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Wolfram Nitsch (Köln)



Bickenbach, Matthias: Von der Möglichkeit einer 'inneren' Geschichte des Lesens,Tübingen: Niemeyer 1999 (=Communicatio 20)



Als der angehende Erzähler von Prousts Roman A la recherche du temps perdu eines Morgens sein schon vor langem verfaßtes und eingesandtes Erstlingswerk endlich in der Zeitung entdeckt, ermißt er plötzlich die seinerzeit noch nicht bedachte Bedeutung des Lesers. Zunächst versetzt er sich in den empirischen Zeitungsleser der Moderne hinein, der in seiner Eile und Zerstreuung den Namen des Verfassers wahrscheinlich gar nicht bemerkt, zugleich jedoch gnädig hinwegliest über die inzwischen erkannten Schwächen des Textes. Daneben bedenkt er aber auch den sozusagen transzendentalen Leser aller Literatur, dessen Lektüre die Selbstlektüre des Autors unweigerlich ergänzt und verändert. Autor und Leser, so sein metaphorisches Fazit, benutzen gleichsam eine "Telephonleitung", die Worte allein um den Preis ihrer medialen Wandlung überträgt; beide besitzen stets nur Bruchstücke der "kollektiven Venus" des Werks (Proust 1987–89: 4, 147-152). Mit der aller Theorie eigenen Verspätung werden Prousts fiktionale Reflexionen über die Lektüre seit nunmehr gut dreißig Jahren auf verschiedenen Feldern der Forschung nachvollzogen. Die Sozialgeschichte des Buchwesens hat das Lesen als eine vielfältige und gelegentlich widerspenstige soziale Praxis gewürdigt1; die literaturwissenschaftlichen Schulen der Rezeptionsästhetik und der Dekonstruktion haben den Leser als konstitutive Größe fiktionaler Texte begreifen gelehrt.2 An der Grenze zwischen beiden Forschungsfeldern, doch gewissermaßen exterritorial zu ihnen, situiert Matthias Bickenbach seine 1995 vorgelegte Kölner Dissertation. Anders als die sozialhistorische Leserforschung entwirft er eine 'innere' Geschichte des Lesens, die den Wandel nicht seiner äußeren Bedingungen, sondern seiner immanenten Verfahren verfolgt; anders wiederum als die rezeptionsästhetische oder dekonstruktive Theorie der Lektüre geht er nicht von einem systematischen Lektüremodell, sondern von historisch variablen Lektürekonzepten aus. Dabei läßt er sich von der Unterscheidung zwischen Lektüretechniken und Lektürepraktiken leiten. Lektüretechniken ergeben sich bereits aus den verschiedenen formalen Parametern des Lesens, insbesondere seiner Lautstärke und seiner Geschwindigkeit, aber auch seinem Selektionsgrad und seiner Frequenz: Texte können laut oder leise, langsam oder schnell, flächendeckend oder wählerisch, einmal oder zweimal gelesen werden. Lektürepraktiken hingegen resultieren aus der Koppelung und Instrumentalisierung solcher Techniken in einem bestimmten historischen Kontext. Das an sich schmale Arsenal der Lektüreverfahren wird im Lauf der Geschichte in wechselnden Konstellationen und mit wechselnden Funktionen verwendet; alte Techniken kehren stets nur im Rahmen neuer Praktiken wieder.

Aus der so eingegrenzten Geschichte des Lesens zeichnet Bickenbach zwei kapitale Umbrüche nach. In einer Art Rückblende skizziert er zunächst den nachantiken Übergang von der lauten zur stillen Lektüre, dem bislang das Hauptaugenmerk einschlägiger Forschungen galt.3 Im Altertum wird noch vorwiegend laut gelesen, da der Schriftgebrauch vor allem der Ausbildung der Redekunst dient; nur der ungebildete Büchernarr liest nach Lukian "so schnell, daß die Augen den Lippen immer zuvorlaufen" (21).




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Schon in der Spätantike jedoch beginnt der bis heute nachwirkende Siegeszug der stillen Lektüre, wobei medien- und diskursgeschichtliche Faktoren zusammenwirken. Eine primär visuelle Texterfassung wird begünstigt durch die Einführung des Codex, der anders als die Schriftrolle Blättern und Nachschlagen gestattet; sie wird entscheidend befördert durch die christliche Hermeneutik, die seit Augustinus im Gegensatz zur antiken Rhetorik auf eine andächtige Verinnerlichung des Geschriebenen setzt. Die damit eingeleitete Individualisierung des Lesens schreitet in den mittelalterlichen Bibliotheken voran und erhält durch den Buchdruck einen weiteren Schub. Um das dadurch immer weniger kontrollierbare Leseverhalten wenigstens ansatzweise zu steuern, propagiert man in der frühen Neuzeit die Technik der selektiven Lektüre. Dabei wird das schon in der antiken Selbstkultur empfohlene Verfahren der individuellen Auslese von Texten oder Stellen erneuert und durch eine propädeutische Vorauswahl, eine 'Rhetorik der Leseliste', ergänzt. Der humanistische Buchgelehrte und Pädagoge waltet nach Vives wie ein heilkundiger Gärtner, sammelt das Nützliche und rottet das Schädliche aus.

Der kompakte Forschungsbericht zur allmählichen Visualisierung und Vereinzelung der Lektüre grundiert freilich nur den eigentlichen Forschungsbeitrag der Arbeit, der die neuzeitliche Beschleunigung des Lesens ins Auge faßt. Die Geschwindigkeit der Texterfassung, in der Antike noch durch das Sprechtempo verbindlich geregelt, kann erst unter stillen Lesern zum Thema werden; doch erschöpfen sich entsprechende Reflexionen über lange Zeit darin, vor den Gefahren allzu schnellen Lesens zu warnen. Pascals berühmte Maxime, die ein allzu langsames Lesen als ebenso hinderlich für das Textverstehen bewertet, stammt aus dem 17. Jahrhundert und findet praktisch erst im 18. Jahrhundert Gehör.4 Dies gilt zumindest für den deutschsprachigen Raum, wo die Philologen Gesner und Herder für ein Lesen mit hohem oder vielmehr mit variablem Tempo plädieren. Gegen die tradierte Lektürepraxis des zeitgenössischen Lateinunterrichts, der mehr auf Eloquenz denn auf Sachwissen zielt und daher auf Textauszüge statt auf Ganztexte setzt, empfiehlt Gesner 1735 eine "kursorische Lektüre" ganzer Texte zur Erfassung ihres Zusammenhangs, worauf erst in einem zweiten Schritt die "statarische Lektüre" ausgewählter Abschnitte folgt (137). Für diese neuartige Praxis liefert Herder 1769 die philosophische Begründung, indem er das Verstehen des geschlossenen Ganzen vor und über die Vertiefung in kontextlose Teile stellt. Der Leser solle zunächst rasch mit dem "Strom" des Textes "schwimmen", bevor er zurückkehrt zu einzelnen Stellen; nur so gelinge es ihm, sich die Wirklichkeit der Fiktion vor Augen zu führen (164f). Der insbesondere von Friedrich Kittler angemerkte Hang goethezeitlicher Literatur und Philosophie, den Buchstaben des Textes zugunsten quasi phantasmagorischer Effekte zu überspringen, weist mithin auch auf eine veränderte Lektüretechnik zurück.5 Die Koppelung von schneller Erstlektüre und langsamer Zweitlektüre steht gewissermaßen Modell für das Konzept des hermeneutischen Zirkels, das Schleiermacher später ebenfalls am Zusammenspiel von "kursorischer Lesung" und "genauerer Auslegung" erläutert (172). Sie setzt sich so nachhaltig durch, daß sie von Jean Paul schließlich überhaupt zum Kriterium für Literarität erhoben wird: "Wenn ein Buch nicht werth ist 2 mal gelesen zu werden, so ists auch nicht werth 1 mal gelesen zu werden" (166).

Diese hier erstmals gebührend markierte Zäsur in der 'inneren' Geschichte des Lesens muß nach Bickenbach auch immer berücksichtigt werden, wenn moderne Autoren eine Rückkehr zur lauten Lektüre fordern. So stellt schon Wieland in einer Fußnote zu Lukian die Regel auf, alle Literatur müsse "laut gelesen werden, wenn nicht die Hälfte ihrer Schönheiten für den Leser verloren gehen soll" (21). Damit aber interpretiert er ästhetisch, was in der Antike noch rhetorisch begründet war: Lautes Lesen bildet nurmehr die Hälfte des Lektürevorgangs, seine zweite, dem Textdetail im Horizont des Textensembles gewidmete Phase. Ähnlich verhält es sich mit Nietzsches Kritik des modernen Lesens "bloß mit den Augen" (45). Das im gleichen Zug wieder empfohlene laute und langsame Erfassen des Textes richtet sich in erster Linie gegen eine hermeneutische Lektürepraxis, die den Buchstaben gegenüber dem Geist vernachlässigt. Auf Nietzsches Vorschlag einer bewußten Verzögerung der Interpretation kommt noch Paul de Man zurück, der das Verhältnis von kursorisch-hermeneutischer und statarisch-poetischer Lektüre nicht mehr als komplementäres Zusammenspiel, sondern als aporetisches Widerspiel begreift (254f). Einer solchen Auffassung des Lesens weiß sich auch Bickenbach selbst verpflichtet — allerdings mit dem Anspruch, sie als spätes Ergebnis einer langen Geschichte kenntlich zu machen.




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Diesem Anspruch wird seine Untersuchung weitgehend gerecht. Auch wenn sich ihre anfangs noch komparatistische Perspektive im weiteren stillschweigend auf die deutsche Literatur verengt, bietet sie einen instruktiven Überblick über die verstreuten Zeugnisse zur nachantiken Verinnerlichung des Lesens und einen originellen Einblick in seine neuzeitliche Beschleunigung. Dabei wird nicht einfach, wie etwa in weiten Teilen der Kittler-Schule, ein historischer Vorrang medialer Gegebenheiten behauptet, sondern vielmehr die enge wechselseitige Verflechtung von Medien- und Diskursgeschichte betont. Die Unterscheidung zwischen Lektüretechniken und Lektürepraktiken führt vor Augen, daß die relativ konstanten Strukturen eines langlebigen Mediums wie des Buches im Lauf der Zeit sehr verschieden begriffen und benutzt werden können. Ein zeitgenössisches Bewußtsein von solcher Verschiedenheit findet sich am ehesten im literarischen Text, wie das Schlußkapitel zu Wielands 'Lesepoetologie' belegt. Dessen erster Roman Don Sylvio von Rosalva (1764) nimmt auf die neuen Lektürepraktiken seiner Epoche Bezug, indem er seinen Helden "mit fliegenden Blicken" (182) Märchen lesen und diese schließlich mit der Wirklichkeit verwechseln läßt. Wieland propagiert jedoch weder dieses schwärmerische noch ein konträres, auf- oder abgeklärtes Leseverhalten, sondern führt seinem Leser beide vor, um ihn auf die Suche nach einem angemessenen Lesen zu schicken. Daran sind fiktionsironische Verfahren wie intertextuelle Verweise oder auktoriale Fußnoten entscheidend beteiligt, für die sich in Traktaten wie denen Gesners oder Herders keine Gelegenheit findet. Die konsequenteste Schulung des Lesers besteht mithin in seiner fiktionalen Aktivierung, nicht darin, sein Verhalten durch explizite Regeln zu steuern.

Obwohl Bickenbachs Wieland-Lektüre dem literarischen Text einen Sonderstatus in der 'inneren' Geschichte des Lesens einräumt, läßt sie doch auch erkennen, daß er sich wie inzwischen nicht wenige medienwissenschaftlich ausgerichtete Philologen im Grunde mehr für die Möglichkeitsbedingungen von Literatur als für Literatur selbst interessiert. Das Kapitel macht nur etwa ein Fünftel der gesamten Arbeit aus, die damit zu einer Abhandlung über Abhandlungen gerät; vor allem aber geht es nur recht kursorisch und nicht immer trennscharf auf literarische Verfahren zur Lesersteuerung ein.6 Zwar vermerkt es, daß auktoriale Kommentare oder Fußnoten zu einer anhaltenden Lektüre verleiten, doch schweigt es von allen Techniken zur Fesselung des Lesers, die nicht allein die Märchen in Wielands Roman, sondern auch den Don Sylvio selbst zu kennzeichnen scheinen. In dieser Beleuchtung bietet sich Literatur als vorwiegend zerebrale Veranstaltung dar, bei der das suggestive Moment ganz im Schatten des reflexiven Moments oder, mit Wolfgang Iser gesprochen, das Imaginäre ganz im Schatten des Fiktiven steht.7 Dies fällt um so mehr ins Auge, als Bickenbach in seinen spannendsten Passagen ja gerade von ihrer enormen Sogwirkung auf den kursorischen Leser handelt. Vielleicht ist die Zeit wieder einmal reif für eine 'Rückkehr zur Philologie' (de Man), was in der heutigen Lage hieße: für eine Rückbesinnung von der Geschichte der Medien auf den mit ihren Möglichkeiten spielenden fiktionalen Text. Der Mediologe jedenfalls kann nur gewinnen, wenn er sich zugleich als Philologe im Sinne Nietzsches gebärdet — als unbeirrbarer "Lehrer des langsamen Lesens" (42).


Bibliographie

Culler, Jonathan (1983): On deconstruction. Theory and Criticism After Structuralism, London, 1983.

Proust, Marcel (1987—89): A la recherche du temps perdu. Hg. Jean-Yves Tadié u. a., 4 Bde., Paris.

Chartier, Roger und Guglielmo Cavallo Hg. (1999): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M.

Saenger, Paul (1998): Space between words. The Origins of Silent Reading, Stanford.




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Warning, Rainer (1975): "Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik", in: Warning, Rainer. (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München, 9-41.

Kittler, Friedrich (1985, 1995): Aufschreibesysteme 1800/1900, München.

Genette, Gérard(1972): "Discours du récit. Essai de méthode", in: Genette, Gerard. Figures III, Paris, 65-292.

Iser, Wolfgang (1991): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M.


Anmerkungen

1 Vgl. zuletzt etwa Chartier u. Cavallo (1999).

2 Vgl. die weiterhin maßgeblichen Grundrisse von Warning (1975) und Culler (1983: 31-83).

3 So zuletzt vor allem Saenger (1998).

4 "Quand on lit trop vite ou trop doucement, on n’entend rien", in: Blaise Pascal: Pensées, Nr. 69 nach der Zählung von Brunschvicg.

5 Vgl. Kittler (1985, 1995: 138-158), kritisch diskutiert bei Bickenbach, 19 u. 165f.

6 So wird der Begriff der Metalepse bezeichnenderweise in einer von Lyotard angedeuteten philosophischen Lesart (225f) statt in der von Genette vorgeschlagenen narratologischen Definition als Überschreitung der Grenze zwischen zwei Erzählebenen verwendet. Nur die zweite Lesart erlaubt es jedoch, die von Cervantes wegweisend ausgeloteten und von Wieland aufgenommenen Möglichkeiten fiktionaler Reflexion über das Lesen in ihrer ganzen Abgründigkeit angemessen zu beschreiben. Vgl. Genette (1972: 243-245).

7 Vgl. Iser (1991: 377-411)

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