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Jochen Hafner (Tübingen)


Klaus Semsch (1999): Abstand von der Rhetorik. Strukturen und Funktionen ästhetischer Distanznahme von der ›ars rhetorica‹ bei den französischen Enzyklopädisten. Hamburg: Meiner. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 25).



Bei der hier besprochenen Arbeit handelt es sich um eine 1996 an der Universität-Gesamthochschule Duisburg entstandene Dissertation. Sie habe es sich zur Aufgabe gemacht, so der Autor in seiner Einleitung, "[...] in der kulturhistorischen Ablösung der Oralität durch eine beständig sich ausdifferenzierende Schriftkultur sowie in der eng hieran geknüpften Diskussion um die Erkenntnis- wie Kommunikationsfähigkeit der ›écriture‹, diskursive Belegräume für ein genuin aufklärerisches Innovationspotential [...] zu öffnen" (VIII).

Dies enspricht einem innovativen Forschungsansatz, insofern er - entgegen der bisherigen Tradition der Rhetorikforschung, welche die französische Rhetorik des 18. Jahrhunderts bisher vornehmlich im Vergleich zu derjenigen des 17. Jahrhunderts untersuchte - einen kontextuellen Bezug der Rhetorik des Aufklärungszeitalters zu dessen Schreibtraditionen herstellt. Weiter noch: Es wird der Frage nachgegangen, in welchem Verhältnis die (klassischerweise als Eloquenz interpretierte und somit als primär dem oralen Bereich verhaftete) Rhetorik zu der im Bereich der Schriftlichkeit wurzelnden Diskurstradition der französischen Encyclopédistes steht. Der Frage schließlich, ob sich eine Ablösung der Rhetorik (mithin der Oralität) von der durch Prozesse des Schreibens charakterisierten Tradition der französischen Lumières abzeichnet.

Gemäß dem primären Ziel einer Arbeit aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich richtet sich das Augenmerk des Autors auf die Herausbildung der französischen Belles Lettres-Tradition, wobei die Schreibprozesse der französischen Aufklärung zunächst als solche analysiert werden, die "dem Wesensmerkmal der rhetorischen Elokution" (VIII), der Analogie,1 verhaftet seien; einem Analogieprinzip, zu dessen Primärbezugspunkt der Mensch sich nun selbst stilisiere, "[...] erscheint doch jede Äußerung und Vermittlung von Welt erst gefiltert durch die anthropologische Fähigkeit wie Notwendigkeit zur Versprachlichung menschlicher Perzeptionen" (VIII). Man hätte sich durchaus vorstellen können, dass just dieser weiterführende Anspruch einer anthropologischen, einer enzyklopädischen Studie dazu geführt hätte, sich noch mehr mit den zeitgenössischen Sprachreflexionen in der Encyclopédie, im enzyklopädischen und spätaufklärerischen Umkreis sowie der kritischen Würdigung dieser Phänomene zu befassen. Damit wäre dem Anspruch des Autors, die "Literaturästhetik, Rhetorik, Erkenntnistheorie [...] kulturhistorische Beurteilung aufklärerischer Errungenschaften" (IX) in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen zu stellen, noch besser entsprochen worden. Man denke in diesem Zusammenhang etwa - um nur einige Aspekte zu beleuchten - an die Arbeit Monreal-Wickerts zur Encyclopédie,2 an die 1988 von Françoise Douay-Soublin neu besorgte Ausgabe der Tropes Dumarsais',3 an die sich mit der Anthropologie der enzyklopädistischen Folgegeneration beschäftigende Untersuchung Sergio Moravias zu der Société des Observateurs de l'homme4 oder an Isabel Zollnas Arbeit zu imagination und image in den Sprachtheorien um 18005 (vgl. zur imagination Semschs Kap. V.C.1.).



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Zum Aufbau der Arbeit. Der Verfasser der hier vorgestellten Studie eröffnet diese durch ein "Historische Aporien rhetorischer Theorieentwicklung" betiteltes Kapitel (Kap. I), das sich folgenden theoretischen Einzelaspekten widmet: "Methodologische Vorbemerkungen" (Kap. I.A.), "Strategien rhetorischer Kompetenzverteidigung" (Kap. I.B.), "Aufklärerische Einflüsse und Reduktionstendenzen der ars rhetorica" (Kap. I.C.), "Rhetorische Tradition und das Verständnis der Beaux Arts" (Kap. I.D.), "Rhetorische Spiegelungen: Aufklärung als geistiges Paradoxon" (Kap. I.E.).

Bevor Semsch auf das Verhältnis einzelner Enzyklopädisten zur Rhetorik eingeht, widmet er sich zunächst innerhalb seines zweiten Kapitels "Kunstbegriff, Wissensideal und die Rhetorik: Verortungen" einer gezielten Darstellung der "Rhetorik im enzyklopädischen Kunstverständnis" (Kap. II.A.), die in eine geschichtliche Verortung der Rhetorik- und Schreibtraditionen zweier Vorläufer der encyclopédistes mündet: Michel Montaigne (Kap. II.B. Exkurs 1: "Montaigne und die Krise rhetorischen Wissens") und Francis Bacon (Kap. II.C. Exkurs 2: "Bacons Kritik der Rhetorizität wissenschaftlicher Erkenntnis"). Er weist für diese beiden Autoren eine Rhetorikkritik nach und klassifiziert sie somit als Ahnherren der enzyklopädistischen Rhetorikskepsis.

Die beiden Folgekapitel widmen sich nun jener Haltung gegenüber der Rhetorik, wie sie zwei der 'klassischen' Figuren des französischen 18. Jahrhunderts vertreten haben. Kapitel III befaßt sich mit "Diderot und d[er] ›enzyklopädische[n] Poetik‹" (Kap. III.A. "Aufklärerische Programmatik: Erkenntnis als Verstehensmetaphorik", Kap. III.B. "Diderots Sprachästhetik: Doppelrepräsentation und ›écriture‹"), das gewichtige Kapitel IV mit "Rousseaus subjektive[r] Distanznahme von der Rhetorik"; die Nähe dieses zentralen Kapitels zum Untertitel der gesamten Monographie ist offensichtlich. Hierin wird zum einensowohl über Rousseaus Antwort auf die Preisfrage der Académie des Sciences et Belles-Lettres de Dijon von 17506 verhandelt (Kap. IV.A. "Von der Rhetorik zur Schreibästhetik: Die Initiation des ersten Discours"), zum zweiten geht es um Rousseaus sprachtheoretische Reflexionen unter anderem im Essai sur l'origine des langues (Kap. IV.B. "Rousseaus Sprachästhetik: Von der Oralität zur Metaphorik der Schrift"). Berücksichtigt werden dessen pädagogische Versuche (Kap. IV.C. "Erziehung als soziokulturelle Retardation: Rousseaus Emile ou de l'éducation"), aber auch dessen 'literarische' Produktion im eigentlichen Sinne und nicht zuletzt die (selbst-)poetologische Konzeption (Kap. IV.D. "Narzistische Spiegelungen: Fiktionales Schreiben im Begriffsfeld von ›vagabondage‹ und ›rêverie‹").

Ein letztes großes Kapitel vollzieht den geradezu ‚enzyklopädischen' Schritt der "Applikationen" jener Theoreme und Fallbeispiele, die Semsch in den vorherigen Kapiteln formuliert und ausgeführt hatte: Dies wird in drei wichtigen Bereichen geleistet. Zunächst werden 1.) die "Aspekte enzyklopädischer Dekonstruktion des Rednerbildes" im Verständnis Marmontels und in der Beurteilung Diderots diskutiert. Kapitel V.A. ist in folgende Unterkapitel aufgeteilt: "Ästhetisierter Konsens als poetisches Spiel: Marmontels Bild vom Redner" (Kap. V.A.1.), "Personale Filiation: Philosoph - Historiker (Kap. V.A.2.), "Rhetorische Filiation: Gerichtsrede - Politische Rede - Kanzelrede" (Kap. V.A.3.), "Vom Redner zum Poeten: Marmontels Begriff der ›éloquence poétique‹" (Kap. V.A.4.) und schließlich "Ausweg aus dem rhetorischen Paradoxon: Der ›Dichter/Komödiant‹ in Diderots Paradoxe sur le comédien" (Kap. V.A.5.).



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Sodann werden 2.) in Kap. V.B. die "Strukturen wissenschaftlicher Prosa: Die persuasive Narration des enzyklopädischen Verweises" untersucht. Hierin betritt der Verfasser den Boden aufklärerischer Epistemologie. Es werden einerseits die Zusammenhänge der Encyclopédie und der sie beeinflussenden Texte, andererseits diejenigen der einzelnen Artikel des Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers erörtert. Dabei wird die zu Ungunsten der "rhetorisch-poetischen Wirkungsästhetik" (217) ausfallende Dichotomie zwischen der tiefen Rhetorikskepsis der Enzyklopädisten und den Bedürfnissen eines wachsenden Buchmarktes nach 'Lesbarkeit' beobachtet. Semsch sieht das "Grundanliegen der Encyclopédie [als] das einer breiten Volksaufklärung" (218), die radikal mit der "rhetorisch-scholastischen Wissenstradition" (218) breche. Das Verweissystem in der Encyclopédie, das Spiel von Mikro- und Makrostruktur, trete nun insofern das Erbe der Baconschen Forderung eines Wissensbaumes an, als es sich hierbei um "Verweisen im Sinne punktueller Verkürzung" (219) handle, was nicht Auslassen heiße, sondern "narrative Präzision" (219), "neue Praxis wissenschaftlicher narratio" (220). Diese bestehe in "konjekturaler Invention" (225), der Möglichkeit, ein- und denselben Artikel der Encyclopédie unter Zuhilfenahme der renvoi-Struktur auf gänzlich neue Art und Weise zu lesen und zu interpretieren. Die größte Leistung des Verweissystems (der Verfasser geht nicht auf die Notwendigkeit jenes makrostrukturellen coup ein, der nicht zuletzt auch dazu diente, sich dem Zugriff der Zensur zu entziehen), ja, die größte Leistung der Encyclopédie überhaupt scheint jedoch die Möglichkeit der Interaktion durch den sich in den Sog der renvois begebenden Leser: "Für jeden Autor, der immer auch Leser ist, wie für jeden Leser, der in kreativ-rezeptiver Kombinationsbereitschaft immer auch enzyklopädischer Koautor ist, ergibt sich auf Dauer für die argumentative wie auch die lernende Haltung die im Kapitel zur enzyklopädischen Poetik am Ende angedeutete, generalisierende Hermeneutik wahrhaft innovativer Wissensverbreitung mit humanitärem Charakter" (225).

Die abschließenden Untersuchungen des Kapitels V widmen sich 3.) den "Poetische[n] Applikationen" (Kap. V.C.) unter folgenden Gesichtspunkten: "Bild und Diskurs: Wirkungsästhetische Betrachtungen zur Metaphorizität imaginären Fingierens" (Kap. V.C.1.), "Exkurs 3: Aspekte des antiken und sensualistischen Begriffsverständnisses von ›memoria‹ und ›imaginatio‹" (Kap. V.C.2.), "Bildhafte Vorstellung und Diskursbewegung als Komponenten enzyklopädischer Literarizität" (Kap. V.C.3.).

Hervorzuheben ist an der Arbeit Klaus Semschs zweifelsohne der innovative Ansatz, mit dem er die kommunikativen Prozesse beschreibt, die der Grundstruktur enzyklopädischen Wissens und enzyklopädischer Wissensvermittlung zugrunde liegen. Einen wichtigen Teil dieses Ansatzes beschreibt der Verfasser in seinen "abschließenden Erörterungen". Dort heißt es: "Präzisierend korrigieren ließ sich [...] das gegenwärtige Bild aufklärerischer Ästhetisierungsprozesse, wobei insbesondere die gängigen Begriffe von Subjektaufwertung und das Autonomiepostulat für die Literatur ergänzt werden konnten durch den Nachweis einer autoreferenziellen Grundhaltung enzyklopädischer Schreibweise, die in den Abstufungen rhetorischer ›Direktheit‹ zu unterschiedlichen Fingierungs- und Diskursformen öffentlicher, wissenschaftlicher sowie letztlich poetischer Kommunikation führte" (250). Erwünscht hätte man sich über diese Diskurstraditionen hinaus einen kritischen Ausblick auf mit ihnen verwandte Traditionen, auch wäre eine vermehrte Orientierung an linguistischen Analysen denkbar gewesen, die sich in den letzten Jahren verstärkt nicht nur mit der Erforschung der rhetorischen Tropen im 18. Jahrhundert oder dem sprachtheoretischen Gehalt der Encyclopédie befaßten, sondern bereits mit den 1983 erschienenen Traditionen des Sprechens Brigitte Schlieben-Langes7 für eine pragmatisch orientierte Sprachgeschichtsschreibung plädierten und somit vielseitige Anknüpfungspunkte bieten.

Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle, dass Klaus Semsch für seine Studie 1998 sowohl den Duisburger Universitätspreis als auch den Prix Germaine de Staël des Frankoromanistenverbandes erhalten hat. Das Erscheinen der hier besprochenen Studie in der von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts herausgegebenen, schön ausgestatteten Reihe Studien zum achtzehnten Jahrhundert kann als weitere Würdigung der detail- und kenntnisreichen Arbeit zu einer wichtigen Fragestellung an das Zeitalter der Aufklärung gesehen werden.




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Anmerkungen

1 "In der ästhetischen Verlängerung des rhetorischen Inventars und eng gebunden an den aristotelischen Begriff von Verschriftlichung als reflexiv ›gedoppelte‹ Vermittlung mündlich-direkter Wirklichkeitsdarstellung gelang den französischen Enzyklopädisten um Denis Diderot, ganz im Sinne der Programmatik der Encyclopédie, die Entwicklung eines ›analogen Diskursmodells‹. Der Text erscheint nun - vor jeder gattungsspezifischen Charakterisierung - nicht mehr als rhetorisch ausgeschmückte Nachahmung, die die Wirklichkeit konkret und sukzessiv zu erfassen und wirksam zu gestalten vermag, sondern zunächst als die Summe einzelner ›Schreibbausteine‹, die sich als rationale Bezeichnungen aus einer jeweils vergleichenden und als bildhaft erkannten Erörterung des zu Beschreibenden ergeben."(VIII).

2 Irene Monreal-Wickert (1977): Die Sprachforschung der Aufklärung im Spiegel der großen französischen Enzyklopädie. Tübingen: Narr (Lingua et Traditio Bd.3).

3 Dumarsais (1988): Des Tropes ou des différents sens, Figure et vingt autres articles de l'Encyclopédie, suivis de l'Abrégé des Tropes de l'abbé Ducros. Présentation, notes et traduction: Françoise Douay-Soublin. Paris: Flammarion.

4 Sergio Moravia (1970): La scienza dell'uomo nel Settecento. Bari: Laterza; dt. (1973): Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. München: Hanser.

5 Isabel Zollna (1990): Einbildungskraft (imagination) und Bild (image) in den Sprachtheorien um 1800. Ein Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland. Tübingen: Gunter Narr (Kodikas/ Code Supplement 19).

6 "Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs".

7 Brigitte Schlieben-Lange (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart et al.: Kohlhammer.

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