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Regine Brossmann (Stuttgart)


"Rien n'establir de certain": La Mothe Le Vayers Dialogue de la philosophie sceptique



"Rien n'establir de certain": La Mothe Le Vayer's Dialogue de la philosophie sceptique
La Mothe Le Vayer starts his Dialogues faits à l'imitation des anciens (1630–1631) with the introductory Dialogue de la philosophie sceptique, in which he demonstrates his philosophical way of approach. There, the sceptic Ephestion tries to teach his scepticism to the dogmatic Aristotelian philosopher Eudoxus, who, however, refuses to acknowledge his interlocutor's insights. Neither party 'wins' in the end, though Ephestion has the better arguments and gets much more space than his adversary (41 vs. 5 pages), Eudoxus – as his name says, the defender of the doxa, or received opinions – does not allow himself to be convinced but continues to 'subscribe blindly to the precepts of Aristotle'. The ironic portrait of Eudoxus, a satire on the dogmatic Aristotelian-Thomist scholar, is presented with remarkable rhethorical art. At the same time, however, in the part of Eudoxus, La Mothe Le Vayer indirectly denounces a deceptive kind of rhethoric which, instead of argumenting objectively, hides behind banal figures of speech and also personally denigrates his adversary.


François de La Mothe Le Vayer ließ seine Dialogues faits à l'imitation des anciens (1630–1631) unter dem Pseudonym Orasius Tubero und mit den fiktiven editorischen Angaben "à Francfort, par Jean Sarius, 1506 (sic) für die ersten vier Dialoge und bzw. 1606 für die fünf anderen, erscheinen. In seiner vorangestellten "Lettre de l'autheur" – einem regelrechten Manifest des libertinage érudit – nimmt er zu diesem editorischen Vorgehen Stellung.

Der inhaltlichen Brisanz seiner Gedanken war er sich durchaus bewusst: "La liberté de mon stile mesprisant toute contrainte, et la licence de mes pensées purement naturelles, sont aujourd'huy des marchandises de contre-bande, et qui ne doivent estre exposees au public" (La Mothe Le Vayer 21632/1988: 11 = Dialogues).

Zu der "licence de [s]es pensées", die er mehrfach betont, zählt die offene Zeitkritik, die nicht zuletzt in seiner Opposition zum sich immer deutlicher festigenden Absolutismus wurzelt und für ihn zu "le juste mépris d'un siecle ignorant et pervers" (Dialogues: 12) und zu einer Anprangerung der "authorité tyrannique du temps, et des coustumes qui les ont establies" (Dialogues: 14) führt, wie er schon in seiner Einleitung unmissverständlich zum Ausdruck bringt; erwähnt sei nicht zuletzt auch seine Anwendung der skeptischen Methode auf den Bereich der metaphysisch-theologischen 'Wahrheiten' oder besser Spekulationen. Er selbst betont in der einleitenden Lettre de l'autheur "je n'ai rien écrit qu'en Philosophe ancien et Payen" (Dialogues: 14), fügt aber noch vorsichtshalber die Versicherung seiner "submission de [s]on esprit aux choses divines" hinzu, deren Behandlung er jedoch den dazu allein autorisierten Theologen überlassen wolle (vgl. hierzu Pintard 1983: 510).



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Den Vorschlag des Freundes und fiktiven Adressaten des Briefs, sein Werk doch "quelque grand" zu widmen und dadurch unter dessen Protektion zu stellen, weist er weit von sich. Stolz verkündet er, sein philosophisches Werk wolle sich allein durch Wahrheit und Kraft seiner Argumente verteidigen: "Si nos discours Philosophiques ont besoin d'asyle et de sauvegarde, qu'ils la trouvent dans la force de la verité, et dans l'authorité de la raison. Ce seroit chose indigne et honteuse à nous d'en rechercher ailleurs." (Dialogues: 12). Er weist in seiner Vorrede auch jegliche Motivation durch ein außerhalb des Gegenstandes selbst liegendes interêt weit von sich und betont seine politische und materielle Unabhängigkeit:

Ma main est si genereuse, ou si libertine, qu'elle ne peut suivre que le seul caprice de mes fantaisies; et cela avec une licence si independante et si affranchie, qu'elle fait gloire de n'avoir autre visee, qu'une naifve recherche des veritez ou vraisemblances naturelles, ny plus important objet, que ma propre satisfaction, qui se trouve dans cet innocent entretien. (Dialogues: 15)

Der Kraft der Vernunftargumente hat auch die Schönheit des Stils kaum etwas hinzuzufügen. Unter der "liberté de [s]on stile" versteht er im Folgenden nicht zuletzt seine Wahl des Genres Dialog: "ce genre d'escrire par dialogues, si mesprisé, voire si délaissé aujourd'huy " (Dialogues: 12). La Mothe Le Vayer hat in seiner Wiederentdeckung und meisterlichen Beherrschung des Dialogs wichtige Vorarbeit für die (Früh-)Aufklärung geleistet, die für spätere Dialogautoren wie Fontenelle wegweisend wurde.1 Seinen Rekurs auf die Antike begründet er mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Gegenwart : "[...] m'estant pleu d'ailleurs, tant au sens qu'en m'esloigner et départir des modernes, pour suivre et imiter les anciens". Unter letzteren zählt er im folgenden auf: "Zeno Eleates, ou un Alexamenus ont bien eu la gloire de l'invention du Dialogue, mais Platon, et, si je ne me trompe, Ciceron, et Lucien, celle de l'avoir porté à sa perfection" (Dialogues: 12). La Mothe Le Vayer verfasste mit seinen Dialogues faits à la maniere des anciens philosophische Dialoge als eine antike, im Humanismus wieder aufgenommene Gattung. Er benutzt dabei eine Dialogform, in der zwei oder mehr Dialogpartner ein gegebenes Thema nach bestimmten, festgelegten Standpunkten entwickeln, wie etwa denen des Skeptikers, des Dogmatikers, des Theisten, des Deisten, des Atheisten, des Stoikers, des Epikureers, des Hofmannes, des Privatmannes etc., eine Form, bei der noch alle Konventionen des Humanismus befolgt werden, wie die griechischen Namen der Dialogpartner, die Anführung von Zitaten antiker und moderner Autoren sowie die konventionellen Floskeln wie j'avoue, j'admets etc. aufzeigen.

Verglichen mit der Form des Montaigneschen Essai ist diese traditionelle Dialogform eine relativ "gebundene" Form, in der die Standpunkte fixiert sind und nicht etwa erst im Laufe der Unterredung bestimmt werden können und in der oftmals im voraus durchdachte 'Lehrmeinungen' vorgetragen werden. Letzteres ist zumal dann der Fall, wenn – wie zwischen Ephestion und Eudoxus – eine Art von Lehrer-Schüler-Verhältnis vorliegt; mit der Pointe, dass es hier nicht der 'Lehrer', sondern der lernunwillige 'Schüler' ist, der an einer fixierten überkommenen Lehrmeinung festhalten will. Der Dialog erscheint dabei als privilegiertes Instrument der Skepsis, da er erlaubt, jede geäußerte Meinung sofort in Zweifel zu ziehen; entgegengesetzte Standpunkte können sogar in direkter Folge hintereinander ausgesprochen werden. Am Dialog teilzunehmen heisst damit auch schon, sich dem Prinzip der Skepsis unterzuordnen.



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Wichtig sind La Mothe Le Vayer die Inhalte, die dialektisch aufgebaut und durch Zitate antiker wie moderner Autoren ausführlich belegt werden. Das Spektrum der angeführten Autoren ist dabei erstaunlich breit: Platon, Aristoteles, Diogenes Laërtius, Plutarch werden im griechischen Original und in lateinischer Übersetzung zitiert; die zeitgenössischen englischen Philosophen wie Bacon oder Locke werden französisch paraphrasiert. Das Zitat wird dabei im dialogischen Streitgespräch nicht wie im Essai Montaignes zum Ausgangspunkt von neuen Überlegungen gewählt, sondern dient bei der Berufung auf die Autorität der zitierten Autoren ausschließlich der Rechtfertigung der eigenen Position, die von Anfang an mit der Verteilung der Dialogrollen vorgegeben ist.

Wenn La Mothe Le Vayer in seiner einleitenden Lettre de l'autheur die stilistische Freiheit des Dialogs betont, die seinen Intentionen entgegenkomme, verwendet er für Form und Inhalt Begriffe wie licence, libertin, généreux, indépendant, affranchi, um sich dann im Hinblick auf den relativ hohen Grad an rhetorischer und stilistischer Freiheit bei der Ausfüllung dieses vorgegebenen Grundschemas – Prosa mittlerer Stilhöhe und eine vergleichsweise alltagsnahe Sprache – an Montaigne zu orientieren. Verglichen mit der viel größeren Formstrenge anderer Gattungen des 17. Jahrhunderts, zumal der Versformen, zu denen neben den eigentlichen lyrischen Formen auch die klassische Tragödie, die Verskomödie und das Versepos zählen, bedeutet die Prosa des philosophischen Dialogs ein Stück Freiheit.

Sein mit Entschiedenheit vertretener Glaube an die Überlegenheit der Prosa über die Versform nimmt eine verbreitete Anschauung der Frühaufklärer um fast hundert Jahre vorweg.2 Denn zu La Mothe Le Vayers Opposition gegenüber dem klassischen Zeitgeist gehört, dass er sich der Mode der Versifikation ausdrücklich verweigert: "[...] mon esprit, impatient de toute servitude, n'est pas pour se gehenner dans la contrainte d'une periode mesurée" (Dialogues: 12), bei der ihm nicht nur der Zeit- und Arbeitsaufwand des formalen Ausfeilens unangemessen hoch dünkt; dem entspreche ein ebenso erhöhter Aufwand an Mühe beim Leser: "Mais ce miserable travail est encores suivy d'une autre disgrace, c'est que on ne lit que fort rarement sans peine [...]" (Dialogues: 13).

Gegen jegliche allzu sorgsame Ausarbeitung der Form spricht für ihn auch, dass Autoren, die sich zu sehr der geschliffenen, zumal der versifizierten Ausarbeitung ihrer Werke widmeten, selten noch die Kraft des spontanen Ausdrucks besäßen, die er mit einem aristokratischen Wertbegriff als "la generosité des pensées et des sentimens" (Dialogues: 13) bezeichnet. Unter dem beständigen Zwang der (Vers-)Form könnten sie vielmehr nur "un discours contraint et fardé" (Dialogues: 13) produzieren. Gegen diesen letzteren will er seine, wie er behauptet, quasi spielerisch entstandene Schöpfung setzen (Dialogues: 12–13):"[...] je tasche d'imiter la Nature et ce grand Ouvrier, qui font tout en se joüant".



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Die angeblich quasi spielerische Entstehung seiner Dialogues ist dabei jedoch als ein bewusstes understatement zu lesen. Philippe-Joseph Salazar bewertet z.B. in seiner Monographie 'La Divine Sceptique' (2000) die Dialogues wie folgt:"[...] il est vite apparent que La Mothe Le Vayer est un formidable rhéteur. Son oeuvre est 'éloquente' comme on disait au XVIIe siècle. La Mothe Le Vayer parle, discute, converse, apostrophe, s'amuse et raille. Oeuvre orale, oeuvre de civilité savante et mondaine. Oeuvre de stratège des Lettres. Oeuvre de styliste. Oeuvre au coeur d'un dispositif d'autonomie de l'intellectuel." (Salazar 2000: 13). Salazar hat in der genannten Monographie des weiteren aufgezeigt, dass La Mothe Le Vayers Skepsis und Zeitkritik in seinen Dialogues nicht zuletzt auch zu einer Kritik der Rhetorik, und damit letztlich zu einer Sprachkritik des âge classique führt. Salazar fasst seine Thesen wie folgt zusammen:

Courtisan, practicien des affaires et savant, il développe une éthique de mise à distance par le biais d'une mise en valeur et d'un questionne ment des moyens rhétoriques mis à la disposition de ceux qui veulent bien y prendre garde. Autour de lui et de ses amis se façonne ainsi une contre-culture classique qui voile sa violence critique derrière les sourires et l'éloquence. (Salazar 2000: Einband, verso)

La Mothe Le Vayer ist, so erfahren wir, ein scharfer Kritiker der Rhetorik, aber zugleich auch selbst ein überlegener Praktiker der Redekunst; wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen? Die Kritik der klassischen Rhetorik erfolgt bei La Mothe Le Vayer im Namen der Ethik, die trotz oder vielmehr wegen seiner skeptizistischen Haltung eine Ethik der Wahrheit ist. Demnach gibt es für ihn eine 'gute' sokratische Rhetorik, die zu – wenn auch immer unsicherer und vorläufiger – Erkenntnis führen kann, und eine 'schlechte', die die Wahrheit willentlich verschleiert. La Mothe Le Vayer dekonstruiert die falsche Rhetorik des Dogmatikers im Namen der Skepsis, wie er bereits in seiner Lettre de l'autheur ankündigt: diese Rhetorik sei nichts als eine "porte d'yvoire" der Gedanken, von der es heisst "toute belle et magnifique qu'elle est, ne donne passage qu'au mensonge, là où l'autre de corne, vile, obscure, et grossière, sert de trajet à la verité" (Dialogues: 13).

Seine eigene Rhetorik tritt dagegen eher unprätentiös auf; sie arbeitet mit dem Wohlklang und der Ausgewogenheit der Satzperiode, ansonsten hält sie sich eher verborgen. La Mothe Le Vayer charakterisiert, ja karikiert die Dialogsprecher indirekt durch ihre Sprache und arbeitet dabei maßgeblich mit dem Mittel der Ironie, die ihrem Wesen nach eine indirekte Aussageweise darstellt. Im ersten Dialogue de la philosophie sceptique, der eine thematische Einführung und Darlegung der 'skeptischen Methode' darstellt, finden sich banale Redewendungen wie "sortir du grand chemin", "se moquer de Dieu et des hommes", "de bonne sorte" auf seiten des Dogmatikers Eudoxus, während originelle sprachliche Bilder und Vergleiche wie "les maistresses voiles de votre eloquence" stets dem Skeptiker Ephestion in den Mund gelegt werden. La Mothe Le Vayers Rhetorik äußert sich nicht so sehr als der Versuch, den Argumenten der eigenen Seite – d.h. des skeptischen Sprechers Ephestion – durch die bloße Schönheit des Stils Gewicht zu verleihen, sondern sie dient vielmehr dazu, seinen Gegen-spieler, den aristotelischen Dogmatiker Eudoxus, durch eigenen Mund als 'entesté' und damit als wenig glaubwürdig zu entlarven.



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Nach dem vorangestellten lateinischen Zitat aus der Naturgeschichte des Plinius d. Ä.3 folgt ein Vermerk der Dialogteilnehmer, der an das einem humanistischen Drama vorangestellte "argument" erinnert. Danach beginnt der eigentliche Dialog, bei dem den Vorwürfen des Dogmatikers Eudoxus das erste Wort zukommt. La Mothe Le Vayer führt nun sogleich in medias res, um die Illusion zu schaffen, man trete zu einem Gespräch hinzu, das bereits in vollen Gange ist, ein Kunstgriff, der im Drama und auch im Kunstbrief verwendet wird. Der Dogmatiker Eudoxus – bereits durch den sprechenden Namen als Verteidiger der doxa, der überkommenen Meinungen, gekennzeichnet – wird vom allerersten Satz an als eine veritable Satire auf den verbohrten Aristoteliker (und damit indirekt auch auf den Scholastiker und Thomisten)4 eingeführt:

Ce n'est pas sans subject, Ephestion, qu'on dit qu'il y a de l'intemperance mesme aux lettres, et que sans cette mediocrite dorée, elle nous entestent plustot qu'elles nous profitent, affoiblissent nostre esprit, et corrompant ce que nos avons de naturel, au lieu de les fortifier, polir, et cultiver. (Dialogues: 17)

Mit dem Argument des Aristotelikers, dass das ethisch Gute immer der Mittelweg, le juste milieu, zwischen den beiden entgegengesetzten Extremen sei, wird von ihm auch jegliche literarische Begabung oder Erkenntnis, die über das goldene Mittelmaß – la médiocrité dorée – herausragt, summarisch dem Laster der 'intemperance' zugerechnet, jenes Abweichen von der platonisch-aristotelischen Kardinaltugend der temperantia, das dem Libertin stets zugeschrieben wird, auch wenn er sich der Philosophie zuwendet. Ihm werden als Folgen dieses Lasters nicht nur unterstellt, dass die Natur korrumpiert, sondern auch, dass der Geist selbst geschwächt werde – ein erster unlauterer Angriff des Dogmatikers, den der Skeptiker sachlich pariert.

Nachdem der angeblich gute Mittelweg des juste milieu jedoch ironisch als immer nur zu bloßem Mittelmaß führend entlarvt wurde, gilt der nächste Seitenhieb einem anderen klassischen Ideal, le naturel, das ebenfalls im Diskurs des klassizistischen Dogmatikers einen Gebrauch erfährt, der es in sein Gegenteil pervertiert: denn Natürlichkeit und Mittelmaß entstehen, indem der Mensch von den ihn Führenden weise vor einem Zuviel an Philosophie, an Weisheit, an (nonkonformistischem) Wissen bewahrt wird, so wie Agricola, der Schwiegervater des Tacitus, der laut letzterem von seiner Mutter zu seinem Besten von der Philosophie ferngehalten wurde: "retinuitque, quod est difficillimum, ex sapientia modum". Beweis dafür, dass dies in der Tat sehr schwierig ist, war bereits die Tatsache, dass der Leser nicht zuletzt dieses illegal gedruckte und vertriebene Werk in Händen hielt. Für den 'linientreuen' Aristoteliker gilt dagegen: "Car l'excez estant vicieux par tout, je crois que le meilleur soit icy de n'estre Philosophe que de bonne sorte." (Dialogues: 17).

Ein wirkliches Gegenargument des Dogmatikers wäre dagegen ein ethisches: könnte im erkenntnistheoretischen Skeptizismus die potentielle Rechtfertigung eines Relativismus der ethischen Indifferenz gesehen werden? Wenn schon ungewiss bleibt, was das Wahre und das Gute nun eigentlich ist, warum sollte ich mich dann darum bekümmern? Doch lässt sich ein solches Argument auch gegen seinen Urheber zurückwenden. Indifferenz gegenüber einer (auch relativen) Wahrheit im Sinne bewusster Unaufrichtigkeit und damit ethische Indifferenz im Namen der angeblich 'guten Sache' macht La Mothe Le Vayer gerade auf seiten des Dogmatikers aus, dem, um seine unhaltbare Position zu rechtfertigen, eigentlich jegliches rhetorische Mittel recht sei.

Gegen die trügerische Rhetorik des Dogmatikers setzt La Mothe Le Vayer die Waffe der Ironie, durch die der Unlautere durch eigenen Mund überführt wird. Ein solches Vorgehen, den Gesprächspartner durch die mangelnde Überzeugungskraft der eigenen Argumente und durch die Unklarheit der eigenen Begriffe sich selbst überführen zu lassen, entspricht der 'sokratischen Methode' im Ursinne: das Vorgehen des Sokrates in den 'sokratischen Dialogen' Platons. La Mothe Le Vayers skeptische Sprecher sehen in der sokratischen Erkenntnissuche durch den philosophischen Dialog ein Ideal. Im ersten Dialog "De la philosophie sceptique" zeigt Ephestion, der Verteidiger der Skepsis, dass die Skepsis in der Geschichte der antiken Philosophie nicht nur eine merkwürdige Randerscheinung war, wie der Dogmatiker Eudoxus einwendet, sondern dass Skepsis – zumal gegenüber den eigenen Aussagen – ein durchgehender Grundzug der antiken Philosophie gewesen sei.

Eudoxus dagegen versucht zuerst, den Skeptiker, zumal den Pyrrhonisten, als seltsamen Narren, ja als Verrückten abzutun. Er spielt dabei auf einige Konsequenzen des gelebten extremen Pyrrhonismus an, die seit der Antike seinen Gegnern eine leichte Zielscheibe des Spotts abgeben. Der konsequente Pyrrhonist misstraut im Wahrnehmungsskeptizismus selbst der Wahrheit seiner Sinneswahrnehmungen, da auch diese ihn täuschen könnten, Träume, Halluzinationen oder von einem täuschenden Dämon verursachte Illusionen sein könnten.

Eudoxus fragt ihn deshalb: "Ne faudra-t'il point à la longue vous escarter violemment des precipices, comme un Pyrrho, par vous autres comparé au Soleil, ou vous faire toucher et sentir le feu, pour tirer de vous l'adveu de sa chaleur et adustion?" (Dialogues: 18). Bestimmte Anekdoten, die Diogenes Laërtius aus zweiter Hand über das Leben des Pyrrhon überliefert, berichten, Pyrrhon habe der Wahrnehmung keinen Einfluss auf sein Verhalten zugestanden und habe deshalb keine Vorsicht gekannt, weder vor entgegenkommenden Wagen noch vor Abhängen oder angreifenden Hunden. Dass er dabei überlebte, habe er seinen Schülern zu verdanken, die ihn begleiteten. Andere Quellen, die Diogenes Laërtius zur Verfügung standen, bestreiten dies jedoch (vgl. Wiedemann). In diesem Sinne kann ihm Eudoxus vom Standpunkt des Aristotelikers bzw. des Thomisten, der die Erkenntnis durch die Sinne durchaus anerkennt (vgl. Heinzmann 1985: 198ff.), aber auch vom Standpunkt des Sensualisten bzw. des Empirikers aus vorwerfen (vgl. Giocanti 2001), der Skeptiker müsse in mehrfachem Sinne ein "insensé" sein:



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[...] que pour ne rien determiner de certain, és choses mesmes les plus sensibles, il semble que vous ayez perdu tout sentiment, et par con- sequent toute raison, puis que rien ne peut parvenir jusques à elles que par le ministere et intervention des sens; d'où vient que nous nommons les fols insensez, et que, sapientiae nomen à sensu ad mentem traductum est. (Dialogues: 17)

In Form der "douteuse retenue" sei die Skepsis vielmehr seit dem Beginn der abendländi-schen Philosophiegeschichte, die Ephestion bei Sokrates ansetzt, bei zahlreichen Denkern – wie z.B. Zenon, Aristoteles und Seneca – Teil ihres Vorgehens wie ihrer Aussagen:

[...] pouvez vous trouver si estrange en eux cette douteuse retenue, puis que vous voyez le pere commun de tous les Philosophes Socrate, du chef duquel, comme du haut de l'Appennin, dit Ciceron, ont ruisselé toutes les sectes de la philosophie, lequel ne propose jamais dans Platon ses plus resolues conclusions, qu'avec une marque d'interrogation, et comme s'enquerant plustost qu'enseignant la verité des choses qu'il traitte? (Dialogues: 20)

Als Prinzipien seines eigenen skeptischen Vorgehens nennt er im Folgenden: "il faut estre retenu à ne rien decerner trop confidemment", "ne passer jamais aux extrémitez des pendans dogmatistes", "se reserver tousjours aus pensées et meditations secondes, qui seront peut estre les meilleures" sowie "ne se laisser jamais emporter au torrent de la multitude, ny au jugement des fols, dont le nombre est tousjours plus grand, voire infiny" (Dialogues: 21); Prinzipien, die mit einer Fülle griechisch-lateinischer Zitate belegt werden. Ephestion bezeichnet eine solche Position als – im weiteren Sinne – "pyrhonnien".

Eudoxus, der sich soeben dazu genötigt sah, das Grundprinzip der gemäßigten Skepsis anzuerkennen, möchte nun im 'Rückzugsgefecht' des Dogmatismus zwar eine partielle Skepsis anerkennen, damit aber bestimmte sensible Bereiche von der skeptischen Betrachtungsweise ausgenommen sehen:

J'advoue, Ephestion [...] il faut user de tres-grande reservation d'esprit avant que de rien prononcer; mais de vouloir estendre cela jusques aux choses les plus communes, voire les plus sensibles, c'est non seulement sortir du grand chemin, contre le precepte de Pythagore, mais veritablement, ainsi qu'on dit, se moquer de Dieu et des hommes. (Dialogues: 21)

Denn zu den sensiblen Bereichen zählen neben der Zuverlässigkeit der Sinneseindrücke auch bestimmte allgemein akzeptierte Grundannahmen, die von der großen Mehrheit der Philosophen wie auch von der "multitude" geteilt werden, nicht zuletzt gehört dazu auch die Wahrheit der Religion.

Doch maskiert der Dogmatiker diese Schutzstrategie hinter dem Argument des Konformismus mit der Meinung der Mehrheit, das doch seit Sokrates gerade für den Philosophen das zweifelhafteste aller Argumente ist: "Or de se bander obstinément contre ce consentement universel de tous les hommes, lequel veluti quaedam tacit loquentis naturae vox est, c'est un caprice monstrueux et insupportable" (Dialogues: 22) – Der implizite soziale Zwang zum Konformismus mit der Mehrheit erscheint als Vernunftargument doch recht wenig stichhaltig, als soziales Faktum beherrschte ein solches Verhalten jedoch nichtsdestoweniger nur allzu oft das klassische Zeitalter. Der Aufwand der rhetorischen Mittel zur radikalen Abqualifizierung der anderen Meinung als "un caprice monstrueux et insupportable" wirkt in seiner Übertriebenheit wie eine versteckte Ironie des Autors La Mothe Le Vayer. Es scheint, dass sich hier letzterer indirekt über den Ton des theatralischen Kanzeldonners lustig macht, weil dieser – und das ist 'le revers de la médaille' – doch dabei nur Ängstlichkeit und Schwäche der eigenen Position verrate.



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Nach Eudoxus ist man auf der Seite der Mehrheit stets auf der sicheren Seite, da die Summe der Urteile Vieler den Unsicherheitsfaktor des, wie ja gerade die Skeptiker betonten, stets subjektiven individuellen Urteils mindere: "Et certainement en une si grande assemblée il y a tousjours plus de sains que des malades [...]" (Dialogues: 22). Doch Ephestion erkennt, dass Eudoxus' Zuflucht bei der Menge ein Zeichen der Schwäche seiner Argumentation ist. Er vergleicht sie mit dem antiken Asyl im Tempel oder bei einer Statue auf dem Forum – der Appell um Hilfe bei der Menge als letzter Rekurs bei einer unhaltbaren Position. Die Rhetorik des Eudoxus ist für ihn nichts als ein Instrument der Verhüllung dieses Sachverhalts der Schwäche:

Je ne puis tenir de rire, vous voyant si courageusement déployer les maistresses voiles de vostre eloquence en faveur de la multitude, à l' abry de laquelle vous vous mettez, comme ceux qui avoient recours aux statues et aux autels, Quiritium fidem implorando; me souvenant de ce que dit un proverbe à ce propos, La va male, quando si chiama gente à soccorso. (Dialogues: 22)

Auch die Ergebnisse der 'neuen' Naturwissenschaften, die sich auf die Empirie, aber auch auf die Mathematisierung der Wahrnehmungsdaten beriefen, geben dem Skeptiker recht. Dies wird am Beispiel der Berechnung der scheinbaren Geschwindigkeit der Sonne abgehandelt; doch das beste Beispiel lieferten Kopernikus und Galilei, als sie die scheinbar offenkundige Sinneswahrnehmung widerlegten, die Sonne bewege sich um die Erde, "les plus celebres esprits de ce siecle ont si vraisemblablement demonstré son immobilité, comme estant le centre du monde, qu'il reste peu de gens de sçavoir, s'ils ne sont dans la prevention et opiniastreté pedantesque, qui ne reçoivent et agréent ce nouveau systeme de Philosophie." (Dialogues: 57). Dabei erscheint es Ephestion eigentlich nur logisch zu sein, dass das, was des anderen bedürfe – nämlich die Erde der Sonne – sich um das somit Wichtigere drehe und nicht umgekehrt, oder, um es in einem eingängigen Bild auszudrücken, "[...] comme qui feroit mouvoir la cheminée, voire la maison entiere, au lieu de tourner la perdrix qui est à cuire" (Dialogues: 58).

Ephestion geht im folgenden auch auf die Skepsis gegenüber der Religion ein, die dort kurz unter dem übergeordneten Thema der irrationalen Macht von Brauch und Gewohnheit angesichts des Schwankens der Sitten ("la coutume") je nach Land und Nation, das mit Hilfe vieler Beispiele abgehandelt wird, die La Mothe Le Vayer – wie auch die großen Linien der Gedankenführung – z. T. direkt von Montaigne übernommen hat, jedoch ohne Verweis auf ihre Herkunft.5 Wie bereits vor ihm Montaigne stellt er fest, die Gewohnheit habe eine enorme Macht über den Menschen; er zitiert Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, Brief 124: "Vivimus enim ad exempla, nec ratione componimur, sed consuetudine abducimur" und fügt verstärkend hinzu: "C'est un torrent duquel nous sommes tous emportez" (Dialogues: 31).



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Die Gewohnheit wird rasch zur zweiten Natur des Menschen: "On voit donc par tout une tres-grande opiniastreté pour la coustume, qu'on peut nommer un cinquiesme Element, voire une autre nature" (Dialogues: 33). Vieles, das wir in der Vernunft begründet glauben, ist in Wirklich- keit nur ein Ergebnis von Brauch und Nachahmung: "[...] nous croyons tousjours faire avec raison et justice, ce que nous faisons par usage et imitation." (Dialogues: 33).

Anders als Montaigne, der den Ursprung vieler Gewohnheiten bereits in der frühen Jugend sieht und in diesem Zusammenhang auf die wichtige Rolle der Erziehung zu sprechen kommt, geht La Mothe Le Vayer hier auf dieses Thema nicht ein, mit dem er sich gleichwohl später theoretisch wie praktisch beschäftigen sollte – er erstrebte und erhielt schließlich 1652 das Amt eines Erziehers des Dauphin, d.h. des späteren Ludwig XIV.,6 sondern er geht sogleich zur politischen Thematik über. Wegen des zähen Festhaltens des Volkes an der Gewohnheit sei es schwierig, bestehende Gesetze zu ändern – ein Gedanke, der sich ebenfalls bereits bei Montaigne findet; Gesetzgeber und Neuerer jeglicher Art gehen deshalb ein beträchtliches persönliches Risiko ein. Die Skythen haben Anacharsis und ihren König Skythes ermordet, weil sie bei ihnen neue Gebräuche einführen wollten. Doch sind die neuen Gesetze erst einmal eingeführt, so bleiben sie auch bestehen, sobald sie selbst wiederum zu einer neuen Gewohnheit geworden sind. Solon habe klug gehandelt, als er die Athener verpflichtete, seine neuen Gesetze zuerst für zehn Jahre zu befolgen, "sçachant bien que dans ce temps, la coustume les auroit assez authorisées" (Dialogues: 33). Der Unterschied zwischen der Position Montaignes und der La Mothe Le Vayers zu diesem letzteren Thema scheint mir in den unterschiedlichen Schlussfolgerungen zu liegen, die sie aus diesen Sachverhalten ziehen. Montaigne spricht sich dafür aus, wenn möglich alles beim Alten zu belassen,7 da jegliche Veränderung ein sicheres Übel bedeute, während sich La Mothe Le Vayer implizit auf die Seite der Neuerer stellt.

Unter dem übergreifenden Thema "Verschiedenheit von Brauch und Gewohnheit" hat La Mothe Le Vayer nicht nur ethnographische Beschreibungen der Sitten fremder Völker exzerpiert und ausgewertet; er wird auch in der europäischen Geschichte und im zeitgenössischen Frankreich fündig und übt massive Kritik an Eroberungskriegen (Dialogues: 40–41): "Faire assassiner un homme, c'est estre un infame homicide; en faire égorger cent mille, c'est une action heroique" sowie an der Rechtfertigung der Lüge in der Politik (Dialogues: 41): "Mentir sciemment dans le commerce ordinaire des hommes, c'est trahir la societé par une action des plus honteuses et meschantes; mentir aux affaires d'Estat, in ipso Capitolio fallere, ac fulminantem peierare Jovem, s'il y va des interests d'une Couronne, c'est à un souverain entendre son mestier, à un sien ministre, estre habile negociateur et excellent politique." (ebd.)



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Seine Kritik gilt auch dem auf Distanz haltenden Respekt, den Herrscher und religiöse Würdenträger fordern, der bei jedem anderen als unerträgliche Arroganz gelten würde, eine Kritik, die durch das Seneca-Zitat potentiell zur allgemeinen Kritik an der Monarchie ausgeweitet wird: "[...] ne se laisser aborder qu'à travers les picques et les halebardes, cheminer sur la teste des homme, se faire porter sur leurs espaules, leur faire baiser sa pantoufle, ce sont actions pontificales, et dignes d'une majesté royale, invenit aliquid infra genua quo libertatem detruderet, dit Seneque parlant de Cesar" (Dialogues: 41). Diese Linien der Kritik werden im Laufe des folgenden 18. Jahrhunderts in der Aufklärung virulent; sie werden sich bei Voltaire und Diderot wiederfinden.

Auch die Religion selbst wird von La Mothe Le Vayer nicht ausgespart; unter dem Deckmantel der Kritik anderer Religionen wird ausgesagt, was sich implizit auch auf das Christentum bezieht. Man tadle Autoren, die Fabeln für Geschichtsschreibung ausgeben; jedoch "[...] escrire des caprices pour des revelations divines, et des resveries pour les loix venuës du Ciel, c'est à Minos, à Numa, à Mahomet, et à leurs semblables, estre grands Prophetes, et les propres fils de Jupiter." (Dialogues: 41). Ein Grund für den Zweifel an der Religion ist, dass auch in den Religionen anderer Völker höchst widersprüchliche Vorstellungen und Bräuche herrschen. Was den einen Gottesdienst ist, bedeutet den anderen Gotteslästerung. Dennoch halte jeder nur den eigenen Brauch für gut und richtig und verteidige ihn im Kriegsfalle mit äußerstem Einsatz. Die Griechen – so legt der Skeptiker Ephestion dar – verteidigten ihre Tempel unter Einsatz ihres Lebens, während der Perserkönig Xerxes die Auffassung seiner Magier teilte, Gottheiten könne allein der Himmel, nicht aber vier Wände eines Gebäudes einschließen, und sie niederbrennen ließ.

Im Rahmen des übergeordneten Themas "la coutume" wird mehr oder weniger indirekt ausgesagt, dass die Religionen, auch die christliche, ihre Überzeugungskraft nicht aus ihren Argumenten, sondern aus der Macht der Gewohnheit und der Gewöhnung durch Nachahmung beziehen; sie werden weitertradiert, eben weil sie ein Teil der Tradition sind. Damit wird hier ein Thema angerissen, das La Mothe Le Vayer in seinem Dialogue de la Divinité ausführlicher behandeln wird. Er lässt in diesem vielleicht gewagtesten zweiten Dialog des zweiten Buchs seinen Sprecher Orasius in seitenlangen Ausführungen Stellung zu der Vielzahl von Religionen beziehen, die in Vergangenheit und Gegenwart existierten und existieren und sich allesamt auf göttliche Offenbarung berufen, aber mitunter diametral entgegengesetzte religiöse Vorstellungen und Kultpraktiken aufweisen. Es wird dargelegt, dass die bereits eingangs im Dialogue de la philosophie sceptique dargelegte kulturelle Relativität auch die religiösen Vorstellungen und Gebräuche betrifft, die doch von den Gläubigen stets als die unbedingt und einzig wahren verteidigt werden, und dies notfalls auch mit Waffengewalt:

Or dans cette infinité de religions il n'y a quasi personne qui ne croye posseder la vraye, et qui condamnent toutes les autres, ne combatte pro aris et focis jusques à la derniere goutte de son sang; [...]. (Dialogues: 331)



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Indirekt wird damit ausgesagt, die ethische Konsequenz des religiösen Dogmatismus seien die französischen und europäischen Religionskriege des 16. Jahrhunderts gewesen, die ethische Konsequenz des Skeptizismus ist dagegen diejenige der Toleranz. Was das ethische Argument gegen den Skeptizismus betrifft, so wirft Eudoxus, dem ange- sichts der erdrückenden Überzeugungskraft der Argumente und Beispiele, die Ephestion auf über 20 (!) Seiten dargelegt hatte, keine andere Wahl mehr bleibt, der Skepsis vor, sie verunsichere und beunruhige den Menschen, der den Halt des eindeutigen Urteils brauche:

Aussi bien ne vois-je pas qu'on puisse attendre autre fruict de tous ces discours, sinon une incertitude perplexe, et comme un bouleversement d'esprit, qui ne sçait plus desquels il est, ny à quoy s'arrester et tenir ferme; semblable è celuy qui a trop beu, lequel chancelle à droitte et à gauche, n'ayant plus de desmarche asseurée. (Dialogues: 59)

Die Skepsis führe den Menschen durch die Ungewissheit aller Dinge in einen Zustand perpetueller Verunsicherung, sie führe nur zu "inquietudes", zu "agitations perpetuelles":

Qui est à mon jugement la plus desplorable condition à laquelle nous puissions estre reduits, ne se pouvant faire que nous n'y recevions des inquietudes, et agitations perpetuelles, attendu que nostre esprit est naturellement porté à la recherche de la verité, qui n'est pas seulement son aliment, comme dit Platon, mais mesme sa perfection et sa fin derniere. (Dialogues: 59)

Das Ziel des menschlichen Strebens, nach Platon das Wahre als Ziel der Erkenntnis und das Gute als Ziel des Wollens, müsse ein erkennbarer Gegenstand sein: "Or cet object doit estre certain et arresté, autrement il seroit vain et illusoire, et par consequent ne seroit pas naturel, comme nous venons de dire" (Dialogues: 59). Wobei Eudoxus freilich übersieht, dass er dieses feste Objekt nur postulieren, aber nicht garantieren kann; und was das wirklich 'Natürliche' ist, kann die Beobachtung der empirischen Lebenswirklichkeit, aus der Ephestions Beispiele stammen, bei aller Unsicherheit noch eher feststellen als eine apriorische Definition des 'naturel'.

Doch ist der Einwand der Verunsicherung des Menschen durch die Skepsis auf diese Weise von der Hand zu weisen? Gehen nicht auch Ephestion-La Mothe Le Vayer mitunter unlauter vor? Eine der Vorgehensweisen La Mothe Le Vayers besteht darin, dass ein an sich gar nicht so unberechtigter (und damit dem Skeptiker potentiell gefährlicher) Einwand des Dogmati-kers durch ein "Verpacken" in eine Rhetorik der unsachlichen Polemik, der Sturheit und der Anmaßung entschärft wird, d.h. der Äußerung des Gedankens wird ein unsachlich abqualifizierender Einleitungssatz vorgeschaltet ("Aussi bien ne vois-je pas qu'on puisse attendre autre fruict de tous ces discours [...]") und / oder ein nicht minder polemischer Nachsatz angehängt, wie z.B. derjenige, der das Schwanken des Skeptikers mit dem eines Betrunkenen vergleicht ("semblable è celuy qui a trop beu").8 Eine solche Rhetorik macht bei unvoreingenommener Betrachtung des Themas nicht nur keinen überzeugenden, sondern vielmehr einen negativen Eindruck; der Dogmatiker macht sich durch seine unfaire Schmähung des Gegners und durch seinen mitunter geradezu missionarischen (insgeheim theologischen?) Eifer letztlich selbst unglaubwürdig.



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Dem Argument der Beunruhigung des Menschen durch das bereits von Montaigne festge-stellte Schwanken aller Dinge kann der Pyrrhoniker das Argument entgegensetzen, dass das eigentliche Ziel des Pyrrhonismus die Seelenruhe und Freiheit von Beunruhigung sei, da für ihn die Quelle allen Unglücks in jeglichem Eifer im weitesten Sinne, d.h. im inneren Engagement zu suchen ist.9 Diese Seelenruhe ist zwar das Ziel nahezu aller antiken Philosophenschulen, nicht zuletzt auch das der Stoiker, doch biete der Weg der Skeptiker den Vorteil, das Ziel der Seelenruhe nicht direkt als ethische Forderung zu stellen, der kaum zu genügen ist, sondern es auf indirektem Wege quasi unmerklich zu erreichen. So argumentiert denn auch Ephestion:

[...] il n'y a point de secte de Philosophie qui presente une fin plus souhaittable, ny qui conduise à un port tant à l'abry des orages et des agitations, que celle-cy, bien qu'on y arrive imperceptiblement, et comme sans y penser. (Dialogues: 60)

Der pyrrhonischen Skepsis begegnet seit der Antike der folgende Einwand: Wenn alles ohne Ausnahme ungewiss, weil unerkennbar ist, dann muss diese Aussage auch auf sich selbst anwendbar, d.h. selbst ungewiss sein. So wendet Eudoxus mit einiger Berechtigung ein, diese Grundmaxime des Skeptizismus enthalte einen immanenten Widerspruch:

[...] cette maxime fondamentale de toute vostre doctrine, qu'il n'y a rien de certain, dont je vous puis faire l'impertinence par elle-mesme, contenant et impliquant en soy une contradiction tres- manifeste. Car s'il n'y a rien de certain, vostre proposition mesme ne sera pas certaine; et si elle ne l'est pas, son contraire se trouvera veritable, c'est a sçavoir qu'il y a quelque chose de vray et de certain. (Dialogues: 26)

Nach Ephestion kann der Skeptiker auf diesen Einwand zwei verschiedene Antworten geben "La première, que quand nous disons qu'il n'y a rien de vray ni de certain, cette voix n'est pas simplement ni absolument affirmative, mais contient tacitement une exception de soi mesme" (Dialogues: 27). Die Argumentation wird einmal auf dem Niveau des sprachlichen Ausdrucks geführt – bei der Aussage "Jupiter ist der Vater aller Götter" werde Jupiter selbst ebenfalls implizit ausgenommen, da er nicht Vater und Sohn zugleich sein könne. Des weiteren beruft sich Ephestion auf Sokrates, der selbst eine solche Ausnahme gemacht habe: "Socrate s'expliquoit cy-dessus en ce sens, hoc unum scio, quod nihil scio; hoc unum certi, nihil esse certi." (Dialogues: 27).

Die konsequentere zweite Entgegnung auf diesen Einwand gibt zu, dass die Skepsis sich sozusagen selbst vernichte, so wie ein Feuer, das, wenn es alles Brennbare aufgezehrt hat, selbst erlischt; er vergleicht sie auch mit einem Abführmittel, das zusammen mit allen schädlichen "mauvaises humeurs" auch sich selbst wieder aus dem Körper treibe. Doch sei der treffendste Vergleich derjenige mit einer Leiter, mit deren Hilfe man zum erwünschten Ziel kommt und sie dann umstößt, weil man sie nicht mehr braucht:



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Nous usons encores icy de la comparaison de celui qui s'estant servy d'une échelle pour parvenir au sommet desiré, la renverse puis après, ne luy estant plus d'usage; car ainsi nous estant servis de la demonstration qui establit l'incertitude de toutes choses, nous la reversons elle-mesme, rien ne pouvant subsister de certain devant nous. (Dialogues: 27–28)

Philosophiegeschichtlich gesehen ist die erste Lösung diejenige der antiken Pyrrhonisten, während die zweite, radikalere Antwort der Skepsis der Neuen Akademie entspricht (vgl. Wiedemann). Doch auch damit kann weder Ephestion den Dogmatiker überzeugen, noch lässt dieser sich von Eudoxus überzeugen; der Dialog geht damit 'unentschieden' aus. Diese Unentschiedenheit entspricht in ihrer 'suspension' des Urteils dem Geist der Skepsis. Sie entspricht dem, was der Skeptiker Ephestion selbst sozusagen als condition sceptique beschrieben hatte: "[...] je me trouvay incontinent au milieu d'une egalité de raisons, la balance du discours demeurant en equilibre [...]" (Dialogues: 60).

Doch, so wird man fragen, ist dieser "équilibre" der Argumente, was den Dialogue de la philosophie sceptique selbst betrifft, nicht ein bloßer Schein, da der Skeptiker bei La Mothe Le Vayer insgeheim doch weitaus besser überzeugen konnte, nicht nur weil er angesichts der Borniertheit des Dogmatikers den 'besseren Part' hat, sondern auch weil seine Gesprächsbeiträge rein quantitativ ein erdrückendes Übergewicht eingeräumt bekommen? Von den knapp 46 Seiten des Dialogue de la philosophie sceptique bestreitet der Skeptiker Ephestion knapp 41, der Dogmatiker Eudoxus jedoch nur wenig mehr als fünf Seiten. Besonders augenfällig wird das quantitative Ungleichgewicht in den großen abschließenden Plädoyers, als Ephestion auf 30 Seiten hintereinander über die Inkonstanz der 'coutume' diskurrieren kann, während der Gegenseite daraufhin gerade dreieinviertel Seiten zugestanden werden, d.h. ein Verhältnis von nahezu zehn zu eins!

Doch 'punktet' der Skeptiker nicht nur durch die Länge seiner Exkurse, sondern mehr noch durch die Borniertheit seines Gegners, der die Stärke der Argumente durch ein 'dickes Auftragen' in der polemischen Rhetorik zu ersetzen versucht und sich den Vernunftargumenten des Skeptikers verschließt. Auch Eudoxus' Schlusswort spricht nicht für seine Offenheit; es zeigt vielmehr, dass er selbst nicht zu überzeugen ist und starr bleibt; sein letztes Wort ist bezeichnenderweise "aveuglement":

Vostre chant de Syrene ne peut rien sur mon oreille, bouchée de l'authorité de ce grand Genie de la nature, ce grand Demon de toute verité, ce grand Dictateur des sages, et bref ce grand et supréme Pontife des Philosophes Aristote, aux preceptes duquel je fais gloire de souscrire, si besoin est, aveuglement. (Dialogues: 62)

Das ironische Schlusswort spricht Ephestion, der seinen Gesprächspartner nunmehr verlässt, da es dunkel wird, was für einen Blinden wie ihn freilich wohl kaum einen Unterschied mache:



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Il ne se trouva jamais de piédestal digne ny capable de soustenir une si haute, si superbe, et si magnifique statue. A Dieu aveugle desesperé, je ne m'estonne pas si vous ne craignez point la nuict qui me chasse. (Dialogues: 62)

In dieser auch symbolischen Nacht fallen alle stereotypen Negativbegriffe, mit denen der dogmatische Aristoteliker Eudoxus seinen Gegner im Laufe des Dialogs belegt hat – wie entester, insensé, extravagance, opiniastre(ment), obstiné(ment) etc. – in reichlichem Maße auf ihn selbst zurück. Denn am Dialog teilzunehmen heisst, wie bereits gesagt, sich auf das Prinzip der Skepsis einzulassen und Kritik zu akzeptieren. Der Dogmatiker Eudoxus verweigert sich hier jedoch der Kraft der Vernunftargumente, und damit auch dem Geist der Philosophie, wie auch letztlich dem Geist des Dialogs.


Bibliografie

Cioran, Émile M. (1980): Syllogismen der Bitterkeit, übers. v. K. Lorenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Frola, Nicoletta (2001): Une iconoclastie sans fureur: les Nouveaux Dialogues des Morts de Fontenelle. Paris: Champion. (Coll. Bibliothèque littéraire de la Renaissance)

Giocanti, Sylvia (2001): Penser l'irrésolution: Montaigne, Pascal, La Mothe Le Vayer. Trois itinéraires sceptiques. Paris: H. Champion.

Heinzmann, Richard (21985): "Thomas von Auqin 1224/25-1274)", in: Höffe, Otfried: Klassiker der Philosophie, Bd.1. München: Beck, 198-219.

Krauss, Werner (1971): Die Literatur der französischen Frühaufklärung. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag.

La Mothe Le Vayer, François de (1988): Dialogues faits à l'imitation des Anciens, hg. v. A. Pessel. Paris: Fayard. (Coll. Corpus des oeuvres de philosophie en langue française)

Montaigne, Michel de (1969): Essais, 3 Bd., hg. v. Alexandre Micha. Paris: Garnier Flammarion. (folio)

Pintard, René (1983): Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle. Genf: Slatkine. [1943]

Seneca, Lucius Annaeus (1993): Epistulae morales ad Lucilium / Briefe an Lucilius über Ethik (lateinisch / deutsch), hg. u. übers. von Franz Loretto. Stuttgart: Reclam.



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Salazar, Philippe-Joseph (2000): 'La divine sceptique. Éthique et rhétorique au 17e siècle autour de La Mothe Le Vayer. Tübingen: Narr.

Wickelgren, Florence L. (1934): La Mothe Le Vayer. Sa vie et son oeuvre, Paris: P. André.

Wiedemann, Uwe: www.phillex.de.

Wiedemann, Uwe: www.philosophenlexikon.de.


Anmerkungen

1 "La dette de Fontenelle envers les "libertins érudits" et, en particulier, La Mothe Le Vayer, – auteur de Dialogues faits à l'imitation des anciens (1630–31) – est communément reconnue par la critique", schreibt z.B. Frola (2001: 18).

2 Die Verurteilung der Versifikation setzt unter den 'Modernes' zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein, was aber nicht ausschloss, dass sich auch einzelne Vertreter der "Anciens" wie ihr Anführer Dacier gerade unterBerufung auf die Antike für die Prosa aussprachen; vgl. Krauss (1971: 76 ff).

3 "Singula improvidam mortalitatem involvunt, solum ut inter ista certum sit, nihil esse certi, nec miserius quicquam homine, aut superbius. "– Plinius 2. Nat. Hist. cap. 7: "Die Einzelfälle betreffen die unverhoffte Sterblichkeit, das einzige, das dabei gewiss ist, ist, dass nichts gewiss ist, und nichts unglücklicher oder anmaßender (ist) als der Mensch."

4 Ephestion weist im Folgenden nach, dass Aristoteles ebenfalls Skeptiker gewesen sei, in dem Sinne, dass er seine Aussagen mit relativierenden Einschränkungen der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit versehen und nicht wie die 'pédants' als unumstößliche Dogmen verstanden habe. (Dialogues: 20)

5 La Mothe Le Vayer nennt Montaigne zwar nicht, hat sich aber hier – ganz im Geiste des letzteren – ausgiebig und zuweilen fast wörtlich bei Montaignes Essai "De la coustume et de ne changer aisément une loy reçue" (Livre I, Chapitre XXIII) bedient.

6 La Mothe Le Vayer veröffentlichte 1640 eine Instruction de Monseigneur le Dauphin und war ab 1649 Erzieher des späteren Duc d' Orléans. Aufgrund der Opposition der Königin Anna von Österreich gegen den libertin wirkte er jedoch erst ab 1652 als Erzieher des späteren Ludwig XIV. Er verfasste zwischen 1651 und 1658 weitere pädagogische Schriften. Näheres darüber bei Wickelgren (1934).

7 "Il y a grand doute, s'il se peut trouver si evident profit au changement d'une loy receue, telle qu'elle soit, qu'il y a de mal à la remuer, d'autant qu'une police, c'est comme un bastiment de diverses pieces jointes ensemble, d'une telle liaison, qu'il est impossible d'en esbranler une que tout le corps ne s'en sente." (Montaigne, I, 1969: 166)

8 Eine polemische Anspielung auf Montaignes bekannten Essai III, 2 "Du repentir", in dem das Schwanken aller Dinge auch die Wahrnehmung des Gegenstandes durch den Autor einschließt: "Je ne puis asseurer mon object. Il va trouble et chancelant, d'une yvresse naturelle."

9 Es sei hier angemerkt, dass die Debatte, ob Skeptizismus zu Seelenruhe oder vielmehr zur Beunruhigung führt, noch heute keineswegs abgeschlossen ist. Ersteres bestritt in neuerer Zeit z.B. E. M. Cioran, der dies u.a. in dem Diktum ausdrückte, die Skepsis sei die Eleganz der Angst. (Cioran 1980: 17)

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