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Burghard Damerau (Berlin)



Das Sternbild des Geliebten
Selbstvergewisserung und Wissen in der Lyrik von Nelly Sachs


Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Friedrich Hölderlin



The Constellation of the Lover: Reassurance and Knowledge in the Poetry of Nelly Sachs
The paper analyses the imagery of a recurring male lover in Nelly Sachs' poetry and the way in which he fulfills certain poetological functions for the poetess. The memories of the dead lover, as seer, constellation, and victim, provided Sachs with a sense of self-encouragement, reassurance. In the cycle "Gebet für den toten Bräutigam", published in In den Wohnungen des Todes (1946), the poem "Ich schreibe dich", included in Glühende Rätsel (1965), and the cycle Die Suchende (1966) Sachs' lyrical voice calls to a lover, simultaneously reinforcing and subverting conventional gender roles, thus situating her own post-holocaust poetry between traditional interpretation of the course of the world and a modern sceptical view.



Nelly Sachs schreibt in einem Brief vom 24. März 1959 an Johannes Edfelt über den Ursprung ihres Werkes: "Mein ganzes Lebenswerk aus der Quelle entstanden, da unter den 7 Jahren unter Hitler ein geliebtester Mensch zu Tode gemartert wurde und ich doch nicht den Glauben verlor: es sei unsere Mission auf Erden diesen Staub zu durchschmerzen, zu durchleuchten, unser dunkel Vollbrachtes wird in einem unsichtbaren Universum eingetragen, ob gut, ob böse. Was wissen wir – wandern alle in Geheimnissen." (Sachs 21985: 209) Damit ist eine bestimmte Motivation ihres Werkes, das nach dieser Erfahrung entstand, benannt: der Tod des Geliebten, umgebracht während der nationalsozialistischen Diktatur, sowie die Überzeugung, einen solchen Tod deuten zu müssen – ohne ihn endgültig deuten, geschweige etwas Letztgültiges über den Wert der Deutung wissen zu können. Und in einem Brief vom 17. Juli 1966 an Gisela Dische kommentiert sie ihre Gedichte mit den Worten: "Der Tod war mein Lehrmeister. Wie hätte ich mich mit etwas anderem beschäftigen können, meine Metaphern sind meine Wunden. Nur daraus ist mein Werk zu verstehen." (zit. n. Dische 1991: 311) Mit der bekannten Formulierung von den Metaphern als Wunden – selbst metaphorisch – weist Nelly Sachs die Metaphern als die neuralgischen Stellen in ihren Gedichten aus. So wie sie als Autorin versuchte, die Katastrophen der nationalsozialistischen Diktatur zu deuten, so seien die Gedichte ihrerseits durch diese Metaphern zu verstehen. Demnach finden sich die Katastrophen konzentriert in den Metaphern formuliert.




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Methodisch gesehen ist es freilich prekär, eine Interpretation mit Selbstaussagen der Autorin einzuleiten, zumal dann, wenn es dabei um Biographisches geht. Die Versuchung liegt nahe, die Texte auf eine Privatangelegenheit zu reduzieren: metaphernreiche Erinnerungen an einen Geliebten. Dagegen sprechen freilich andere Selbstaussagen von Nelly Sachs, die ihr emphatisches Selbstverständnis als Autorin zu erkennen geben. So schreibt sie in einem Brief vom 25. August 1959 an Johannes Edfelt über die Gedichtbände Und niemand weiß weiter und Flucht und Verwandlung mit entwaffnender Unverhohlenheit, daß "die letzten beiden Gedichtsammlungen längst die Menschheit meinen". (Sachs 21985: 225) In jenem zitierten Selbstentwurf als Autorin nimmt Nelly Sachs zwar grundlegend auf ihren ermordeten einstigen Geliebten Bezug, aber sie beansprucht für das Geschriebene darüber hinaus allgemeine Geltung. Die individuelle Genesis ihres Werkes schließt den umfassenden Geltungsanspruch – und gegebenenfalls eine ebensolche Geltung – nicht aus. In ihrer Lyrik integriert sie dementsprechend eigene Erfahrungen, etwa auch die Flucht nach Schweden sowie die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten, in umfassendere historische und metaphysische Zusammenhänge.

Angesichts jener Äußerungen von Nelly Sachs zum Geliebten, zu den Metaphern und zum umfassenden Geltungsanspruch wähle ich als Ausgangspunkt ein Bild aus dem Gedichtzyklus Die Suchende von 1966, ein Bild, das schließlich im Mittelpunkt der Interpretation stehen soll: "Sternbild des Geliebten". (Sachs 31995: 99)1 Hier sind die besagten Aspekte vereint: Das Wort vom Geliebten ist Teil einer Metapher, die ihn gleichsam in den Kosmos projiziert, also ursprünglich Individuelles in ein Bild des Universellen überträgt.

Wie alle metaphorischen Ausdrücke, so gibt auch dieses kosmische Zeichen einer Liebe viel zu denken. Das heißt, es wirft zunächst Fragen wie die folgende auf: Was hat ein Sternbild mit einem Geliebten zu tun bzw. ein Geliebter mit einem Sternbild? Da es in dem Gedicht weiter heißt, daß "der Löwe vom Himmel gefallen" (ebd.) sei, liegt eine bestimmte Analogie nahe. Das Wort vom Sternbild des Geliebten ist eine Bezeichnung wie ‚Sternbild des Löwen‘ oder auch ‚Sternbild des Krebses‘ und andere mehr: ihrerseits metaphorische Namen von Sternenkonstellationen. Und in Analogie zu diesen Figuren, in deren Zeichen man – nach Ansicht der Astrologie – geboren sei, läßt sich von der Suchenden im Gedicht-Zyklus sagen: Sie ist, als literarische Gestalt, im Zeichen des Geliebten geboren, ein Zeichen, das indessen vom Himmel gefallen ist. Das heißt, es handelt sich um ein Leben im Zeichen einer verlorenen Liebe: ein Leben, auf das bereits der Titel Die Suchende hinweist.

Dabei beruht die Namensgebung der Sternbilder bekanntlich auf der jeweiligen Form, sei es die Form von Löwen oder Krebsen usw. Ein Geliebter hat allerdings schwerlich die Form eines Löwen. Im Gedichtzyklus Die Suchende liegt vielmehr eine andere Assoziation nahe, die über das rein Bildliche hinausführt. Denn die vermerkte quasi-apokalyptische Katastrophe – der Tod des Geliebten als Sturz eines Sternbildes – provoziert eine Assoziation mit einer anderen tradierten Eigenschaft des Löwen als sogenannten König der Tiere: Mit dem Sturz geht seine Stärke verloren, seine Macht. Und angesichts des Titels Die Suchende und eines vorangegangenen Seefahrt-Motivs – "Seefahrend zum Zenit" (ebd.) – bietet sich noch eine weitere Assoziation an: Sterne können am Nachthimmel auch eine Orientierung bieten.




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Das also hat der Geliebte mit dem Sternbild zu tun: Der metaphorische Ausdruck weist im Kontext auf eine Orientierungsfunktion – und insofern auf eine Machtposition – des Gesuchten, die mit der quasi-apokalyptischen Katastrophe, mit dem Sturz des Sternbildes, dem Tod, verloren geht. Was der Suchenden bleibt, ist vor allem die moderne Erfahrung der Orientierungslosigkeit. Was aber ebenso bleibt, ist der Anspruch einer Dichtung, die diesen Zustand mit der Suchenden ins Bild setzt und als allgemeinen Zustand nach 1945 konkret beschreibt.

Im Folgenden werde ich dieses Zusammenspiel zwischen der Autorin Nelly Sachs, die die Zeit nach 1945 zu deuten versucht, und dem Motiv eines Geliebten in ihren Gedichten auch als Geschlechterverhältnis beschreiben. Denn so wie Nelly Sachs in jenem Brief mit Bezug auf den Toten ihr Schreiben begründet, so geht in ihren Gedichten die Erwähnung eines Geliebten Hand in Hand mit der Reflexion des Schreibens. Die vermerkte Motivation des Werkes wird zu einem maßgeblichen Motiv darin: Indem Sachs in ihren Gedichten einen Geliebten evoziert, vergewissert sie sich – kritisch gesagt: in Abhängigkeit von ihm, affirmativ gesagt: im imaginären Zwiegespräch mit ihm – ihrer selbst als Autorin mit dem Anspruch auf Weltdeutung. Gestaltend wie die Erinnerung dabei verfährt, emanzipiert sie sich schließlich weitgehend von der Realität, wird zur lyrischen Evokation als solcher und so zum Medium für moderne Erfahrungen überhaupt.

Um diese Rolle des Geliebten als maßgebliche Gestalt im Rahmen der lyrischen Selbstreflexion zu verdeutlichen, werde ich zunächst zu einigen früheren Gedichten von Nelly Sachs zurückgehen: Gebete für den toten Bräutigam aus dem 1946 erschienenen Band In den Wohnungen des Todes, um von daher das Gedicht Ich schreibe dich aus Glühende Rätsel von 1965 und schließlich den Zyklus Die Suchende von 1966 zu lesen. Damit soll sich statt der Mystikerin, wie sie mitunter genannt wird, auch eine erheblich skeptischere Nelly Sachs zeigen, die unter anderem jene rhetorische Frage zum Unwissen stellt: "Was wissen wir –".


Gemeinsamkeit in verlorener Erkenntnisfähigkeit: der einstige Seher

Der Zyklus Gebete für den toten Bräutigam umfaßt 10 Gedichte. Der Titel zeigt bereits eine Voraussetzung an, die im 20. Jahrhundert zum Topos in Texten von Frauen geworden ist: die Abwesenheit eines geliebten Mannes als Motivation fürs Schreiben. (vgl. Venske 1999: 244) Der Zyklus beginnt mit einem Gedenken, das auch ein Deutungsversuch ist:

Die Kerze, die ich für dich entzündet habe,
Spricht mit der Luft der Flammensprache Beben,
Und Wasser tropft vom Auge; aus dem Grabe
Dein Staub vernehmlich ruft zum ewgen Leben.

O hoher Treffpunkt in der Armut Zimmer.
Wenn ich nur wüßte, was die Elemente meinen;
Sie deuten dich, denn alles deutet immer
Auf dich; ich kann nichts tun als weinen.
(Sachs 1988: 23)2




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Durch die Erwähnung von Luft und Flammen, Wasser und Staub ist der Tod des Bräutigams mit den Elementen assoziiert: Luft, Feuer, Wasser und Erde – alle vier Elemente, die schließlich auch als solche benannt werden. So sind der Verlust des Geliebten und das Erinnern von vornherein in einen umfassenden Zusammenhang integriert. Im Sinne der Universalisierung ist alles ausnahmslos auf diesen Verlust bezogen: "alles" deute "immer" auf den Bräutigam. Sein Tod wird in den Augen des Ich zu einer elementaren Katastrophe, d.h. zu einer bestimmten historischen Katastrophe, die alles betrifft, auf die alles verweist, die das Ich aufzulösen droht – und die doch undeutbar bleibt. Denn das Deuten-auf-etwas und das Deuten liegen im Wortlaut des Gedichtes nahe beieinander, ein Verweisen und ein Verstehen zugleich, aber für das Ich bleiben sie tatsächlich getrennt: Angesichts der assoziierten Motive erscheinen die Elemente als Zeichen und verständige Deuter zugleich, aber für das Ich bleiben sie unverständlich – eine Trennung, die im Wunsch des Verstehens die Trauer noch vermehrt. "Wenn ich nur wüßte", heißt es, und "ich kann nichts tun als weinen". Durch den unerklärlichen Tod wird der Trauernden die ganze Welt zu einem Rätsel. Der Wunsch nach einem Wissen wird zwar formuliert; das schmerzliche Erinnern ist ein Deutungsversuch, aber es mündet – noch – in kein Wissen. Es führt ausschließlich zum kreatürlichen Ausdruck der Trauer: zum vermerkten Weinen.

Die bleibende Rätselhaftigkeit und Ungewißheit spielt auch in einem weiteren Gedicht des Zyklus Gebete für den toten Bräutigam eine Rolle. In Vielleicht aber braucht Gott die Sehnsucht findet sich das Motiv der "geheimnisvollen Räume der Luft", und von dieser Luft heißt es: "Vielleicht ist sie das unsichtbare Erdreich, daraus die glühenden Wurzeln der Sterne treiben". (Sachs 1988: 25) In dieser frühen Assoziation des Geliebten mit den Sternen verweist die Metapher von den Wurzeln wiederum auf jene elementare Katastrophe, die nur durch eine ebenso elementare Umkehr zu überwinden ist: Mit Betonung der Ungewißheit, mit einem "Vielleicht" erwägend, wird die Luft als Erde beschrieben, so wie in den Krematorien der Konzentrationslager die Toten verbrannt wurden und in Rauch aufgingen, um in der Luft statt in der Erde gleichsam begraben zu sein. (Entsprechend heißt der anschließende Zyklus Grabschriften in die Luft geschrieben.) Dagegen treiben nun im Gedicht die Sterne, so die Metapher, ihre glühenden Wurzeln in diese Luft. Damit erweist sich das Element als ambivalent und wohl auch darum als ein Geheimnis, als etwas Rätselhaftes: Die Luft ist demnach ein Medium des Todes und des Lebens zugleich; nach einer elementaren Umkehr der Verhältnisse enthält sie mit den Wurzel treibenden Sternen auch Zeichen eines Neuanfangs. Tatsächlich entwirft das Gedicht über die historische Wirklichkeit und über den Tod hinaus, unter Berufung auf die gemeinsame Liebe, andere Welten: "O mein Geliebter, vielleicht hat unsere Liebe in den Himmel der Sehnsucht schon Welten geboren". Auch hier wieder: "vielleicht". Es sind diese ausdrücklich im Ungewissen verbleibenden, erwägenden Evokationen, die eine neue Welt entstehen lassen sollen: Das schmerzliche Erinnern mündet – schon – in ein Entwerfen.




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Diese skrupulösen Evokationen führen dann im Gebets-Zyklus zum Motiv des neuen Menschen. Im Gedicht Im Morgengrauen ist erneut, in der Spannweite von Individuellem und Universellem, von der Sehnsucht die Rede: allgemein von einer "Sehnsuchtsstunde allen Staubes" und insbesondere in Bezug auf den Geliebten von der "Sehnsucht deines Staubes". (ebd.: 30) Damit ist eine Auferstehung der Toten und insbesondere des toten Bräutigams angesprochen, die bei Nelly Sachs nicht mehr fraglos als Auferstehung in einem Jenseits zu verstehen ist, sondern – wie sich im Zyklus Die Suchende deutlicher zeigen wird – gleichsam als Auferstehung in den Gedichten, die an die Toten erinnern und aus dieser Erinnerung Neues entwerfen. So heißt es nun emphatisch: "O Stunde der Geburten, / Kreißend in Qualen, darin sich die erste Rippe / Eines neuen Menschen bildet." (ebd.)3 Das schmerzliche Erinnern mündet – nun – in die Evokation eines neuen Menschen.

Tatsächlich erscheint der Geliebte in den letzten beiden Gedichten des Zyklus als außerordentlicher Mensch. Doch damit wird der Verlust schließlich nur um so gravierender. Das vorletzte Gedicht Wenn ich nur wüßte nimmt zunächst die Wendung "Wenn ich nur wüßte" aus dem ersten Gedicht des Zyklus wieder auf: "Wenn ich nur wüßte / Worauf dein letzter Blick ruhte". (Sachs 1988: 31) Auch hier wird wieder, aus der Ungewißheit heraus, der Wunsch nach einem Wissen formuliert, d.h. hier nach einer Verbundenheit mit dem Toten. Bis zu diesem Gedicht hat sich die Darstellung des Bräutigams allerdings beträchlich verändert. Er bleibt zwar nach wie vor ein Rätsel, das von den Gedichten befragt wird, aber in diesen Deutungsversuchen wird er zu einer Gestalt, die womöglich selber Rätsel lösen konnte; er erscheint nun als Seher:

Oder sandte dir diese Erde,
Die keinen ungeliebt von hinnen gehen läßt
Ein Vogelzeichen durch die Luft
(ebd.)

Statt Sternzeichen einer neuen Welt enthält hier die Luft Vogelzeichen des tatsächlichen Weltlaufs: Der Vogelflug dient zur Deutung der Zukunft. Statt einen ganz neuen Menschen zu beschreiben, rehabilitiert das Gedicht das Opfer: Der Geliebte erscheint als Seher. In der fragenden, um Verstehen bemühten, erwägenden Erinnerung wird aus dem Objekt der Deutung ein Subjekt des Deutens. Nun entspricht der Geliebte also dem lyrischen Ich: Es war ja von vornherein um eine Deutung bemüht. So wie es zunächst die Elemente hinsichtlich des Geliebten zu verstehen versuchte, so erscheint dieser Geliebte als Seher, der den Vogelflug deutete. Gegen die anfängliche Trennung zwischen dem Ich und dem Toten zeichnet sich damit allmählich eine bestimmte Verbindung ab: Die beiden entsprechen sich darin, Zeichen zu lesen.

Das Motto des letzten Gedichtes Deine Augen, o du mein Geliebter formuliert dann diese allmählich entwickelte Verbindung ausdrücklich in Form einer Entsprechung. Das Motto stammt von Jehuda Zwi und fügt sich in den Kontext mit den Motiven der Augen und des Seherischen: "Ich sah, daß er sah." (ebd.: 32) Damit findet der Topos von der Macht der Liebe, die stark wie der Tod sei, eine eigenwillige Ausprägung: Das lyrische Ich erinnert mit dem toten Geliebten eine Deutungsmacht, während mit der Entsprechung – "Ich sah, daß er sah" – suggeriert wird, daß es bei den eigenen Bemühungen, die vergangenen Ereignisse zu verstehen, teilhat an dieser Deutungsmacht.




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Mit dem Geliebten als Seher evozieren die Gedichte also einen Rückhalt, gleichsam Verstärkung, für die eigenen Deutungsversuche. Sie werden in die Tradition eines derart höheren Wissens gerückt. Das schmerzliche Erinnern mündet – gegen Ende – in eine Kontinuität zwischen seherischem Geliebten und Ich: eine Kontinuität im Zeichen der Weltdeutung. So läßt die Autorin Nelly Sachs mit Bezug auf den toten Bräutigam den eigenen Anspruch auf die weltdeutende Autorität der Dichtung anklingen. Doch in den letzten Zeilen wird eben diese Fähigkeit ausdrücklich negiert:

O ihr erloschenen Augen,
Deren Seherkraft nun hinausgefallen ist
In die goldenen Überraschungen des Herrn,
Von denen wir nur die Träume wissen.
(ebd.)

Damit endet der Zyklus. Das schmerzliche Erinnern kreiert schließlich das Bild vom Geliebten als Seher, der seine Deutungsmacht und damit die Einsicht in den Lauf der Welt eingebüßt hat: eine verlorene Erkenntnisfähigkeit. Schon jenes Motto formuliert ja die Entsprechung im Seherischen in der Vergangenheitsform. Mit dem Geliebten ist für die Gegenwart nach 1945 auch die Fähigkeit verloren gegangen, die sogenannten Zeichen der Zeit zu deuten. Was schließlich in der Verbundenheit des Wir bleibt, ist ambivalent: zwar eine Aussicht auf die "goldenen Überraschungen", aber das – zwei oder auch allen Menschen – gemeinsame Wissen bleibt allein auf "Träume" bezogen, die wiederum eine Deutung erheischen. Damit klingt einerseits eine Hoffnung an, aber durch die einschränkende Formulierung ist kein Wissen angezeigt, wie es in der Welt tatsächlich weitergehen könnte: keine Orientierung. Der Zyklus endet mit dem Motiv der eingeschränkten Erkenntnisfähigkeit, die als solche historisch begründet wird: mit der Zäsur, die der Nationalsozialismus mit seinen Opfern bildet.

Die darin – trotz eines Gottes – anklingende allgemeine Orientierungslosigkeit vermerkt dann der Titel des Gedichtbandes Und niemand weiß weiter von 1957. Der Band wird bezeichnenderweise mit dem Gedicht Da du eröffnet, das mit der Metapher einsetzt: "das staubbeflügelte Sternbild / der Flucht" (ebd.: 157) Am Anfang steht eine Situation im Zeichen der Flucht. Sie ist jedoch wiederum ambivalent. Denn das Sternbild der Flucht ist staubbeflügelt, vom Staub beflügelt, durch den Tod zu einem neuen Leben gebracht: ein Hinweis auf den tatsächlichen und den drohenden Tod zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, die die Flucht motivierte, ein Verweis auf Vergänglichkeit generell, aber auch eine Assoziation mit den bestäubten Flügeln des Schmetterlings – ein für Nelly Sachs wichtiges Motiv der Verwandlung. (vgl. Motté 1994) Die Flucht erscheint also als eine Situation zwischen Tod und Leben, als etwas diktatorisch Erzwungenes und zugleich als Möglichkeit zur Veränderung, zu einer existentiellen Verwandlung, wie auch die Gedichte die Wirklichkeit in Formulierungen verwandeln: indem sie die Toten gewissermaßen wieder aufleben und weiterleben lassen im lyrischen Gedenken; indem sie Momente der Flucht formulieren und sie in einen größeren Zusammenhang stellen. So gesehen, so formuliert, stehen diejenigen, die im ‚staubbeflügelten Sternbild der Flucht‘ stehen, auch im Zeichen einer möglichen Verwandlung.




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Tatsächlich heißt der nächste Band von Nelly Sachs – jener Metapher entsprechend – Flucht und Verwandlung, doch auch in diesem Band von 1959 finden sich Gedichte, die nicht ohne weiteres Zuversichtliches, Richtungweisendes, Orientierendes formulieren, sondern Ambivalentes. So endet etwa Und überall mit den Worten:

denn nicht kann Sicherheit sein
im fliegenden Staub
und nur das Kopftuch aus Wind
eine bewegliche Krone
zeigt noch züngelnd
mit Unruhgestirnen geschmückt
den Lauf der Welt an –
(Sachs 1988: 289)

Auch hier stehen die Sterne nicht mehr fest am Himmel. Vielmehr bilden sie ein Muster auf einem flatternden Kopftuch, das entsprechend mit "Unruhgestirnen" geschmückt ist, ein Tuch, das sich je nachdem nach dem Wind richtet, ja das nichts anderes als dieser Wind selbst ist. Ein ambivalenter Richtungsanzeiger in Sachen "Lauf der Welt" und somit ein weiteres, komplexes Bild für jene eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit: Das Zeichen des Schicksals erscheint vielmehr als ein Zeichen des Zufälligen, das keine verläßliche Richtung mehr angibt.


Schreiben im Zeichen fraglichen Wissens: ein Sternzeichen

1965 wird der Gedichtband Glühende Rätsel veröffentlicht. Er enthält gleichfalls Gedichte, in denen ein Ich einen Geliebten anspricht. Das folgende ist eines davon, in dem er evoziert und – in einem grandiosen Bild – als Sternbild in den Himmel projiziert wird:

Ich schreibe dich –
Zur Welt bist du wieder gekommen
mit geisternder Buchstabenkraft
die hat getastet nach deinem Wesen
Licht scheint
und deine Fingerspitzen glühen in der Nacht
Sternbild bei der Geburt
aus Dunkelheit wie diese Zeilen
(Sachs 31995: 76)4

Das Gedicht formuliert die Evokation des Angesprochenen nun ausdrücklich als eine Art des Schaffens. Statt konventionell "Ich schreibe dir" oder "Ich schreibe an dich" heißt es geradezu: "Ich schreibe dich". Das Schreiben leistet mit der Erinnerung eine Art von Verwandlung, von erneutem Zur-Welt-Bringen, Wiedergeburt, Auferstehung. Die Macht der Dichtung liegt hier in der emphatisch aufgefaßten Möglichkeit, Vergangenheit in den lyrischen Evokationen wieder aufleben lassen zu können. So wird auch hier der Geliebte, wie in den Gebeten mit dem Motiv des Deutens, schließlich in einer Gestalt evoziert, die dem schreibenden Ich entspricht und dessen Absichten entgegenkommt. Ähnlich wie die "Buchstabenkraft" nach dem Angesprochenen wie mit Fingern "getastet" hat, läßt sie ihn wieder aufleben als Sternbild, in dem die Sterne als seine "Fingerspitzen" erscheinen: eine Entsprechung, die ein vorsichtig tastendes Entgegenkommen in kosmische Dimensionen überträgt. So entwirft das Gedicht eine Welt, die gänzlich vom Astralleib des Geliebten überwölbt wird. Mit seiner Gestalt erschafft das Ich schreibend eine kosmische Instanz, in dessen Zeichen dieses eigene Schreiben steht.




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In dieser umfassenden Dimension zeigt sich zugleich der Stellenwert des Geliebten und das Ausmaß des Geltungsanspruchs, den die Gedichte erheben. Sie sind, mit Berufung auf den evozierten Toten, der Versuch einer Weltdeutung bzw. im engeren Sinne: der Versuch einer Schicksalsdeutung, die Orientierung bieten könnte. Darauf verweist, ähnlich wie schon jenes Motiv des Vogelflugs und das Sternbild der Flucht, das "Sternbild bei der Geburt": eine Wendung, die auf die Metapher vom Sternbild des Geliebten in Die Suchende vorausweist. Mit dem Motiv des Sternbildes wird das individuelle ‚Schicksal‘ des Toten wie die allgemeine Situation nach 1945 und die eigene Dichtung eingeschrieben in den Kontext der Schicksalsdeutung, d.h. die Gedichte stellen die Frage, inwieweit die historischen Ereignisse als Schicksal zu verstehen sind. Denn Nelly Sachs steht mit ihren Motiven nicht nur in der Tradition der jüdischen Mystik, sondern bewegt sich damit auch in anderen Grenzbereichen des Wissens wie Magie und Astrologie. Zudem steht am Ende des Gedichts Ich schreibe dich ein Vergleich zwischen dem Sternbild und dem Text selbst: "Sternbild bei der Geburt / aus Dunkelheit wie diese Zeilen", also ein Vergleich zwischen den leuchtenden Sternen und dem, was gleichsam zwischen den schwierigen Zeilen aufleuchtet als Bedeutung. Mit den Worten "diese Zeilen" wird das Motiv des Deutens zudem auf das potentielle Publikum hin ausgedehnt. Die erinnernde Verbindung zum Angesprochenen findet also wiederum als Umgang mit Zeichen, mit Sternzeichen, statt und wird nun mit dem Verweis auf die Gedichtzeilen weitergeführt zu den Lesenden: eine Verbindung, die über den Tod des Geliebten und noch über den Tod von Nelly Sachs hinausreicht in den fortgesetzten Versuch, Zeichen und mit ihnen die Wirklichkeit nach 1945 zu verstehen. Indessen wird mit dem abschließenden Vergleich von Gedichten und Sternbildern auch die Doppeldeutigkeit im Titel des gesamten Bandes Glühende Rätsel klarer: Er bezieht sich gleichfalls auf die Gedichte wie auf Sternbilder. Damit ist sowohl die Hermetik der Texte als auch die Schwierigkeit und einmal mehr die Fraglichkeit der Schicksalsdeutung angesprochen, d.h. der Zweifel, ob aus den – sei es astrologischen, magischen oder literarischen – Zeichen noch gesichertes Wissen über die Ursachen und den Sinn der historischen Ereignisse zu beziehen ist: ob es überhaupt noch deutbare Zeichen der Zeit gibt. Die Gestalt der Suchenden im wenig später entstandenen gleichnamigen Zyklus ist auch zu verstehen als Motiv der Suche nach derartigen Zeichen der Zeit.




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Literarisch vermittelte Einsicht: die Orientierungslosigkeit

Der siebenteilige Zyklus Die Suchende enthält viele Parallelen zum Zyklus Gebete für den toten Bräutigam, der mit dem Motiv des Deutens eine Entsprechung zwischen lyrischem Ich und angesprochenem Geliebten entwickelt. Die fortlaufende Numerierung der Teile von Die Suchende betont zudem den erzählerischen Zusammenhang des Textes, der ein Gedankengang einer Suchenden ist: eine Ballade der Orientierungslosigkeit, deren Titel bereits den Schwerpunkt auf das Subjekt der Suche legt. Ich werde mich bei der Lektüre auf die bisher entwickelten Aspekte beschränken.5

Wie in den Gebeten, so beginnt in diesem Zyklus die konkrete Suche nach dem Geliebten bei den Elementen: dem "magischen Dreieck des Suchens"( Sachs 31995: 99) mit Feuer, Wasser und Luft. Der Gang ist erneut ein elementares Geschehen, das die Suchende an die Grenze der eigenen Auflösung treibt, zumal da es zunächst erfolglos bleibt, wie das besagte Motiv zeigt:

Sternbild des Geliebten
vom Henker ausgeblasen
der Löwe vom Himmel gefallen
(ebd.)

Das Wort vom Henker gemahnt wiederum an den nationalsozialistischen Terror. Charakteristischer für den Text ist jedoch die Tendenz, im Sinne der Universalisierung die historischen Bezüge offen zu lassen. Überdimensional und unbestimmt wie der Henker, der das Sternbild am Himmel ausgeblasen hat, sind auch die Umstände des Todes, auf die damit angespielt wird, d.h. sie sind über den historischen Moment, über den Einzelnen hinaus bedeutsam. Tatsächlich verbinden die Verse in außerordentlicher Weise Individuelles und Universelles. Denn die allgemeine Konstellation von Tätern und Opfern wird ergänzt und insgeheim konkretisiert mit einem individuellen Aspekt im Motiv des Löwen: In einem Brief vom 24. August 1951 an Ilse Pergament nennt sich Nelly Sachs mit Anspielung auf ihren Vornamen Leonie: "Eure Löwin" (Sachs 21985: 133) Der Ausdruck ist keine kühne, sondern eine durchaus naheliegende Metapher für eine Autorin, die auf die evozierende Macht ihrer Dichtung setzt. Daß im Gedicht der sogenannte Löwe vom Himmel fällt, hat also einen verborgenen Bezug zu ihr als der zugehörigen Löwin. In dem unbestimmten Bild für den Tod des Geliebten formuliert Nelly Sachs die Konstellation von Tätern und Opfern offenkundig als etwas Universelles, während sie auch als individuelle Erfahrung insgeheim anwesend bleibt: Im quasi-apokalyptischen Motiv vom Fall des Sternbildes Löwe ist beides aufgehoben.

Entsprechend dringlich wird nach dem Verlust die Suche fortgesetzt: "Sie sucht sie sucht" (Sachs 31995: 100). Der Wortlaut nähert sich dem Hohelied des Alten Testaments an: "Sie sucht den Geliebten / Findet ihn nicht". Daß es dabei immer auch um die Suche nach einer existentiellen Orientierung geht, wird im weiteren Verlauf zunehmend deutlich. Die Folge des Verlustes ist zunächst wie in den Gebeten die emphatisch aufgefaßte Evokation des Verlorenen, eine Art von Erschaffung, die wiederum eine radikale Umkehr voraussetzt: Die Suchende "muß die Welt neu herstellen" und in einer weiteren Reminiszenz an das Alte Testament heißt es, ähnlich wie in den Gebeten, sie "ruft den Engel / eine Rippe aus ihrem Körper zu schneiden". Hier zeigt sich nun, daß Nelly Sachs selbst das Verhältnis zum evozierten Geliebten als Geschlechterverhältnis reflektiert. Eine mehr oder weniger elementare, nämlich eine geschlechtliche Umkehrung leitet die Evokation ein. Im Gegensatz zu Adam und Eva wird aus der Rippe der Suchenden nun der Geliebte erzeugt: Nicht sie entsteht aus ihm, sondern er aus ihr. Sie nimmt also die traditionell männliche Position ein: auch ein Zeichen für die Macht der evozierenden Dichtung bzw. für die Ermächtigung einer Autorin.




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In diesem Zusammenhang einer Schöpfung kommt dementsprechend das – vierte – Element der Erde ins Spiel, und zwar auf eine Weise, die die Assoziation mit Sprache bzw. mit Dichtung noch unterstreicht: Die Suchende "nimmt zum Abschied die Krume Erde in den Mund / aufersteht weiter". Die folgende Hinwendung zu dem Toten wird nun ausdrücklich mit Auferstehung assoziiert: ein Durchgang der Suchenden durch den Tod. Doch wie bereits in den Gebeten, so geht es auch in diesem Zyklus nicht um eine regelrechte Auferstehung und nicht um ein Jenseits, sondern um ein Aufleben in den Evokationen der Gedichte. Entsprechend wird nun die Erinnerung emphatisch aufgefaßt als Begegnung. Die Suchende tritt auf ihrem Gedankengang in das Gespräch mit dem Toten ein: Der zweite Teil beginnt mit einem "Du". Und wie im letzten Gedicht der Gebete, so wird auch in diesem Zyklus der Geliebte als eine Art Deuter angesprochen:

Du bist der Weissager der Sterne
ihre Geheimnisse fahren aus deiner Unsichtbarkeit
siebenfarbiges Licht aus verschleierter Sonne
(ebd.)

Im Unterschied zu den Gebeten wird die Begegnung nun allerdings auch formal als außerordentliches Ereignis ausgezeichnet. Mit dem Wechsel der Perspektive erscheint die Suchende nach dem Motiv der Auferstehung nicht mehr in der Form der dritten Person als "Sie", sondern sie spricht jetzt selbst: "Du". Sie ist also nicht Objekt der Beschreibung, sondern lebt im Gedicht wie der Geliebte auf als Subjekt der Rede. Wie bei den Entsprechungen in den vorangegangenen Gedichten hinsichtlich des Deutens und der Finger, so zeigt sich auch hier eine Entsprechung von Suchender und Gesuchtem: Beide wechseln ihren Status, vom Objekt zum Subjekt. Denn auch aus dem Geliebten, dem Sternbild, ist wieder ein Subjekt des Deutens geworden: ein Weissager, mit Blick auf die Sterne. In dieser entsprechenden Evokation gewinnt also auch der Geliebte zunächst wieder an Macht: eine Deutungsmacht, mit der er wiederum Orientierung bieten könnte, indem er den weiteren Lauf der Welt vorhersagt. Doch eben diese Möglichkeit erscheint nun im dritten Teil erneut, wiederum mit dem Windmotiv wie in Und überall, als prekär:

Ausgestreut bist du
Same der nirgends häuslich wird
wie kann man Windrichtungen absuchen
oder Farben und Blut
und Nacht die religiöse Angst
Ahnung – der Faden im Labyrinth führt dich –
(ebd.: 101)




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Das Potential des Deuters bleibt heimatlos und damit gleichsam fruchtlos. Doch zumindest ahnend findet er schließlich noch einen Weg, wenn auch nicht aus eigener Kraft: Ein Faden führt ihn. Mit der Anspielung auf den Mythos von Ariadne, die Theseus ein Garnknäuel mit auf den Weg durchs Labyrinth gab, ist eine weitere Umkehr in der Geschlechterposition formuliert: Nicht er ist es, der als Weissagender Orientierungshilfe bietet, sondern ihm wird bei seiner Suche nach einem Ausweg aus dem Labyrinth mit dem Faden eine solche Orientierungshilfe geboten. Das Gedicht evoziert also einmal mehr den Geliebten als eine Gestalt, die in der Suche nach einem Ausweg wiederum dem Ich, der Suchenden, entspricht. Damit mündet der Zyklus nach den besagten Entsprechungen hinsichtlich der Deutung, der Finger und des Subjektstatus in eine weitere Übereinstimmung: Beide sind nun im Text Subjekte einer Suche.

Mit dem Ariadne-Mythos ist eine weitere Deutungsfolie gegeben und damit auch die maßgebliche Perspektive für den weiteren Text. Nach einem erneuten Wechsel in die dritte Person häufen sich nämlich in den nächsten Teilen die Anklänge an andere Welten: ein Labyrinth aus Sagen, Märchen und Legenden. Von einer "Sage" ist ausdrücklich die Rede, eine "Eisprinzessin" wird erwähnt, ein "Vielleicht" betont erneut das Erwägende, das Ahnende und Fragliche des Beschriebenen, das sich in Grenzbereichen des Wissens bewegt. Diesem Kontext entsprechend wird nun die vorangegangene, als Begegnung beschriebene Erinnerung überboten von einer Erinnerung an eine regelrechte Begegnung, die nurmehr wie ein Märchen – mit Anklang an das märchentypische "Es war einmal" – erscheint: "Sie sprachen einmal durch die Ferne zueinander / zwei Gefangene". Die Erinnerung an eine einstige Entsprechung, als Gefangene, steht erneut unter negativem Vorzeichen: eine Evokation, die im Kontext in die Nähe zum Mythischen, Märchen- und Legendenhaften rückt. Doch eben diese vielen möglichen Deutungsmuster im Grenzbereich des Wissens werden nun aufgewertet zu einem Mittel der Weltdeutung. Denn der siebte und letzte Teil wird mit folgenden Worten angekündigt:

Aber Träume und Visionen
Wahnsinn und Schrift der Blitze
Diese Flüchtlinge von anderswo her
warten bis Sterben geboren
dann reden sie –
(ebd.: 102)

Wer da miteinander redet, das sind jene Träume, Visionen und dergleichen, personifiziert zu Flüchtlingen, aber es sind auch die Suchende und der Geliebte, verwandelt in zwei Gestalten einer lyrischen Vision. Die zahlreichen Entsprechungen der beiden münden schließlich in ein vom Tod inspiriertes Gespräch: "dann reden sie –". Folglich wechselt der letzte Teil wieder in die Form der Anrede. Sie zeugt auch noch einmal von der vollzogenen Selbstvergewisserung, denn am Ende steht eine verhältnismäßig apodiktische Behauptung, die den Erinnerten erneut in eine allgemeine Formulierung aufnimmt:




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Was für eine Himmelsrichtung hast du eingenommen
gen Norden ist der Grabstein grün
wächst da die Zukunft
dein Leib ist eine Bitte im Weltall: komm
die Quelle sucht ihr feuchtes Vaterland

Gebogen ohne Richtung ist das Opfer –
(ebd.)

Mit den Fragen an den Geliebten kommt der Zyklus zu einem Ziel, das den zurückgelegten Gedankengang der Suchenden resümiert und als Wissen, wenn auch als negatives Wissen, vermittelt: Die Toten weisen keine Richtung. Allgemeiner gesagt: Orientierungslosigkeit herrscht, sei es geographisch als Heimatlosigkeit der Juden, die aus Deutschland etwa nach Norden, wie Nelly Sachs nach Schweden, flohen, sei es metaphysisch als Sinnlosigkeit bzw. Perspektivlosigkeit der Shoa, sei es moralisch als Ratlosigkeit bei der Frage nach dem richtigen, guten Leben nach 1945.

Die Gestalt des toten Geliebten ist in dem Erkenntnisprozeß der Lyrik von Nelly Sachs eine Reflexionsfigur, die über den realen Hintergrund dieser Gestalt hinausweist: Er wird in den Gedichten jeweils neu konstruiert als ein Gegenüber, das dem Ich über den Abgrund des Todes hinweg in der einen oder anderen Hinsicht entspricht, in diesen Entsprechungen evokativ auflebt und den Geltungsanspruch der Dichtung stützt. So fungiert er als eine eigens entworfene Berufungsinstanz, die in Bildern des Deutens, des tastenden Erinnerns und des Suchens zur Selbstvergewisserung und zum Selbstverständnis der Autorin beiträgt, also maßgeblich das negative Wissen mitbestimmt, das ihre Gedichte schließlich formulieren. Denn die "Mission", die Nelly Sachs im eingangs zitierten Brief selbstbewußt formuliert, mündet in Die Suchende in das Bild des Opfers als lyrisches Bild für diverse Losigkeiten: Orientierungslosigkeit, Deutungslosigkeit (ein drei Jahre später veröffentlichter Text von Beckett, den Nelly Sachs schätzte, trägt den Titel Lessness, Losigkeit). Das Schlußbild von Die Suchende verschärft das Motiv der wechselnden Windrichtungen noch zur Richtungslosigkeit, verschärft es damit auch zur Deutungslosigkeit: "Gebogen ohne Richtung ist das Opfer –". Was die Gnome – mit einem Oxymoron – formuliert, bleibt als paradoxe Haltung des Opfers für den normalen Menschenverstand unverständlich. Denn ein Gebogensein ist zwar kein Gebrochensein und zeigt somit die Würde des Opfers an, aber ein Gebogensein ohne Richtung ist unvorstellbar.

Nelly Sachs erwägt in den Gebeten für den toten Bräutigam zunächst die einstige Welt des Geliebten vor den Katastrophen der nationalsozialistischen Diktatur als eine Welt, in der die Zeichen noch zu deuten waren: eine verlorene Welt, die in den Gedichten mitunter noch beschworen wird. Doch am Ende von Die Suchende stoßen die Suchbewegungen – und die Lesenden – in der paradoxen Haltung des Opfers auf etwas, was sich gegen eine Deutung sperrt. Es ist, in dieser Undeutbarkeit, auch lesbar als eine Art von Menetekel, ein Zeichen der Skepsis, gerichtet gegen vereinnahmende Wiedergutmachungsversuche der sechziger Jahre.




PhiN 20/2002: 13


Bibliographie

Cervantes, Eleonore K. (1982): Strukturbezüge in der Lyrik von Nelly Sachs. Bern 1982.

Dische, Gisela (1991): "Zu den Gedichten der Nelly Sachs", in.: Holmqvist, Bengt (Hg.): Das Buch der Nelly Sachs. Frankfurt a. M., 309–354.

Kersten, Paul (1970): Die Metaphorik in der Lyrik von Nelly Sachs. Hamburg.

Kessler, Michael (1994): "Dichte der Abwesenheit. Transzendenz und Transzendieren im Werk der Nelly Sachs", in: Kessler, Michael und Jürgen Wertheimer (Hgg.): Nelly Sachs. Neue Interpretationen. Tübingen, 225–268.

Motté, Magda (1994): "Der Verwandlung sichtbarstes Zeichen". Die Schmetterlingsmetaphorik im Werk der Nelly Sachs", in: Kessler/Wertheimer (Hgg.), 179–202.

Sachs, Nelly (21985): Briefe, hg. v. Ruth Dinesen und Helmut Müssener. Frankfurt a. M.

Sachs, Nelly (1988): Fahrt ins Staublose. Gedichte.. Frankfurt a. M.

Sachs, Nelly (31995): Suche nach Lebenden. Die Gedichte der Nelly Sachs. Frankfurt a.M.

Venske, Regula (1988): Mannsbilder – Männerbilder: Konstruktion und Kritik des Männlichen in zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur von Frauen. Hildesheim, Zürich, New York.


Anmerkungen

1Zur Variationsbreite des Stern-Motivs vgl. Kersten (1970: 58–66).

2Zu diesem Gedicht und insbesondere dem Motiv der Elemente vgl. auch Kersten (1970: 67f.).

3Zur Kritik der Transzendenz vgl. Kessler (1994).

4Die Motive sprechen dafür, daß es auch hier um die Gestalt des Geliebten geht. Das Du kann sich in anderen Gedichten jedoch auch auf andere Personen beziehen.

5Vgl. die ausführliche Interpretation des Zyklus von Cervantes (1982).

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