PhiN 21/2002: 16



Julian Kücklich (München)



"The Floating Eye of the Crowd": Medialität in Don DeLillos Mao II



"The Floating Eye of the Crowd": Mediality in Don DeLillo's Mao II
Ten years after its publication, Don DeLillo's Mao II still puzzles its audience. Even though relatively short in comparison to other novels by DeLillo, most readers feel that the complexity of Mao II defies superficial attempts to grasp its various meanings. The following discussion will attempt a close reading of the novel in order to analyse some of its main motifs and the relation between them: perception and masses, individual and society, and identity and the media. The starting point is the observation that DeLillo's novel reacts to the postmodern dilemma of irony.



1 Einleitung

Zehn Jahre nach seinem Erscheinen gibt Don DeLillos Roman Mao II seinen Lesern immer noch Rätsel auf.1 Zwar ist der Text mit weniger als 250 Seiten Umfang weit weniger monumental angelegt als DeLillos 1997 publizierter Roman Underworld, doch er zeichnet sich dafür durch eine Vielschichtigkeit aus, die beim Leser nach der ersten Lektüre den Eindruck hinterlässt, nur an der Oberfläche gekratzt zu haben. Mao II fordert also zum erneuten und genaueren Lesen heraus. Die vorliegende Untersuchung stellt den Versuch dar, auf der Grundlage eines solchen close reading einige Leitmotive des Romans zu analysieren. Diese Themen lassen sich zunächst einmal grob anhand der Schlagwörter Masse und Wahrnehmung, Individualität und Gesellschaft sowie Medien und Identität skizzieren.

Ein weiteres Argument gegen die theoretische Überfrachtung einer Untersuchung von Mao II liegt darin begründet, dass Don DeLillo sorgfältig darauf geachtet hat, einige Spuren im Text zu hinterlassen, die übereifrige Interpreten auf die falsche Fährte, wenn nicht gar in die Falle, locken sollen. So kann es beispielsweise kaum ein Zufall sein, mit welcher Hartnäckigkeit der Begriff der "Aura" den medientheoretisch interessierten Leser verfolgt, nur um sich mit einem Mal zu verflüchtigen und den Leser mit Fragen zurückzulassen, die der Roman nur aufzuwerfen vorgibt. Es soll hier jedoch nicht darum gehen, Mao II als enigmatisches Labyrinth zu verklären und erst recht nicht um die Frage, was sich der Autor dabei möglicherweise gedacht habe. Obwohl dieser Roman auf mehreren Ebenen operiert, bleibt es natürlich in letzter Instanz dem Leser überlassen, wie weit er sich auf den Text einlässt. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich bei der vorliegenden Untersuchung um einen Versuch, sich möglichst weit "vorzuwagen", den Text "auszuloten", ihn vielleicht gar zu "durchleuchten". Das Tentative dieser Metaphern soll deutlich machen, dass es mir damit ernst ist, den Text ernst zu nehmen. Die Vorstellung, den Roman zu "sezieren", ist mir hingegen widerwärtig, auch wenn sich ein solches Vorgehen scheinbar mühelos in die oben skizzierte Versuchsanordnung einreihen ließe.




PhiN 21/2002: 17


Die Schwierigkeiten bei der Definition dessen, was ich unter einem Versuch verstehe, sind symptomatisch dafür, dass es kaum Begriffe gibt, die theoretisch "unvorbelastet" sind. Und obwohl es wohl kaum Sinn hat, sich über diesen Verlust der Unschuld zu beschweren und eine adamitische Wissenschaftssprache einzuklagen, erfordert es meine Themenstellung, diese Situation zu thematisieren. Ich befinde mich dabei in der paradoxen Lage, dass ich das Bewusstsein dafür, wie problematisch scheinbar unvorbelastete Begriffe werden können, der Beschäftigung mit (medien)theoretischen Konzepten verdanke. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang die Systemtheorie zu nennen, deren Begründer ja bekanntlich mit dem Anspruch angetreten sind, eine "Universaltheorie" zur Verfügung zu stellen; ein Epistem, das in sämtlichen Bereichen des menschlichen Wissens Gültigkeit beanspruchen darf. Die Vorgehensweise der Systemtheorie, basale Differenzen zu postulieren, die dann immer weiter ausdifferenziert werden, ist durchaus als Erfolgsgeschichte zu betrachten, insbesondere da die Entwicklung der Theorie ihre eigenen Postulate zu bestätigen scheint. Dies führt jedoch auf epistemologischer Ebene in eine aporetische Situation, da diese tautologische "Letztbegründung" die kritische Betrachtung der zugrunde liegenden Basaldifferenzen mit fortschreitender Ausdifferenzierung in immer weitere Ferne rückt.

Für die systemtheoretische Medientheorie, die auf der basalen Differenz von Bewusstsein und Kommunikation fußt, ist dieses Dilemma geradezu existenzbedrohend, da ja auf der ontologischen "Null-Ebene" keine weitere Differenzierung möglich ist, so dass Medien dort nicht verortet werden können. Medien gehören jedoch auch keinesfalls vollständig dem System Kommunikation bzw. dem System Bewusstsein an, was dazu führt, dass Medien immer nur kommunikationsseitig bzw. bewusstseinsseitig betrachtet werden können. Ich führe dies nur deshalb so ausführlich an, weil die Themenstellung der vorliegenden Arbeit für eine Bearbeitung mit dem Instrumentarium einer fortentwickelten Systemtheorie prädestiniert scheint. Zum Zeitpunkt der Niederschrift sind zwar bereits Versuche2 unternommen worden, die Kategorie des "Medialen" in einem systemtheoretischen Rahmen auf einer niedrigeren Ontologieebene anzusiedeln, jedoch sind diese Ansätze noch lange nicht operationalisierbar. Nicht zuletzt deshalb erscheint es mir gerechtfertigt, einen Medienbegriff zu verwenden, dessen theoretische Fundierung bis auf weiteres noch aussteht.

Mao II ist Anfang der Neunzigerjahre veröffentlicht worden und gehört somit literaturgeschichtlich einer Epoche an, die in der Literaturwissenschaft als (Spät-)Postmoderne bezeichnet wird. Dieser Befund lässt sich ohne weiteres phänomenologisch untermauern, etwa durch Textbelege, Vergleiche mit anderen Werken dieser Epoche und nicht zuletzt durch die Lektüre der umfangreichen Sekundärliteratur. Ich möchte jedoch an dieser Stelle eine Arbeitshypothese formulieren, die im weiteren genauer zu prüfen sein wird: Don DeLillos Mao II ist ein Roman, der in vielem über die Postmoderne hinausweist und in nuce bereits Elemente einer Literatur der neuen Ernsthaftigkeit in sich trägt. Nun ist diese These in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen ist das Ende der Postmoderne bereits mehrfach verkündet worden, was zu eher skurrilen Epochenbezeichnungen wie "Post-Postmoderne", "Metamoderne" und "Hypermoderne" geführt hat, und zum zweiten ist es gerade eines der Kennzeichen des Begriffs Postmoderne, dass er ganz verschiedene Richtungen, Strömungen und Schulen in sich vereint. Es könnte sich also als fatal erweisen, einen womöglich kurzlebigen Trend als neue Epoche anzukündigen, ohne diese Distinktion argumentatorisch untermauern zu können.

Es ist daher unvermeidlich, meine Arbeitshypothese noch einmal umzuformulieren und zwar möglichst so, dass sie ganz ohne einen Rückgriff auf literaturgeschichtliche Epochenbezeichnungen auskommt. Als Surrogat für den Begriff Postmoderne bietet sich "Ironie" an. Zwar lässt sich die Behauptung, Ironie sei das postmoderne Stilmittel schlechthin, wohl kaum aufrecht erhalten – als Konkurrenten wären in diesem Zusammenhang neben der Antike sicher auch die Romantik sowie bestimmte Strömungen des fin de siècle zu nennen – doch die Postmoderne ist sicherlich diejenige Epoche, in der die Ironie zum "Lebensgefühl" breiter Gesellschaftsschichten avanciert ist. Die "Verfallsgeschichte" der Ironie hat wohl kaum einer so treffend zusammengefasst wie David Foster Wallace. In seinem Essay E Unibus Pluram: Television and US Fiction schreibt Wallace:




PhiN 21/2002: 18


So then how have irony, irreverence, and rebellion come to be not liberating but enfeebling in the culture today's avant-garde tries to write about? One clue's to be found in the fact that irony is still around, bigger than ever after thirty long years as the dominant mode of hip expression. It's not a mode that wears especially well. [...] This is because irony, entertaining as it is, serves an exlusively negative function. It's critical and destructive, a ground-clearing. [...] But irony is singularly unuseful when it comes to constructing anything to replace the hipocrisies it debunks. [...]
Most likely, I think, today's irony ends up saying: "How very banal to ask what I mean." (Wallace 1993: 163)

Ich zitiere diese Stelle nicht nur deshalb so ausführlich, weil Wallace diesen "Irony's Aura" betitelten Abschnitt seines Essays mit einem Zitat aus Don DeLillos White Noise beschließt – es handelt sich natürlich um die vielzitierte Szene vor America's most photographed barn – sondern auch aus dem Grund, dass die Fragen, die Wallace hier aufwirft, auch in Mao II zentral sind. Es spielt insofern keine Rolle, ob Mao II ein postmoderner oder ein post-postmoderner Roman ist, wichtig ist, dass DeLillo in diesem Buch darüber Rechenschaft ablegt, welche gesellschaftliche Rolle einem Schriftsteller im Amerika des ausgehenden 20. Jahrhunderts zukommt und welche Verantwortung damit einher geht. Damit verbindet sich ein Bekenntnis dazu, die Bedeutung des Textes bzw. die Intention des Autors nicht länger als "banal" abzutun, wie es David Foster Wallace in seinem Essay beschreibt. Die Ironie und ihre hypertrophe Form, der Zynismus, haben sich in der Welt, die Mao II schildert, längst der Massenmedien und der Politik bemächtigt. Die Figur des Bill Gray stellt eine Möglichkeit dar, diesem Zynismus zu begegnen, die der Situation, die Wallace in E Unibus Pluram darstellt, sehr nahe kommt. Und Wallace schildert auch eine weitere Möglichkeit, mit der um sich greifenden Ironisierung der Welt fertig zu werden: "One obvious option is for the fiction writer to become reactionary, fundamentalist" (ebenda). Don DeLillo wendet diese metaphorische Überreaktion des Schriftstellers in Mao II ins Konkrete: nicht umsonst heißt es dort: "There's a curious knot that binds novelists and terrorists." Vor diesem Hintergrund sollte klar geworden sein, dass es nicht darum gehen soll und nicht darum gehen kann, den Bezug von Mao II zur literarischen Postmoderne zu untersuchen, sondern vielmehr darum zu analysieren, welchen Ausweg aus der "Ironiefalle" DeLillo in Mao II aufzeigt.

2 Mediale Darstellungen der Katastrophe

Der erste Fragenkomplex, mit dem ich mich im folgenden beschäftigen möchte, ist dem Zusammenhang zwischen medialen Darstellungen katastrophaler Ereignisse und dem damit einhergehenden apokalyptischen Weltbild gewidmet. Zwischen diesen beiden Phänomenen lässt sich sicherlich keine einfache Kausalitätsbeziehung postulieren, vielmehr handelt es sich um ein ganzes Bündel gegenseitiger Abhängigkeiten, Polaritäten und Interferenzen, die auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Um diese vielfältigen Relationen genauer betrachten zu können, ist es jedoch unabdingbar, näher zu bestimmen, in welchem Sinn der Begriff "Medium" im folgenden zu verstehen ist. Es ist weiter oben bereits erwähnt worden, dass es m. E. notwendig ist, eine Kategorie des "Medialen" auf einer basalen ontologischen Ebene zu etablieren. Dies ohne Verweise auf die ohnehin spärliche theoretische Literatur zu diesem Thema näher zu erläutern, wäre ein schier aussichtsloses Unterfangen, wenn ich mich nicht dadurch absichern würde, dass ich das hier zugrunde gelegte Modell lediglich als Skizze verstanden wissen will. Eine theoretisch "saubere" Darlegung der Implikationen, die sich aus dem hier skizzierten Modell ergeben, würde den Rahmen dieser Untersuchung bei weitem sprengen, zumal sie ja auf ein theoretisches Fundament explizit verzichtet. Dieser heuristische Ansatz bringt den Vorteil mit sich, das Modell "polykontextural" einsetzen zu können, d.h. es den Erfordernissen der einzelnen Fragestellungen gemäß modifizieren zu können. Die Kehrseite dieser Freiheit besteht – neben den damit verbundenen Einbußen an auctoritas – in der Verpflichtung, diese Vorgehensweise ständig kritisch danach zu hinterfragen, ob sie den an sie gestellten Anforderungen gewachsen ist. In der Hoffnung, dass diese Bedingungen nachvollziehbar und akzeptabel sind, möchte ich dazu übergehen, das Verständnis von Medialität darzustellen, das dieser Untersuchung zugrunde liegt.




PhiN 21/2002: 19


Die erste Differenzierung, die nötig ist, um den hier verwendeten Begriff von Medialität zu verstehen, besteht in einer Abgrenzung dieses medialen Konzepts von dem "technischen" Medienbegriff der Informationstheorie und Kommunikationswissenschaft. Statt von einem klassischen Kommunikationsmodell, in dem ein Sender eine Botschaft über einen Kanal an einen Empfänger überträgt, geht das hier vorgestellte Konzept von einem kontextabhängigen Medienbegriff aus, der es zulässt, verschiedene Grade von Medialität zu unterscheiden. Der vielleicht augenscheinlichste, wenn auch eigentlich triviale Unterschied zu einem technischen Medienbegriff besteht wohl darin, dass Medialität keine Übertragung von Informationen von Ort zu Ort bzw. von Sender zu Empfänger voraussetzt. Medialität setzt lediglich Kommunikation und Bewusstsein voraus, jedoch nicht in dem Sinne, dass Kommunikation Verbindungen von einem Bewußtsein zu anderen herstellt. Es erscheint mir sinnvoll, das Konzept der strukturellen Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein aus der Systemtheorie zu übernehmen, um hervorzuheben, dass Kommunikation und Bewusstsein, als elementare ontologische Kategorien verstanden, keinen "Zugang" zueinander haben und dass Medien diesen Zugang auch nicht ermöglichen können. Der Begriff der strukturellen Kopplung geht vielmehr von einer gewissen Strukturaffinität zwischen Kommunikation und Bewusstsein aus, die zu Synchronizitätseffekten führt, wie man sie etwa aus der Quantenphysik kennt.

Welche Rolle spielen nun Medien in diesem Zusammenhang? Und wie kann trotz der gewaltigen Differenzen zwischen dem hier vorgestellten Medienbegriff und Konzeptualisierungen technischer Medien vermittelt werden, um diesen für die Analyse jener operationalisierbar zu machen? Mein Verständnis von Medialität basiert auf der Annahme, dass Medien aus einer Störung der strukturalen Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation entstehen. Zwar stellt es eine fahrlässige Vereinfachung dar zu sagen, dass Medien "Symptome" dafür sind, dass bestimmte Bewusstseinsinhalte nicht kommunikativ verarbeitet werden können, doch als Annäherung an den Sachverhalt ist diese "naive" Vorstellung sicher hilfreich. Trotzdem muss an dieser Stelle mit aller Eindringlichkeit darauf hingewiesen werden, dass ein "Transport" von Bewusstseinsinhalten über die Kommunikation in diesem Modell nicht vorgesehen ist, so wie überhaupt die Frage nach den Inhalten von Kommunikation und Bewusstsein nur unter Vorbehalt gestellt werden kann. Fürs erste kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Entstehung und Entwicklung von Medien symptomatisch für eine Diskrepanz zwischen dem Denkbaren und dem Sagbaren ist, unabhängig davon, ob diese Möglichkeitsformen konkretisiert werden können oder nicht. Betrachtet man die Entwicklung des Mediums Sprache, leuchtet dieses Konzept unmittelbar ein: einem Überschuss an Bewusstseinszuständen steht ein Mangel an Kommunikationszuständen gegenüber. Da dieser osmotische Druck nicht direkt ausgeglichen werden kann, bildet sich in der Umgebung der beiden Systeme eine "Atmosphäre", in der sich das Medium Sprache auskristallisiert. Der dadurch bedingte Verlust an Entropie führt in Kommunikation und Bewusstsein zu einer strukturellen Reorientierung, bei der gleichzeitig diejenigen Komplexe entstehen, die landläufig als die "Formen" des Mediums bezeichnet werden.

Die Frage danach, welches Medium sich zuerst herausgebildet hat, ist in diesem Zusammenhang unerheblich, obwohl es hilfreich sein kann, sich die mediale Entwicklung als eine Ausdifferenzierung des Mediums "Sinn" vorzustellen. Gleichermaßen unerheblich ist die Frage, ob dieses Konzept den Satz des ausgeschlossenen Dritten aushebelt oder ob es sich bei Medialität um ein "echtes Drittes" handelt, obwohl diese Überlegungen natürlich sehr reizvoll sind. Hier soll es jedoch lediglich darum gehen, wie dieser Medienbegriff für die Untersuchung "technischer" Medienzusammenhänge nutzbar gemacht werden kann. Der Schlüssel dazu liegt m.E. in der Handhabung des Begriffs Medialität. Im folgenden möchte ich versuchen, diesen Begriff als Beschreibungskategorie fiktionaler Situationen zu etablieren, wobei natürlich betont werden muss, dass sein Anwendungsbereich weit über diese Operationalisierung hinausreicht. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass es bei einer Untersuchung der Medialität im Bereich der Literatur nicht damit getan sein kann aufzuzählen, welche Medien ein gegebener Text nennt, beschreibt oder nachahmt. Vielmehr muss sich eine solche Analyse damit befassen, die Strukturaffinitäten bzw. -diskrepanzen zwischen Kommunikations- und Bewusstseinszuständen zu beschreiben und die Frage zu stellen, welche Rolle Medien in diesem Zusammenhang einnehmen.




PhiN 21/2002: 20


Bevor ich versuche, dies am Beispiel von Mao II vorzuexerzieren, muss ich jedoch noch einmal darauf hinweisen, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, bei dem neben vielen anderen Unsicherheitsfaktoren vor allem das Fehlen einer stringenten Terminologie zu nennen ist. Und obwohl ich mich bemühen werde, meine Verwendung der entsprechenden Begriffe nachvollziehbar zu machen, muss klar sein, dass der Rahmen dieses Essays zu eng ist, um zu der verwendeten Terminologie detaillierte Definitionen zu liefern.

Der oben skizzierte Zusammenhang zwischen Bewusstseins- und Kommunikationszuständen wird wohl am ehesten an einem konkreten Beispiel verständlich. Zu diesem Zweck wende ich mich dem bereits angesprochenen Themenkomplex "Mediale Gewalt und apokalyptisches Weltbild" zu. Dieses Problem wird in Mao II auf verschiedenen Ebenen verhandelt, deren erste das egozentrische Weltbild Bill Grays bildet. Bills Assistent Scott fasst diese Perspektive beim gemeinsamen Abendessen mit Brita und Karen konzise zusammen:

Bill has the idea that writers are being consumed by the emergence of news as an apocalyptic force. [...] The novel used to feed our search for meaning. Quoting Bill. It was the great secular transcendence. The Latin mass of language, character, occasional new truth. But our desperation has led us toward something larger and darker. So we turn to the news, which provides an unremitting mood of catastrophe. This is where we find emotional experience not available elsewhere. We don't need the novel. Quoting Bill. We don't even need catastrophes, necessarily. We only need the reports and predictions and warnings. (72)

Offensichtlich hängt dieses düstere Bild unmittelbar mit Bill Grays Ansicht zusammen, dass "bomb-makers" und "gunmen" das angestammte Territorium der Schriftsteller übernommen haben. Es ist naheliegend anzunehmen, dass der "curious knot that binds novelists and terrorists" (41) genau in der Katastrophe besteht, die den medial vermittelten Nachrichten laut Bill ihre apokalyptische Wucht verleiht. Es muss wohl nicht eigens darauf hingewiesen werden, dass der Begriff Katastrophe (im Sinne von griech. katastrophé – "Umkehr, Wendung") der Dramentheorie entlehnt ist, um diesen Zusammenhang zu begreifen, es schärft jedoch den Blick dafür, mit welcher Präzision DeLillo seine Worte wählt. Denn die Situation des Fernsehzuschauers, dem über die Nachrichten eine "unremitting mood of catastrophe" vermittelt wird, entspricht ja in vielem der des Publikums einer Tragödie, das seinen Wissensvorsprung vor dem Protagonisten als dramatische Ironie empfindet. Die Ironie des Fernsehens ist hingegen von anderer Natur: Die Nachrichtenempfänger verfügen über keinen Wissensvorsprung vor den anonymen Opfern der Katastrophe, doch er wird ihnen suggeriert. Denn der vorherrschende Topos der Fernsehberichterstattung sind nicht die "reports and predictions and warnings", sondern die Aufklärung, d.h. die nachträgliche Herstellung eines Kausalzusammenhangs zwischen den "Ursachen" und dem "Ergebnis".

Diese Technik weist Ähnlichkeiten mit Bill Grays paranoider Zuschreibung auf, dass Schriftsteller von der apokalyptischen Kraft der Nachrichten verzehrt werden. Diese Zuschreibung ist jedoch wiederum ein Ergebnis der medialen Isolation in der Bill lebt. "Mediale Isolation" bezeichnet dabei nicht nur eine Situation, in der Nachrichten und andere Botschaften aus der Außenwelt den Schriftsteller nur auf Umwegen erreichen – der Fernseher beispielsweise steht in Karens Zimmer, die Nachricht seines Verlegers wird von Brita überbracht –, sondern auch die monomanische Fixierung auf seinen unvollendeten Roman, der ihm als Medium der Selbstreflexion dient. Dass dieses Medium im kommunikationswissenschaftlichen Sinn keinen "Empfänger" hat, ist dabei von geringerer Bedeutung als die Tatsache, dass hier eine Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Kommunikation in nuce vorliegt, die Bills Überhöhung der Wirkmächtigkeit anderer Medien nachvollziehbar macht. Die Verzweiflung, die er angesichts dieser "apocalyptic force" fühlt, überträgt er auf die Menschheit als Ganzes – "our desperation has led us toward something larger and darker" – doch seine "Lösung" dieses Dilemmas besteht in seiner ganz persönlichen Entscheidung, als Vermittler zwischen dem Komitee seines Verlegers und den libyschen Terroristen zu vermitteln. Die Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Kommunikation "gebiert" also ein neues Medium – den Emissär Bill Gray.




PhiN 21/2002: 21


Wie Personen in Mao II zu Medien werden, wird später noch genauer erörtert werden, zunächst soll es jedoch darum gehen, die verschiedenen Ebenen herauszupräparieren, auf denen das von Bill Gray postulierte apokalyptische Weltbild mit medialen Darstellungen korrespondiert. Obwohl die literarische Person Bill Gray kaum mit seinem Schöpfer Don DeLillo identifiziert werden kann, dient Bill als Projektionsfläche des Autors, auch wenn seine Züge dort sicher verzerrt wiedergegeben werden. Die Aussage Bills beispielsweise, dass er einst der Ansicht war, Schriftsteller hätten die Möglichkeit "the inner life of the culture" (41) zu verändern, muss in diesem Sinne als überpersönliches Statement ernst genommen werden. Dies gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass Mao II ja auch ein Roman über die Stellung des Schriftstellers in der Gesellschaft ist und von daher zwangsläufig autobiografische Elemente enthält. Allerdings soll diese Parallele nicht überstrapaziert werden, doch die Analogie trägt hoffentlich dazu bei, die Überlagerung zweier Perspektiven im Blick Bill Grays herauszuarbeiten. Die erste dieser beiden Perspektiven ist der radikal egozentrische Blick, dessen Monomanie in dem oben angeführten Zitat gerade durch Scotts nüchternen Vortrag entlarvt wird. Die zweite Perspektive besteht in der Identifizierung Bills mit "the novelist". Es handelt sich also um eine metonymische Überhöhung der Figur des Schriftstellers, mit der Bill meist von außen konfrontiert wird. Typisch für diese Sicht ist ein Dialog aus dem Gespräch Bills mit seinem Verleger Charlie:

"You have a twisted sense of the writer in society. You think the writer belongs at the far margin, doing dangerous things. [...] And this has always been your idea of what it ought to be. The state should want to kill all writers. Every government, every group that holds power or aspires to power should feel so threatened by writers that they hunt them down, everywhere."
"I've done no dangerous things."
"No. But you've lived out your vision anyway."
"So my life is some kind of simulation." (97)

Die hier angesprochene "Simulation" bezieht sich natürlich nicht nur darauf, dass es Bill Gray tatsächlich gelungen ist, sich zum "hunted man" zu stilisieren, sondern auch darauf, dass Bill die Wahrnehmung seiner Person als Außenseiter akzeptiert, augenscheinlich bloß aus dem Grund, dass es "einfacher" erscheint, diese Zuschreibung hinzunehmen als sich dagegen aufzulehnen. Paradoxerweise führt dieser Weg des geringsten Widerstands direkt in die aporetische Situation, in der sich Bill Gray zu Beginn des Romans befindet: Nachdem sein neues Buch aus Gründen der Publicity jahrelang zurückgehalten wurde, ist der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit so hoch, dass eine tatsächliche Veröffentlichung nur eine Enttäuschung werden könnte. Und obwohl Bill an diesem Dilemma sicher nicht ganz unschuldig ist, ist es wohl in erster Linie seinem "Image" zuzuschreiben, der Art und Weise also, wie er wahrgenommen wird. Es ist in gewisser Weise charakteristisch für Bill Gray, dass er den Doppelsinn des Wortes image nicht erkennt und sich durch ein Bilderverbot vor der Wahrnehmung der anderen zu schützen versucht, bis diese Illusion schließlich durch den Auftritt der Fotografin Brita Nielsen zerstört wird.

Bill Gray ist also nicht nur eine Projektionsfigur Don DeLillos, sondern in einem weit höheren Maße auch eine Projektionsfigur für die anderen Personen des Romans. Bei einem Abendessen mit Bill und seinem Verleger wendet George Haddad, der "Sprecher" der libyschen Terroristen dieselbe Technik an wie Charlie:

"[I]sn't it the novelist, Bill, above all people, above all writers, who understands this rage, who knows in his soul what the terrorist thinks and feels? Through history it's the novelist who has felt affinity for the violent man who lives in the dark. Where are your sympathies? With the colonial police, the occupier, the rich landlord, the corrupt government, the militaristic state? Or with the terrorist? And I don't abjure that word even if it has a hundred meanings. It's the only honest word to use." (130)




PhiN 21/2002: 22


Vor dem Hintergrund dieser Zitate wird deutlich, warum Bill so geeignet ist für seine Rolle als Emissär, als Vermittler, als Medium – oder warum er in diese Rolle gedrängt wird. Es wird aber auch klar, dass der Schriftsteller Bill Gray in einen politischen Kontext eingebettet ist, in dem klare Unterscheidungen zwischen konservativen und radikalen Positionen abhanden gekommen oder obsolet geworden sind. Dies ist der andere, umfassendere Zusammenhang, in dem das in Mao II präsentierte apokalyptische Weltbild gesehen werden muss, ein Zusammenhang, der mit dem Topos vom "Ende der Geschichte" grob umrissen werden kann. Bereits im Prolog "At Yankee Stadium" heißt es in einer Beschreibung des Führers der Moon-Sekte: "This is a man who lived in a hut made of army ration tins and now he is here, in American light, come to lead them to the end of human history." (6)

Es ist klar, dass mit dem Ende der Geschichte, der "narrative every culture needs in order to survive" (162), auch der Erzähler überflüssig wird. Es muss also angenommen werden, dass das Weltbild Bill Grays zumindest teilweise auf der Ahnung basiert, dass Schriftsteller eine vom Aussterben bedrohte Art sind. Die terroristische Bedrohung, die er empfindet, kann in diesem Kontext als Menetekel des dräuenden Endes der Geschichte gelesen werden. Denn während Geschichte immer gelesen und gedeutet werden kann, ergibt der posthistorische Terror für Außenstehende keinen Sinn, weil er nur seiner eigenen fanatischen Logik gehorcht. In dieser Situation der Kontingenz, der völligen Aufhebung der Verbindlichkeit von Zeichen und Symbolen, befindet sich beispielsweise Brita, die von sich sagt:

"[T]here is no moment on certain days when I'm not thinking terror. They have us in their power. In boarding areas I never sit near windows in case of flying glass. I carry a Swedish passport [...] And I use codes in my address book for names and addresses of writers because how can you tell if the name of a certain writer is dangerous to carry, some dissident, some Jew or blasphemer. I'm careful about reading matter. Nothing religious comes with me, no books with religious symbols on their jacket and no pictures of guns or sexy women." (41)

Dies klingt nach einem weiteren paranoiden System der Bedeutungs- zuschreibung, aber es ist gleichzeitig die andere, überpersönliche Seite von Bills Weltbild, in dem "novelists" und "terrorists" auf merkwürdige Weise miteinander verbunden sind. Tatsächlich verbindet Bill Gray aber viel mehr mit dem jungen Schweizer Schriftsteller, der von den libyschen Terroristen in Beirut als Geisel gefangen gehalten wird, und von dem es heißt: "There was no sequence or narrative or one day that leads to another" (109). Die Ähnlichkeiten zwischen dem Schriftsteller und der Geisel sind offensichtlich. Nicht nur leben beide – freiwillig oder gezwungenermaßen – in nahezu totaler Isolation, ihr Tagesablauf ist auch von einer an Monotonie grenzenden Regelmäßigkeit gekennzeichnet, deren jede Störung einen Verlust an Verlässlichkeit und Sinn bedeutet: "The boy forgot to replace the hood after meals, he forgot the meals, the boy was the bearer of randomness. The last sense-making thing, the times for meals and beatings, was in danger of collapse." (110). Zudem sind beide auf das Hilfsmittel des Schreibens angewiesen, um ihre Identität, ihr In-der-Welt-Sein aufrechtzuerhalten: "He wanted paper and something to write with, some way to sustain a thought, place it in the world." (110) Diese Ähnlichkeiten sind jedoch rein akzidentiell. Die substantielle Gemeinsamkeit zwischen den beiden Schriftstellern ist die Vorstellung Bills, dass der Massenterror – also die posthistorische Gesellschaft, wenn man so will – ihren Ausgangspunkt in einer einzelnen Geiselnahme hat:

"The point of every closed state is now you know how to hide your dead. This is the setup. You predict many dead if your vision of the truth isn't realized. Then you kill them. Then you hide the fact of the killing and the bodies themselves. This is why the closed state was invented. And it begins with a single hostage, doesn't it? The hostage is the miniaturized form. The first tentative rehearsal of mass terror." (163)




PhiN 21/2002: 23


Wiederum verblüfft die Präzision der Wortwahl DeLillos. "Closed state" kann sich ja nicht nur auf einen isolierten Staat, sondern auch auf einen abgeschlossenen Zustand beziehen, einen Zustand der totalen Entropie. Die Worte Bill Grays können also genauso als die Geschichte seiner eigenen "Entführung" gelesen werden – die Essenz der unzähligen Artikel über Bill, die sich in seinem Keller stapeln: "There were stacks of magazines and journals containing articles about Bill's work and about his disappearance, his concealment, his retirement, his alleged change of identity, his rumored suicide, his return to work, his work-in-progress, his death, his rumored return." (31) Diese alternativen Versionen seines Lebens können durchaus als die Toten betrachtet werden, die seine "vision of the truth" das Leben gekostet hat, als die potenziellen Bill Grays, die dem Projekt der Vervollkommnung seines Romans geopfert wurden.

Die vergessenen Toten sind das Thema, das Bill Grays Leben durchzieht. Schließlich endet auch er als anonyme Leiche in einer Schiffskabine, ohne Pass und ohne Papiere, "anything with a name and a number" (217). Für ihn selbst bestätigt sich also die Vorstellung, dass das Ende der Geschichte mit einer einzigen Geisel anfängt. Das anonyme Sterben – dessen Symbol das Massengrab ist – ist das Kennzeichen der posthistorischen Gesellschaft. Denn eine Gesellschaft, die ihrer Toten nicht mehr gedenken kann, ist eine Gesellschaft ohne Geschichte.

3 Der Einzelne und die Masse

Bills Geschichte erzählt also vom Ende der Geschichte; und dennoch ist die Geschichte – der Roman – damit noch nicht zu Ende. Die letzten beiden Kapitel schildern die Zeit nach Bills Tod aus der Perspektive von Scott und Karen sowie von Brita, den so wichtigen Nebenfiguren dieses Romans. Im vorangehenden Kapitel habe ich versucht, die Geschichte von Bill Grays "Erlösung" in einem medialen Kontext nachzuzeichnen, und ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass eine solche Betrachtungsweise zum Verständnis der vielfältigen Ebenen, auf denen Mao II operiert, beitragen kann. Im folgenden soll es hingegen um den anderen Kontext gehen, in den Bill eingebettet ist, die Beziehungen zu Scott, Karen und Brita. Im Vordergrund steht dabei die Beantwortung der Frage, auf welche Weise Personen in Mao II als Medien fungieren und welche Beschreibungskategorien dazu zur Verfügung stehen. Des weiteren versuche ich zu analysieren, wie der Konflikt zwischen Individuum und Masse im medialen Gesamtzusammenhang des Romans verortet werden kann. Dabei kommt es zwangsläufig zu Überschneidungen mit dem bereits behandelten Themenkomplex "Mediale Gewalt und apokalyptisches Weltbild" sowie mit dem Thema "Masse und Wahrnehmung", das im folgenden Kapitel diskutiert werden soll. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass diese Wiederholungen dem Verständnis der gesamten Untersuchung dienen und nicht als redundant empfunden werden.

Im letzten Kapitel – nach Bills Tod – erfährt der Leser, dass Brita ihr Projekt, Schriftsteller zu fotografieren, aufgegeben hat: "She does not photograph writers anymore. It stopped making sense." Dies scheint Bills schlimmste Befürchtungen über das Aussterben der Spezies Schriftsteller zu bestätigen – "Do you know what they like to do best? Run those black-border ads for dead writers." (47) – doch es bestätigt auch, die Aussichtslosigkeit einer Arbeit, die der Erhaltung von Individualität im Zeitalter der Massen gewidmet ist. Das Gegenbild, das "Negativ" zu Britas Sammlung von Porträts ist natürlich der Siebdruck Andy Warhols mit dem Titel Crowd: "The image was irregular, deep streaks marking the canvas, and it seemed to him that the crowd itself, the vast mesh of people, was being riven by some fleeting media catastrophe." (21) Allerdings zeigt sich im Gespräch zwischen Scott und Brita, dass sie mit ihrem Projekt dazu beiträgt, die Ära des Schriftstellers zu Ende zu bringen:

"And what happens ultimately to your pictures of writers as a collection?"
"Ultimately I don't know. People say some kind of gallery installation. Conceptual art. Thousands of passport-sized photos. But I don't see the point myself. I think this is a basic reference work. It's just for storing. Put the pictures in the basement of some library." (26)

Es geht also in letzter Instanz darum, die Schriftsteller unter die Erde zu bringen – "A portrait doesn't begin to mean anything until the subject is dead" (42) – oder in Bills zynischer Diktion: "to make writers harmless." (47) Die Gegenüberstellung der beiden Medien dient jedoch weniger dazu, Schriftsteller als Repräsentanten einer im Schwinden begriffenen Individualität zu charakterisieren, als vielmehr darum, Schreiben als das Medium von Individualität darzustellen. Dies wird vor allem dort deutlich, wo Schreiben mit menschlichen Ausscheidungen in Verbindung gebracht wird: "the scant drip, the ooze of speckled matter, the blood sneeze, the daily pale secretion, the bits of human tissue sticking to the page." (29)




PhiN 21/2002: 24


Der Körper fungiert in diesem Zusammenhang als eine Metapher der Individualität, einer Individualität, die im Prozess des Schreibens entäußert wird. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum der Verlust der gesellschaftlichen Rolle des Schriftstellers so eng mit seinem Tod assoziiert wird. Der Schriftsteller, der sich nicht mehr äußern kann, der seine Individualität nicht mehr in die Welt bringen kann, ist in diesem Verständnis so gut wie tot. Dass der Kellerraum, in dem Bills Manuskripte aufbewahrt werden, als Grabgewölbe geschildert wird, passt sehr gut in dieses Bild und betont zugleich noch einmal das Selbstverständnis Bills, sich als die Geisel zu sehen, deren Gefangennahme die Keimzelle des Massenterrors bildet: "This was the holy place, the inner book, long rows of typewriter bond buried in a cellar in the bleak hills." Und Bill stellt schließlich auch die Beziehung her zwischen Britas "species count" (26) und seinem eigenen Weltbild, in dem Schriftsteller von den Nachrichten "verzehrt" werden:

"This is why you travel a million miles photographing writers. Because we're giving way to terror, to news of terror, to tape recorders and cameras, to radios, to bombs stashed in radios. News of disaster is the only narrative people need. The darker the news, the grander the narrative. News is the last addiction before–what? I don't know. But you're smart enough to trap us in our camera before we disappear." (42)

Als Medium der Individualität wird Schreiben hier dem Medium der Fotografie gegenübergestellt. Dabei figuriert die Fotografie paradoxerweise zugleich als ein Mittel der Erhaltung von Persönlichkeit wie auch als Strategie der Zerstörung von Individualität. Das der Fotografie inhärente "Gesetz der Serie" bedingt dieses Paradox, da das einzelne Foto immer nur ein Ausschnitt aus einer größeren Menge von Bildern ist, sowohl innerhalb einer Serie von Fotos einer Person, als auch im Zusammenhang mit den Porträts anderer Personen, die wiederum nur Ausschnitte aus den Serien darstellen, denen sie entstammen. Dies soll jedoch an dieser Stelle nur am Rande angemerkt werden, denn die Gegenüberstellung verschiedener "technischer" Medien soll ja im Rahmen dieser Untersuchung nur eine untergeordnete Rolle spielen. Von größerem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die Brita als Medium der Vermittlung zwischen Bill und der Außenwelt spielt. Dass Bill in gewisser Weise auf Brita angewiesen ist, kommt erstmals während der Aufnahmen im Arbeitszimmer des Schriftstellers zur Sprache:

"I think I need these pictures more than you do. To break down the monolith I've built. I'm afraid to go anywhere, even the seedy diner at the crossroads town. [...] All the movements we make are ritual movements. Everything we do that isn't directly centered on work revolves around concealment, seclusion, ways of evasion. [...] There are procedures for people coming to the house. [...] It's an irrational way of life that has a powerful inner logic. The way religion takes over a life. [...] I've paid a terrible price for this wretched hiding. And I'm sick of it finally." (44-45)

Dieser lange Monolog Bills kennzeichnet gleichzeitig die Stelle, an der er den schützenden Zynismus verliert, der ihn zu Beginn des Gesprächs vor der unvermittelten Intimität der Situation schützt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs gibt der Schriftsteller mehr und mehr von sich preis, ein Prozess, der in einem Geständnis mündet: "Finish. I'm finished. The book's been done for two years. But I rewrite pages and then revise in detail. I write to survive now, to keep my heart beating." (48) An dieser Stelle hat sich das Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und der Fotografin völlig umgekehrt. Während es von Brita am Anfang des Kapitels heißt, "[s]he was nervous", und Bill nur einsilbig und distanziert auf ihre Erklärungen antwortet – "Sounds ominous." (35) – beginnt der letzte Absatz des Kapitels mit den Worten: "She watched him surrender his crisp gaze to a softening, a bright-eyed fear [...]" (49).




PhiN 21/2002: 25


Im Laufe dieses Gespräches erwähnt Brita beiläufig, dass sie eine Nachricht für Bill von seinem Verleger Charlie Everson habe. Der merkwürdige Weg der Übermittlung dieser Nachricht ist dabei wesentlich signifikanter als die eigentliche Mitteilung, die lediglich besagt, dass Charlie mit dem Schriftsteller sprechen möchte. Welche Bedeutung hat es also, dass Brita das Medium einer "sinnentleerten" Botschaft ist, noch dazu einer Botschaft, die für Bill die "Erlösung" aus seiner zwanghaften Isolation ist? Fast liegt es nahe anzunehmen, dass Brita lediglich eine Erfindung ist, eine fiktionale Person, die Bill als Katalysator für seine Befreiung in seinen "Lebensroman" einführt. Diese Lösung erscheint jedoch allzu einfach. Schließlich sagt Bill an einer Stelle über Karen: "Scott says I invented her." (65) Dass das Personal von Mao II vollständig Bill Grays Fantasie entstammt, kann daher weitgehend ausgeschlossen werden – aus dem einfachen Grund, dass DeLillo explizit auf diese Möglichkeit hinweist. Brita entstammt also nicht der Vorstellungskraft, sondern der Notwendigkeit. Das heißt, sie verdankt ihre "Existenz" nicht einem Überschuss, sondern einem Mangel.

Dieser Mangel wird sehr präzise mit dem Wort "Freiheitsentzug" gekennzeichnet, einem Begriff, der sich auf vielerlei Ebenen auf Bill Grays Situation anwenden lässt. Dass es tatsächlich darum geht, Bill einen Fluchtweg aus dieser geschlossenen Situation – dem "closed state" – zu schaffen, wird schon allein an einem scheinbar unwesentlichen Detail deutlich: "We saw the piece about you in Aperture. That's how we decided you were the one." (23, meine Hervorhebung) Dieser Topos der "Öffnung", die mit der fotografischen Blende korrespondiert, wird später im Gespräch zwischen Brita und Karen wieder aufgenommen:

"And you hate me leaving here with all that film."
"It's just a feeling of there's something wrong. We have a life here that's carefully balanced. There's a lot of planning and thinking behind the way Bill lives and now there's a crack all of a sudden. What's it called, a fissure." (57)

Karens Wahrnehmung der Situation, in der sich Bill befindet, weicht also extrem davon ab, wie Bill selbst seine Isolation empfindet. In Karens Augen verheißt das Zwanghafte des geregelten Tagesablaufs eine Stabilität, in der sie sich geborgen und sicher fühlt: "After she read Bill's novels she moved from the old sofa into Scott's bed and it felt to him as though she'd been there always." (84) Dagegen hat Scott längst eingesehen, dass nur sein Verschwinden Bill unsterblich machen kann, da nur dadurch auf absehbare Zeit gesichert wird, dass sein Buch nicht erscheint: "Bill is at the height of his fame. Ask me why. Because he hasn't published in years and years and years. [...] We could make a king's whatever, multimillions, with the new book. But it would be the end of Bill as a myth, a force." (52) Dem Mangel an Freiheit, den Bill verspürt, steht also die Wahrnehmung Scotts gegenüber, in der der Schriftsteller nurmehr als Hindernis zu ewigem Ruhm erscheint. Dass Scott entgegen seiner eigenen Aussage – "He makes the decisions, I follow through." (53) – längst alle Fäden in der Hand hält, wird beim Abendessen mit Brita offensichtlich:

Scott sat facing Brita and spoke to her even when his remarks were meant for Bill.
"You admire her for work that often goes unseen. Work that describes a kind of mission, a dedication. Exactly what I've been urging you to do. Keep this book out of sight. Build on it. Use it to define a principle."
"What principle?" Brita said.
"That the withheld work of art is the only eloquence left." (67)




PhiN 21/2002: 26


Bill versucht daraufhin, das "Thema" für das Abendessen vorzugeben – "We want to have a dinner with a theme." (68) – doch niemand hält sich daran, außer ihm selbst. Bill, der große Erzähler, wird von Scott, dem Selbstdarsteller, völlig in den Hintergrund gedrängt, so dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als im Alkohol Zuflucht zu suchen. Daraufhin holt Scott zum letzten Schlag aus: "The book is finished but will remain in typescript. Then Brita's photos appear in a prominent place. Timed just right. We don't need the book. We have the author." Dass es Scott tatsächlich darum geht, nicht den Autor sondern sein Bild, sein image, für das Buch einstehen zu lassen, wird dabei bereits angedeutet, doch Scott lässt auch diesen Punkt nicht im Unklaren: "We have the pictures, let's use them to advantage. The book disappears into the image of the writer." In der darauf folgenden Wendung des Gesprächs übernimmt Scott den Part Bills in seinen Ausführungen über die apokalyptische Gewalt der Nachrichten und hält einen Monolog, der mit der ironischen Phrase "Quoting Bill." durchsetzt ist (s.o.). Der halbherzige Protest Bills – "this wholly ridiculous contention I've been hearing" – wird schließlich von Scott mit einer vernichtenden Kritik des unveröffentlichten Romans zur Seite gewischt: "You can't let the book be seen [...] It's all over if you do. The book is a grossity. We have to invent words to describe the corpulence, the top-heaviness, the lack of discernment, pace and energy." Die Szene endet mit dem Versuch Bills, sich mit roher Gewalt gegen Scott aufzulehnen, woraufhin er von Karen beruhigt wird und das Feld räumt: "Bill went upstairs to his workroom, where he closed the door and stood by the window in the dark."

Wenn Brita also überhaupt als Fiktion betrachtet werden kann, so ist die Urheberschaft dieser fiktionalen Figur nicht Bill sondern Scott zuzuschreiben. Dies stimmt mit Bills Aussage über die "Genese" Karens überein, in der es heißt: "Scott says I invented her. But he's the one who snatched her out of the air." (65) Auf die selbe Weise "erschafft" Scott Brita, wobei der Erschaffungsprozess des Mediums Brita derselben Logik folgt wie die "Mediatisierung" Bills: Die statische Situation, in der sich Bill, Scott und Karen befinden und die von den Beteiligten als Mangel an Freiheit, als Redundanz respektive als Stabilität wahrgenommen wird, korrespondiert mit einer Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Kommunikation, die nur durch die Einführung eines Vermittlers, des Mediums Brita also, aufgelöst werden kann. Wie genau die Figurenkonstellation diesem Modell entspricht, wird allein schon an dem Satz deutlich, mit dem das Abendessen beginnt, das schließlich im Eklat endet: "Scott sat facing Brita and spoke to her even when his remarks were meant for Bill." (67) In der selben Weise kann übrigens Scotts "journey out of nonbeing" (57) verstanden werden. Dieser Prozess wird ja als poesis geschildert, als eine Entwicklung, in deren Verlauf Scott seine eigene Stimme findet: "He hadn't known that he could summon these deep feelings or express them with reckless style and delight, certain cosmic words spelled in caps and others spelled oddly to reveal second and third meanings." (58) Die im folgenden geschilderten Versuche Scotts, Bill aufzuspüren, haben den Charakter einer religiösen Pilgerfahrt, oder eher noch einer Queste, die mit einem Moment der Epiphanie endet:

"Had to be. Not the slightest doubt. How can a photographer ask a question like that? Doesn't his work, his life show on his face? [...] No, had to be him. [...] Walking toward me. [...] Becoming more familiar with every step. Had to be Bill and he was coming right at me and I seemed to need oxygen. Important parts of my body were closing down." (60)

Diesem "ekstatischen" Moment, in dem die Überführung Bills in sein eigenes image beginnt, folgt Scotts Angebot, sich als "Mädchen für alles" bei Bill zu verdingen: "someone to handle the mail [...], a quiet individual who would type and file [...], a person who would try to ease the writer's beleaguerment." (60-61) Dies ist sozusagen die Urszene für die Einladung Britas in das Haus des Schriftstellers.




PhiN 21/2002: 27


Bis zur Ankunft Scotts gab es in Bills Isolation noch eine Öffnung, eine fissure, die die Aufrechterhaltung des Kontakts mit der Außenwelt gewährleistete. Doch Bills rigide Auffassung von der Rolle des Schriftstellers als Außenseiter – "the writer belongs at the far margin, doing dangerous things." (97) – lässt ihn diese Öffnung als einen Mangel empfinden, der Scott "hervorbringt". Scott, "a quiet individual", garantiert die Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts zwischen Bewusstsein und Kommunikation, indem er den inneren Zustand der reinen Selbstreflexion nach außen widerspiegelt. Die innere Entwicklung des geschlossenen Systems von der Ankunft Scotts bis zur Ankunft Britas bleibt konsequenterweise aus der Erzählung ausgespart, sie lässt sich jedoch nahezu lückenlos aus dem Anfangs- und Endzustand rekonstruieren.

Schließlich wäre noch auszuführen, inwiefern die Integration Karens in das geschlossene System von Bill Grays Haushalt in das hier vorgestellte Beschreibungsmodell eingebettet werden kann. Karen wird jedoch in den folgenden Ausführungen über "Masse und Wahrnehmung" einen wichtigen Platz einnehmen, daher soll die Diskussion der Rolle, die sie innerhalb von Bills personalem Kontext spielt, hier zunächst zurück gestellt werden. Stattdessen sollen zum Abschluss dieses Kapitels noch kurz die Auswirkungen von Bills Verschwinden auf das Leben von Scott und Karen betrachtet werden. Während Scott sehr nüchtern reagiert – "We need to do lists" (118) –, macht sich Karen auf die Suche nach Bill, eine Suche, die sie zunächst zu Brita führt und schließlich in das "refugee camp" (149) der Obdachlosen in New York, wo sie wieder in das Verhaltensmuster der Moonies zurückfällt:

In the morning she began to forage for redeemable bottles and cans, anything she could find in trash baskets or curbside, in garbage cans massed in restaurant alleyways. [...] She took these things to the park and left them at the openings of the lean-tos or stuck them just inside if she was sure no one was there. [...] It was not a whole lot different from selling sweet williams in the lobby of the Marriott. (152–153)

Während Scotts Plan, Bill Gray durch sein image zu ersetzen, sich also im Moment von Bills Verschwinden erfüllt, so dass für ihn nur noch "Verwaltungsarbeiten" zu tun bleiben – "[m]aking lists of things that needed doing, doing the things, going along project by project, room by room" (139) – führt Karen die Suche nach Bill auf eine Suche nach sich selbst. Die Geschichte Karens ist also ebenfalls eine Geschichte der Genese eines Mediums. Dieses Medium ist jedoch nicht in das zwanghafte System des von aller Welt isolierten Schriftstellers eingebunden, sondern in ein Metasystem von Weltanschauungen, die derselben zwanghften Logik zu folgen scheinen wie Bills Weltbild. Zu Beginn des zwölften Kapitels heißt es: "She carried many voices through New York. She talked to people in the park, telling them about a man from far away who had the power to alter history." (173) Wie zu Beginn von Mao II versucht Karen, die Botschaft von Master Moon in die Welt zu tragen. Doch statt mit Indifferenz und Ablehnung wird sie nun mit Weltanschauungen konfrontiert, die ihr nur die Beliebigkeit ihres eigenen Orientierungssystems vor Augen führen:

"The Shining Path. Sendero Luminoso. Spanish for Shining Path."
"Is it religious?"
"It's guerillas and whatnot. Making their presence felt."
"Where?"
"Wherever." (175)

In einem weiteren Gespräch hört Karen von einem Paar, das ebenfalls im refugee camp wohnt, dass es sich auf "the second coming" (179) vorbereitet. Eine weitere Frau gibt ihr zu verstehen, dass sie sich gegenüber Behinderten benachteiligt fühlt: "They have buses in this city that crouch for wheelchairs. Give us ramps for people living in the street. I want buses that crouch for us." (180)




PhiN 21/2002: 28


Schließlich wird Karen klar, dass eine Verständigung über verschiedene Weltanschauungen hinweg nicht möglich ist: "She realized she understood almost no one here, no one spoke in ways she ever heard before. [...] It was a different language completely, unwritable and interior, the rag-speak of shopping carts and plastic bags [...]" (180). Dieser Beschreibung eines babylonischen Sprachgewirrs, einer Masse von Menschen, die keine gemeinsame Sprache haben, keine Möglichkeit ihren Mangel, ihre Entrechtung zu formulieren, ist die Fernsehübertragung des Begräbnisses von Ayatollah Khomeini gegenübergestellt. Es ist die Menge der Trauernden, die den Verlust, den sie erfahren haben in eindrucksvoller Geschlossenheit demonstrieren, die für Karen den Ausschlag gibt, einen letzten Versuch zu machen, die Masse zu einen:

Karen could not imagine who else was watching this. It could not be real if others watched. if other people watched, if millions watched, if these millions matched the number on the Iranian plain, doesn't it mean we share something with the mourners, know an anguish, feel something pass between us, hear the sigh of historic grief? [...] If others saw these pictures, why is nothing changed, where are the local crowds, why do we still have names and addresses and car keys? (191)

Am Ende dieses Kapitels ist Karen daher wieder als Missionarin unterwegs – "She had Master's total voice ready in her head." (194) –, doch es ist klar, dass ihr die Vergeblichkeit ihres Unterfangens voll bewusst ist. Um zu verstehen, warum sie weiterhin darauf hinarbeitet, die Masse der Obdachlosen in einer gemeinsamen "Vision" zu vereinen, ist es jedoch nötig, Karens Art und Weise der Wahrnehmung näher zu untersuchen. Dieser Wahrnehmungsmodus ist eng mit den medialen Darstellungen und dem unmittelbaren Erleben von Masse in Mao II verknüpft. Im folgenden Kapitel soll es daher darum gehen, den in diesem Roman so zentralen Zusammenhang zwischen Masse und Wahrnehmung auszuloten.

4 Wahrnehmung und Masse

Es war bereits davon die Rede, dass auch die Geschichte Karens die Genese eines Mediums beschreibt. Dabei muss betont werden, dass diese Entwicklung in mehreren Phasen verläuft, die durch verschiedene Wahrnehmungszustände gekennzeichnet sind. Den Ausgangspunkt soll hier der mittlere, der instabile Zustand von Karens Wahrnehmung bilden, der durch größtmögliche Offenheit gekennzeichnet ist:

She took it all in, she believed it all, pain, ecstasy, dog food, all the seraphic matter, the baby bliss that falls from the air. Scott stared at her and waited. She carried the virus of the future. Quoting Bill. (119)

In diesem Zustand bildet die Wahrnehmung Karens also ein offenes System, das gerade durch diese Offenheit nicht operabel ist. Dieses System soll nun einerseits zu den Wahrnehmungssystemen der anderen Romanfiguren in Bezug gesetzt werden, andererseits im Gegensatz zu den weltanschaulichen Systemen, die Mao II beschreibt, betrachtet werden. Dabei baue ich auf den Erkenntnissen auf, die im bisherigen Verlauf der Untersuchung gewonnen wurden, und versuche diese weiter zu vertiefen.

Den logischen ersten Schritt dieser Vorgehensweise bildet ein Vergleich von Karens Wahrnehmung mit der Bills. Bills ästhetische Entwicklung – im Sinne von griech. aisthánesthai: "durch die Sinne wahrnehmen, empfinden, fühlen" – lässt sich, wie oben geschehen, als Prozess der Öffnung beschreiben. Von einem Medium der reinen Selbstreflexion wandelt sich der Schriftsteller zu einem Vermittler, auch wenn seine Botschaft nie ankommt. Gerade dies muss allerdings als "gelungene" mediale Entwicklung gesehen werden, da der Tod Bill tatsächlich in der Mitte, also im Transfer, ereilt. Dieser paradoxe Zustand eines Mediums, das nicht mehr in Verbindung mit einem Sender oder einem Empfänger steht und das streng genommen ohne Inhalt ist, bildet sozusagen die "Apotheose" des Mediums, das ja, wie oben dargelegt wurde, immer aus einer Notwendigkeit entsteht. Die Emanzipation von dieser Notwendigkeit versinnbildlicht auf beeindruckende Weise, wie radikal die "Erlösung" Bill Grays ist.




PhiN 21/2002: 29


Dieser Verlauf bildet sozusagen die Ideallinie einer medialen Entwicklung, von der Karen jedoch in mehrerlei Hinsicht abweicht. Zunächst einmal kann die Offenheit ihrer Wahrnehmung durchaus als pathologisch charakterisiert werden. Erkenntnistheoretiker wie Psychologen haben immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig Selektivität für das Zustandekommen von Wahrnehmung ist. Auf eine einfache Formel gebracht, könnte man also sagen: "Wir können vieles nur wahrnehmen, weil wir vieles nicht wahrnehmen." Karen aber nimmt alles wahr – "pain, ecstasy, dog food, all the seraphic matter, the baby bliss that falls from the air" – ohne zu differenzieren, ohne zu filtern. Dass dies ein höchst instabiler Zustand ist, kann schon daran abgelesen werden, dass ihr Anfangs- und Endzustand im Rahmen des Romans davon extrem abweichen.

Bevor diese anderen Zustände untersucht werden, soll jedoch noch kurz von Scott die Rede sein. Wenn sich die mediale Entwicklung Bills als Öffnung kennzeichnen lässt, so muss im Zusammenhang mit Scott von einer Schließung die Rede sein. Zwar erfahren wir nicht viel von Scotts Vorgeschichte, doch immerhin genug, um zu erkennen, dass er vor seiner Zeit mit Bill ein Suchender war, dessen Suche vor der Lektüre von Bills Romanen ohne konkreten Inhalt war:

Scott told her the story at lunch about his days of wandering, ten years ago, sick and broke in Athens and trying to cadge yankee dollars from tourists so he could get on one of those amphetamine buses to the Himalayas in about a hundred hours of nonstop terror [...]. (50)

Mit "amphetamine buses" und "Himalayas" sind in dieser kurzen Synopse schlaglichtartig zwei populäre Motive der Sinnsuche bzw. der Bewusstseinserweiterung zitiert, die im Verlauf von Scotts Lebensgeschichte noch mehrmals auftauchen – z.B. "another spiral of drugs" (51) und "a timeless Eastern text" (58) –, wodurch klar wird, dass der Zustand, den er selbst als "nonbeing" bezeichnet, eine spirituelle Leere kennzeichnet. Das Medienmodell, das ich hier zugrunde lege, hat den Vorteil, dass sich religiöse Systeme in ihm als mediale Systeme fassen lassen, da auch Religionen (und Ersatzreligionen) dem Ausgleich von Diskrepanzen zwischen Bewusstsein und Kommunikation dienen. Von daher lässt sich der Mangel, der Scott auf ziellose Reisen und in Drogenexzesse treibt, als ein ästhetischer Mangel konzeptualisieren, als das Fehlen eines adäquaten Wahrnehmungssystems. Der Kontakt mit Bills Romanen, einem Medium der Selbstreflexion, macht diesen Mangel spürbar, aber er behebt ihn nicht. Denn Scott erkennt in Bills erstem Roman sich selbst: "That book was about me somehow. [...] I saw myself. It was my book." (51) Daraus erklärt sich die fixe Idee Scotts, den Schriftsteller durch sein Bild zu ersetzen und sich selbst als "Nachlassverwalter" einzusetzen, denn eine weitere Annäherung an die Urheberschaft "seines" Buches ist nicht vorstellbar. Im Prozess dieser Annäherung macht sich Scott jedoch mehr und mehr das Weltbild Bills zu eigen, bis ihre Denkweise schließlich vollkommen übereinstimmt: "[I]f it makes sense to him, I'll eventually figure it out." (117) In gewisser Weise erscheint es logisch anzunehmen, dass es Bill nur deshalb gelingt, sich zu befreien, weil Scott seine Rolle des isolierten Schriftstellers übernimmt. Damit aber ist die Schließung von Scotts Wahrnehmungssystem endgültig vollzogen und es ist kaum wahrscheinlich, dass dieser Prozess reversibel ist.

Obwohl diese Ausführungen vielleicht noch etwas skizzenhaft erscheinen, will ich nun dazu übergehen, Karens Wahrnehmungssystem mit anderen Weltanschauungsystemen zu vergleichen. Die zuvor angerissenen Konzepte werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels jedoch weiterhin miteinbezogen, so dass die hier eventuell offen gebliebenen Fragen im Zusammenhang der folgenden Untersuchung weiter diskutiert werden können. Die Einordnung von Karens Wahrnehmungssystem in einen größeren Zusammenhang beginnt notwendigerweise mit dem Anfang von Mao II, mit der Massenhochzeit, die im Prolog "At Yankee Stadium" geschildert wird. Dort kommt es zu einer Konfrontation zwischen der kommunalistischen Vision der Moonies und dem individualistischen Prinzip der amerikanischen Nation.




PhiN 21/2002: 30


Das Problematische dieser Konfrontation besteht dabei jedoch nicht in der Unvereinbarkeit der beiden Systeme, sondern in der merkwürdigen Überschneidung dieser Weltanschauungen. Denn genauso wie dem moonism immer noch ein Kern von Individualität eigen ist – was allein schon durch den Personenkult um Reverend Moon deutlich wird – befindet sich der american dream immer schon im Spannungsfeld zwischen dem individuellen pursuit of happiness und der Vision einer genuin amerikanischen Identität, die sich aus unterschiedlichen kulturellen Quellen speist: e pluribus unum. Diese Durchdringung von scheinbar diametral entgegengesetzten Weltanschauungen wird im Symbol des "floating eye of the crowd" (8) auf den Punkt gebracht: "The crowd-eye hangs brightly above them like the triangle eye on a dollar bill." (6)

Damit ist bereits der Themenkomplex angeschnitten, vor dessen Hintergrund der Vergleich verschiedener Weltanschauungen erfolgen soll, der Zusammenhang von Masse und Wahrnehmung nämlich. Dabei soll es insbesondere darum gehen, wie sich die Wahrnehmung aus der Masse heraus als eigenständige Form der Perzeption konzeptualisieren lässt, eine Wahrnehmungsweise, die Don DeLillo im Prolog zu Mao II herauszuarbeiten versucht: "She is waiting to file past Master and sees him with the single floating eye of the crowd, inseperable from her own apparatus of vision, but sharper-sighted, able to perceive more deeply." (7–8) Dem gegenüber steht die individuelle Wahrnehmung der Masse, die im Roman hauptsächlich als medial vermittelte Darstellung von Katastrophen wie etwa der Hillsborough-Tragödie oder dem Tianmen-Massaker figuriert. Hier soll jedoch hauptsächlich die Masse als Subjekt bzw. als Medium der Wahrnehmung untersucht werden, wobei sich dies nicht vollständig von der Analyse der Masse als Objekt der Wahrnehmung trennen lässt.

Es geht also darum, die Metapher des "floating eye of the crowd" als Beschreibung einer Art der Wahrnehmung ernst zu nehmen, die weder intersubjektiv noch interobjektiv ist, sondern diese Kategorien transzendiert. Dass dies keineswegs nur zufällig eines der Probleme ist, das die mehrwertige oder "polykontexturale" Logik zu lösen versucht, wird offensichtlich, wenn man sich etwa folgende Stelle aus dem Prolog in Erinnerung ruft: "Dad trying to use old college logic to make sense of it all." (8) Dies soll jedoch hier nur am Rande bemerkt werden, da die entsprechenden Konzepte hier unmöglich zugrunde gelegt werden zu können, ohne den Rahmen der Untersuchung zu sprengen. Es soll daher an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass eine Untersuchung dieses Zusammenhangs unter Zuhilfenahme eines Modells, wie es etwa Gotthard Günther in Idee und Grundriss einer nicht-aristotelischen Logik entwickelt hat, ein lohnendes Unterfangen für die zukünftige Auseinandersetzung mit Mao II wäre.

Es ist aber durchaus möglich, diese Problematik auf einer niedrigeren theoretischen Ebene abzuhandeln, d.h. im Kontext einer veränderten bzw. gesteigerten Subjektivität, wie sie ja in Mao II verschiedentlich entworfen wird. Am deutlichsten wird dies wohl am Beispiel von Karens Entwicklung vom "desubjektivierten Subjekt" zum "deobjektivierten Subjekt", d.h. ihrer Wandlung von einem Individuum, das seinen Identitätsverlust der mangelnden Differenz zu anderen Subjekten verdankt, zu einem "Dividuum", dessen Identität lediglich aus der Abgrenzung von der Objektsphäre resultiert. Zwischen diesen beiden Extremzuständen liegt das prekäre Gleichgewicht, das Karen am Ende des Romans erreicht und das sich in der hier verwendeten Terminologie als "objektivierte Subjektivität" bezeichnen ließe. Ich bin mir durchaus der Problematik bewusst, die eine Einordnung anhand solcher Kriterien mit sich bringt, insbesondere da die literaturwissenschaftliche Grundlegung dieser Betrachtungsweise hier sozusagen en passant geschieht. Doch ich hoffe, die im folgenden versuchte Untermauerung dieser Thesen anhand von Textstellen zeigt, dass diese Herangehensweise sinnvoll und berechtigt ist, und zum Werkzeug der Analyse literarischer Werke tauglich ist.

Um dies zu verdeutlichen, ist es notwendig, sich vor Augen zu führen, dass die beiden genannten Weltanschauungssysteme – moonism und americanism – als Ausprägungen einer spezifischen Subjekt-Objekt-Relation verstanden werden können. Das Moon-System vernachlässigt die individuellen Unterschiede der Sektenmitglieder vollständig und insistiert statt dessen auf einer gemeinsamen Weltsicht, von der keine Abweichungen toleriert werden. Die amerikanische Nationalutopie hingegen betont die Egalität aller Bewohner von God's own country über alle kulturellen Differenzen hinweg, bei einer gleichzeitigen Vernachlässigung der individuellen Weltsicht.




PhiN 21/2002: 31


Während der moonism also auf dem Konzept der Interobjektivität basiert, fußt die amerikanische Idee auf der Grundlage der Intersubjektivität. Dass diese Wahrnehmungsweisen einander keineswegs ausschließen, sondern im Gegenteil komplementär sind, wird von beiden Weltanschauungen weitgehend ausgeblendet. Diese Ausblendung führt dazu, dass der Anblick der uniformen Masse im Herzen Amerikas, im Yankee Stadium, aus der Perspektive der prototypischen Amerikaner – verkörpert durch Karens Eltern – als krisenhaft erlebt wird: "This really scares him, a mass of people turned into a sculptured object. It is like a toy with thirteen thousand parts, just tootling along, an innocent and menacing thing." (7) Umgekehrt empfindet Karen ihre durch die "Deprogrammierung" erzwungene Individualität als krisenhaft: "In these quiet moments of near sleep she sometimes loved her parents and was stirred by the drama of abduction. [...] Other times she hated everyone involved and thought it was the logical brutal extension of parent-child, locked in a room and forced to listen to rote harangues." (79) Wie vor allem aus dem letzten Zitat hervorgeht, handelt es sich in beiden Fällen um ambivalente Situationen, die zwischen Faszination und Grauen, zwischen Liebe und Hass angesiedelt sind.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das "floating eye of the crowd", das Symbol der Wahrnehmung aus der Masse heraus, im Prolog von Mao II so eine zentrale Rolle einnimmt. Nur der Blick der Menge vermag es nämlich, beide Seiten dieser Ambivalenz zugleich in den Blick zu nehmen. Die Beschränkungen der englischen Sprache – die Frage, ob eine solche Darstellung in einer Sprache, die neben Singular und Plural auch über einen Dual verfügt, einfacher wäre, wäre einer eigenen Untersuchung wert – zwingen Don DeLillo dabei zu einem narratologischen Trick, der in der Überblendung mehrerer verschiedener Perspektiven besteht. Entscheidend ist dabei, dass diese Beobachterstandpunkte konstitutiv aufeinander angewiesen sind, um die Masse in den Blick zu nehmen. Der erste Absatz des Kapitels wird aus einer "auktorialen" Perspektive, also von einem external focalizer geschildert: "Here they come, marching into American sunlight." (3) Sodann wechselt die Erzählperspektive in den "personalen" Modus – "Karen's daddy, watching from the bandstand" (3) – zu einem internal focalizer from without also. Diese Stimme wird sodann von einem internal focalizer from within abgelöst, der die Situation aus der Perspektive des Reverend Moon darstellt: "He looks down at them from a railed pulpit that rides above a platform of silver and crimson." (6) Schließlich wird die Szene so geschildert, wie Karen sie wahrnimmt: "She [...] sees him with the single floating eye of the crowd" (6-7). Das Bemerkenswerte an Karens Perspektive ist, dass sie gleichzeitig "personal" und "auktorial" ist, denn Karen nimmt nicht nur ihre unmittelbare Umgebung wahr, sondern auch den mittelbaren Kontext der Situation. Dies wird daran deutlich, dass der Abschnitt, in dem die Perspektive zu Karen wechselt, mit einem "panoramatischen" Blick beginnt – "Around the great stadium the tenement barrens stretch, miles of delirium, men sitting in tipped-back chairs against the walls of hollow buildings, sofas burning in the lots [...]" (7) – und mit einem kinematographischen Zoom in die Menge endet: "[...] there is a sense these chanting thousands have [...] that the future is pressing in [...], that they are everywhere surrounded by signs of the fated landscape and human struggle of the Last Days, and here in the middle of their columned body, lank-haired and up-close, stands Karen Janney [...]." (7)

Noch deutlicher wird diese "überpersonale" Perspektive vielleicht am Beispiel von Karens Wahrnehmung ihrer Eltern: "She knows her flesh parents are in the stands somewhere. Knows what they're saying, sees the gestures and expressions." (8) Die darauf folgenden Sätze – "Dad trying to use college logic to make sense of it all. Mom wearing the haunted stare that means she was put on earth strictly to suffer." – zeugen in der Tat von einer Fähigkeit "to perceive more deeply" und machen damit klar, dass die Wahrnehmung der Masse allumfassend ist. Schließlich wird auch noch vorgeführt, dass das "floating eye of the crowd" selbst die scheinbar so starren Grenzen zwischen den beiden Weltanschauungssystemen transzendiert. Dies geschieht auf semantischer Ebene, nämlich anhand der Gegenüberstellung der Begriffe baseball und cult.

"Baseball," she says, using the word to sum up a hundred happy abstractions, themes that flare to life in the crowd shout and diamond symmetry, in the details of a dusty slide. The word has resonance if you're American, a sense of shared heart and untranslatable lore. [...]
The other word is "cult." How they love to use it against us. Gives them the false term they need to define us as eerie-eyed children. And how they hate our willingness to work and struggle. (9, meine Hervorhebungen)




PhiN 21/2002: 32


Wie bemerkenswert Karens Fähigkeit ist, diese beiden Perspektiven zugleich einzunehmen, wird erst in der darauf folgenden Beschreibung ihres Lebens auf der Straße deutlich, bei der ihre Identifikation mit dem Moon-System als so vollständig beschrieben wird, dass sogar ihre Sprache sich der Semantik von Reverend Moon angleicht: "they didn't know whether to be inspired by the uncanny mimicry or report her for disrespect." (13) Die Perspektive, die hier etwas ungenau als Karens Perspektive bezeichnet wurde, entpuppt sich also tatsächlich als ein generisches Massenphänomen – eine Art der Wahrnehmung, auf die höchstens noch der Begriff "Vision" anwendbar ist. Und der Besitz einer gemeinsamen Vision ist ja schließlich auch, was die Moonies gegenüber der amerikanischen Nation, gegenüber dem Rest der Welt, auszeichnet. Diese Vision ist sprachlich nicht mehr fassbar und auch mit dem Begriff "End Time" nur unzureichend beschrieben:

The chant brings End Time closer. The chant is End Time. They chant for world-shattering rapture, for the truth of prophecies and astonishments. They chant for new life, peace eternal, the end of soul-lonely pain. [...] They chant for one language, one word, for the time when names are lost. (16)

Dieser visionären Weltsicht wird ein Blick auf die Gesellschaft gegenübergestellt, der jede Art von Gemeinschaft stiftender Vision fremd ist: "Around them in the world, people ride escalators going up and sneak secret glances at the faces coming down." Dieser dystopische Blick auf die die Moonies umgebende Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass er den ihr zugehörigen Individuen ein Interesse an Metaphysik vollkommen abspricht. Die Aneinanderreihung banaler Einzelheiten alltäglicher Tagesabläufe endet mit den Worten: "there is something they have forgotten to do." Und obwohl dieses "something" nicht näher benannt wird, erscheint die Schlussfolgerung daraus nur konsequent: "The future belongs to crowds." (16)

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Vision der Moonies im Rahmen von Mao II scheitert. Dies ist sicher nicht zuletzt der allmählichen Dispersion der Masse im Yankee Stadium zuzuschreiben, die letztendlich in der völligen Isolation Karens endet. Dennoch figuriert das Moon-System gegenüber dem radikalen Individualismus Bills als alternative Option, zumindest aus Scotts Perspektive: "The point of mass marriage is to show that we have to survive as a community instead of individuals trying to master every complex force. [...] I know all the drawbacks of the Moon system, but in theory it is brave and visionary. [...] We can't survive by needing more, wanting more, standing out, grabbing all we can." (89) Kurz später macht Scott deutlich, inwiefern dies ein Ausweg aus dem Dilemma einer rein subjektiven bzw. rein objektiven Wahrnehmung sein könnte:

"We've gone too far into space to insist on our differences. Like those people you talk about on the Great Wall, a man and a woman walking toward each other across China. This isn't a story about seeing the planet new. It's about seeing people new. We see them from space, where gender and features don't matter, where names don't matter. We've learned to see ourselves as if from space, as if from satellite cameras, all the time, all the same. As if from the moon even. We're all Moonies, or should learn to be." (89)

Gerade aus dem Munde Scotts klingt diese Interpretation übertrieben optimistisch. Und natürlich ist dies auch nicht die Lösung des Problems, einen Wahrnehmungsmodus zu finden, der das Individuum und die Menschheit als Ganzes gleichzeitig in den Blick nehmen kann. Das Problem ist tatsächlich so komplex, dass eine Lösung innerhalb der fiktionalen Welt von Mao II gar nicht möglich sein kann. Diese neue Perspektive kann letzten Endes nur der Leser selbst einnehmen – wenn er denn will.




PhiN 21/2002: 33


5 Zusammenfassung

Der Roman Mao II spielt mehrere Möglichkeiten der Behandlung des Problems einer adäquaten Wahrnehmung für eine unübersichtliche Welt durch, wobei keine dieser Herangehensweisen tatsächlich als Lösung bezeichnet werden könnte. Die Romanfiguren – Bill, Scott, Karen und Brita – verkörpern dabei jeweils einen spezifischen Aspekt dieses Problems, ohne dass sich dadurch auch nur eine Teillösung abzeichnen würde. Während Bill seine "Erlösung" in einem negativen Heldentod findet – eine postmoderne Variante des Antigone-Mythos – wählt Scott den Weg eines radikalen Individualismus und Ästhetizismus. Dies sind also zwei Varianten einer "mikroskopischen" Herangehensweise mit jeweils unterschiedlicher Ausrichtung. Die "Lösung" Scotts besteht in einer Hinwendung zur Innerlichkeit – er sucht sozusagen Zuflucht im "inneren Exil". Hingegen stellt Bills Entwicklung zum Medium den umgekehrten Weg dar: die vollkommene Akzeptanz der oberflächlichen Kontingenz der Welt, hinter der er keine "höhere Wahrheit" zu entdecken vermag. Charakteristisch für diese "mikroskopische" Perspektive ist auf der Seite Scotts die Anfertigung unzähliger Listen, die immer nur neue Listen hervorbringen, während Bill kurz vor seinem Tod zu der Erkenntnis gelangt, dass ihm die Banalitäten und truisms des Alltagslebens zur Erklärung der Welt ausreichen: "Kennedy was Idlewild, time was money, the farmer was in the dell [...]. He knew it completely." (216)

Es sind die Frauenfiguren in Mao II, die sich an der Grundproblematik des Romans "abarbeiten". Britas monomanischem Projekt, eine Sammlung von Porträts aller lebenden Schriftsteller anzufertigen, stehen Karens Versuche gegenüber, den Obdachlosen von New York eine gemeinsame Vision zu vermitteln. Beide scheitern, beide müssen scheitern. Dennoch haben diese Versuche eine andere Qualität als die gescheiterten Versuche Scotts und Bills. Es handelt sich im Gegensatz zu jenen um "makroskopische" Ansätze, die darauf abzielen, die Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Kommunikation auf einer höheren Ebene aufzulösen. Analog zu Bill geht es Brita dabei um eine "oberflächliche" Lösung, man könnte auch sagen, sie nimmt das Problem von der Wahrnehmungs- bzw. Kommunikationsseite in Angriff. Dagegen zielt Karens Herangehensweise auf eine Veränderung des Bewusstseins ab, die erst mittelbar eine veränderte Wahrnehmung nach sich zieht. Zum Abschluss dieser Untersuchung möchte ich mich daher dem letzten Kapitel von Mao II vor dem Epilog "In Beirut" widmen. Scott taucht zwar im letzten Kapitel noch einmal auf, doch wir erfahren nichts wirklich neues über ihn, was angesichts der Tatsache, dass seine Entwicklung bereits am Ende des ersten Romanteils abgeschlossen ist, nicht weiter überraschen sollte. In diesem Schlusskapitel soll es also noch einmal um Karen gehen, die sich am Ende des Romans mehr denn je in einer offenen Situation befindet.

Nach einer nicht näher bestimmten Zeitspanne kehrt Karen aus New York in das Haus Bill Grays zurück, wo sie Scott bereits erwartet. Diesem erzählt sie als erstes, dass sie vollkommen pleite ist: "I took the taxi from the bus station instead of calling. I had just enough money for the taxi and the tip and I wanted to arrive totally broke." (219) Sie befindet sich also wieder in einer ähnlichen Situation wie zu dem Zeitpunkt, als sie Scott in White Cloud, Kansas, begegnet war: "[W]hen she got there she put fifty dollars aside and spent the rest on a Greyhound ticket [...]." (83). Doch der eigentliche Wandel, der in Karen vorgegangen ist, lässt sich weniger daran ablesen, was sie sagt, als vielmehr an der Weise, wie sie es sagt. Dieser neue Ton ist dem abgeklärten Scott jedenfalls fremd: "He would have to adjust to this. He'd naturally fitted himself to the role, for some years now, of friend abandoned or lover discarded." (219)

Es besteht eine spürbare Distanz zwischen Scott und Karen, die tiefer zu gehen scheint, als es die ungewohnte Situation rechtfertigt: "It was dangerous to speak because he didn't know which way a sentence might tend to go, toward one thing or the logical opposite." (219) Diese Distanz bleibt bestehen bis sie gemeinsam beginnen, die Fotos von Bill zu sichten, die Karen aus New York mitgebracht hat. Dabei entpuppen sich die Bilder als etwas, das jedem Versuch der Interpretation widersteht, aber gerade dadurch immer neue Analysen herausfordert: "What we have in front of us represents one thing. How we analyze and describe and codify it is something else completely. [...] All the more reason to analyze." (222)




PhiN 21/2002: 34


Auch im folgenden Gespräch lässt sich die Wandlung Karens nur zwischen den Zeilen herauslesen: "We're the ones who made it possible for Bill to devote his whole time to writing," heißt es an einer Stelle (223). Damit aber fordert Karen implizit ihren Anspruch an Bills "Erbe" ein. Zwar hält Scott nach wie vor an seinem Plan fest, Bills Roman hinter verschlossenen Türen zu halten – "the novel would stay right here, collecting aura and force, deepening old Bill's legend, undyingly." (224) – doch vor dem Hintergrund von Karens neuem Selbst-Bewusstsein gewinnt der letzte Satz des letzten Kapitels eine eigenartige Doppelsinnigkeit: "The nice thing about life is that it's filled with second chances. Quoting Bill." (224)



Bibliographie

DeLillo, Don (1992): Mao II. London: Vintage.

Günther, Gotthard (1991): Idee und Grundriß einer nicht-aristotelischen Logik, 3. Auflage, Hamburg: Meiner.

Jahraus, Oliver (2002): Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Zur systemtheoretischen Konzeption eines Medienbegriffs für die Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Wallace, David Foster (1993): "E Unibus Pluram: Television and U.S. Fiction", in: Review of Contemporary Fiction. 13:2, 151–94



Anmerkungen

1 Alle Seitenaufgaben beziehen sich auf: DeLillo (1992)

2 Vgl. etwa Jahraus (2002).

Impressum