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Sabine Schrader (Leipzig)


Andrea Grewe (2001): Melancholie der Moderne. Studien zur Poetik Alberto Savinios. Frankfurt a. M.: Klostermann

"Die andere Moderne – de Chirico/Savinio" hieß im Herbst 2002 die sehr erfolgreiche Ausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf, die danach auch im Lenbachhaus München gezeigt wurde. Sie vereinte über 100 Werke von Giorgio de Chirico mit fast 30 seines Bruders Andrea de Chirico, besser bekannt unter dem Künstlernamen Alberto Savinio. Während de Chirico (1888–1978) dem deutschen Publikum sehr wohl ein Begriff ist, waren die Gemälde Savinios (1891–1952) weitgehend eine Überraschung. Aber nicht nur das malerische Werk des jüngeren Bruders blieb lange Zeit nicht genügend gewürdigt, sondern auch das literarische. Zwar hat in den letzten Jahrzehnten in Italien eine rege Forschungstätigkeit eingesetzt, Savinio aber bleibt eine Randfigur der 'Moderne'. Gemäß Leonardo Sciascia gibt es neben Alberto Savinio kaum einen italienischen Schriftsteller, der selbst den Italienern fremder gewesen wäre (27). Es ist Andrea Grewes Habilitationsschrift Melancholie der Moderne. Studien zur Poetik Alberto Savinios (Frankfurt a.M.: Klostermann 2001) zu verdanken, dass wir dem Schaffen Savinios etwas näher kommen können. Erstmalig wird in Deutschland Leben, Werk und Rezeption des Künstlers dargestellt und kontextualisiert: Grewe geht es darum, Savinio "an einen geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund" zurückzubinden, um einer "präziseren Einordnung in einen gesamteuropäischen Kontext" den Weg zu bereiten (54). Grewe betrachtet Savinios frühe ästhetische Texte (1919–1921) als Folie für das fiktive Werk: den Prosatext Tragedia dell'infanzia (1937), der zwischen Autobiographie und Roman anzusiedeln ist, das Theaterstück Il capitano Ulisse (1934) und die Erzählung Il Signor Münster (1943), die in dem Sammelband Casa 'La vita' erschien. Die Verfasserin hat für ihre Arbeit einen traditionellen Aufbau gewählt: Die Kapitel beginnen mit einem Forschungsüberblick, dann gibt sie eine Inhaltsangabe des Textes, gefolgt von einer strukturellen und inhaltlichen Analyse unter besonderer Berücksichtigung intertextueller Verweise. Dieser Aufbau führt zwar zu gelegentlichen Wiederholungen, erleichtert aber die Suche nach Einzelwerken, was für einen unbekannten Autor sehr sinnvoll ist.

Alberto Savinio ist 1881 als Sohn einer italienischen Familie in Athen geboren und aufgewachsen. Nach dem Tod des Vaters (1905) zieht die Familie nach München (1906), wo sie bis 1911 bleibt. Die kommenden vier Jahre leben die Brüder in Paris. Dort nehmen sie aktiv am kulturellen Leben teil: Für den jungen Musiker Savinio waren sowohl Jean-Jacques Cocteau wie die russische Ballette Strawinskys eine Offenbarung. Savinio komponiert in dieser Zeit eine Oper und gibt 1913 ein Konzert, zu dem Guillaume Appollinaire wie auch Ricciotto Canudo kommen. Er knüpft Kontakte mit der französischen Avantgarde, Apollinaire wird zu seinem "fratello maggiore" (Cirillo 1994: 60). Die Sehnsucht nach der bislang unbekannten Heimat Italien läßt die Brüder nach Ferrara umziehen. Hier beginnt Giorgio de Chiricos periodo metafisico und Savinio seine journalistische Tätigkeit, die fortan zu einer Konstante in seinem Leben wird. Das Spektrum reicht von Reportagen über die französische Avantgarde bis hin zu Fragmenten einer Filmtheorie.



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Darüber hinaus arbeitet er mit maßgeblichen Literaturzeitschriften und Tageszeitungen zusammen, u.a. La Voce, La Ronda, La Stampa, aber auch mit Lavoro fascista. Zudem entstehen seine ersten Prosaschriften La casa ispirata (1920), und zu Beginn der 20er arbeitet er überdies als Dramaturg. In den Jahren 1926 bis 1933 lebt er wieder in Paris, wo er Kontakte mit den Surrealisten pflegt. Hier entstehen viele seiner Gemälde. Mit seiner endgültigen Rückkehr nach Italien verstärkt er wieder seine journalistische Tätigkeit, schreibt zahlreiche Musik-, Theater- und Filmkritiken, Prosatexte und arbeitet für die Mailänder La Scala.

Schon die Biographie Savinios dokumentiert einen europäischen Kulturtransfer, der seinesgleichen sucht. Die Moderne des Künstlers kennt weder geographische noch literarische Grenzen – gleichzeitig werden, wie die Autorin belegt, die griechische Mythologie, Baudelaire und die deutschen Philosophen Schopenhauer und Nietzsche zu seinem intertextuellen Referenzsystem. Aus Grewes Arbeit wird deutlich, dass Savinios Kunstverständnis tatsächlich keiner "fixité territoriale" bedarf, wie er es selbst immer wieder formuliert (Savinio 1989: 87). Seine Kunst ist eine intellektuelle Kunst (was einen maßgeblichen Unterschied zum Surrealismus ausmacht), ihre Programmatik legt er in seinen ästhetischen Schriften dar. In einer Theaterkritik aus dem Jahre 1938 ist zu lesen:

L'interesse che io porto alle varie forme dell'espressione, non è esclusivo per nessuna di esse. Passo da una all'altra come una volta, di posta in posta, si cambiavano i cavalli. Il mio amore esclusivo è per qualcosa di là dalle forme. Eppure, e sia pure transitoriamente, a ciascuna di esse io dò il meglio di me, e dal più profondo, e con l'ardente desiderio di salvarla. (Savinio 1982: 18).

Grewe zeigt, dass schon in den frühen (sehr polemischen) ästhetischen Texten Schopenhauer, Nietzsche, aber auch Otto Weininger für Savinios Konzept der arte metafisica von großer Bedeutung sind. Gott ist tot. Mit dem Wegfall einer sinnstiftenden Instanz geht Ordnung und Begründung des Lebens verloren. Das Leben wird zum unermüdlichen Kampf gegen die Erstarrung, zu einem continuo divenire. Diese Bewegung wird durch ein ständiges Wechselspiel antagonistischer Kräfte, der drammaticità gekennzeichnet (66, 99). Geist und Materie werden bei Savinio nicht unabhängig voneinander gedacht, sondern der Geist durchdringt die Materie, d.h. die Metaphysik wird in die Menschen und Dinge verlagert. Die moderne Kunst soll nach Savinio dieses geistige Prinzip zum Ausdruck bringen. Savinios Begriff der Moderne hat demnach nicht unmittelbar mit technischen Erneuerungen zu tun, er lässt sie vielmehr Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Ablösung der traditionellen Metaphysik und ihrer Trennung von der vergänglichen und unvergänglichen Welt, von Materie und Geist beginnen.

Das Lebensprinzip des 'Werden und Vergehen' und die damit einhergehende menschliche Sehnsucht nach Ruhe und Stillstand lässt den Menschen am Leben leiden. Diese melancholische Grundstimmung prägen den Künstler und seine Werke. Dank seines Erinnerungsvermögens bewahrt sich der Mensch einen Idealzustand, ein verlorenes Paradies: das der Kindheit, in dem es kein Bewusstsein von Zeit und Dauer gibt. Die Kindheit wird in Anlehnung an Platon und Vico als kollektives Zeitalter gedacht, das bei Savinio durch die Kunst zum Ausdruck gebracht werden kann. Ziel der Kunst ist es demnach, die Verzweiflung am continuo divenire zu überwinden.



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In der Tragedia dell'infanzia greift Savinio den auch zeitgenössisch beliebten Mythos der glücklichen Kindheit auf. Die Kindheit, der Traum, die Ironie und die Fantasiewelt werden als Orte eines ursprünglichen Begehrens gesetzt. Die Erinnerungen an die Vergangenheit bringen im Text auch eine Multiperspektivität mit sich, die zu einer "regelrechten Verdopplung oder Spaltung des Ich-Erzählers" (151) führt. Zur kindlichen Perspektive gehört auch der Verzicht auf Zeitbewußtsein und Relativität, so dass die Tragedia dell'infanzia zu einem Bewusstseinsroman wird. In dem Text wird darüber hinaus mit dem Verlust der emotionalen Bindungen, der allgemeinen Haltlosigkeit des Kindes, das zwischen Stagnation und Schweben schwankt, eine melancholische Grundstimmung evoziert, die für Capitano Ulisse zum zentralen Thema wird.

Das Theaterstück Capitano Ulisse hatte Savinio ausdrücklich für das unter der Leitung von Luigi Pirandello stehende Teatro d'Arte di Roma konzipiert, wo es allerdings nicht zurbAufführung kam. Erst 1938 in Bragaglias Teatro delle Arti gelangte es zur Uraufführung, wurde jedoch nach vier Aufführungen abgesetzt und steht damit exemplarisch für den Mangel an Anerkennung, der Savinios Werk zu Lebzeiten entgegengebracht wurde.

Der Mythos des Odysseus wird verzeitlicht, indem Savinio ihn in einem weiteren Sinne in der Gegenwart ansiedelt, was u.a. zur Parodisierung führt. Mit dem Protagonisten Odysseus entwirft Savinio einen Melancholiker, der an der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz leidet – die unterschiedliche Formen des Leidens werden im Text ausgelotet. Doch Savinios Poetik ist auch immer eine Kritik an der Melancholie, sie "postuliert statt dessen den Wert und die Würde der Wirklichkeit." Melancholie – letztlich genau wie die Ironie – ermöglicht eine kontemplative Distanz zur Wirklichkeit" (325). Nicht die ideale Welt steht im Mittelpunkt, sondern die Distanz zu den Welten. Nach der Verfasserin liegt Savinios Poetik somit ein "aufklärerischer Impuls" zugrunde (325).

Dieser Entwurf der Melancholie wird in der letzten von Grewe besprochenen Erzählung Signor Münster (1943) radikalisiert. Das Leiden am Leben führt ihrzufolge zur Entzweiung des Signor Münster in einen defizitären Körper und einen unvergänglichen, vollkommenen Geist (409), was soweit geht, dass der Geist langsam das Sterben (des Körpers) zu beobachten vermag.

Statt surrealistische oder psychoanalytische Lesarten der Texte weiterzuverfolgen, wie sie bislang in der Forschung vorherrschten, setzt Grewe den Künstler Alberto Savinio in die antike Tradition des genialischen Melancholikers (411). Die Verfasserin arbeitet zugleich sehr nachdrücklich heraus, wie sich die Melancholie leitmotivisch und strukturierend durch das Werk Savinios zieht und greift auf eine Fülle von Texten zur Melancholie von Platon bis Tellenbach zurück. Harmonisch stehen so medizinische (psychopathologische) Diskurse neben den literarischen. Dabei entsteht beinahe der Eindruck eines ahistorischen Menschentypus des Melancholikers. Die Frage nach der Funktion, die die Melancholie in den jeweiligen Diskursen einnimmt, sowie eine Untersuchung von Savinios Techniken der Verfremdung bzw. Sanktionierung treten demgegenüber in den Hintergrund.



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Es ist ein besonderes Verdienst der Arbeit, die Rezeption Savinios kritisch aufgearbeitet und somit ein weiteres Mosaiksteinchen für die Dekonstruktion nationalphilologischer Literaturgeschichten entworfen zu haben. Dass der Musiker, Dramatiker, Romancier, Essayist/Journalist und Maler Alberto Savinio lange zu wenig Beachtung fand, mag an seinem grenzenüberschreitenden, äusserst vielfältigen Werk liegen, das sich einer kohärenten nationalen Literaturgeschichtsschreibung widersetzt. Gegen seinen avantgardistischen Prosatext Hermaphrodito (1918) richtet sich z.B. der Vorwurf, Savinio beherrsche die Sprache Dantes nicht (Binazzi 1919). Dazu Grewe:

Das Kriterium der italianità [...], in dem sich auf kaum unterscheidbare Weise literarische mit ideologischen und sogar pseudo-biologischen Argumenten mischen, wirkt sich in den 20er und 30er Jahren nachhaltig auf Savinios Position innerhalb der italienischen Kultur aus. (29)

André Breton bezeichnet Savinio als einen der Väter des Surrealismus (Breton 1972: 341), was bis heute seine Rezeption massgeblich beeinflußt, jedoch weitgehend ohne Berechtigung, wie Grewe zeigt. Genauso versucht sie, Savinio ausschließlich psychoanalytischen Deutungsversuchen zu entziehen, die sich in den 80er Jahren etablieren konnten. Sie zeigt vielmehr den Einfluss Schopenhauers sowie den der französischen Konzepte des 19. Jahrhundert wie der ennui und des spleen, kurz der Melancholie und der Décadence, die die Arbeiten Savinios entscheidend prägten. Grewe hat sich damit bewusst um eine europäische Kontextualisierung des Künstlers und seines Werkes bemüht – zulasten einer stärkeren Berücksichtigungen nationaler Traditionen. Es wäre einmal interessant, das Konzept der Melancholie stärker an Leopardi zu binden, der ebenfalls Schopenhauers Philosophie sehr nahe stand.

"In tristitia hilaris, in hilaritate tristes" lautet ein abschließendes Kapitel des Buches (432); mit diesem Schopenhauerzitat weist Grewe auf die Ironie hin, die neben der Melancholie konstitutives Element der Texte Savinios ist. Auch hier wäre ein Vergleich mit L'umorismo (1908) von Luigi Pirandello sicherlich aufschlussreich, zu dem in den 20er Jahren mehr als eine Arbeitsbeziehung bestand (97).

Es bleibt zu wünschen, dass die Forschung sich in noch stärkerem Maße dieser Künstlerpersönlichkeit zuwendet. Andrea Grewe selbst setzt auch über diese Monographie hinaus, die durch eine umfangreiche Bibliografie abgerundet wird, nötige Impulse für die Savinio-Forschung: So fand, von ihr organisiert, zum fünfzigsten Todestag unter dem Titel "Alberto Savinio und die europäische Kultur der Zwischenkriegszeit"ein internationales wissenschaftliches Kolloquium in Osnabrück (28.– 30. 6. 2002) statt.



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Bibliografie

Binazzi, B. (1919): "Dai cabarets di Parigi ai baraccamenti di Salonicco. Avventure liriche d'un caporale d'eccezione", in: Giornale del mattino (2.3.1919), zitiert nach Grewe (2001: 28).

Breton, Andrè (1972): Anthologie de l'humour noir (1939). Paris: Pauvert.

Cirillo, Silvana (1994): Alberto Savinio: humour, sensi e nonsense. Itinerario guidato nel mondo letterario di Savinio e delle avanguardie. Roma: Euroma.

Savinio, Alberto (1982): Il teatro è fantasia (1938), in: Palchetti Romani. Milano: Adelphi, 17–21.

Savinio, Alberto (1989): La civilisation finienne (1945), in: Opere, Scritti dispersi, tra guerra e dopoguerra (1943–1952). Milano: Bompiani, 87–92.

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