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Bettina Lindorfer (Berlin)



Peter Burke (2001): Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Berlin: Wagenbach.1



"Ich bekenne gerne, daß ich große Themen am liebsten in kurzen Studien behandle, die versuchen, Verbindungen zwischen verschiedenen Orten, Gegenständen, Epochen oder Individuen herzustellen" (19). Im Unterschied zu seinen letzten beiden auf deutsch erschienenen Büchern (Burke 1998 und 2000) ist Peter Burkes Papier und Markgeschrei tatsächlich ein Buch zu einem Thema, nämlich zur europäischen Sozialgeschichte des Wissens von der Erfindung des Buchdrucks bis zum Erscheinen der Encyclopédie, d.h. von 1450 bis 1750. Der atmosphärisch geglückte Titel der deutschen Ausgabe läßt die den neun Kapiteln zugrundeliegende Frage nach "dem gesellschaftlichen Element im Wissen" (10) nicht mehr erkennen, die das Original als Hommage an die wissenssoziologischen Arbeiten Karl Mannheims (19) noch ankündigt.

Was ist das "gesellschaftliche Element im Wissen"? In Anlehnung an eine sprachwissenschaftliche Unterscheidung könnte man sagen, daß in diesem Buch eine externe Geschichte des Wissens entworfen wird. Zu ihr gehören Techniken und Medien, aber auch Orte, Institutionen, politische Maßnahmen sowie herausragende Einzelpersonen.

Was die Organisation des Wissens zwischen 1450 und 1750 maßgeblich bestimmt hat, ist die Erfindung des Buchdrucks. Das gedruckte Buch ist das "Medium, das geographische Barrieren überwand", das "Wissen aus einer ursprünglichen Umgebung herauslöste" (96), das zum "Ideal eines allgemein zugänglichen Wissens" beitrug (104). Damit einhergehend wurde Wissen standardisiert – man denke nur an die Normierung der Graphie auf Initiative der Drucker im 16. Jahrhundert.

Die neue Technik war jedoch nicht nur ein Segen. Einerseits heizte sie die Kommerzialisierung an und brachte das "'Geschäft mit der Aufklärung'" (187) zum Blühen.2 Andererseits überschüttete sie die Welt seit 1500 mit großen Mengen von zu ordnendem, zu systematisierendem und zu klassifizierendem Wissen. Von "Bücherflut" (197) und "Bücherschwemme" (125) ist die Rede und vom "ständig wachsenden [...] Dschungel des gedruckten Wissens" (131).3




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Wie der Buchdruck für Fragmentierung, Dekontextualisierung und Verselbständigung von Wissen steht (Attribute, die seit Platons Kratylos ja bereits der Schrift zugeschrieben werden), so verweist die alphabetische Anordnung in Bibliotheken und Enzyklopädien auf den Verlust der Ordnung der Welt. An die Stelle einer "hierarchischen, organischen Weltsicht" (138) tritt mit dem Alphabet als Ordnungsprinzip "zugleich eine Ordnung und eine Unordnung, eine Ordnung ohne Sinn" (um es mit Roland Barthes zu formulieren). Zwar haben schon mittelalterliche Enzyklopädien ihren Stoff vereinzelt in dieser Weise geordnet – zuerst die byzantinische Enzyklopädie der "Suidas" im 11. Jahrhundert –; meist wurde jedoch der thematisch organisierte Baum des Wissens bevorzugt. Aber seit Beginn des 17. Jahrhunderts wurde das Alphabet zum "vorrangigen Klassifikationssystem" (132). Im übrigen führt es nicht nur zum "Verlust des Glaubens an die Übereinstimmung zwischen Welt und Wort", es verändert auch die Lesegewohnheiten – das Kriterium der Effizienz kann nun in den Vordergrund rücken (217).

Wie in vielen seiner Arbeiten situiert Burke die eigene Fragestellung zunächst in bezug auf wissenschaftliche Väter und Vorväter (Foucault, Kuhn, Geertz, Goody oder Bourdieu bzw. Durkheim, Mauss, Bloch, Veblen, Weber und Mannheim). Vier Aspekte unterscheiden dabei, so Burke, die jüngeren Untersuchungen von den älteren: 1. die Betonung der Konstruiertheit des Wissens und 2. der Heterogenität der Wissensträger; 3. die mikrosoziologische Perspektive auf den intellektuellen Alltag und 4. die Konzentration auf Gender und Geographie (16f.).

Neben die schon hier erkennbare Lust am Aufzählen, Ordnen und Klassifizieren treten immer wieder Einschübe, die den Text gliedern und kommentieren. Burke entwirft Oppositionen, z.B. zwischen roher "Information" vs. 'gekochtem', gedanklich verarbeitetem "Wissen" (20), um sie dann zu überschreiten: z.B., Francis Bacon zitierend, zwischen der gedankenlos vorgehenden "empirischen Ameise" und der "scholastischen Spinne, die aus sich selbst heraus ein Netz spinnt" (26); zwischen dem Bild des Intellektuellen als Außenseiter, der die Gesellschaft von ihren Rändern her erneuert (Thorstein Veblen), und dem (von Elias und Bourdieu entworfenen) Gegenbild des von akademischen Institutionen hervorgebrachten intellektuellen "Rentiers" (46); zwischen der Darstellung von Universitäten als "Bollwerk der scholastischen Philosophie" (53f.) und Anhängern der neuen, "mechanischen" Philosophie in Gesellschaften wie der Accademia del Cimento oder der Royal Society. Auf Ausgleich bedacht, plädiert Burke für eine "Interaktion zwischen Außenseitern und Establishments, zwischen Laien und Fachleuten, intellektuellen Unternehmern und intellektuellen Rentiers" (67).

Nach der "Erfindung" oder vielleicht auch "Einführung" in das Thema "Soziologie und Geschichte des Wissens" – über diesen Spagat vom Inhaltsverzeichnis zur Kapitelüberschrift bin ich lange ins Grübeln gekommen – wird die "kollektive Identität" der Wissensträger skizziert: der "Klerisei", wie Burke die litterati der Frühen Neuzeit nennt. Zu dieser heterogenen Gruppe von 'Intellektuellen', deren Zahl und Bedeutung durch den Buchdruck massiv anstieg, gehörten Kleriker, Universitäre, Literaten, Drucker und Sekretäre. Ihren Zusammenhalt gewährleisteten Rituale wie die "Respektbezeugungen junger Gelehrter gegenüber älteren Kollegen, von denen sie sich eine Förderung ihrer Karriere erhofften" (31; vgl. Burke 2001: 87), genauso wie ihre im Laufe der Jahrhunderte wechselnden Treffpunkte: Seminarräume, Bibliotheken (in denen noch kein Schweigegebot geherrscht habe; 72) oder Cafés, Buchhandlungen.




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Ein großer Teil des Buches handelt vom sozialen Netzwerk dieser gelehrten Männer: von den geographischen Orten und den institutionellen Stätten des Wissens, von ihrer Erfindung neuer Disziplinen; aber auch von Wissen und politischer Macht, von der kommerziellen Verwertung des Wissens und der (damit einhergehenden) skeptischen Hinterfragung seiner Zuverlässigkeit. Klöster, Universitäten, Bibliotheken, aber auch Gasthäuser, Barbierstuben, seit dem 17. Jahrhundert zunehmend auch Labore, Buchhandlungen, Kaffeehäuser sind nur einige der Orte, an denen man Neues erfuhr. Die städtischen Zentren des Wissens waren die Hauptstädte Rom, Paris und London; im 15. und 16. Jahrhundert Venedig, Lissabon und Sevilla, Amsterdam im 17. Jahrhundert.

Doch wie organisierte man das über verschiedene Wege aus der "Peripherie" der Welt ins "Zentrum" Europas kommende Wissen (93ff.)? Für Burke sind drei "Subsysteme" sichtbarer Ausdruck der großangelegten (Neu-) Organisation des Wissens: 1. Die Entstehung neuer universitärer Disziplinen, die (alphabetische) Ordnung von 2. Enzyklopädien und 3. Bibliotheken bzw. Bibliographien.4

Doch nicht nur Wissenschaftler akkumulierten und klassifizierten, auch Machthaber sammelten nun systematisch Informationen. Bürokratie wurde mit der Zentralisierung der Verwaltung zum festen Bestandteil "normaler Regierungspraxis" (141). So ließ der "Schreibtischmonarch par excellence", Philipp II. von Spanien, 1575 und 1578 mit Hilfe von Fragebögen detaillierte Berichte über 600 neu-kastilische Dörfer anfertigen, und zwar über die Qualität des Bodens, die Anzahl der Spitäler, über Lieblingsheilige und -feste der Bewohner etc. Als Modell dieser systematischen Erfassungen könnte die katholische Kirche gedient haben, die ihre Priester nach dem Konzil von Trient (1563) dazu anwies, Geburts-, Eheschließungs- und Sterberegister zu führen. Doch vor allem die systematischen Befragungen und peinlich genauen Protokolle der Inquisition demonstrieren für die Frühe Neuzeit, wie sehr "das Streben nach Wissen im Dienste der Kontrolle stand" (146).

Auch in außenpolitischer Hinsicht ist Macht eine Frage des Wissens: das zeigen schon die relazioni der Republik Venedig im 16. Jahrhundert, jene Berichte der venezianischen Botschafter über die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kennzeichen des Staates, bei dem sie akkreditiert waren; hierher gehören auch die vermutlich neapoletanischen Ursprünge des Geheimdienstes, Spitzelsysteme, ausgeklügelte Belohnungsweisen von Denunzianten und die im 16. Jahrhundert einsetzende Archivierung und Geheimhaltung von Dokumenten, bei der erneut der Vatikan "eine Vorreiterrolle gespielt haben" dürfte (164).

Gewagt ist sicher die Opposition, die Burke im Kapitel zur Rolle des Lesers entwirft. Er schlägt hier das Notizen machende, ganze Passagen memorierende intensive Lesen ("exemplarisches Lernen" sagt die moderne Didaktik dazu) aufgrund von Montaignes Lesegewohnheiten dem 16. und das extensive Lesen ( unser "orientierendes Lernen") mit Verweis auf Montesquieu dem 17. Jahrhundert zu.




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Ein Kapitel behandelt die "Krise des Wissens" im Europa des späten 17. Jahrhunderts (236f.), die sich in pragmatischem Skeptizismus, aber auch in der Abwertung mündlicher Überlieferung zeigte. Für Burke ist es eine Reaktion auf diese Krise, daß experimentelle Methoden "zunehmend auch als Wissen schaffende Praxis akzeptiert" wurden. Daß Wissen nicht mehr nur "Erkenntnis des Allgemeinen" meint, wie die aristotelische Formel lautet, (239f.) zeigt seit dem 16. Jahrhundert insbesondere die Rolle des Details. In den Texten zeigt sich diese neue Bedeutung des Singulären an den Fuß- oder Randnoten, die im 17. Jahrhundert "gängige Praxis" wurden (243).

"Das vorliegende Buch basiert auf einem vierzigjährigen Studium frühneuzeitlicher Texte wie auf Werken der Sekundärliteratur" (7), "die für diese Untersuchung relevante Literatur ist grenzenlos" (267) – Diese Sätze machen die wissenschaftliche Autorität des Autors und seinen Zeitaufwand geltend. Gleichzeitig nennt Burke sein Buch ein "Provisorium" (19). – Die widersprüchlichen diskursiven Gesten lassen vielleicht auf ein Unbehagen schließen. Das Unbehagen an dem fast schwindelerregenden Gang durch Zeit und Raum, der einen Berg von Fakten aufruft ("Große Bibiliotheken stellten in diesem weitflächigen Teil Europas [im Norden und Osten Europas: Moskau, Uppsala, Wilna, Kiew, Lund, St. Petersburg] eine Seltenheit dar, aber immerhin besaß die herzogliche Bibiliothek in Wolfenbüttel 1661 28000 Bände, die Universitätsbibliothek Göttingen 1760 fünfzigtausend und die königliche Bibliothek in Berlin 1786 achtzigtausend" [87]) und gleichzeitig eine große Entwicklung zu erzählen versucht. Das Verhältnis zwischen singulären Ereignissen, Tatsachen und den allgemeinen Entwicklungslinien ist oft fragwürdig. Gegenbeispiele und gegenläufige Entwicklungen drängen sich auf, verbunden mit der Frage, ob die angeführten Belege ausreichend sind, um diese oder jene Behauptung zu belegen. Zugleich aber erinnert die Vielfalt der angeführten Bereiche manchmal an jene von Burke selbst belächelten Kuriositätenkabinette, deren 'Ordnung' heute nur mit Mühe zu rekonstruieren ist.

Die Geschichtsschreibung hat seit den 60er Jahren versucht, durch methodische Besinnungsarbeit verlorene Sicherheit wiederzugewinnen. Das strukturalistische Paradigma und das Prinzip der Quantifizierung wurden durch mikroperspektivische Untersuchungen ergänzt. Die Erkenntnis, daß auch der historiographische Diskurs immer ein Erzählen ist, hat auch hier einen "linguistic turn" bewirkt (Chartier 1995: 41). Als "science sociale" ist die Historiographie dazu aufgefordert, "de brouiller les frontières canoniques entre les disciplines" (Chartier 1995: 50). Soviel kann man sagen: Die Entprofessionalisierung, die, wie Burke selbst einmal betont hat (Burke 1991), das interdisziplinäre Arbeiten mit sich bringt, geht bei ihm sicher nicht auf Kosten der Darstellung, höchstens auf Kosten der Einzeldisziplinen. Große Linien aufgrund von




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singulären Fakten zu entwerfen ist nun einmal ein Wagnis, bei dem die Gefahr besteht (um die Formulierung des Historikers Martin Dinges aufzugreifen), zwar ein "Lieblingskind des Taschenbuchmarkts" zu sein, aber doch auch ein wenig das "Stiefkind der historischen Zunft". Mikroskopische Einstellungen, die interdisziplinäre Öffnung und der Entwurf großer Entwicklungslinien machen auch dieses Buch des Kulturhistorikers zu einem sympathischen Versuch, Geschichte heute und für unsere Zeit der großen medialen Umbrüche zu erzählen.


Bibliographie

Burke, Peter (1991): "Overture: the New History, its Past and its Future", in: Burke (Hg.): New Perspectives on Historical Writing. University Park, Pa, 2–19.

Burke, Peter (1998): Eleganz und Haltung. die Vielfalt der Kulturgeschichte. Über Selbstbeherrschung, Schabernack, Zensur, den Karneval in Rio und andere menschlichen Gewohnheiten. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Berlin.

Burke, Peter (2000): Kultureller Austausch. Aus dem Englischen von Burkhardt Wolf. Frankfurt am Main.

Chartier, Roger (1991): "Die Praktiken des Schreibens", in: Ariès/Duby (Hgg.) Geschichte des privaten Lebens. Bd. 3 Von der Renaissance zur Aufklärung. Frankfurt am Main, 115–172.

Chartier, Roger (1995): "L'Histoire Culturelle entre 'Linguistic Turn' et Retour au Sujet", in: Chartier/Vierhaus: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Göttingen, 29–58.

Darnton, Robert (1993): Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie. Berlin.


Anmerkungen

1 Die englische Originalausgabe erschien 2000 – nicht wie in der deutschen Fassung angegeben 1997! – unter dem Titel A Social History of Knowledge. From Gutenberg to Diderot.

2 Burke spielt mit dieser Formulierung auf Darntons Studie (1993) zur Encyclopédie an. Papier und Markgeschrei erzählt hingegen mehr von den Anfängen dieser Geschäftstüchtigkeit: daß im Venedig des 15. Jahrhunderts das erste Patent (für einen Schiffsentwurf Brunelleschis) vergeben, das erste Patentgesetz verabschiedet, daß in dieser Stadt zum ersten Mal ein Urheberrecht für einen Text vergeben wurde (1486 für Sabellico für seine Geschichte Venedigs; 1567 für die Drucke der Werke Tizians) (179). Urheberrechtsverletzungen durch Raubdrucke waren gang und gäbe (194ff.). Zur Kritik des Buchdrucks als "Hure" (meretrix) gegenüber der "Jungfrau" Feder im Venedig des 15. Jahrhunderts vgl. Chartier (1991: 127f.).




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3 Bei seiner Berliner Buchpräsentation im Sommer 2001 im Ethnologischen Museum stellte Burke diesen fast bedrohlichen Aspekt der Wissensexplosion in den Vordergrund.

4 Die erste gedruckte Bibliographie stammt aus dem Jahr 1545 und geht auf Conrad Gesner zurück.
Der Begriff "System" des Wissens ersetze im 17. Jahrhundert zunehmend den des "Baums" in der Beschreibung der Wissensorganisation (110).

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