit er [der Dichter] sie der Unersättlichkeit wegen verglich; und daher wären nun in der Schattenwelt, worunter er die Geisterwelt meinte, jene Ausgeschlossenen die Unseligsten und trügen Wasser in das lecke Faß mit einem ebenso lecken Siebe. (Platon, Gorgias, Kap. 47, Hg. K. Hildebrandt, 1989: 72)

Diderots 'Neveu' nimmt nun dieses eindrucksvolle Bild vom löchrigen Fass der Danaïden auf und überträgt es zuerst ins Konkret-Materielle der maßlosen Verschwendungssucht der reichen Pariser Oberschicht wie der verzweifelten Gier ihrer besitzlosen Parasiten: "...la misère est une terrible chose. Je la vois accroupie, la bouche béante, pour recevoir quelques gouttes de l'eau glacée qui s'échappe du tonneau des Danaïdes" (NR, 467). Er wendet das Bild vom Gesichtspunkt des eigenen interêt aus teilweise ins Positive: unter dem 'durchlöcherten Fass der Danaiden' lasse es sich einerseits zwar gut leben, denn es regne dort unaufhörlich Gaben herab wie aus einem Füllhorn: "Trop heureux encore, celui qui peut s'y placer" (NR, 467). Andererseits lässt gerade ein solch parasitäres Gesellschafts-Dasein das künstlerische Genie verkümmern, denn das Danaiden-Fass entleert eisiges Wasser auf die 'tête chaude' des inspirierten Künstlers: "...elle refroidit diablement la tête du poète" (NR, 467).

Mit dem 'Fass der Danaiden' ist das Thema der Verausgabung und der Verschwendung jedoch noch in einem viel umfassenderen Sinne angesprochen. Denn 'Lui' ist nicht anders als seine Gönner seinen Begierden ergeben und ein hemmungsloser Verschwender, eine Figur der Selbstverausgabung. Nicht nur, dass er in seinen guten Zeiten keine finanziellen Rücklagen für die schlechten macht, auch sein künstlerisches Talent vergeude er laut 'Moi' im oberflächlichen Gesellschaftsleben des Hauses Bertin. Seine zahlreichen originellen Einfälle werfe er als Unterhalter dem unwürdigen Publikum der dortigen 'mauvaise compagnie ' hin, anstatt sie in schöpferischen literarischen Werken festzuhalten. Auch jetzt vor ihm, 'Moi-Diderot, äußere der 'Neveu' seine zahlreichen künstlerischen Ideen und seine philosophischen Einsichten ("des idées si justes") nur in der Konversation, im Dialog und im Vorspielen der 'Pantomimes' , wo sie verloren seien.

 

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Daher auch der wiederholte Appell von 'Moi', die verschiedenen von ihm so treffend vorgespielten Szenen als literarische Fiktionen niederzuschreiben: "A votre place, je jetterais ces choses-là sur le papier. Ce serait dommage qu'elles se perdissent."" (NR, 467) Doch da 'Lui' den Lebensgenuss dem werkschöpferischen Künstlertum vorzieht und solches selbst nicht tun wird, hat 'Moi'-Diderot diesen Part zu übernehmen und er hat dies auch getan, indem er den Dialog aufzeichnet hat. Insofern auch 'Lui' eine Figur des Sokrates darstellt, der seine Mitwelt im dialogischen Gespräch zur Erkenntnis führt, übernimmt 'Moi' damit sozusagen die Rolle des Schülers Platon.

Was das platonische Bild des Fasses betrifft, so hat Platons Sokrates im Gorgias auch die positive Möglichkeit der sicheren Aufbewahrung des Kostbaren ausgestaltet, und zwar im Gleichnis von den Fässern (Kapitel 48). Wenn zwei Menschen, ein Besonnener und ein Zügelloser, gleich viele Fässer voll kostbarer und schwer zu beschaffender Flüssigkeiten besäßen, so gleiche der Besonnene dem Menschen, dessen Fässer dicht verschlossen sind, so dass nichts austreten kann, und deshalb aber auch nichts neu eingefüllt werden muss; der Besitzer könne folglich in Ruhe leben. Der Zügellose aber gleiche einem Menschen, dessen Fässer leck seien, so dass er zum beständigen Nachfüllen gezwungen wäre und somit niemals Ruhe finden könne. Welcher der beiden Menschen sei wohl der Glücklichere? Doch sicher der Besitzer der dichten Fässer!

Für den Schriftsteller Moi-Diderot wie für den Künstler allgemein kann das 'dichte Fass' nur in der schriftlichen Aufzeichnung seiner Werke bestehen, der die Idee diese der Vergänglichkeit des Augenblicks entreißt und der Selbstverausgabung des Künstlers im schöpferischen Enthusiasmus – einem Zustand an der Grenze zum Wahnsinn – einen Vorgang des Sammelns und Bewahrens gegenüberstellt.

Der höchste Wert ist nach Platon das "schöne Leben", das nicht nur Ethik und Ästhetik vereint, sondern in seiner Vollendung auch das Angenehme, Lust und Freude enthält; sein Gegensatz, das "hässliche Leben", opfert dagegen das Gute der 'hässlichen Lust', d.h. der Unmoral, auf. Dabei erhebt bereits Sokrates das ethisch gute Handeln zu einem kategorischen Imperativ: das Sittengesetz gilt absolut; eine Haltung, die später von den Stoikern übernommen wurde. "Sokrates stellt das stoische Grundgesetz auf: in der Tugend selbst muß das Glück liegen, für sie nimmt der Held das Martyrium auf sich" (Hildebrandt, Nachwort des Hgs. zu Platon, Gorgias,1989:146).

Denn Platons Sokrates vertritt als weitere zentrale These, dass Unrecht zu leiden besser sei als Unrecht zu tun. Als ein falscher Weg, sich vor Unrecht zu schützen, wird derjenige der gesellschaftlichen Anpassung verworfen: Wer sich bemühe, einem ungerechten Machthaber möglichst ähnlich zu sein, um nicht von diesem zuletzt beseitigt zu werden, werde nicht darum herumkommen, selbst Unrecht zu tun. Wer sich nicht anpassen will, riskiert dabei zwar sein Leben – sei aber dessen Länge denn so entscheidend? Viel wichtiger sei für den Philosophen, sein Leben sinnvoll zu verwenden: und zwar auf die moralische Besserung seiner Mitmenschen.

 

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Der Sophist Kallikles dagegen und mit ihm auch der 'Neveu' billigen soziale Anpassung zum Schlechteren im Namen des Eigennutzes ausdrücklich: Ein Mensch, der in dieser Gesellschaft – so wie sie nun einmal sei – überleben oder gar Erfolg haben wolle, müsse sich nun einmal deren Ist-Zustand anpassen. In den Kontext dieser opportunistischen Anpassung gehören nicht nur die 'idiotismes', die Abweichungen von der conscience générale, die jeder Berufsstand im Interesse des ökonomischen Eigennutzes praktiziere, sondern auch das lebensnotwendige Rollenspiel des 'Neveu' konservativen antiphilosophe an der Tafel des Financiers Bertin, jenem rettenden Hafen so vieler gescheiterter Künstler, wo er wie andere sich ihren Lebensunterhalt damit verdienten, dass sie die Großen der Kunst, der Wissenschaft und der Philosophie – darunter auch die philosophes – für überschätzte Unbegabte erklären: "Nous prouverons que Voltaire est sans génie; que Buffon toujours guindé sur les échasses, n'est qu'un déclamateur ampoulé; que Montesquieu n'est qu'un bel esprit; nous reléguerons d'Alembert dans ses mathématiques,..." (NR, 422). Dass er diesen damit Unrecht tut, weiß 'Lui' zwar im Grunde, aber es stört ihn wenig – die Stimme des knurrenden Magens sei eben weitaus lauter als die des Gewissens.

Doch eine völlige Gleichsetzung von 'Moi' mit der Position des Sokrates und von 'Lui' mit der des Kallikles erscheint dennoch nicht unproblematisch; denn es findet eine deutliche Verschiebung der ideologischen wie der sozialen Standorte statt und mit dieser auch ein anderer Ausgang. In Le Neveu de Rameau obsiegt nicht mehr Moi-Sokrates, der seinen Gesprächspartner auf dem Wege der Destruktion des falschen Wissens zum wirklichen Wissen führt, sondern vielmehr klärt der 'Neveu' den Philosophen 'Moi' auf solche Weise über die Natur des Glücks wie die des Menschen auf. Die Hintansetzung der materiellen Güter zugunsten der geistigen und moralischen sei ein Effekt der Erziehung und entspreche nicht dem Naturzustand des Menschen: "On ne naît pas avec cette tournure-là; on se la donne, car elle n'est pas dans la nature." (NR, 421). Überhaupt hätten die philosophes recht merkwürdige Vorstellungen vom Glück; doch im Gegensatz zu 'Moi' ist 'Lui' frei von dem missionarischen Eifer, den anderen zu seiner Vorstellung vom Glück zu bekehren. Er selbst vertritt in dem per Definition mit einer starken subjektiven Komponente ausgestatteten Thema 'Glück' den relativistischen Standpunkt des Sophisten: Warum sollten verschieden geartete Menschen nicht unterschiedliche Ansichten über das Glück haben? Warum sollten sie nicht verschiedene Arten von Glück genießen dürfen?

Vous croyez que le même bonheur est fait pour tous. Quelle étrange vision ! Le vôtre suppose un certain tour d'esprit romanesque que nous n'avons pas; une âme singulière, un goût particulier. Vous décorez cette bizarrerie du nom de vertu; vous l'appelez philosophie. (NR, 422)

 

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Der Glücksbegriff des philosophe, der Verwandtschaft zeigt mit demjenigen, den Sokrates (und im Anschluss an ihn die stoische Philosophie) konzipiert hatten, läuft auf eine Verurteilung der Leidenschaften heraus, ein Gedanke, den die stoische Philosophie zum Ideal der ataraxia, der leidenschaftslosen Seelenruhe, weiterentwickelt hat. Bereits in den Pensées philosophiques hatte Diderot gegen die Verdammung der Leidenschaften protestiert, die er als prinzipiell wertneutrale dynamische Antriebskräfte des Menschen sieht; gegen die Verdammung des désir wendet sich auch 'Lui': "Imaginez l'univers sage et philosophe; convenez qu'il serait diablement triste." (NR, 422).

Das Glück des unabhängigen, weil bedürfnislosen Weisen à la Diogenes – "le philosophe qui n'a rien et qui ne demande rien" – wie es 'Moi' postuliert, sei dagegen vollends unmöglich: "S'il n'a rien, il souffre; s'il ne sollicite rien, il n'obtiendra rien, et il souffrira toujours" (NR, 471–472).

'Moi' scheint mit seiner unbedingten Forderung nach sittlichem Handeln – einem 'kategorischen Imperativ', der denjenigen von Kant vorwegnimmt, sich jedoch bereits auf Sokrates berufen kann – über weite Strecken den schlechteren Part zu haben, zumal die letzte Verankerung der idealistischen Forderung im Religiösen – durch die deistische Schöpferinstanz 'la Nature' – zwar noch angedeutet, aber gegenüber Platon sehr viel blasser und schwächer geworden ist. 'Moi' kann den Dialog nicht mehr für sich entscheiden wie der Sokrates des Platon es noch kann; und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil er nicht mehr den jenseitigen Lohn – die 'Inseln der Seligen' – für das Opfer des irdischen interêt verheißen kann, das der unbedingten Geltung des Sittengesetzes darzubringen sei. Doch hat 'Moi' denn nichts anzubieten? 'Moi' kann den irdischen Lohn der Wahrung menschlicher Würde offerieren, die doch gerade 'Lui' als ideale absolute Größe postuliert, der sonst in ihr eine Funktion der materiellen Ressourcen ('le louis') erblickt: "Il faut qu' il y ait une certaine dignité attaché à la nature de l'homme, que rien ne peut étouffer" (NR, 408).

Neben die Würde des Menschen an sich tritt diejenige des schöpferischen Künstlers, dessen Talent nicht der 'schlechten Lust' des hedonistischen Lustprinzips (noch dem Erwerb des materiell Existenznotwendigen) geopfert werden sollte. Schöpferisches Künstlertum bedeutet stets Opfer und Askese: "Il vaudrait mieux se renfermer dans son grenier, boire de l'eau, manger du pain sec et se chercher soi-même " (NR, 466) und ist damit laut 'Moi' unvereinbar mit der hedonistischen Theorie und Lebenspraxis des 'Lui'; wenn auch nicht unbedingt mit einer aufgeklärt-epikureeischen, die gegebenenfalls Verzicht auf eine gegenwärtige Lust zugunsten einer größeren zukünftigen üben kann. Anzubieten hat 'Moi' den guten Ruf in Form der Achtung der Mitmenschen vor den Redlichen und Tüchtigen im Beruf als nachhaltige materielle Existenzgrundlage. Doch der höchste Lohn der Sittlichkeit bestehe im guten Gewissen und im erhebenden Gefühl der guten, da für sich und andere nützlichen Tat, die befriedigender, da andauernder sei als die Sinnenlust. Als illustrierendes Exemplum dient die rührselig-erbauliche Erzählung vom 'bon fils de Carthagène', der obgleich selbst einst enterbt, seinen alten Eltern zu Hilfe eilt. "Vous êtes bien à plaindre, si vous n'imaginez pas qu'on s'est élevé au-dessus du sort et qu'il est impossible d'être malheureux à l'abri de deux belles actions telles que celles-ci" (NR, 425).

 

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Doch es vermag sich keine der beiden Positionen eindeutig durchzusetzen. Am Ende werden sie in einer Aporie unversöhnt einander gegenübergestellt. Gerade in der Frage des Strebens nach dem Glück scheint der für den hedonistischen Lebensgenuss plädierende 'Lui' über weite Strecken die besseren Argumente zu haben; als Künstler verfügt er überdies über alle ästhetischen Mittel, seinen Argumenten durch exemplarische Illustration Nachdruck wie auch Wirklichkeitsbezug zu verleihen.

Doch bei der Wichtigkeit der moralischen Forderungen, die das Gesamtwerk Diderots durchziehen, sei es das geradezu tugendschwärmerische dramatische Werk (Le Fils Naturel; Le Père de famille) oder auch das dialogische Werk, das so häufig ethische Fragestellungen thematisiert (z.B. Entretien d'un père avec ses enfants; Mon Père et moi), verwundert es vielleicht, dass Diderot dennoch keinen Sieg der Moral des 'Moi' über die (scheinbare) Amoral des 'Neveu' herbeiführt.

Doch besteht einer der Vorteile der Dialogform gerade darin, dass sie nicht dazu zwingt, eine definitive Lösung als Abschluss zu finden. Im Gegensatz zum Essay oder zur philosophischen Abhandlung kann sie auch aporetisch, ungelöst – und damit offen – enden.


Platons Charmides als Modell eines aporetisch endenden Dialogs

Ein Beispiel für ein aporetisches Dialogende gab bereits Platons Dialog Charmides. Sein Inhalt – die Frage nach dem Wesen der Besonnenheit – steht in einer besonderen Beziehung zur aporetischen Form des Dialogs: denn Besonnenheit ist eine Eigenschaft, die sich meist ex negativo, d.h. durch das Unterlassen von Handlungen oder von Urteilen äußert. Auch die Personen des Dialogs – Sokrates und der edle, nachdenkliche Jüngling Charmides – stehen gleich den Charakteren eines Dramas in einer besonderen Beziehung zum aporetisch-offenen Ende, ja sie deuten sogar dessen mögliche Überwindung an. Denn Charmides besitzt zweifellos die Eigenschaft der Besonnenheit, ja er verkörpert sie geradezu, selbst wenn er nicht in der Lage ist, sie schlüssig zu definieren. Implizite Kritik wird dagegen an Sokrates' dialektischem Fragespiel des sog. Elenchos geübt, einem Verfahren nach strengen Regeln, das eine Hypothese bei ihrer Falsifikation durch ein einziges Beispiel sogleich gänzlich verwirft.8 Denn die Frage, ob Besonnenheit gut sei, bzw. ob sie besser sei als ihr Gegenteil, die Schnelligkeit, lässt sich allein auf der Ebene von Beispielen aus dem praktischen Leben nicht eindeutig beantworten – es wird neben Beispielen dafür auch stets solche dagegen geben, die die Hypothese, dass Besonnenheit eine Tugend sei, falsifizieren. Aus diesem Grund verliert Charmides beim dialektischen Frage- und Antwortspiel gegen Sokrates. Dennoch verbleiben Charmides wie auch der Leser in der Überzeugung, dass Besonnenheit eine Tugend sein muss. Dabei ist Platons Aporie nicht unauflöslich; sie ist nicht als Zeichen der Ratlosigkeit des Autors zu verstehen. Nach einem Aufsatz von Michael Erler (1992) habe Platon das aporetische Ende des Charmides als "unaufgelöstes Rätsel" und "kunstvoll gestaltete Leerstelle" (Erler 1996: 27) intendiert, als Schwebezustand, in dem das ungelöste Problem verbleibt, der jedoch nicht als Platons letztes Wort in dieser Sache zu verstehen sei:

 

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Hinweise, daß die Ausführungen als nur vorläufig anzusehen sind, können geradezu als Leitmotiv des Dialogs gelten. Sei es als kunstvoll gestaltete Leerstelle in Form eines unaufgelösten Rätsels (162a), sei es durch Andeutungen, daß eine Aussage diskussionsbedürftig bleibt, sei es durch beständige Konzessionen, die eigentlich schon Widerlegtes doch wieder ins Spiel bringen (169d). (Erler 1996: 26–27)

Bereits Friedrich Schleiermacher begriff das aporetische Ende des Charmides als Teil eines pädagogischen Programms, eine Ansicht, die von neueren Forschungen gestützt wird. Zu einer Interpretation, die die Aporie auflöst, muss man auch andere, spätere Dialoge Platons – wie etwa die Politeia oder den Phaidon – heranziehen, um eine Antwort zu finden, die da lautet: Besonnenheit ist eine Tugend, nicht zuletzt, weil sie Menschen wie Charmides für die Philosophie geeignet macht. Besonnen soll man sein, um in der Philosophie zu leben (Phaidon 68c); um nicht vorschnell aufgrund der bloßen Erscheinung ein oberflächliches Urteil fällen, sondern geduldig suchend bis zur Idee vorzudringen; um im Bereich des Gesellschaftspolitischen fähig zu sein, Gerechtigkeit zu üben und damit das ethische Gute zu verwirklichen (letzteres wird in der Politeia gefordert). Somit wird durch die Einführung neuer Wertbegriffe wie die Gerechtigkeit, die Philosophie bzw. das Leben in ihr, der bios philosophikos, eine überraschende Lösung auf einer höheren Ebene der Ideen erreicht.

Analog dazu sollte man das aporetische Ende von Diderots Dialog Le Neveu de Rameau nicht oder nicht nur als Zeichen auswegloser Ratlosigkeit interpretieren, sondern als gewolltes Moment der Besinnung. Nach Roland Desné (1963) sei Diderots Satire ähnlich wie manche Dialoge Platons nur auf den ersten Blick aporetisch. Die alles durchdringende Ironie im Zusammenspiel der Charaktere lasse vielmehr den Schluss zu, dass der Autor den Leser nicht mit Fragen konfrontiere, sondern Behauptungen aufstelle. Der Dialog ist für Desné "a powerful affirmation of Socratism, of faith in virtue und happiness through reason" (Desné, 1963: 192).

Auch die Monographie Ironie und Moral im Werk Diderots von Ruth Groh (1984) vertritt eine ähnliche Position; Diderot sei nicht als skeptischer Aporetiker zu verstehen, sondern weise implizit dem Leser einen Weg zu konstruktiven, aufgeklärt normbildenden Lösungen. Sie verweist darauf, dass bereits für Diderots Vorbild Sokrates "die Aporetik heuristisches Prinzip in konstruktiver Absicht ist", denn "auf die ironische Destruktion falscher Ansichten soll die Konstruktion einer rational begründeten Wissenschaft folgen"; dazu gehöre im weiteren Sinne auch "die Konstruktion einer aufgeklärten Moralphilosophie auf der erklärend-normbildenden Ebene" seiner literarischen Werke (Groh, 1984: 47, Hervh. im Original).

 

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Meiner Ansicht nach bleibt jedoch im Dialog Diderots – anders als bei Platons nur vorläufig aporetisch endenden Diskussionen von Wertbegriffen – zumindest ein unauflöslicher Rest an Aporie bestehen. Desné und Groh laufen Gefahr, Diderot die optimistischen Ansichten seiner Freunde Helvétius und des Baron d' Holbach zu attribuieren, die, durchdrungen vom aufklärerischen Glauben an die Macht der Erziehung und der gesellschaftlichen Reform, glaubten, individuelle und gesellschaftliche Interessen in einer neuen, auf aufgeklärten Prinzipien basierenden Gesellschaft zur Deckung bringen zu können; ein Glaube, den Diderot nicht teilen kann, wie aus Le Neveu de Rameau deutlich hervorgeht.


Echte und unechte Aporien in Le Neveu de Rameau

Doch welche Aporien in Diderots Dialog sind wirklich unauflöslich welche nicht, und was ist die Ursache für die Unauflöslichkeit mancher Aporien? Einmal gibt es für Diderot, der zu einer materialistischen Überzeugung gefunden hatte, keinen 'Aufstieg auf die Ebene der Ideen' mehr, der – wie im Falle des Charmides – eine Lösung auf dieser höheren Ebene ermöglichen würde. Es findet statt dessen eher ein 'Abstieg in das Reich der Materie' statt, der in zuweilen recht drastischer Art auf die Dimension der Leiblichkeit und der leiblichen Bedürfnisse des Menschen verweist, die letzterem mit dem Tier gemeinsam sind. Man denke hierbei an die wiederholten Verweise von 'Lui' auf Vorgänge des Essens wie auch des Ausscheidens (z.B. sein 'System', jeden Tag zu zwei Mahlzeiten zu kommen, indem er jeweils bei einem anderen Freund isst; was das letztere betrifft, seine Pflege der unter Darmkoliken leidenden Hündin Criquette). Diese Verweise dienen der aufklärenden Destruktion falscher idealistischer Vorstellungen von 'Moi', zugleich aber verweisen sie auch auf das 'avilissement' des gescheiterten Künstlers 'Lui', der, sei es durch seinen Hang zum angenehmen Leben, sei es durch materielle Not, sein künstlerisches Talent sozusagen dem Bauche geopfert hat.

Dennoch sind Ideen – in Form von Wertbegriffen – auch im Neveu de Rameau nicht abwesend, auch wenn an ihnen durch 'Lui' eine radikale Kritik geübt wird, die man fälschlich als deren definitive Destruktion interpretieren könnte. Es wäre jedoch wie im Charmides ein Missverständnis, die einmalige Widerlegung eines Wertbegriffs duch 'Lui' als Beweis für dessen gänzliche Unbrauchbarkeit zu nehmen. Somit glauben wir auch nicht, dass die Demontage der von 'Moi' vorgeschlagenen Werte wie Erziehung der Kinder, Beistand für Freunde, Wohltätigkeit für Bedüftige, Engagement für das Vaterland durch den anarchistischen 'Lui' in der Sokrates-Rolle hierbei Diderots letztes Wort in diesen Dingen darstellt – andere Schriften Diderots (wie z.B. Regrets sur ma vieille robe de chambre, Lui et moi; Mon père et moi, seine Korrespondenz, sein Erziehungsplan für Russland etc.). widersprechen dem dann doch zu sehr.

Dass im Dialog Diderots nicht alle Aporien aufgelöst werden können, liegt sicherlich mit auch darin begründet, dass Platons aporetische Dialoge wie der Charmides jeweils nur einen Wertbegriff (Besonnenheit, Tapferkeit etc.) diskutieren (der Gorgias, der verschiedene ethische Problemkomplexe behandelt, endet nicht aporetisch). Diderots Dialog Le Neveu de Rameau untersucht hingegen eine Fülle von Wertbegriffen, die miteinander konkurrieren, sei es, dass sie einander wechselseitig ausschließen (Einsiedlertum vs. Vergesellschaftung) oder dass sie mindestens zu einem gewissen Grade miteinander in Konflikt treten, wie z.B. individuelle und gesellschaftliche Interessen.

 

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Der ethische Ertrag: zum Glücksbegriff

Eine wesentliche Frage, die im Neveu de Rameau meiner Ansicht nach nur scheinbar aporetisch ohne definitive Antwort bleibt, ist: Was ist Glück? – eine zentrale ethische Frage, die Diderot wegen ihrer Wichtigkeit nicht allein in den relativistischen Bereich des rein subjektiven Urteils verweisen möchte. Der 'Neveu' scheint Glück zu einem großen Teil ex negativo zu definieren: als Abwesenheit von Hunger und Schmerz, als Freiheit von materieller Not und Existenzsorge wie auch von seelischem Leiden. Für 'Moi' hat Glück dagegen auch mit einem aktiv gestalteten, erfüllten Leben zu tun, das anderen Menschen Nutzen bringt, indem es etwas schafft, das die Grenzen der individuellen Existenz überschreitet und sogar überdauert, seien dies Werke der Kunst oder der Wohltätigkeit, vielleicht sogar solche der politischen Reform, die schlechte Gesetze durch bessere ersetzen. Aber setzt letzteres Glück, das 'Moi' im Engagement im weiteren Sinne zu finden sucht, nicht bereits das erstere – die gesicherte Existenz – voraus?9 Und gehört zum vollständigen Glück nicht beides – die Abwesenheit von Schmerz und die sinnvolle, dem Gemeinwesen nutzende Tat?

Ein ungelöster Konflikt kann hier nurmehr in der praktischen Unvereinbarkeit der beiden Glücksvorstellungen liegen: kann man denn beides zugleich haben und solcherart das Glück des Epikureers und das des Stoikers in sich vereinigen, wenn Politik und Gesellschaft Neuerer und Reformer noch stets verfolgt haben und künstlerische Genies oft in Armut leben ließen? Oder schließen Freiheit von Leiden und sozio-politisches Engagement sich nicht vielmehr wechselseitig aus – was dem Standpunkt Epikurs entspräche?

Neben die Frage nach dem glücklichen, d.h. individuell geglückten Leben tritt sogleich die ethische Frage: Was ist das gute Leben?– die bereits Platons Gorgias stellte – als die moralphilosophische Frage par excellence. Soll das individuelle Glück zum Glück aller ausgeweitet werden, ist zu dessen Sicherung eine sittliche Ordnung unerlässlich. Diese muss freilich gewisse Formen des Glücks ausschließen, insofern das Glück der anderen dem eigenen Glück Grenzen setzt: ein erstes Paradoxon, bzw. bereits die erste Aporie, diejenige zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Eigennutz und Gemeinnutz. Auch der Konflikt zwischen dem Genie und der Gesellschaft stellt sich dabei nur als ein radikalisierter Sonderfall des ersteren allgemeinen Konflikts heraus. Diderot glaubt nicht wie etwa sein Freund Helvétius in De l'Esprit (1758), diesen grundsätzlichen anthropologischen Widerspruch auflösen zu können, indem mittels einer tiefgreifenden Veränderung der Gesellschaftsform zusammen mit einer entsprechenden Erziehung das Individuum zur Erkenntnis der Identität von und Individual- und Kollektivinteresse gebracht werden soll. 'Moi' wie 'Lui' stellen dabei "ironische Selbstverkleinerungen" (Ruth Groh) des Philosophen Diderot dar, der damit auf sokratische Weise dem Leser selbst die letzten Schlussfolgerungen überlässt, zu denen er gleichwohl hingeführt wurde.

 

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Es stellt sich die Frage, ob Diderot in dem aporetischen Widerspruch zwischen idealistischem und materialistischem Standpunkt in der Debatte um Tugend und Glück hier nicht zuletzt einen eigenen Selbstwiderspruch dramatisiert hat. Zu diesem tritt der Aspekt der Selbstzensur der bürgerlichen Aufklärer, die sich von manchen ihrer Mitstreiter distanzierten, die ihrer Meinung nach dem Anliegen der Aufklärung schadeten, da sie – wie z.B. La Mettrie – in ihren Werken offen einen wilden ethischen Hedonismus predigten.

In der Dichotomie von 'Moi' und 'Lui' bzw. von 'anständigem' bürgerlichem Aufklärer vs. 'unanständigem' Prediger des Hedonismus spiegeln sich somit auch Aspekte einer Versuchung zur Selbstzensur, deren Aufhebung allein im Delegieren der anstößigen Positionen an das weniger seriöse alter ego 'Lui' möglich wird. Nicht zuletzt wird hierbei direkt oder indirekt auch ein weiterer Selbstwiderspruch thematisiert: nämlich der zwischen dem emanzipatorischen Grundanliegen der Aufklärung selbst und dem längst erwachten Bedürfnis der philosophes nach Kontrolle und Abgrenzung dessen, was ihrer Meinung nach Aufklärung sein sollte.


Bibliographie

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Anmerkungen

1 "Vertumnis, quotquot sunt, natus iniquis" (Geboren unter dem Unstern aller Wandungsgötter. Horaz, Lib. II, satyr. VII) – Die 7. Satire des Horaz (Zurechtweisung des Herrn durch seinen Sklaven) ist ein Gespräch zwischen Herr und Sklave bzw. die monologische Rede des Sklaven an seinen Herrn, bei dem der Sklave – geschützt durch die Redefreiheit der Saturnalien – gleiche Wünsche und Bedürfnisse wie sein Herr anmeldet. Im Aspekt des Klassenunterschiedes zwischen dem Bürger 'Moi' und dem im Moment mittellosen und heruntergekommenen Künstler 'Lui' vernimmt man ein Echo dieses Vorbildes.

2 Diderot war musiktheoretisch sehr interessiert; er war ein Anhänger der italienischen Oper und verteidigte diese in der Querelle des bouffons gegen die französische. Auch gilt er heute als eigentlicher Verfasser der Lecons de clavecin et principes d'harmonie, einer Harmonielehre in Form eines Theaterstücks, die 1771 unter dem Namen von Anton Bemetzrieder, dem Cembalolehrer seiner Tochter Angélique, veröffentlicht wurde.

 

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3 Le Neveu de Rameau wurde erstmals 1805 in der deutschen Übersetzung Goethes gedruckt und später ins Französische rückübersetzt (1821). Eine französische Version, die sich auf eine Kopie aus Diderots Nachlass an seine Tochter, Mme de Vandeul, stützten konnte, wurde durch Änderungen der Herausgeber Brière et Walferdin entstellt (1823). Assézat publizierte 1875 in seiner Edition des Diderotschen Gesamtwerks (Oeuvres complètes, 1875) den Text einer besseren Kopie. 1884 publizierte Tourneux eine neue Version. 1890 entdeckte schließlich Georges Monval, Bibliothekar der Comédie-Française, bei einem Pariser Bouquinisten eine Abschrift von der Hand Diderots, die 1891 bei Elzévir erschien und auf der die heutigen Editionen basieren.

4 Teile der genauen Ausgestaltung der Ideenlehre Platons wurden von ihm nur mündlich in der von ihm gegründeten Akademie weitergegeben; unsere Kenntnisse darüber verdanken wir Referaten in den Schriften seiner Schüler Aristoteles und Theophrast; Näheres bei Krämer (1996).

5 Aristoteles, Poetik, Kap. 4: "Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist dem Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat." (Aristoteles 1982: 11)

6 Le Neveu de Rameau wurde in Frankreich erstmals 1963 durch Pierre Fresnay im Theater inszeniert ; im selben Jahr wurde er in Deutschland durch die dramatische Bearbeitung von Tankred Dorst (Uraufführung 1963 in Nürnberg) einem größeren Theaterpublikum nahegebracht. Vgl. Dorst (1978). Vielfältige Beachtung fanden auch die französischen Inszenierungen von Jean-Marie Simon und die von Georges Werler (1983) mit Michel Bouquet und Teddy Bilis; in letzter Zeit u.a. eine Aufführung unter der Direktion von Guy-Pierre Couleau, der zugleich den Philosophen "Moi" spielte, mit Philippe Mercier in der Hauptrolle (1996). – Es existiert auch ein vierstündiger experimenteller Film Rameau's Nephew by Diderot des amerikanischen Regisseurs Michel Snow.

7 Man könnte dazuhin entwenden, dass auch der meist als 'Fiktionsgegner ' gesehene Platon selbst mit der Dialogform eine fiktionale literarische Kunstform benutzt hatte, um sein philosophisches Gedankengut zu vermitteln.

8 "Der Elenchos ist ein Frage- und Antwortspiel zweier Partner mit fester Rollenverteilung und einem klaren Ziel. Auf die erste Frage – was etwas ist – bietet der Antwortende eine These oder Definition. In den aporetischen Dialogen geht es um die Antworten auf Fragen nach Definitionen von Wertbegriffen wie gerecht, tapfer oder besonnen. Zweck des weiteren Verfahrens ist, die Stichhaltigkeit dieses Angebots (= 1. Prämisse) zu prüfen. Möglicherweise ist der Antwortende durch Fragen dazu zu bringen, auch das Gegenteil seiner These zuzugeben, so daß er verloren hätte." (Erler 1996: 30)

9 Diderot schreibt in seinem Memorandum XXV "Des écoles publiques", einem Teil seines Bildungsplans für Russland, über die condition d'artiste: "Les beaux-arts naissent tous de l'opulence des conditions subalternes. Un manufacturier a six enfants; parmi ces six enfants, il y en a un paresseux qui ne veut rien être, et il devient poète, philosophe, orateur, moraliste, peintre, musicien. Je dis de l'opulence, mais c'est dans les sociétés bien ordonnés; ils naissent de la misère dans les autres; et c'est la cause de la lenteur du progrès des beaux-arts." (Diderot 1966: 143–144).

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