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Ulrich Schmitzer (Erlangen)



Platonische Fußnoten 1
Holzwege und Seitenpfade der Antikenrezeption am Beispiel Botho Strauß




Amicus Plato sed magis amica veritas 2

Platonic Footnotes. The Reception of Greek Mythology in Botho Strauß's "Atalante"
In his story "Atalante", Botho Strauß uses the myth of Atalante as a paradigmatic background for the actions of his protagonist, a young, modern woman called "the runner", i.e. "die Läuferin". Even though Strauß claims Plato as his primary and exclusive source, a close look reveals that this can hardly be true. Strauß's interpretation of the myth differs sharply from Plato's, (who gives only a very cursory account) and other ancient sources, e.g. Ovid (where it is told at length in the Metamorphoses). His understanding of the content and the different aspects which are emphasized in those ancient versions remains unclear and weak. Strauß's "sources" turn out to be modern reference works instead, with Graves's "Greek Mythology"as the dominant version of Atalante which clearly informs Strauß's modern version of the myth.


Daß der Erkenntnisweg der abendländischen Philosophie im Grunde genommen nur aus Fußnoten zu Platon bestehe, ist durch Alfred North Whiteheads glückliche Formulierung 3 geradezu ein Gemeinplatz der Geistesgeschichte geworden.4 Denn zum einen hat Platons Werk eine kaum mehr überschaubare Fülle gelehrter Sekundärliteratur hervorgerufen.5 Vor allem aber hat es zum anderen seit der Antike die Philosophen immer wieder in produktiver Herausforderung dazu angespornt, eigene komplementäre oder konkurrierende Gedanken und Systeme zu entwerfen.6

Steht Platon also am Beginn der modernen, d.h. der die sokratische Wende fortführenden Philosophie, so ist Homer sein Pendant auf dem Gebiet der Dichtung, der Archeget und Prüfstein abendländischer Literatur schlechthin. Auch für ihn sind immer neue Versuche der Forschung zu verzeichnen, mit seinem Werk und seiner Person (so es sich denn um ein Individuum handelt) zu Rande zu kommen.7 Ebenso sehr besteht der Ansporn für spätere Autoren, seine Dichtungen zur Vorlage und zum Maßstab des eigenen Schaffens zu nehmen.8 Diese beiden Namen markieren gleichsam die Pole des Spannungsfeldes, dessen magnetische Kräfte die Ausrichtung des europäischen Denkens seither bestimmen. Und wie sich der positive und der negative Magnetpol wechselseitig abstoßen, ohne doch das gemeinsame Feld verlassen zu können, so hat auch Platon in Homer seinen Widersacher erkannt, als er ihn namentlich in das kategorische Verdikt über die Dichter einschloß, die sich von je her mit Trugbildern begnügten, die Wahrheit aber verfehlten.9

Dieser Generalangriff auf die Fiktionalität konnte Homer in der Antike nicht in die Vergessenheit stürzen, auch nicht in der Neuzeit, ganz im Gegenteil: Gleichrangig neben der von Winckelmann wiederentdeckten klassischen griechischen Kunst steht sein Werk am Beginn und an der Spitze der mit dem 18. Jahrhundert einsetzenden europäischen, insbesondere deutschen Antikenbegeisterung, die seither stets in erster Linie Begeisterung für das klassische Griechentum ist. Friedrich Schiller hat mit dem Schluß seines "Spaziergangs" das Credo dieser Geisteshaltung auf eine bis heute nicht veraltete Formel gebracht: "Und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns."10 Seither sah sich Homer keiner ernsthaften Kritik mehr ausgesetzt,11 Platon dagegen wurde sowohl von marxistischer Seite als Begründer des Idealismus 12 als auch aus der entgegengesetzten Richtung durch Karl Popper als einer der Feinde der "offenen Gesellschaft" 13 scharf attackiert.

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Doch wesentlich wichtiger als solche Differenz der Bewertung ist die Gemeinsamkeit, die sie im Bewußtsein der gebildeten communis opinio der Neuzeit zusammenschließt: Vor Homer liege Dunkelheit - die bekannten "dark ages" - und nach Platon Verfall, so daß mit diesen beiden Namen also der schmale Grat zwischen dem Übergang von Primitivität zu Originalität einerseits, von Kultiviertheit zu Dekadenz andererseits definiert ist.

Wie sehr sich das Prestige der klassischen griechischen Kultur im Literaturbetrieb der Gegenwart erhalten hat und wie sich auf diese Weise die traditionellen Tendenzen der letzten zwei Jahrhunderte deutscher Geistesgeschichte fortsetzen, das läßt sich paradigmatisch an der Erzählung "Atalante" 14 von Botho Strauß (geb. 1944) zeigen.15 In dieser Erzählung unternimmt Strauß den ehrgeizigen Versuch, die Literatur in gewisser Weise auf das Niveau der Philosophie zu heben, indem auch er zu Platons Werk eine Fußnote beizusteuern versucht. Sollte ein solches Unterfangen gelingen, so wäre das nichts weniger als die (zumindest partielle) Versöhnung Platons mit Homer, geradezu die Quadratur des Zirkels.

Bereits der Titel "Atalante" - in der Terminologie Gérard Genettes also der "Paratext"16 - enthält den ersten Anlauf, die Lektüre auf die Wahrnehmung der mythologischen Folie hin zu determinieren. 17 Das aber setzt beim Leser zu diesem Zeitpunkt eine wohl überdurchschnittliche Vertrautheit mit dem griechischen Mythos und der ihn transportierenden Literatur voraus, so daß sich hieraus noch keine Hinweise auf das literarische Verfahren ableiten lassen. Obendrein stehen die Worte, mit denen die eigentliche Erzählung beginnt und die augenscheinlich ganz und gar in der Moderne situiert sind, zu dieser paratextuellen Selbstinterpretation in einem Spannungsverhältnis (66):

Läuferin im grauen Trainingsanzug vor weißer Mauer, erschöpft am Boden kauernd, die Beine angezogen, die Arme um die leicht gespreizten Knie gelegt, den Mittelfinger der linken mit der rechten Hand umfassend, den Kopf zu Erde gebeugt, in den Sand spuckend, den Kopf anhebend, nach hinten an die Mauer gelehnt, das Gesicht aufgerichtet, ein wenig zur Seite gewendet, hinüberblickend ausgepumpt und unbeteiligt, fort; von Anstrengung schmerzensreiche Züge, die Ekelqualkerben um den offenen Luftschlingmund. Den kalten Stein im Rücken, an dem die Lunge auf- und niedersteigt, und über ihr zum Kranz spielen Schatten von den Nußbaumzweigen auf der weißen Mauer. Drüben im Arkadengang, nicht weit entfernt, verschnauft ein Trupp ermatteter Nachzügler, die sie im Wettkampf überrundet hat, Männer und Frauen, die sich mit ausgestreckten Armen gegen Bogensäulen stützen. Ein anderer, der "Zweiter" wurde, steht ein wenig abseits und blickt zwischen beiden, den Abgeschlagenen und der Gewinnerin hin und her über hohes Keuchen, unsicher einen Bescheid erwartend. weit entfernt, verschnauft ein Trupp ermatteter Nachzügler, die sie im Wettkampf überrundet hat, Männer und Frauen, die sich mit ausgestreckten Armen gegen Bogensäulen stützen. Ein anderer, der "Zweiter" wurde, steht ein wenig abseits und blickt zwischen beiden, den Abgeschlagenen und der Gewinnerin hin und her über hohes Keuchen, unsicher einen Bescheid erwartend.

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Es handelt sich also nicht um eine bloße Nacherzählung der mythologischen Vorlage, sondern um eine variierende Adaption. Denn daß Strauß tatsächlich auf die Antike rekurriert, beweist der unmittelbar folgende Absatz. Dort erfolgt erstmals ein expliziter Hinweis auf die Rezeption des antiken Stoffes, wie überhaupt in der gesamten Erzählung nur wenige, aber dafür umso deutlichere Indizien für eine solche Integration zu verzeichnen sind. An dieser Stelle nun, so muß es dem Leser scheinen, gibt der Autor Aufschluß über seine Quellen und damit auch darüber, wie sich die Verbindung der Frau aus der Gegenwart mit der des Mythos herstellt:

"Das mittelste Los war auf Atalantes Seele gefallen. Sie sah die hohen Ehren, die das Leben eines Siegers in den Wettspielen bringt, vermochte nicht an ihnen vorbeizugehen und wählte dies Leben."
[Platon, Staat, 10. Buch (Die spröde Jägerin und Läuferin, so wird erläutert, ist Heldin verschiedener Sagen. Die Wahl ihres künftigen Lebens soll wohl den Verzicht auf die Liebe bedeuten).]

Die von Strauß nicht näher bezeichneten Erläuterungen sind wohl den verbreiteten mythologischen Handbüchern entnommen, die in vielfachen Auflagen von den Verlagen in Hardcover- und Taschenbuchausgaben auf den Buchmarkt geworfen werden, ohne daß ein spezieller Titel namhaft zu machen wäre.18 Die Platon-Stelle läßt sich dagegen eindeutig verifizieren (rep. 620b).19

Die mythologische Tradition kennt zwei Atalante-Gestalten:20 Die Jagd auf den kalydonischen Eber unter der Führung des Meleager ist ein Stoff, der offenbar schon zur Entstehungszeit der Ilias auf eine beträchtliche Erzähltradition zurückblicken konnte. Denn das exemplum, mit dem dort Phoinix den Achilleus zur Teilnahme am Kampf gegen die Troianer zu bewegen sucht (9,529-625), läßt sich auf eine ursprüngliche Lokalsage zurückführen, die hier aus erzählstrategischen Gründen adaptiert wurde.21 Wann die Figur der Atalante, von der bei Homer noch nicht die Rede ist, in diese Sagentradition, wo sie spätestens seit der attischen Tragödie ihren festen Platz hat, eingedrungen ist, ist wohl nicht mehr zweifelsfrei zu bestimmen.22 In überlieferungsgeschichtlicher Konkurrenz zur arkadischen steht die boiotische Version, nach der Atalante ihre Ehelosigkeit und Jungfräulichkeit verteidigt, indem sie etwaige Bewerber zum Wettlauf fordert und dabei besiegt. Davon ist bei Platon an der zitierten Stelle zweifelsohne die Rede. Dieser Überlieferungszweig läßt sich literaturgeschichtlich nur unwesentlich später als die Ilias greifen, nämlich im Hesiodeischen Frauenkatalog (frgg. 73-76 M-W), allerdings mit dem bedeutenden Unterschied, daß Atalante hier von Anfang an zu den konstitutiven und unverzichtbaren Sagenelementen gehört.23 Beide Versionen der Atalante Sage - ob sie nun auf eine einzige ursprüngliche Frauengestalt zurückzuführen sind oder nicht - sind am ausführlichsten in Ovids Metamorphosen überliefert, die von der arkadischen Atalante im 8. Buch, von der boiotischen als Teil des Orpheus-Gesanges im 10. Buch.

Auf diesem in aller Knappheit skizzierten Hintergrund wird deutlich, daß in der von Botho Strauß angeführten Erläuterung bzw. den Erläuterungen beide Stränge des Mythos miteinander kontaminiert sind, indem er mit Meleager den Partner der arkadischen und mit Hippomenes den der boiotischen Version als gleichwertige

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Alternative nennt. Mit dieser Verschmelzung steht er allerdings in einer durchaus namhaften Tradition, denn eventuell schon bei Properz 1,1,9-16 und Manilius 5,175-181, auf jeden Fall aber in der Thebais des Statius liegt die gleiche Verwechslung vor, was letzterem schon von seinen Scholiasten angekreidet wurde.24 Platon, den Strauß als einzige Quelle explizit namhaft macht, eröffnet für eine erzählerische Weiterentwicklung des Stoffes freilich keine Perspektive, was in der Natur des Kontextes begründet liegt: Atalante nämlich stellt in der Erzählung des Pamphyliers Er - dem Schluß der Politeia - nur eines von vielen Beispielen der Lebenswahl berühmter Männer und dieser einzigen Frau dar, darüber hinaus hat Platon kein Interesse an einer weiteren Entfaltung des Mythos.25 Somit kommt man nicht umhin, noch weitere, im einzelnen nicht genannte Quellen für Strauß beizubringen, wenn man seine Berufung auf antike Vorlagen für mehr als nur intellektuelles Blendwerk zu halten bebreit ist.

Die an Atalante und an Platon haftende Aura des Mythos nutzt Botho Strauß als typologisches Muster, um eine in Beruf und Sport erfolgreiche moderne Karrierefrau darzustellen. So wird das Laufen mit seinem Zwang zu siegen zur Chiffre für Atalantes Einstellung zum Leben überhaupt. Ihr geht es stets darum, Neues zu entdecken und sich unverzüglich bis zur Perfektion anzueignen, um die anderen dann zu übertreffen. Dagegen ist in diesem Lebenskonzept kein Platz für tiefere menschliche Bindungen oder feste Überzeugungen: "Das ganze Programm 'Überzeugung' liegt ihr nicht. Was kann man ohne Überzeugungen tun? Mit Überzeugungen spielen ..." (69). Folgerichtig ist sie auch unfähig, zu schenken oder Geschenke entgegenzunehmen. Dagegen beschäftigt sie stets die Frage nach dem angemessenen Preis, auch das - so darf man folgern - aus dem Bestreben, das eigene Leben und die es umgebende Welt unter steter Kontrolle zu halten. An dieser Stelle, nachdem er den Charakter seiner Atalante entfaltet hat, fügt Strauß das zweite Mal einen expliziten Hinweis auf das mythologische Substrat ein (71):

Atalante, so heißt es, wollte nur den heiraten, der sie im Lauf besiegte. Aphrodite gab einem Bewerber drei goldene Äpfel, die er beim Lauf fallen lassen sollte. Er tat es, Atalante bückte sich, hob die Äpfel auf und verlor den Lauf. Melanion hieß er. Oder Hippomenes. Einmal lockte er seine Frau in einen Tempel, um dort bei ihr zu liegen. Für diese Entweihung wurden sie beide bestraft und in Löwen verwandelt, denn damals glaubte man, Löwen paarten sich nicht mit Löwen, sondern nur mit Pardern. So sollte es ihnen unmöglich sein, je wieder einander zu lieben.

Was in der sprachlichen Form zwischen einem knappen Lexikonartikel und dessen mündlichem Referat changiert, weist inhaltlich auf die früheste literarische Erwähnung der Läuferin Atalante zurück, auf die Eöe des Hesiodeischen Frauenkatalogs. Dort wird davon berichtet, wie Atalante als Bedingung für eine Hochzeit vom Bewerber den Sieg über sie im Wettlauf verlangte (frgg. 73. 76 M-W. 26):

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... Atalante, schnellfüßig und edel
[Sie, die Tochter des Schoineus,] an Liebreiz gleich den Chariten,
Wies es von sich, dem Stamme [der Menschen] sich zu verbinden,
[Sondern beschloß,] die Hochzeit mit sterblichen Männern zu fliehen
...[Freier kamen] dem schlankfüßigen [Mädchen] zuliebe.
(Übers. E.G. Schmidt27)


... [Atalante, schnellfüßig und edel,]
Stob davon, verschmähend die Gaben [der goldenen Kypris.]
Ihm ging ums Leben [der Lauf, entweder bezwungen zu werden]
Oder dem Tod zu entfliehen. Deshalb [sprach] er listigen Sinnes:
"Tochter des Schoineus, [die du ein Herz hast ohne Erbarmen,]
Nimm diese glänzenden Gaben [der goldenen Kypris] entgegen..."


Ihn trugen [rasch] seine Füße...
Sie aber stürmte sofort ihm nach gleich einer Harpyie,
Holte ihn ein. Doch aus seiner Hand glitt der zweite zu Boden...
Schon besaß Atalante, schnellfüßig und edel, zwei Äpfel.
Nahe war sie dem Ziel. Da warf er den dritten zur Erde,
Und durch ihn entfloh er dem Tod und dem dunklen Verhängnis.
Tief aufatmend stand er da...

Doch sieht man genauer hin, erkennt man, daß bei Strauß von "Tod und dunklem Verhängnis" mit keinem Wort die Rede ist. Auf dem Weg von der antiken Dichtung zum modernen Autor hat also die archaische Grundspannung Eros - Thanatos an Brisanz verloren und ist zu einer Frage lediglich von Sieg oder Niederlage in einem sportlichen Wettkampf umgeformt. Dabei dient doch die Bedingung, die die antike Atalante stellt, keineswegs als erotisches Stimulans, sondern ist ein Adynaton mit letalem Gehalt. Über die Beweggründe, die Atalante zu dieser Forderung geführt haben, gibt am ausführlichsten und zugleich deutlichsten Ovid Auskunft. Auf diese Weise bestätigt sich aufs neue die Bedeutung der Metamorphosen als "Grundbuch der europäischen Kultur", so daß sich ein Verweilen lohnt, um den antiken Hintergrund von Straußens Darstellung genauer ins Auge fassen zu können. In den Metamorphosen 28 beginnt Venus 29 ihre Erzählung, durch die sie ihren Geliebten Adonis von der Jagd abhalten will, mit der Darstellung der Vorgeschichte von Atalantes Bedingungen (10,560-574):30
"Forsitan audieris aliquam certamine cursus
veloces superasse viros: non fabula rumor
ille fuit (superabat enim), nec dicere posses,
laude pedum formaene bono praestantior esset.
scitanti deus huic de coniuge 'coniuge' dixit
'nil opus est, Atalanta, tibi. fuge coniugis usum.
nec tamen effugies teque ipsa viva carebis.'
territa sorte dei per opacas innuba silvas
vivit et instantem turbam violenta procorum
condicione fugat, 'nec sum potienda, nisi' inquit
'victa prius cursu. pedibus contendite mecum:
praemia veloci coniunx thalamique dabuntur,
mors pretium tardis. ea lex certaminis esto.'
illa quidem inmitis, sed (tanta potentia formae est)
venit ad hanc legem temeraria turba procorum. (...)"
<560>
<565>
<570>

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"Vielleicht hast du schon von einer gehört, die im Wettlauf selbst die schnellsten Männer besiegte; das Gerücht war kein Märchen - sie besiegte sie in der Tat -, und man hätte nicht sagen können, ob ihr Ruhm als Wettläuferin oder der Reiz ihrer Schönheit sie mehr schmückten. Auf ihre Frage nach einem Gemahl hatte ihr der Gott verkündet: 'Einen Gemahl brauchst du, Atalanta, keineswegs. Meide die Ehe. Freilich wirst du ihr nicht entrinnen und bei lebendigem Leib dein Wesen verlieren.' Erschrocken über den Orakelspruch, lebt sie ehelos im finstern Walde und vertreibt grausam die aufdringliche Freierschar, indem sie folgende Bedingung stellt: 'Ich bin nur zu erobern, wenn man mich vorher im Wettlauf besiegt hat. Lauft mit mir um die Wette:
Dem Schnellen werde ich als Gattin zuteil, die Langsamen erhalten als Lohn den Tod. Das soll die Regel des Wettkampfes sein.' Zwar ist die Bedingung hart, aber so groß ist die Macht der Schönheit: Selbst auf diese Bedingung ging eine Schar tollkühner Freier ein. (...) "31

Hieraus wird ohne jeden Zweifel klar: Atalante stellt keineswegs eine Bedingung, die ein Freier zu erfüllen hat, um ihr als Ehemann künftig gefallen zu können. Sie sucht vielmehr nach einem Ausweg aus einem unentrinnbaren Dilemma: Auf der einen Seite rät ihr der Orakelspruch dringend von der Ehe ab, auch wenn sie ihn mißversteht und glaubt, ihr sei Ehelosigkeit prophezeit.32 Auf der anderen Seite steht zunächst die Realität des Frauenlebens in der Antike - und diese führte nun einmal in Griechenland wie in Rom fast ausschließlich zur Existenz als Ehefrau oder zumindest zum Wunsch und zum Bedürfnis, Ehefrau zu sein.33 Dazu kommt weiter als literarisches Kriterium, daß das bloße Insistieren auf einer ehelosen Lebensweise im Paradigma des Mythos fast hoffnungslos zum Scheitern verurteilt war. Das wußte Atalante, und das weiß jeder Leser der Metamorphosen seit der Sage von Apollo und Daphne im ersten Buch.34 Also bleibt Atalante als mögliche Rettung nur der Versuch, wenigstens selbst die Regeln der Partnerwahl zu bestimmen und zugleich diese so unerfüllbar als nur irgend möglich anzusetzen.

Von all dem ist bei Botho Strauß nur wenig zu spüren. Und da er das Potential des Mythos nicht zu nutzen versteht, muß er zu einem anderen erzählerischen Mittel greifen, um ein Element der Spannung zu gewinnen (71):

Eines Tages stand vor ihr ein sonderbarer Mann, der nicht den üblichen Bewerbern glich. Er war von großem Unwillen erfüllt und bezichtigte sie der Bosheit und der bösen Zauberkünste. "Ich bin gekommen und muß dich hassen..." Das war der Fremdling des Begehrens, ein zeitverirrter Krieger, der den Geschlechterkampf wiederaufnehmen wollte. Plötzlich, aus dunkler Ferne, tritt er neben sie, steht da, wirr und bereit, ein Deserteur, halb verwildert, der unzählige Jahre allein im Busch gelebt und vom Ende des Krieges nie etwas erfahren hatte.

Diese Abschnitte setzen den bereits zitierten zweiten Hinweis auf den Atalante-Mythos unmittelbar fort. Es drängt sich folglich auf, den dort genannten Hippomenes als typologisches Vorbild für den "Fremdling" zu lesen. Doch mit seiner Zeichnung dieser Figur verläßt Strauß den Boden des Mythos. Denn daß Hippomenes sich in seiner Einstellung zu Atalante - nicht im Erfolg

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seiner Werbung - fundamental von den anderen Freiern unterschieden hätte, ist der Überlieferung an keiner Stelle zu entnehmen.Und folgen wir gar der Akzentuierung, die Ovid in Fortentwicklung der Tradition, nicht in Abkehr von ihr, dessen Charakter gibt, so ergibt sich ein ganz andere gedankliche Abfolge. Dort liest es sich, als sei Hippomenes in erster Linie aus Neugier und Sensationslust zu dem gewiß weithin bekannten Spektakel 35 gekommen. Denn für die Freier, die sich auf die tödliche Brautwerbung einlassen, hat er nur völliges Unverständnis übrig (10,575ff.):

sederat Hippomenes cursus spectator iniqui
et 'petitur cuiquam per tanta pericula coniunx?'
dixerat ac nimios iuvenum damnarat amores.
Hippomenes hatte als Zuschauer dem ungleichen Wettrennen beigewohnt und gesagt:
'Sucht sich denn einer unter so großen Gefahren eine Frau zur Ehe?'
Verurteilt hatte er die übergroße Liebe.

Ja, Hippomenes scheint nicht einmal allzu genaue Kunde von der Person der Atalante zu haben, ganz zu schweigen von einer schon bestehenden abgrundtiefen Feindschaft. Die Rolle des innerlich unbeteiligten Zuschauers legt er binnen kürzester Frist ab, jedoch eben erst nachdem er unter dem Eindruck der Autopsie steht (10,578-586):

ut faciem et posito corpus velamine 36 vidit,
quale meum [scil. Veneris], vel quale tuum [scil. Adonidis], si femina fias,
obstipuit tollensque manus 'ignoscite' dixit
'quos modo culpavi! nondum mihi praemia nota,
quae peteretis, erant.' laudando concipit ignes
et, ne quis iuvenum currat velocius, optat
invidiamque timet. 'sed cur certaminis huius
intemptata mihi fortuna relinquitur?' inquit,
'audentes deus ipse iuvat.'
<580>

<585>
Sobald er aber Atalantas Gesicht und ihren Leib ohne Hüllen erblickte - ein Leib wie der meine oder wie der deine, wenn du zur Frau würdest - war er überwältigt, hob die Arme empor und sprach: 'Ihr Freier, die ich soeben beschuldigte, vergebt mir! Noch war mir der Kampfpreis nicht bekannt, den ihr erstrebtet.' Indem er sie lobt, fängt er Feuer, wünscht, keiner der jungen Männer möge schneller laufen, und fürchtet es voll Eifersucht. 'Doch warum lasse ich das Glück in diesem Wettkampf unversucht?' spricht er. 'Mutigen hilft die Gottheit.'

In diesen Versen demonstriert Ovid auf knappstem Raum exemplarisch, wie eine organische und zugleich sich selbst reflektierende Durchführung des mythologischen Themas aussehen kann. Er läßt den Leser darüber hinaus keine Sekunde vergessen, daß Venus ihrem Geliebten Adonis diese Sage aus didaktischen Gründen erzählt.37 Das bewirkt vor allem der auf die Erzählsituation zugeschnittene Vergleich von Atalantes Körper mit denen von Venus und Adonis, der sprachlich so artistisch gestaltet ist, daß er fast wie die Urform von Capitains Renaults Dictum aus "Casablanca"38 wirkt, mit dem er Ilsa Lund (i.e. Ingrid Bergmann) den Cafébesitzer Rick Blaine (i.e. Humphrey Bogart) beschreibt: "Well, Mademoiselle, he's the kind of man that, well, if I were a woman and I weren't around, I should be in love with Rick" - "Mademoiselle, er ist der Typ Mann, in den - wenn ich eine Frau wäre, und es mich nicht gäbe - ich mich verlieben würde."

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Um Hippomenes soweit zu bringen, braucht Atalante keine Zauberei - ein Vorwurf, der bei Botho Strauß anders als in der antiken Tradition 39 mitschwingt. Seine Verliebtheit reicht vollkommen aus, um ihn zum glühendsten Verehrer der ihm nun schon optisch näher bekannten Frau zu machen. Die Herausforderung stammt also von einem Jüngling, der alles andere ist als ein unvermittelt und haßerfüllt auftretender Fremder. Diese Einstellung des Hippomenes geht auch aus den Worten hervor, mit denen er Atalante seine Bewerbung ankündigt und die - auch im Rahmen der Metamorphosen - durchaus den Üblichkeiten solcher Vorstellungen entsprechen (10,600-608):

Non tamen eventu iuvenis deterritus horum
constitit in medio vultuque in virgine fixo
'quid facilem titulum superando quaeris inertes?
mecum confer' ait 'seu me fortuna potentem
fecerit, a tanto non indignabere vinci:
namque mihi genitor Megareus Onchestius, illi
est Neptunus avus, pronepos ego regis aquarum,
nec virtus citra genus est; seu vincar, habebis
Hippomene victo magnum et memorabile nomen.'
<600>
<605>
Trotzdem ließ sich der junge Mann von ihrem Ende nicht abschrecken, trat in die Mitte, richtete den Blick fest auf das Mädchen und sprach: `Was strebst du nach wohlfeilem Lorbeer, indem du Träge besiegst? Miß dich mit mir! Schenkt das Glück mir Erfolg, wirst du nicht unwillig darüber sein, von einem so edlen Mann besiegt zu werden; mein Vater ist nämlich Megareus aus Onchestus, sein Großvater ist Neptun; ich bin ein Urenkel des Königs der Gewässer, und meine Tapferkeit bleibt nicht hinter der Herkunft zurück. Werde ich aber besiegt, schenkt der Sieg über Hippomenes dir einen großen, ruhmreichen Namen.'

Die Konfrontation zwischen Hippomenes und Atalante bei Ovid wie in der mythologischen Vulgata beruht auf der durch die Grundkonstellation des Wettlaufes als Ehevoraussetzung bestehenden agonistischen Konkurrenz, keineswegs aber dem archaischen - oder archaisierenden - Mythos des "Geschlechterhasses". Allerdings verspürt auch Atalante eine von diesem Freier ausgehende Faszination, die aber eben nicht, wie Botho Strauß es darstellt, von dessen völliger Fremdartigkeit herührt; denn sollten noch Zweifel bestanden haben, so räumt sie Hippomenes mit seiner umfangreichen Selbstvorstellung aus. Sie entsprang im Gegenteil dem Höchstmaß an Vollkommenheit in den Tugenden, die einen (kultivierten) Liebhaber ausmachen, nicht einer Form der erotischen coincidentia oppositorum.

Auch Atalante macht bei Ovid eine innere Entwicklung durch, ja ihr wird mit einem ausführlichen Monolog 40 sogar noch mehr Platz eingeräumt als ihrem männlichen Pendant (10,611-635): Hippomenes' Schönheit, vor allem aber seine Jugend 41 und seine edle Abkunft lassen sie den bei einem Wettlauf unvermeidlich scheinenden Tod bedauern, ja sie wünscht sogar schon, besiegt zu werden (10,628-637):

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'(...) non erit invidiae victoria nostra ferendae.
sed non culpa mea est. utinam desistere velles!
aut, quoniam es demens, utinam velocior esses!
at quam virgineus puerili vultus in ore est!
a, miser Hippomene, nollem tibi visa fuissem!
vivere dignus eras; quodsi felicior essem
nec mihi coniugium fata inportuna negarent,
unus eras, cum quo sociare cubilia vellem.'
Dixerat, utque rudis primoque cupidine tacta,
quid facit, ignorans amat et non sentit amorem.
'
'(...) Ein Sieg wird mir unerträgliche Anfeindungen einbringen. Aber das ist nicht meine Schuld. Wolltest du nur aufgeben! Oder, da du einmal den Verstand verloren hast: Wärest du doch schneller! Ach, wie mädchenhaft ist der Ausdruck im Gesicht des Knaben! Ach, armer Hippomenes, hättest du mich nie gesehen! Du hättest verdient zu leben; wäre ich aber glücklicher und verböte mir nicht der leidige Schicksalsspruch die Ehe, wärest du der einzige, mit dem ich das Lager teilen wollte.' Sprach's. Und unerfahren, wie sie ist, zum ersten Mal von Verlangen ergriffen, weiß sie nicht, was sie tut: Sie liebt und ist sich ihrer Liebe nicht bewußt.'

Vergleicht man Ovids feinsinnige Psychologie, deren "Glanzstück" 42 der Monolog ist, mit der Erzählung von Botho Strauß, so werden die Defizite beim modernen Autor spürbar. Der Versuch, seinem Text eine antike Folie und damit eine in der europäischen Geistesgeschichte wurzelnde Tiefendimension zu geben, geht nicht auf, da der als Hintergrund gewählte Mythos sich für die von ihm gewählte Deutung als nicht tragfähig erweist. Strauß' erotische Psychologie ist keineswegs kompatibel zu jener der antiken mythologischen Erzählung, insofern bildet letztere auch nicht den erhellenden Hintergrund, sondern markiert einen strukturellen, vom Autor aber offenbar nicht als solchen empfundenen Bruch.

Diese Schwäche setzt sich in der, für sich genommen, durchaus originellen Schlußpassage der Erzählung fort: Botho Strauß formt aus dem Wettlauf und der Niederlage der Atalante im Mythos die erotische Werbung und Unterwerfung der modernen, scheinbar emanzipierten Frau unter den Mann, ja ihre Wandlung zu "jene[r] fatale[n] Verführerin, die es zuläßt, daß allein der Selbsthaß des Mannes sie erschuf, und strahlend Unglück bringt wie eh und je, dann hat sie, so verändert, dem Sinne nach die goldenen Äpfel aufgelesen und den Lauf an ihn verloren" (72). Die antike Atalante der mythologischen Vulgata ändert eben nicht ihren Charakter, sondern der Ehelosigkeit setzen die veränderten Umstände ein Ende: das Auftreten des allzu attraktiven Hippomenes. Zudem ist Hippomenes derjenige Bewerber, der seine erotische Hingabe am intensivsten und am klügsten in die Tat umzusetzen versucht, indem er sich an Venus selbst um Hilfe wendet und von dieser auch erhört wird: Sie gibt ihm die drei Äpfel,43 mit deren Hilfe er Atalante im Lauf hemmen und selbst den Sieg und damit die Braut erringen kann.

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Von einer grundsätzlichen Lebenswahl ist nur in der oben zitierten Platon-Stelle die Rede, doch ist dort die Figur des Hippomenes ausgeblendet, ohne daß zu erkennen wäre, wie er in eine etwaige Fortsetzung zu integrieren wäre. Atalante ist ganz gewiß keine Brünhild,44 die von grundsätzlicher Misandrie geprägt ist,45 sondern sie handelt lediglich entsprechend dem Orakelspruch, den sie allerdings falsch interpretiert. Von diesen Figuren des mythologischen Vorbildes führt kein Weg zum "Geschlechterhaß" bei Botho Strauß und auch nicht zu seiner Deutung der goldenen Äpfel.

Doch anscheinend kehrt er zu einer auf zutreffender Lesart basierenden, quasi-allegorischen Deutung des Mythos zurück, wenn er am Ende der Erzählung die Verwandlung seiner Figuren schildert (72):

Verrückt, einer nach dem anderen, ineinander verrannt, werden sie schließlich in den Tempel der Hochvernunft flüchten und ihn schänden. Die Strafe bleibt nicht aus, die beiden Unversöhnten finden sich als Partner wieder.
Mann und Frau nach dem Kampf. Was bleibt, sind Meinungen; letzte Geplänkel. Sie haben Unstimmigkeiten, Bedürfnisdissens, kritische Punkte. Lange Aussprachen. Man selbst wie auch der andere ist ein Wesen, das der ständigen Erläuterung bedarf. Es ist nicht ganz leicht zu begreifen, was Ich und Ich von einander wollen. Kein zwingender Grund mehr zwischen solchen beiden. Kein Grund mehr unter den Füßen, nur noch der Himmel über dem Kopf, der grenzenlose Äther der erlösten Gleichheit. 'So sollte es ihnen unmöglich sein, je wieder einander zu lieben.'

Damit ist Strauß schließlich auch bei dem Thema angelangt, womit er sich schon in seinen Prosaskizzen "Paare, Passanten" befaßt hat: dem Verlust der Liebesfähigkeit der Ikea-Generation.46 Mit dem Wortspiel "Parder-Partner" gewinnt er hier einen willkommenen Anknüpfungspunkt.

Der Schlußsatz, mit dem die Quintessenz der vorherigen ausführlicheren mythologischen Erläuterung noch einmal aufgenommen und damit betont wird, erlaubt nun aber auch, die Quelle, aus der Strauß seine Kenntnisse schöpft, mit Exaktheit dingfest zu machen. Er fußt nämlich ganz und gar nicht auf einer Lektüre der antiken Schriften im Original oder in der Übersetzung. Denn diesen hätte er die Erklärung für die Verwandlung von Atalante und Hippomenes keineswegs entnehmen können: Daß die Strafe darin bestehe, daß Löwen unfähig zu Paarung untereinander seien, ist nämlich erst ein spätes Interpretament der Scholiasten und Mythographen,47 das aus einer (mißverstandenen oder zumindest extensiv ausgelegten) Notiz bei Plinius 48 herausgesponnen ist, wie Gauly - in Korrektur der Handbücher und Kommentare - jüngst schlagend ausgeführt hat.49

Strauß' letzter Satz ist zwar durchaus ein Zitat, aber nicht eines antiken Schriftstellers, sondern eines modernen Handbuchs. Er findet sich nämlich fast wörtlich in der "Griechischen Mythologie" von Robert von Ranke-Graves: "Zeus war erbost über die Entweihung seines Tempels und verwandelte sie beide in Löwen. Denn Löwen paaren sich nicht mit Löwen, sondern nur mit Leoparden. So war es ihnen unmöglich, einander wieder zu lieben."50 In dessen einschlägiger Behandlung

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des Stoffes findet sich obendrein die arkadische und boiotische Variante aus den getrennten Traditionssträngen in eine chronologische verlaufende Art von "Atalante-Roman" vereinigt, außerdem eine totemistische Erklärung des Paarungsverbotes von Löwen untereinander, die allerdings kaum auf allzu breite wissenschaftliche Akzeptanz stoßen dürfte. Und auch Straußens Schwanken, ob Atalantes Herausforderer nun Melanion oder Hippomenes hieß (s.o.), läßt sich aus der Lektüre dieses Handbuches erklären.51

Mit dieser Art der Quellenbenutzung befindet sich Strauß in durchaus prominenter Gesellschaft, denn Ranke-Graves Darstellung wurde auch für Christa Wolfs "Kassandra"-Erzählung (1983) als Grundlage eruiert.52 Instruktiver aber ist, wie sich hier exemplarisch die Lebenslüge (eines Teils) der neuzeitlichen Graecomanie zeigt. Man verehrt die griechischen Dichter und Denker und preist ihre Namen, doch dienen sie in erster Linie als Schmuck, nicht als wirkliche Quelle. Solches geschah zwar auch schon in den Tagen Winckelmanns und Herders, als man die hellenistische und römische Kultur nur noch als schwaches Imitat einer besseren Vergangenheit betrachtete, aber einen Gutteil des Wissens und der Vorstellungen von der Antike aus der lateinischen Literatur und der hellenistisch-römischen Kunst bezog. Dieser Zwiespalt von Anspruch und Wirklichkeit zeigt sich abermals exemplarisch im Werk Friedrich Schillers, an seinem Gedicht "Die Götter Griechenlands", das zwar voller Emphase das (homerische) Griechentum preist, dessen Bild- und Vorstellungswelt aber von einem römischen Dichter stammt, von Ovid, wie Wolf-Hartmut Friedrich

längst gezeigt hat.53 Das Eingeständnis der wahren Quellenlage wäre Schiller im Zeitalter einer das "Originalgenie" verklärenden Ästhetik 54 gewiß schwergefallen. Im Falle von Botho Strauß als einem Autor des späten 20. Jahrhunderts, da doch solche ästhetische Positionen nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind, 55 ist die Diskrepanz von Schein und Sein noch wesentlich gravierender: Während er für sich reklamiert, nach den Sternen platonischer Ideen zu greifen, bedient er sich aus handelsübliches Taschenbuch-Nachschlagewerken.56

Und um zum Schluß nicht mißverstanden und als Zeuge kulturpessimistischer Gegenwartsdiagnosen vereinnahmt zu werden: Nicht dem Informationsmedium gilt die Kritik, sondern lediglich der Verschleierungstaktik. Der Name "Platon" steht nicht nur für einen höchstrangigen Gewährsmann, er hat auch speziell in deutschen konservativen Kreisen seit den Zeiten des Georgekreises die Aura des Elitären, nur den Eingeweihten (nicht aber den Philologen) Begreifbaren.57 Auch in dieser Tradition 58 steht die Suche nach höchster Autorität, die unter keinen Umständen für einen Ovid oder gar einen spätantiken Mythographen oder Scholiasten einzutauschen ist. Denn diesen haftet der Hautgoût des lediglich sekundären Abklatsches an, auch wenn eine solche Einschätzung durch jüngste literarische Entwicklungen allmählich auch außerhalb der Klassischen Philologie als obsolet erscheint.59 Gerade solche aber, denen ein prestigeträchtiges "name-dropping" leicht von den Lippen geht, zwingt in Wahrheit der Grad ihrer Vertrautheit mit der antiken Gedankenwelt und Literatur oftmals, zu noch wesentlich weiter von den Ursprüngen des Mythos entfernten

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Sekundär-, wenn nicht Tertiärquellen zu greifen. Ihre mangelnde Sachkenntnis machen sie durch einen geradezu heiligen EIfer wett. Darin unterscheiden sie sich von den raren Exemplaren, bei denen wirkliches Wissen und ein Platz im Rampenlicht der an Kulturellem interessierten Öffentlichkeit einander nicht ausschließen. Letztere können ihren Platon sogar im Stripteaselokal finden und daran geistreiche Bemerkungen knüpfen.60 Die anderen, weitaus in der Mehrzahl, verfassen nicht mehr Fußnoten zu Platon und zur Antike überhaupt, sondern lediglich noch Fußnoten zu den Fußnoten. - Oder anders ausgedrückt: Was Botho Strauß nützt, um seiner Erzählung Fundament und Prestige zu verleihen, ist nicht so sehr der Mythos als vielmehr der Mythos vom Mythos.61



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Anmerkungen

1 Grafton 1995: "Für sich selbst genommen, garantieren Fußnoten überhaupt nichts. Feinde der Wahrheit - und die Wahrheit hat Feinde - können sie dazu benutzen, dieselben Fakten abzustreiten, die ehrliche Historiker dank ihrer feststellen. Feinde von Ideen - und auch diese haben Feinde - können sie einsetzen, um massenhaft Verweise und Zitate zusammenzubringen, die für keinen Leser von irgendwelchem Interesse sind, oder alles zu attackieren, was nach einer neuen Hypothese aussieht. Und doch sind Fußnoten ein unverzichtbarer, wenn auch unansehnlicher Teil jener unverzichtbaren, unansehnlichen Mixtur aus Kunst und Wissenschaft - des modernen Geschichtswerks."
Für die Wiedergabe der griechischen Zitate (die in HTML stets problematisch ist) wurden statt einer unbefriedigenden Transkription eine Umsetzung in GIF-Dateien und die deutsche Übersetzung gewählt.
2 Zur Tradition dieses geflügelten Wortes vgl. Tarán 1984; sowie in knapper Zusammenfassung Bartels 1992, 40.
3 Whitehead 1979, 91f.: "Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht. Damit ... spiele ich auf den Reichtum an allgemeinen Ideen an, die sich überall in diesen Schriften finden. Seine persönlichen Begabungen, seine Erfahrungsmöglichkeiten in einer großen Phase der Zivilisation, seine Beerbung einer philosophischen Tradition, die noch nicht durch übertriebene Systembildung verhärtet war, haben seine Schriften zu einer unausschöpflichen Quelle des Ideenreichtums gemacht." - Den Nachweis des Zitats verdanke ich Herrn Dr. Volker Peckhaus, Erlangen.
4 Das steht in nuce schon bei Cicero, allerdings nicht über Platon selbst, sondern über dessen Lehrer Sokrates (acad. 1,16f.): ... omnis eius [scil. Socratis] oratio tantum in virtute laudanda et in hominibus ad virtutisstudium cohortandis consumebatur, ut e Socraticorum libris maximeque Platonis intellegi potest. Platonis autem auctoritate ... una et consentiens duobus vocabulis philosophiae forma instituta est, Academicorum et Peripateticorum, qui rebus congruentes nominibus differebant. - "All sein Reden erschöpfte sich nur im Lobe der Tugend, wie dies aus den Büchern der Sokratiker, insbesondere Platons, ersichtlich ist. Auf Platons Autorität gestützt, gestaltete sich ein System der Philosophie, welches unter zwei Namen doch nur ein einziges war, das der Akademiker und der Peripatetiker; sie stimmten in der Sache überein und unterschieden sich nur in der Bezeichnung."
5 Letzter allgemeiner Forschungsbericht von Brisson 1992 (mit Hinweisen auf frühere Forschungsberichte); noch aktueller ist die WWW-Version.
6 Williams 1981; vgl. die weitgespannte Argumentation von Gaiser 1988; außerdem Kristeller 1979 und Vieillard-Baron 1979
7 Vgl. allgemein Latacz 1991.
8 King 1994; Riches 1989.
9 z.B. Platon rep. 600 e "Wollen wir also feststellen, daß vom Homeros an alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildern der Tugend seien und der anderen Dinge, worüber sie dichten, die Wahrheit aber gar nicht berühren" (Übersetzung von Friedrich Schleiermacher)

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- Vgl. Müller 1975; Segal 1978; Kannicht 1980. - Das Verhältnis von Philosophie und Dichtung in der Antike hat unter weiterer Perspektive in den letzten Jahren zwei Monographien gezeitigt: Rosen 1988; Gould 1990.
10 Friedrich Schiller: Der Spaziergang. Vers 200 (Schluß), in: Sämtliche Werke. Hg. von G. Fricke und H. Göpfert in Verbindung mit H. Stubenrauch. Bd. 1. München 61980. 228-234, hier: 234; vgl. Wohlleben 1990; Häntzschel 1983
11 Homer wird nur einmal erwähnt in: Dichter beschimpfen Dichter II. Ein zweites Alphabet harter Urteile. Zusammengesucht und mit einem Nachwort beschlossen von J. Drews & Co. Zürich 1992, und das mit einem Zitat Voltaires, also aus der Zeit noch vor der neuzeitlichen Homereuphorie (57): "Wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling oft verursacht." Daß auch der gute Homer irgendwann einmal schläft und deshalb bisweilen Tadel verdient (Hor. ars 359 indignor, quandoque bonus dormitat Homerus), diese Meinung scheint man in den letzten beiden Jahrhunderten nicht mehr zu teilen. Zu früheren Stadien der Beurteilung siehe Bleicher 1972.
12 z.B. Klaus, Buhr 1979 s.v. Platonismus, 939f. (mit weiteren Querverweisen).
13 Popper 1980.
14 in: Strauß 1987, 66-72.
15 Für eine solche Auseinandersetzung bietet sich das OEuvre von Botho Strauß nicht zuletzt deshalb an, weil seine Bücher und Essays in den einschlägigen Feuilletons stets mit großer Aufmerksamkeit begleitet werden und sie häufig heftige Kontroversen auslösen etwa im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" vom 8.2.1993 mit dem Essay "Anschwellender Bocksgesang" = erweitert in: Schwilk, Schacht 1996, 19-40, womit er sich zum Chorführer eines neokonservativen Aufbruchs aufschwingt. So lassen seine Schriften und die dadurch hervorgerufenen Wirkungen repräsentative Schlaglichter auf den "Geist der Zeiten" fallen. Vgl. H. Kurzke, in Zmegac 1984, 565-570.
16 Genette 1993, 11ff.
17 Vgl. allg. Schmitzer 1993, 378ff.
18 Eine Auswahl: Ranke-Graves 1960, Nr. 80; Kerényi 1988, 95-101; Hunger 1959, s.v. Atalante; Grant, Hazel 5, s.v. Atalante.
19 Schleiermachers Übersetzung lautet: "Mitten inne habe auch die Seele der Atalante geloset, und da sie große Ehrenbezeugungen für einen kampfkünstlerischen Mann gefunden, habe sie nicht widerstehen können, sondern dieses gewählt." - Ein exaktes Vorbild für die bei Strauß anzutreffende Übersetzung habe ich nicht finden können. Eventuell handelt es sich um eine Paraphrase gängiger Übersetzungen durch den Autor.
20 Zu den Verzweigungen der Sage siehe J. Escher, RE 2 (1896), 1890-1894, s.v. Atalante 4); S. Eitrem, RE 8 (1913) 1887f. s.v. Hippomenes 1); Schirmer, RML I (1884) s.v. Atalante; K. Ranke, Enz. d. Märchens 1 (1977) 931ff. s.v. Atalante (nicht überzeugend); Weiler 1974, 189-194; letzte (gewohnt knappe wie erschöpfende) Darstellung bei Bömer 1980: zu Ov. met. 10,560-707, S. 188ff.; vgl. Faraone 1990. Zu den künstlerischen Darstellungen des Mythos siehe Boardman 1984 und Boardman 1990.
21 Vgl. Hölscher 1989, 162ff.
22 Wilamowitz-Moellendorff 1925, 219f. (92f.)
23 Lefkowitz 1992, 42.

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24 Stat. Theb. 6,561ff.; Schol. ad loc. Eine ähnliche Vermischung findet sich auch in der ebenfalls etwa gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstandenen Version der Bibliothek des Apollodor (3,9,2).
25 Zur Bedeutung des Mythos für Platon: Kobusch 1990 (mit weiterer Literatur).
26 Merkelbach, West 1967; vgl. dazu West 1985.
27 Scheffer 1965.
28 Interpretationen (außer Bömer) von Emeljanow 1969 (nur paraphrasierend); Boillat 1976, 147-155; Suerbaum 1982, 152-155; Alfonso 1991; ausführlich und einleuchtend Gauly 1992; dagegen fällt deutlich ab Bartenbach 1990, 134-151 und 182-195.
29 Es handelt sich dabei um eine fast ins Übermaß gesteigerte Erscheinungsform des "racconto dentro il racconto" (Rosati 1981): Ovid berichtet vom Gesang des Orpheus, Orpheus von Venus und Adonis, Venus von Atalante und Hippomenes.
30 Zur Rezeption der ovidischen Sagenversion in der Emblematik siehe Guthmüller 1973, 172-175.
31 Übersetzung hier und im folgenden von Albrecht 1981.
32 So Gauly 1992, 438 überzeugend, nicht aber die Fortsetzung (nach Bartenbach 1990 136): "Atalanta zieht aus der an sie ergangenen Warnung die Konsequenzen und setzt einen Wettbewerb an, der es Bewerbern fast unmöglich macht, sie zu gewinnen, aber eben nur fast [Kursive im Original]... Diese Handlungsweise erscheint als durchaus angemessene Reaktion auf das Orakel; einem Eheverbot hätte der absolute Verzicht folgen müssen."
33 Erhellend dazu Lefkowitz 1992, 52-74.
34 Vgl. Curran 1978.
35 Daß die Wettläufe Atalantes mit ihren Freiern sich fast schon zum regelmäßigen Volksvergnügen entwickelt haben, zeigt die Reaktion der Zuschauer vor dem finalen Rennen mit Hippomenes: iam solitos poscunt cursus populus paterque (10,638).
36 Daß auch Frauen nackt an gymnischen Wettkämpfen teilnehmen, ist nicht ungewöhnlich, sondern gehört zur Topik antiker Schilderungen (Bömer 1980 z.St.); vgl. die Darstellung auf einem attischen rotfigurigen Krater in Bologna (Boardman 1984, Nr. 81), mit der nackten Atalante, die sich offenbar soeben auf den Wettlauf vorbereitet, außerdem Weiler 1974 90.
37 Suerbaum 1982, 152-155.
38 Vgl. Eco 1985.
39 Atalante ist auch nicht erwähnt in den einschlägigen Darstellungen von Luck 1962; Luck 1990; K. Thraede, RAC 14 (1988) 1269-1276, s.v. Hexen; Tupet 1976.
40 Vgl. Bömer 1980, 202ff.
41 adhuc puer est (10,615): Das Verhältnis Atalante-Hippomenes stimmt also mit dem zwischen Venus und Adonis überein.
42 Wilamowitz 1925, 222 (96).
43 Lugauer 1967, 90-96 (nicht bei Bömer 1980, dort zu 10,464ff. weitere Forschungsliteratur).
44 So aber z.B. Lugauer 1967, 90, mit Recht vorsichtig Bömer 1980, 189: "... berührt sich mit dem aus der deutschen Nibelungen-Sage bekannten Brünhild-Gunther-Motiv ..."

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45 Von einer Ehe- (Hesiod a.O.) bzw. Liebesfeindschaft (KY/PRIDOS MI/SHMA, Eurip. frg. 530,4 N2), nicht jedoch von einem Männerhaß ist in der sonstigen Überlieferung die Rede. Atalante wird in der Antike niemals mit diesem Thema in Verbindung gebracht und auch nicht in eine Reihe mit den Amazonen oder den lemnischen Frauen (z.B. Aischyl. Choeph. 630ff.) gestellt.
46 Strauß 1981, z.B. 25: "... Seine Neigung zu skandinavischen Abholmöbeln hat sich bei der Einrichtung ihrer Dreieinhalbzimmer-Wohnung durchgesetzt. Gute moderne Zweierbeziehung. Sie gehen lässig und freundlich miteinander um, ohne Übertreibungen, ohne Flamme."
47 z.B. Hyg. fab. 185: quos Iuppiter ob id factum in leonem et leam convertit, quibus di concubitum Veneris denegant ("Iuppiter verwandelte sie wegen dieser Tat in einen Löwen und eine Löwin, denen die Götter das Beilager der Venus verweigern"); ähnlich Serv. Aen. 3,113. Mythogr. Vatican. I 39.
48 Plin. nat. 8,42f.: ... odore pardi coitum sentit in adultera leo totaque vi consurgit in poenam; idcirco ea culpa flumine abluitur aut longius comitatur - "Am Geruche merkt der Löwe an der ungetreuen Löwin die Begattung mit dem Panther und erhebt sich mit aller Kraft zur Bestrafung; deswegen spült die Löwin im Flusse ihre Schuld ab oder folgt nur in der Entfernung." (Übersetzung: König 1976)
49 Gauly 1992, 447f.
50 Ranke-Graves 1960, 242, Nr. 80 (Hervorhebung U.S.).
51 Ranke-Graves 1960: "Nach anderen wiederum war ... Atalantes Ehemann ... nicht Melanion, sondern Hippomenes ..."
52 Nicolai 1985; Seidensticker 1991, 423; vgl. Wolf 1983. Allgemein siehe Herzog 1977, bes. 26f
53 Friedrich 1953.
54 Vgl. Schmidt 1985.
55 Vgl. aber auch Schmitzer 1993, 384,56; vgl. Higham 1982.
56 Eine andere allegorisierende Deutung ist referiert in Hederich 1770 s.v. Atalanta, 456f.: "... so machen sie doch einige nicht unfüglich zu einem Bilde der Wollust, welcher oft die Menschen, auch mit Gefahr ihres Lebens, nachgehen, und da sie auch dieselbe erhalten, so werden sie, indem sie weder Gott noch Menschen scheuen, endlich selbst in unvernünftige Bestien verwandelt ... Andere haben hierbey noch ein tiefer Einsehen, und halten die Atalanta für die Kunst, den Hippomenes aber für die Natur, wovon jene dieser an sich allemal weiter zuvor kömmt, allein durch die Gewinnsucht sich ingemein auch verleiten läßt, daß sie von dem rechten Weg ausschweifet, und sich folglich dennoch die Natur zuvor kommen läßt, welcher sie denn auch, wie die Frau dem Manne, unterwürfig sein muß ..."
57 Vgl. die im Tone der Ergriffenheit verfaßte Abhandlung von Brecht 1929. Von Stefan George selbst ist das Verdikt überliefert, Wilamowitz' Platon sein ein Platon für Dienstmädchen.
58 Vgl. T. Krause: Innerlichkeit und Weltferne. Über die deutsche Sehnsucht nach Metaphysik. in: Schwilk, Schacht 1996, 137.

PhiN 2/1997: 58
59 Für Ovid ist hinzuweisen auf die Romane von Ransmayr 1988 (darüber genauer demnächst in einer eigenen Untersuchung) und Nooteboom 1991, wo Platon und Ovid den geistigen Hintergrund bilden. Zu Ransmayr und den Stärken und Defiziten des Umgangs mit den Metamorphosen Ovids siehe die instruktiven kritischen Ausführungen von Töchterle 1992 und (affirmativer) Glei 1994; zu Nooteboom siehe Schmitzer 1992 196, außerdem die Beiträge im Sammelband von Cartens 1995 von H. Bekkering ("Unser Lernen ist nichts anderes als ein Erinnern" [Sokrates]. Über Nootebooms "Die folgende Geschichte", 152-172) und W. Hottentot (Der Tod des Sokrates als Verwandlung. Notebooms "Die folgende Geschichte" und die Antike, 173-182).
Eine erzählerische Rehabilitation der spätantiken Mythographie gelingt Calasso 1988.
60 Eco 1990.
61 Diese hier anzutreffende moderne Funktion des Mythos ist eine Illustration der von Barthes 1964, bes. 85-151) aufgestellten Kategorien.


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