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Bernhard Huss (München)


Hans Honnacker (2002): Der literarische Dialog des Primo Cinquecento. Inszenierungsstrategien und Spielraum. Baden-Baden: Verlag Valentin Koerner. (= Saecula Spiritalia 40)

Faßt man als das konstitutive Spezifikum der Renaissance eine 'epistemologische Wende', welche hinsichtlich der rinascimentalen episteme eine "fundamentale Relativierung des Wahrheitskonzepts" impliziert, "die sich als Kontextualisierung und/oder Pluralisierung von Wahrheit realisieren kann" (Hempfer 1993: 36), so rückt als ein Untersuchungsobjekt von besonderem Interesse der literarische Dialog der Renaissance in unser Blickfeld. Kann nämlich der rinascimentale literarische Diskurs seine ihm fundamental inhärierende Diskrepanz entweder unter dem Vorzeichen 'erzwungener Versöhnung' homogenisierend überdecken oder aber im Sinne 'inszenierter Pluralität' ausstellen (vgl. Hempfer 1993: 39), so scheint unter letzterem Aspekt die Textsorte literarischer Dialog dazu prädestiniert, ein komplex strukturiertes Wechselspiel diskrepanter Propositionen zu inszenieren und somit die epistemologische Grundfigur der Epoche ostentativ zum eigenen Strukturmerkmal werden zu lassen. In diesem Verständnis wäre der Dialog als genuin performative Textgattung anzusprechen, insofern in ihm "die Konstitution eines propositionalen Gehalts über die gleichzeitige Konstitution eines Handlungs- bzw. Geschehenszusammenhangs erfolgt, dessen Konstitutionsprinzipien den in und über ihn konstituierten propositionalen Gehalt bedingen", wobei freilich im Unterschied zum Drama "der Handlungs- und Geschehenszusammenhang in der Regel ein eher rudimentärer bleibt" (Hempfer 2002: 22). Vor diesem theoretischen Hintergrund, der den literarischen Dialog primär als "die schriftliche Inszenierung einer mündlichen Kommunikationssituation" (Hempfer 2002: 20) begreift, situiert sich die vorliegende Arbeit, ursprünglich eine – nun stark überarbeitete – Berliner Dissertation (Freie Universität). Sie möchte, ausgehend von der basalen Rolle, die die Kategorie der 'Inszenierung' in jenem Theoriemodell innehat, für den literarischen Dialog "ein Analysemodell entwickeln, dessen zentrale heuristische Kategorie die 'Inszenierung' ist. 'Inszenierung' [...] wird dabei allgemein – im Rahmen eines weitgefaßten Theatralitätsbegriffes – als Vorgang des Zur-Schau-Stellens verstanden, der etwas vor einem Publikum zum Erscheinen bringt und/oder simuliert" (21). Zweck des zu entwickelnden Analysemodells soll es sein, "die unterschiedlichen textuellen Strategien bzw. Verfahren, mittels deren ein Dialogautor eine mündliche Kommunikationssituation und die Konstitution eines propositionalen Gehalts im Dialog inszeniert, systematisch zu erfassen" (21); es geht mithin "darum aufzuzeigen, welche Inszenierungsstrategien einem Dialogautor in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Italien zur Verfügung standen und auf welche antiken und/oder eventuell rinascimentalen Modelle er dabei rekurrieren konnte" (34).



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Unter dieser Zielvorgabe baut sich die Studie folgendermaßen auf: Ein einleitendes Kapitel (13–34) bietet zunächst einen "Forschungsbericht zum literarischen Dialog des Cinquecento" (13–20), in dem Sekundärliteratur der letzten zwanzig Jahre aufgearbeitet wird und generelle Defizite der bisherigen Forschung benannt werden1 und als dessen Fazit festgehalten werden kann: "Trotz der Fülle der bisherigen Forschung zum rinascimentalen Dialog insbesondere in den letzten zwanzig Jahren bleibt eine systematische Beschreibung der Dialogliteratur im 16. Jahrhundert weiterhin ein Forschungsdesiderat" (17). Wir folgern: Die vorliegende Arbeit will zumindest ein Beitrag dazu sein, diesem Mangel abzuhelfen. In der Tat schließt sich an den Forschungsbericht ein breit ausgefächertes und in einer strukturalistisch anmutenden, meist auf Binäroppositionen gestützten Systematik gehaltenes Analysemodell an. Es unterscheidet grundsätzlich drei Ebenen der Untersuchung: Zunächst (a) die Darstellungsebene des Dialogs, auf der die schriftliche Inszenierung einer mündlichen Kommunikationssituation statthat, dann (b) die Argumentationsebene, auf der sich die damit verknüpfte Inszenierung der Konstitution eines propositionalen Gehalts abspielt, und schließlich (c) eine – wesentlich kürzer abgehandelte – extrafiktionale Ebene paratextueller Elemente, die für die dialogische Inszenierung von Bedeutung sein können. Für (a) sind dabei besonders folgende Frageraster maßgeblich: Wird 'narrativ' oder 'dramatisch' inszeniert? Wird der situative Kontext der Dialoghandlung 'fiktiv' oder 'historisch'/'dokumentarisch' inszeniert? Wie werden die Dialogfiguren inszeniert: sind es real referenzierbare oder nicht reale Figuren, wie viele sind es, wie werden sie charakterisiert, gibt es durch einen Widerspruch zwischen Aussage und Aussagendem 'szenische Ironie' zu konstatieren? Dagegen interessieren unter (b) Aspekte wie diese: liegt ein grundlegend 'dialogischer' oder vielmehr ein 'monologischer' Dialog vor,2 ein 'konklusiver' Dialog oder das Gegenteil, ist die Sprecherkonfiguration paritätisch oder hierarchisch gehalten, zeichnet sich der Dialog durch Polythematik oder Monothematik aus, und: was sind seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, also: "Inwieweit kann die rinascimentale Dialogpraxis als Paradigma für die Renaissance-Episteme der Pluralisierung des Wahrheitsbegriffs fungieren" (31)?

Die folgenden Kapitel 2 bis 5 versuchen, das hier kurz umrissene Analysemodell auf vier konkrete rinascimentale Dialogwerke anzuwenden; dabei handelt es sich um Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano von 1528 (Kap. 2), um die italienische Fassung von Pietro Bembos De Guido Ubaldo Feretrio deque Elisabetha Gonzagia Urbini Ducibus von 1509/13 (Kap. 3), um Pietro Aretinos Sei giornate von 1534/36 (Kap. 4) und um Aretinos sog. Ragionamento delle corti von 1538 (Kap. 5). Jedem dieser Kapitel ist ein kurzer Bericht zur neueren Forschung bezüglich des betreffenden Einzelwerks vorangestellt. Die Hauptthesen, die die Arbeit durch Applikation der im Einleitungskapitel entwickelten Kategorien plausibel machen will, sind im einzelnen:



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Kap. 2 möchte zeigen, daß es sich beim Cortegiano um die "Inszenierung eines 'spielerischen' Erkenntnisprozesses" handle, in dem "eine 'chorale', d.h. gemeinsame Suche nach Erkenntnis vorgeführt wird"; wo die Forschung im Cortegiano Diskrepanzen festgestellt habe, könnten diese "als Resultat der Inszenierung der 'varietà de' giudìci' interpretiert werden" (38). Hinsichtlich der Wahrheitsproblematik sei festzuhalten, daß Castiglione "nicht die Suche nach Erkenntnis ausschließt, sondern vor allem deren Offenheit bzw. deren offenen Ausgang indiziert" (38). Dabei räumt Verf. ein, daß auch dort, wo der im Cortegiano vorgeführte 'Erkenntnisprozeß' nicht in Aporie endet, sondern zu eindeutigen Resultaten führt, nicht eigentlich Erkenntnis im Sinn von Wissen (episteme), sondern nur ein objektiv nicht abgesicherter konsensueller Eindruck (doxa) erreicht wird (65).

Bembos Text De Guido Ubaldo, so die Argumentation von Kap. 3, sei zu verstehen als "Inszenierung eines 'choralen' Nachrufs", verfaßt "zum Trost des höfischen 'Soziums', das sich im [sic]3 De Guido Ubaldo neu modelliert" (80). Die besondere Charakteristik des Dialogs liege darin begründet, daß es nicht zu einer argumentativen Auseinandersetzung zwischen den Dialogpartnern komme, sondern unter Rekurs auf andere Textsorten (Nachrufdialog, Trostdialog, lyrische Totenklage) ein monologisch gerichtetes Memento in Szene gesetzt werde.

Kap. 4 faßt Aretinos Sei giornate als ein Beispiel von "'Paradoxalisierung' der Textsorte Dialog" auf, womit gesagt sein soll, Aretino betreibe eine zielgerichtete "'unorthodoxe' Verwendung traditioneller Formen und Inhalte des zeitgenössischen Dialogs – etwa durch die Dekonstruktion räumlich-zeitlicher Authentisierungsstrategien des 'dokumentarischen' Dialogs" (110) und überspitze Formen und Inhalte der Textsorte Dialog bis hin zur kalkulierten Widersinnigkeit.4 Letztlich handle es sich dabei um eine absichtsvolle "Selbstinszenierung des Autors und seiner literarischen Virtuosität", bei der Aretino "in seiner Rolle als genialer Autor" auftrete, der intertextuelle Bezüge nicht im Rahmen traditioneller imitatio auctorum eröffne, sondern sie als "originäre ré-écriture literarischer Vorbilder" ausweisen wolle (111). Der Dialogo werde unter diesem Vorzeichen durch den Ragionamento überboten, was auch zahlreiche der von der Forschung zwischen beiden Werkteilen festgestellten Diskrepanzen erklärbar mache.

In Kap. 5 schließlich soll dargetan werden, daß in Aretinos sog. Ragionamento delle corti die "Inszenierung eines 'Streitgesprächs' bzw. eines 'agonalen' Textspiels im Sinne Isers" vorliege (164); dabei sei auffällig, daß gerade im ersten Teil des Dialogs Aretinos Spiel mit der Sprache die eigentliche Argumentation überlagere und diese letztlich als sekundär ausweise. Diskrepanzen zwischen dem ersten und dem zweiten Werkteil seien nicht unter Zuhilfenahme extrafiktionaler, besonders autorbiographischer Daten, sondern "aus textinternen Elementen heraus zu interpretieren" (164).

An den Hauptteil der Arbeit schließen sich nun fünf Appendices an (190–279), eine allgemeine "Bibliographie raisonée [sic] der Forschungsliteratur zum literarischen Dialog des Cinquecento (1980–2001)" und jeweils eine spezielle Bibliographie raisonnée zu den vier im Hauptteil untersuchten Dialogwerken. Es folgen noch die in fünf Unterabschnitte gegliederte reichhaltige Bibliographie (280–300) sowie ein abschließendes Namensverzeichnis (301–308).



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Es ist ein großes Verdienst der vorliegenden Studie, die beträchtliche Variationsbreite der Strategien und Instrumente aufgezeigt zu haben, mit denen die rinascimentalen literarischen Dialoge Argumentationsabläufe in Szene setzen, und ferner dargetan zu haben, wie eng und komplex die wechselseitige Abhängigkeit der inszenierenden Darstellungsebene einerseits und des durch die Inszenierung konstituierten propositionalen Gehalts andererseits sind. Es wird deutlich, daß das wohl größte Defizit der bisherigen Forschung zum italienischen Renaissancedialog in der Tat gerade in der weitgehenden Vernachlässigung seines inszenatorischen Moments zu sehen ist. In diesem Sinne bedeutet der Ertrag der Arbeit einen guten und wichtigen Schritt in Richtung eines umfassenderen Verständnisses der literarischen Gattung 'Dialog' und ihrer spezifischen Stellung innerhalb des komplexen Zusammenhangs von Renaissanceliteratur und rinascimentaler Episteme. Ebenso bedeutsam ist der Dienst, den Verf. der künftigen Dialogforschung durch die mühsame Erarbeitung seiner Forschungsberichte und besonders der extensiven kommentierten Bibliographien zu allen von ihm behandelten Aspekten und Werken geleistet hat; deren 90 Seiten gestatten einen raschen Überblick über die zentralen Forschungsbeiträge zum Thema und machen das Buch für die Zukunft zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel.

Problematisch ist an der Studie das Verhältnis von Analysemodell und Einzelanalysen. Die weit über 90 Gliederungspunkte des vierseitigen Inhaltsverzeichnisses suggerieren in ihrer Anordnung qua Dezimalpunktesystem – dessen Feinheitsgrad bis zu einer fünfstelligen Untergliederung nach dem Muster '1.1.1.4.4' geht – eine weitgehende Kompatibilität von Kategorien und Strukturierung des Analysemodells einerseits und der Strukturierung und kategorialen Fassung der einzelnen Textanalysen andererseits. Doch die jeweilige Eigenart der analysierten Dialogwerke verhindert offensichtlich die konsequente Anwendung des Analysemodells: So werden in keinem der vier analysierten Dialoge die Kategorien des Modells vollständig und in einer dem Modell entsprechenden Strukturierung am konkreten Text appliziert; so werden gelegentlich Kategorien, die das Analysemodell distinkt hält, in der Einzelanalyse miteinander gekoppelt;5 so werden Kategorien des Modells im Verlauf der Einzelanalyse umformuliert und in ihrer Signifikanz modifiziert: wenn etwa im Analysemodell unter Pkt. 1.1.2 die Argumentationsebene literarischer Dialoge unter der Fragestellung der "Inszenierung der Konstitution eines propositionalen Gehalts" behandelt wird, so ist dies etwas anderes als die in der Analyse des Cortegiano auftretende Fragestellung "Inszenierung als propositionaler Gehalt: die Inszenierung von sozialem Verhalten" (Pkt. 2.2.3). Denn während dort tatsächlich ein Argumentationsgehalt dem Leser inszenatorisch vermittelt wird, handelt es sich hier um ein als Thema besprochenes Inszeniertsein, nämlich das Inszeniertsein des höfischen Verhaltens, über das die Gesprächsteilnehmer bei Castiglione sprechen.



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Bisweilen ist Verf. im Verlauf der Einzelanalysen auch geradezu genötigt, das Analysemodell zu verlassen und gänzlich neue Fragestellungen einzuführen: das zeigt sich im Falle des Cortegiano an Themen wie "Inszenierung von gender" (Pkt. 2.2.3.2) oder "Ästhetisierung bzw. Rhetorisierung des körperlichen Verhaltens" (Pkt. 2.2.3.3), im Falle von De Guido Ubaldo an Themen wie "'Nachrufdialog' vs. Totenklage" (Pkt. 3.2.4) oder "Körpersprache der Trauer" (Pkt. 3.2.5), im Falle der Sei giornate an einem Thema wie "Ré-écriture von Modelltexten" (Pkt. 4.2.6). Diese Themen sind vielfach durch einen eher vagen Begriff von 'Inszenierung' untereinander lose verbunden, haben aber keinen klaren Konnex mit der Systematik des eingangs präsentierten Modells. Freilich finden sich gerade in solchen Abschnitten häufig die eindringlichsten Beobachtungen zu den einzelnen untersuchten Dialogen; wo dagegen versucht wird, die Systematik der Einleitung strikt durchzuhalten, ist bisweilen eine gewisse Repetitivität die Folge: Man vergleiche dazu die 46–47 gemachten Beobachtungen zum Cortegiano mit den Anmerkungen zu De Guido Ubaldo (85–86) und zum Ragionamento delle corti (168–169). In allen drei Fällen werden Phrasierungen, die sich aus Häsner (2002: 142, 146–147) speisen, nahezu wortwörtlich wiederholt und lediglich die jeweiligen Dialogtitel sowie die Namen des Dialogpersonals abgeändert.

Was die bereits angesprochene Untersuchung der 'erkenntnistheoretischen Voraussetzungen' des Renaissancedialogs betrifft, so wirft sie das Analysemodell unter Pkt. 1.1.2.6 als wichtige Problemstellung auf, nicht ohne zu konzedieren, daß diese "natürlich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht systematisch beantwortet werden" könne (31). Dennoch wird sie bei der Einzelanalyse des Cortegiano (Pkt. 2.2.5) wieder ins Spiel gebracht. Dort wird ein zentraler Aspekt der epistemologischen Problematik berührt, wenn Verf. folgende These aufstellt: "Zwischen dem Cortegiano und den antiken, vor allem den ciceronianischen Dialogen scheint mir hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen kein grundsätzlicher Unterschied wie zwischen Renaissance- und Mittelalterdialog, sondern eher eine graduelle Differenz zu bestehen. Denn die Kontingenz menschlicher Erkenntnis wird so auch in den Tusculanae disputationes Ciceros [sc. 1.4.8, 1.9.17] thematisiert: Keine sichere Erkenntnis, nur sich an Wahrheit annähernde Wahrscheinlichkeit ist im dialogischen Erkenntnisprozeß zu erreichen" (70–71). Diese These wird im folgenden (71) durch den Nachweis belegt, daß Cortegiano 1.13 offensichtlich auf Ciceros Orator § 237 rekurriert, wo – ähnlich wie an den genannten Stellen der Tusculanae disputationes, denen man etwa noch die Passage 5.4.11 hinzufügen könnte – von der Beschränkung menschlicher Erkenntnis der Wahrheit und Rede von der Wahrheit auf den Modus des Probabilistischen gesprochen wird. Wo Cicero solches sagt, zeigt sich aber nicht die epistemologische Struktur 'der Antike', sondern wird 'nur' ein für eine bestimmte antike philosophische Schulmeinung, nämlich die skeptisch grundierte epoché der Neueren Akademie, kennzeichnendes Philosophem vorgetragen. Dies auf die basale epistemologische Konfiguration der Antike zu extrapolieren, scheint nicht statthaft (man muß dazu nicht erst an die Negierung des probabilistischen Modus der Erkenntnis etwa im spätantiken Neoplatonismus denken, durch den die platonische Schultradition 'redogmatisiert' wird). Die Relation der rinascimentalen pluralen Episteme zur antiken und zur mittelalterlichen Episteme ist bislang noch zu unklar, als daß man die epistemologischen Präsuppositionen des antiken und des rinascimentalen Dialogs auf der Basis weniger ausgewählter Textpassagen erkenntnistheoretisch homogenisieren könnte.



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Andernorts bringen die Ergebnisse der Studie wichtige Anstöße für weitere Untersuchungen zur Bedeutung antiker Textmodelle für den rinascimentalen Dialog. Unter der Überschrift "Inszenierung der Diskussion über die cortigianía: ein Spiel unter Spielen" geht Verf. beispielsweise auf die Implikate des – im Vergleich mit dem Begriff der 'Inszenierung' von ihm allgemein eher knapp behandelten – Spielbegriffs für den literarischen Dialog, insonderheit für den Cortegiano Castigliones, ein (50–55). In einer Anmerkung (50, Anm. 119) wird kurz auf die Rolle des Spielerischen in Xenophons Symposion hingewiesen. In der Tat hat in diesem antiken sympotisch-dialogischen Gegenentwurf zum Platonischen Symposion das Spielerische nicht nur thematische, sondern auch eine grundlegende strukturale Bedeutung,6 bis hin zur Strukturierung des dialogischen Gesprächs bezüglich Thematik und Sprecherwechsel – eine auffällige Parallele zum Cortegiano, anhand derer der Frage, inwiefern und in welcher Weise rinascimentale Dialoge gerade in ihrer Inszenierungstechnik antike Modelle reaktualisieren und modifizieren, gewinnbringend nachzugehen wäre.

Die Arbeit bietet leider nach dem Hauptteil mit seinen vier Einzelanalysen kein Fazit, das abschließend die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfaßte und die Fruchtbarkeit des analytischen Ansatzes für die eingangs formulierte Fragestellung auf den Punkt brächte. Dennoch ist die Arbeit aufgrund ihrer schematischen Gesamtanlage gut überschaubar und wird ihren Lesern einen profitablen Ausgangspunkt bei ihrer weiteren Beschäftigung mit den Dialogen des Primo Cinquecento bieten können. Die Aufgabe, die nun vorliegenden Einzelergebnisse in eine plausible Gesamtcharakteristik des italienischen Renaissancedialogs im frühen 16. Jh. zu integrieren, liegt freilich noch vor ihnen.


Bibliographie

Genette, Gérard (1982): Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris: Seuil.

Häsner, Bernd (2002): "Leonardo Brunis Dialogus ad Petrum Paulum Histrum: Darstellung und Selbstkonstruktion einer humanistischen Kommunikationskultur", in: K. W. Hempfer (Hg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Stuttgart: Steiner, 115–161.

Hempfer, Klaus W. (1993): "Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische 'Wende'", in: K. W. Hempfer (Hg.): Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst. Stuttgart: Steiner, 9–45.

Hempfer, Klaus W. (2002): "Lektüren von Dialogen", in: K. W. Hempfer (Hg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Stuttgart: Steiner, 1–38.

Huss, Bernhard (1999): Xenophons Symposion. Ein Kommentar. Stuttgart/Leipzig: Teubner. (= Beiträge zur Altertumskunde 125)



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Huss, Bernhard / Müller, Gernot M. (2002): "'Illud admiror, cur Ficinum silentio praeterieris'. Renaissanceplatonismus und Dialogform in Cristoforo Landinos Disputationes Camaldulenses", in: K. W. Hempfer (Hg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Stuttgart: Steiner, 225–278.


Anmerkungen

1 Darunter: vager Dialogbegriff, wegen einseitiger Textauswahl defiziente Entwicklungsmodelle des literarischen Dialogs, weitgehende Vernachlässigung seiner erkenntnistheoretisch-epistemologischen Prämissen und Valenzen, keine Ausarbeitung einer modernen Dialogtheorie zur Erklärung des Renaissancedialogs, mangelndes Verständnis der Distinktheit und Interdependenz von Darstellungs- und Argumentationsebene im Dialog, Mißachtung der Frage nach der Abgrenzung des rinascimentalen vom mittelalterlichen Dialog.

2 Im Rahmen der Antithese 'Dialogizität vs. Monologizität' meint dabei 'Dialogizität' "Durchdringung semantischer Kontexte, die semantische Richtungsänderungen im Replikenwechsel impliziert" (28, Anm. 100). 'Monologizität' liegt demnach vor, wenn man die hier benannte Implikation nicht feststellen kann. Somit grenzt Verf. seinen Begriff der Dialogizität von Michail M. Bachtins Dialogizitätskonzeption deutlich ab, wozu noch auf Huss/Müller (2002: 225–231) hätte verwiesen werden können.

3 Die Arbeit verwendet bei lateinischen Werktiteln auf De ... durchgängig irrtümlich den deutschen bestimmten Artikel nach dem Muster 'in dem/im De oratore Ciceros' (dies entspräche einem deutschen 'in dem/im Über den Redner Ciceros'). So auch im Femininum, nach dem Muster 'die De re publica' (z.B. 83).

4 'Paradoxalisierung' wird dabei definiert als "parodistische Hybridisierung literarischer Gattungen, im konkreten Fall des literarischen Dialogs. Sie schließt zeitgenössische Satire und Parodie literarischer Modelle [...] nicht aus, erschöpft sich aber nicht darin" (110, Anm. 53). Denn 'Paradoxie' kann auch schlicht die Bedeutung von 'Widersinnigkeit' haben (110). Somit ist das hier vertretene Konzept von 'Paradoxalisierung' eher unscharf, und es stellt sich die Frage, ob eine trennschärfere Klassifizierung der bei Aretino festzustellenden Phänomene, etwa nach Genettes Untergliederung des Satirisch-Parodistischen in Parodie, Travestie, Persiflage (Genette 1982), nicht ertragreicher gewesen wäre als die pauschale Rede von der Paradoxalisierung des literarischen Dialogs.

5 So hält das Analysemodell aus guten Gründen die Kategorien 'Monologizität' (Pkt. 1.1.2.1) und 'Monothematik' (Pkt. 1.1.2.5) weit getrennt, doch bei der Analyse von De Guido Ubaldo erscheint unter Pkt. 3.2.2 ein Abschnitt "'monologischer' und monothematischer Dialog", in dem die beiden Begrifflichkeiten nicht mehr klar distinguiert bleiben (vgl. bes. 88).

6 Vgl. hierzu Huss (1999: 34–38), dort Anm. 41 zum Hintergrund des serio ludere in kynischer und sokratischer Literatur und Philosophie.

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