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Lieselotte Steinbrügge (Berlin)



Joan DeJean (1997): Ancients against Moderns. Culture Wars and the Making of a Fin de Siècle. London and Chicago: The University of Chicago Press.


Fin de siècle – dieser Begriff meint mehr als das kalendarische Ende eines Jahrhunderts. Er umschreibt die Stimmung jener Zeitgenossen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die das Ende des alten Säkulums als einen unwiederbringlichen Verlust von gesellschaftlichen Verhältnissen, moralischen und kulturellen Werten betrauerten und es bisweilen zum Anlaß für apokalyptische Visionen nahmen. Auch die aktuellen Debatten an der Schwelle zum 21. Jahrhundert sind nicht frei von diesem Zeitgeist. Es fehlt nicht an Warnungen vor den Folgen der sich abzeichnenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Zentrale Institutionen, wie z.B. Familie, Staat oder religiöse Glaubensgemeinschaften, sind zu umkämpften Feldern der gesellschaftlichen Identitätsstiftung geworden. Besonders erbittert sind diese Auseinandersetzungen jenseits des Atlantiks, und die Chronisten sprechen bereits von Krieg im Plural – "Culture Wars" (vgl. Bolton 1992 und Hunter 1991). Die Funken, die das Pulverfaß leicht entzünden, sind dabei nicht nur ein paar Fotos von Robert Mapplethorpe oder eine Frau namens Monica, sondern auch weniger medienwirksame, aber möglicherweise grundlegendere Phänomene. Anlaß zu Konflikten bieten z.B. die Gleichstellungsgesetze für ethnische und sexuelle Minderheiten und Frauen, die zunehmende Praktizierung und Akzeptanz nicht-familiärer Formen des Zusammenlebens, die Aufhebung bzw.Verschiebung von Hierarchien durch moderne Kommunikationsmedien oder etwa – im akademischen Bereich – der Zweifel an der Gültigkeit traditioneller Wissensbestände und ihrer Organisation. Besonders in den 'humanities' entstehen seit Jahren, begünstigt durch eine bestimmte Einstellungspolitik (siehe oben), unter Etiketten wie 'cultural studies', 'women studies', 'gender studies', 'gay studies', 'afro-american studies' etc. Forschungsschwerpunkte, die die gewohnten Ordnungen der Disziplinen durcheinanderbringen, indem sie sich z.B. von bisher als peripher angesehenen Fragestellungen leiten lassen oder zweitrangig bewertete Autorinnen und Autoren ins Zentrum des Interesses rücken. Kein Wunder, daß bei Geisteswissenschaftlern alter Schule da schon mal Endzeitstimmung aufkommt.

Und mit dem letztem Punkt wären wir endlich bei dem zu besprechenden Buch und seiner Autorin. Joan DeJean, Professorin für französische Literatur an der University of Pennsylvania, hat durch ihre bisherigen Arbeiten mit dazu beigetragen, daß Gewißheiten der französischen Literatur- und Kulturgeschichte in Frage gestellt werden, und sie ist höchst aktiv an der Dezentrierung des literarischen Kanons beteiligt (vgl. DeJean 1991). Ihre Erfahrungen und Beobachtungen im aktuellen Kampf der Kulturen haben ihren Blick geschärft für einen anderen 'culture war', der sich auch an der Wende von zwei Jahrhunderten abspielte: der berühmten Querelle des Anciens et des Modernes. Die Modernen am Ende des 17. Jahrhunderts, so ihre These, ließen sich von denselben Prinzipien leiten wie die heutigen "Moderns": Offenheit für kulturelle Differenzen, Reflexion von Einschluß- und Ausschlußkritierien der Kanonbildung und das Plädoyer für die Individualisierung und Ausdifferenzierung von Lebensformen und Weltanschauungen (131).



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Die Berufung heutiger konservativer Kulturkritiker auf die Werte der westlichen Zivilisation hingegen erinnere an die Anciens von damals, die ihre Kultur zur universellen Zivilisation erklärten. Die Schlacht um den literarischen Kanon, die an so manchem department amerikanischer Universitäten die Frage über den Fortbestand ebendieser westlichen Zivilisation schlechthin zu entscheiden scheint, habe große Ähnlichkeit mit der hitzigen Debatte über die Vorbildgeltung antiker Autoren im 17. Jahrhundert. Und die Bedeutungserweiterung des Terminus "culture" vom Bereich der Agrikultur auf den des Geistes, die Fontenelle in den Digressions sur les anciens et les modernes (1688) vornimmt, seien nicht so weit entfernt von den multikulturellen und transnationalen Modellen moderner Kulturtheorien. (139f.)

Die Autorin illustriert ihre Thesen an drei Themenfeldern: der Herausbildung einer neuen (nicht nur) literarischen Öffentlichkeit (2. Kapitel : The invention of a public for literature), der Herausbildung einer neuen Emotionalität und ihrer Sprache (3. Kapitel: A short history of the human heart) und der Veränderung des Kulturbegriffs (4. Kapitel: Culture or civilization?).

Perraults Akademierede, mit der er im Januar 1687 den Streit vom Zaun bricht und seine Ausarbeitungen in den ab 1688 erscheinenden Parallèle des Anciens et des Modernes, en ce qui regarde les arts et les sciences (1688-1697) formulieren die Grundlagen für die Position der Modernen. Wie aber ist es zu erklären , so fragt sich DeJean, daß Perraults prominenter Gegner, der königliche Historiograph Nicolas Boileau, keine direkte Entgegnung verfaßt, obwohl er sie ankündigte? Ihre Vermutung: "[...] the center of the Culture Wars was somehow hidden – although perhaps hidden in plain sight." (51) In der Tat äußert sich Boileau. In Holland erscheint wenige Monate nach dem Eklat sein Dialogue des morts (in späteren Editionen als Dialogue des héros de roman betitelt). Boileaus polemischer Dialog ist eine einzige große Diatribe gegen den Roman – eine neue literarische Form, die mit Erfolg ein immer größeres Publikum begeistert und zunehmend die klassischen Formen Epos und Tragödie verdrängt. Hierin sieht die Autorin den Schlüssel für die Querelle. Denn der Siegeszug des Romans ist für sie nicht nur ein literarisches Faktum, sondern Symptom und Triebkraft für einen grundsätzlichen Strukturwandel der République de Lettres. Die auf französisch geschriebenen, häufig von Frauen verfaßten Romane richten sich an Leser und Leserinnen, die, oftmals ohne einen Schimmer von humanistischer Bildung, ihren eigenen Geschmack, unabhängig von Autoritäten, zum Kriterium der Beurteilung machen. Gemäß dem Credo der Modernen, daß die Überlieferungen der antiken Schriftsteller nicht die "propres lumières" (Perrault) jedes Einzelnen ersetzen können, nimmt sich das neue Publikum das Recht auf eigene Interpretationen von Literatur heraus. Eine katalysierende Rolle in diesem Prozeß spielt ein neues Medium, das die Zirkulation von Ideen und Neuigkeiten in einem bisher ungekannten Ausmaß ermöglichte – die von dem Romancier Donneau de Visé herausgegebene Zeitschrift Le mercure galant. Der Herausgeber öffnet seine Spalten seinen Leserinnen und Lesern und bittet um ihre Meinung zu realen und fiktiven "nouvelles". "Donneau de Visé seems to have known instinctively what in fact became the case first in the pages of his paper, and subsequently during the fin de siècle Culture wars, that literature had the potential to become news, even hot news." (57) An der prominentesten dieser Debatten, der Diskussion über den Roman von Madame de Lafayette, La Princesse de Clèves (1678), zeigt DeJean im Detail, was den grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der literarischen Kritik ausmacht und was die Modernen von den Alten trennt: Literatur wird in Beziehung zum (modernen) Leben gesetzt und weniger als Vehikel für eine zeitlos gültige ästhetische und moralische Doktrin gesehen.



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Dieser Prozeß geht einher mit einer Erweiterung des Publikums, die vor allem eine Feminisierung bedeutet. Das zeigt sich an den zahlreichen Leserinnen, die sich im Mercure galant sowohl als Kommentatorinnen und Kritikerinnen als auch als Autorinnen literarischer Texte zu Wort melden und findet seinen Niederschlag in der Parallèle bei Perrault, der keine Gelegenheit ausläßt, den Frauen nicht nur den besseren literarischen Geschmack zu konzedieren, sondern das weibliche, unverbildete Urteil geradezu zum Synonym für den modernen Geist zu machen. Für DeJean ist die intellektuelle und gesellschaftliche Rolle der Frauen ein wesentliches Motiv für die Querelle – wie ein letzter Beweis mutet der finale Schlagabtausch der beiden Hauptkontrahenten im Jahre 1694 an: Boileau veröffentlicht seine 10. Satire über die Frauen, Perrault antwortet mit einer Apologie des femmes.

Ähnlich unkonventionell nähert sich die Autorin der zweiten Runde der Querelle. Unter dem schönen Titel A short history of the human heart untersucht sie die Implikationen des grundlegenden Wandels im Verhältnis der Zeitgenossen zu dem, was wir heute 'Psychologie' nennen würden. Die neuen ästhetischen und moralischen Konzepte der Modernen beruhten auf einer "language of affection" (79) – die Gefühle wurden dem universellen Regeln gehorchenden Verstand entgegengesetzt. DeJean zeigt hier Parallelen zum medizinischen Diskurs auf – ganz im Sinne von Perrault, der die Überlegenheit der modernen Literatur u.a. dadurch rechtfertigte, daß die modernen Menschen ungleich mehr über die Verästelungen und Differenziertheiten von Gefühlen wüßten, weil sie auch über größere Kenntnisse der Anatomie des menschlichen Herzens verfügten. "Le coeur" als Metapher erfährt einen Bedeutungswandel, der insbesondere von literarischen Texten vorangetrieben wird. Besonders der "carte de Tendre" aus Scudérys Roman Clélie kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Vorreiterrolle zu. Die geradezu naturwissenschaftliche Sezierung, Verortung und Hierarchisierung der unterschiedlichen Gefühle (amour, amitié, tendresse, estime), die dort vorgenommen wird, ist der Beginn einer affektiven Revolution und der Freisetzung einer neuen Sprache und Fiktion von "sensibilité", die mit La Princesse de Clèves ihren ersten Höhepunkt erreicht. Daß dieser Paradigmenwechsel viel mit dem als "Homerstreit" in die Annalen eingegangenen Disput zwischen der gelehrten Homerübersetzerin Dacier und dem Literaturkritiker Houdar de la Motte zu tun hat, und, darüberhinaus, die Krise der Historiographie mitauslöst, ist das Spannende an DeJeans weiteren Ausführungen. Auf über sechshundert Seiten hatte sich Dacier über die Corruption du goût (1714) beklagt und dafür vor allem die modernen Romane verantwortlich gemacht, die – im Gegensatz zum Vorbild Homer – nicht mehr die Heldentaten sondern die Liebesaffären ihrer Protagonisten zum Zentrum des Erzählens machten. Sie entfachte damit erneut die Feindseligkeiten zwischen Anciens und Modernes, und im Laufe dieses Gefechts geht es um die Gattungsgrenzen zwischen Geschichtsschreibung und Literatur, um das Authentizitätsproblem von Autorschaften, um Editionsprinzipien und um nichts weniger als die Kultur- und Bildungspolitik einer jungen Nation.

Die Neuinterpretation der Querelle ist in diesen beiden Kapiteln nicht zuletzt deshalb so faszinierend und überzeugend, weil sie durch eine Fülle von wenig bekanntem oder oftmals vernachlässigtem Quellenmaterial gestützt wird. Hier offenbaren sich die Potentiale des 'modernen' Blicks auf diese Epoche.



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Das Schlußkapitel hingegen zeigt eher die Grenzen dieses aktualisierenden Ansatzes. "Culture or (Western) Civilization" – unter diesen Schlagworten polarisieren sich seit einigen Jahren die transatlantischen "culture wars", und man merkt der Autorin an, wie sie auch die Querelle in dieses Schema pressen will. Fontenelle wird zum Vorläufer der "cultural studies" und zum Propagandisten eines "cultural relativism" (126). Allein, die Materialbasis, auf die sich diese These stützt, besteht aus einigen Halbsätzen aus den Digressions. Daß zu den Essentials des Programms der Modernen "an openness to cultural difference" (131) gehört habe, darf getrost als Anachronismus abgetan werden. Der Kulturvergleich ist eine spätere Erfindung, die vor allen Dingen mit dem Namen Joseph-François Lafitau (Moeurs des sauvages américains comparées aux moeurs des premiers temps, 1724) verbunden ist. DeJean schreckt vor kühnen Aktualisierungen nicht zurück. So wird z.B. das Untergangsszenarium Allan Blooms mit der Warnung Madame de Daciers vor dem Verfall von Sitten und Geschmack gleichgesetzt, und es ist offenbar kein Zufall, daß in diesem druckfehlerfreien Buch ausgerechnet das Wort "civilization" auch als französisches Zitat seine englische Orthographie beibehält (z.B. 124, 128, 146 und 187, Anm. 5).

Überhaupt wird dem antisemitischen Autor von The Closing of the American Mind (1987) zuviel Ehre zuteil, indem er als der Gewährsmann schlechthin für die heutigen "Ancients" immer wieder ins Feld geführt wird. DeJean kämpft auf Seiten der "Moderns". Es wundert deshalb nicht, daß sie über die fragwürdigen Seiten der Modernes des 17. Jahrhunderts ebenso elegant hinwegschreibt wie über jene der heutigen. Die peinlichen Lobhudeleien auf einen kriegslüsternen König, der brutal die Hugenotten aus seinem Land vertrieb, gehörten nicht gerade zu den rhetorischen Sternstunden des Herrn Perrault, und schließlich konnte im Schutz seiner Fortschrittspartei so mancher klerikale Dunkelmann mit der 'heidnischen' Antike genauso erfolgreich abrechnen wie heutzutage einige fundamentalistische Katholiken ihren Marienkult im Windschatten des Feminismus wieder aufpeppen.

Aber die Autorin verhehlt ihre Parteilichkeit nicht. Das macht ihre Ausführungen nicht nur sympathisch, sondern bewahrt sie auch vor einem langweiligen Ausgewogenheitsduktus. Dieses Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite brillant geschrieben, und die Lektüre ist auch deshalb ein Genuß, weil die beeindruckende Gelehrsamkeit nicht bräsig die Seiten füllt, sondern sorgfältig in den Anmerkungen dokumentiert wird und einen dichten und schlanken Text ermöglicht. Da kommen bei der Rezensentin, pünktlich zum fin de siècle, wehmütige Erinnerungen an alte Zeiten auf, als das Lektorieren von Büchern auch hierzulande noch zu den selbstverständlichen Kulturtechniken unserer Zivilisation gehörte.


Bibliographie

Bolton, Richard (1992): Culture Wars: Documents from the Recent Controversies in the Arts. New York: New Press.

DeJean, Joan (1991): Tender geographies: Women and the Origins of the Novel in France. New York: Columbia University Press.

Hunter, James Davidson (1991): Culture Wars: The Struggle to Define America. New York: Basic Books.

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