PhiN 1/1997: 65



Andrea Petruschke (Berlin)


Jurt, Joseph (1995): Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.


Pierre Bourdieu behauptet: "tout champ littéraire est le lieu d'une lutte pour la définition de l'écrivain [...]" (1984: 13). Er plädiert für eine auch sprachlich komplexe "conversion profondément subversive du regard" (1991: 3). Sein Buch Les Règles de l'art (1992: 13) ist Protest gegen "l'idéalisme de l'hagiographie littéraire", "la pompe prophétique de la grande critique d'auteur et le ronron sacerdotal de la tradition scolaire". Exemplarisch untersucht der Kultursoziologe die Genese und Struktur des "literarischen Feldes" ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgehend von Flauberts L'Éducation sentimentale mit dem Ziel, eine science de l'œuvre zu erstellen. Dieses konfliktuelle "Feld" als sozialer Raum, mit dem er seit 1966 operiert (vgl. 1992: 260, Anm. 17), ist nicht identisch mit dem Begriff Milieu, Kontext oder social background, er definiert es als relativ autonom gegenüber dem politisch-ökonomischem Machtbereich, als "médiation spécifique" im Sinne einer Vermittlungsinstanz.

Joseph Jurt, Mitinitiator des Freiburger Frankreich-Zentrums, beschäftigt sich spätestens seit seiner Habilitationsschrift (La réception de la littérature par la critique journalistique. Lectures de Bernanos 1926-36. Paris 1980) mit Fragen der Rezeptionsästhetik. Ebendort legt er einen Forschungsbericht mit umfangreicher Bibliographie vor, der mehr leistet, als nur eine - zudem gelungene - Einführung in die Gedankenwelt Bourdieus darzustellen - Jurts Übersicht über Bourdieus Theorie in Abgrenzung zu werkimmanenten, strukturalistischen, auf Sartre oder Foucault basierenden Ansätzen nimmt gerade etwa 50 Seiten seines 355 Seiten starken Bandes ein (69-107), der zugleich die Geschichte der historisch-soziologischen Literaturwissenschaft im deutsch-französischen Kontext skizziert (1-67). Keine "systematische Sozialgeschichte der französischen Literatur" (XI) sei vorgesehen, sondern ein erweitertes Referat von Ergebnissen, eine Anregung zur Erprobung der Theorie in der Praxis, wobei Jurt "Feinanalysen" (XI) bei Einzelwerken nicht ausnehmen möchte und sich gegen eine "axiomatische Groß-Theorie" (X) ausspricht.

Eine Skizze der Anfänge der historisch-soziologischen Literaturbetrachtung in Deutschland (Krauss, Lukács) geht der vereinfacht dargestellten Rezeptionsästhetik von Jauß (5f.) und Bürgers Idee der "Institution Kunst/Literatur" (22-25) voraus. Erst dem "Schichtenmodell" und den "Thesen zur Literatursoziologie" (1972) von Erich Köhler stimmt Jurt partiell zu (17 und 21f.). Die Kategorie des vermittelnden Subjekts ist ein "Konvergenzpunkt" in den Theorien Bourdieus und Köhlers (81). Ausschlaggebend für eine geringere Berücksichtigung des Sozialen in der französischen Literaturtheorie ist, so Jurt, die "humangeschichtliche Wende" (32) von 1960, die in Abwendung einer 'engagierten' Literatur im Sinne Sartres das Subjekt und die Geschichte zugunsten der im Text bzw. in der écriture vorhandenen Strukturen evakuierte. Ausdruck des Paradigmenwechsels seien u.a. "Genettes Theorie der literarischen Formen" (33-36) und das "Intertextualitätsparadigma" (36-39).




PhiN 1/1997: 66


Wie Jurt in einer Randbemerkung (43, Anm. 36) mit seinem Hinweis auf einen Aufsatz aus dem Jahr 1904 von Gustave Lanson unterstreicht, existiert eine positivistische Tradition französischer Literatursoziologie (vgl. sein Referat der Positionen von Escarpit, Leenhaardt und Goldmann, 39-56). Erst die "socio-critique" (Fayrolle, Duchet), die zwischen der Soziologie der Genese von Literatur und der Soziologie der Lektüre vermittle, rücke den Text selbst ins Zentrum und bereitet die von Jean Bellemin-Noël 1972 begründete "critique génétique" vor (56-67). Jurt konfrontiert Bourdieus "Summa" (73) - Les Règles de l'art - mit den Theorien von Bürger, Luhmann, Dubois und fordert schließlich eine die sozialen Prozesse berücksichtigende Literaturwissenschaft: "Es geht darum aufzuzeigen, daß das literarische Schaffen nicht ein einsamer rein individueller Prozeß ist, aber auch nicht die Epiphanie einer substantialisierten sozialen Klasse im Medium eines Textes, sondern ein Zusammenwirken von Dispositionen, von Akteuren und strukturellen Vorgaben eines Feldes, das als literarisches Feld ein ganz spezielles Profil aufweist. [...]. Es gilt, die gängigen formalen und biographischen Analysen zu betreiben, aber gleichzeitig auch das Feld der Werke und das Feld der Produzenten zu rekonstruieren sowie die Beziehung zwischen den Strukturen" (96f.). Die spezifisch soziale Relevanz der Form, die Bourdieu nicht übersehe und gerade in seiner Analyse der Éducation sentimentale Flauberts (1992: 17-62) auch berücksichtige, gelte es in Zukunft verstärkt zu untersuchen. Bourdieu selbst möchte aufklären über den 'Fetischcharakter' des Kunstwerks, den Literaturmarkt, über die Relationen von sozialem und ästhetischem Wert und die Zusammenhänge von "producteurs de sens et de la valeur de l'œuvre" (Autoren, Kanonisierungsinstanzen, Legitimationsstrategien; vgl. 1984: 9): "La notion de champ permet de dépasser l'opposition entre lecture interne et analyse externe. Conservant ce qui est inscrit dans la notion d'intertextualité, c'est-à-dire le fait que l'espace des œuvres se présente à chaque moment comme un champ de prises de position qui ne peuvent être comprises que relationnellement, en tant que système d'écarts différentiels, on peut poser l'hypothèse (confirmée par l'analyse empirique) d'une homologie entre l'espace des œuvres définies dans leur contenu proprement symbolique, et en particulier, dans leur forme, et l'espace des positions dans le champ de production: par exemple, le vers libre se définit contre l'alexandrin et tout ce qu'il implique esthétiquement, mais aussi socialement et même politiquement; en effet, du fait du jeu entre des homologies entre le champ littéraire et le champ du pouvoir ou le champ social dans son ensemble, la plupart des stratégies littéraires sont surdéterminées et nombre des 'choix' sont des coups doubles, à la fois esthétiques et politiques, internes et externes" (1992: 288f.).

Die bereits vorliegenden Untersuchungen zum literarischen bzw. künstlerischen oder intellektuellen Feld - Französische Klassik, das autonome literarische Feld um 1850 mit der "Differenzqualität Flauberts" (137-142), das "Subfeld der Poesie" im Second Empire, die literarische Gruppenbildung und Abgrenzungsstrategien im Fin de siècle für die Lyrik (symbolistes und décadents) und den Roman (Naturalismus und psychologischer Roman), die "Geburt der Intellektuellen aus dem Geist der Dreyfus-Affäre" (209-225), "literarisches und künstlerisches Feld" (Huysmans, Zola), die "legitime" und "avantgardistische" Literatur der 20er und 30er Jahre (Surrealismus, subversive bzw. politisch engagierte Literatur von Céline und Aragon), Sartre und das "intellektuelle Feld nach 1945" und "Tel Quel im intellektuellen Feld nach 1960" - referiert Jurt im zweiten Teil des Buches,




PhiN 1/1997: 67


indem er eigene Forschungsansätze in den Abschnitten über das Fin de siècle und die 30er Jahre fortführt. Interessant ist die Beobachtung struktureller Veränderungen der Gattungshierarchien - Jurt nennt es "Transfer des symbolischen Kapitals" (185) - zwischen der Lyrik und dem Roman zwischen 1885-1895. Erfrischend ist seine gedämpfte Polemik gegen den (Post-)Strukturalismus und die telqueliens, vor allem gegen Lacan und Sollers (326-29).

Die Feldforschung, so wie Boschetti, Charles, Einfalt, Kauppi, Pinto, Ponton, Viala (vgl. Bibliographie bei Jurt) sie in der Folge Bourdieus praktisch umsetzen, scheint mehr als ein sozialhistorisches Metaparadigma der Literaturwissenschaft zu sein (wie es das Intertextualitätsparadigma anscheinend noch immer ist). Literatur- und kultursoziologische Synthesen aus Stephen Greenblatts "Poetik der Kultur" und Bourdieus Feldtheorie könnten sich als fruchtbar für die Analyse von Makrostrukturen erweisen. Es ist aber noch unklar, welchen Beitrag die Idee des relational betrachteten Feldes für die Sinnkonstitution des je einzelnen Textes oder Werkes eines Autors leisten kann. Mehr als eine Differenzqualität eines Textes zu einem anderen stellte auch Bourdieu (1991: 30) nicht fest. Auch bleibt (noch) offen, ob sich die literarische Feldtheorie für alle Literaturepochen eignet. Ist sie auf "konfliktuelle" Zeiten mit polaren Gruppenbildungen wie etwa das Fin de siècle beschränkt und bleibt sie ein Tätigkeits-'Feld' soziologischer Komparatistik? Weshalb fehlen Analysen für das 18. Jahrhundert, und wie ist es mit den Jahren zwischen 1914 und 1924? Neu ist es nicht, Literatur als ein "soziales Faktum" (44) zu bezeichnen. Doch Jurt übernimmt Bourdieus Vermittlungsvorschlag "literarisches Feld", womit eine kausale Entsprechung zwischen Literatur und Geschichte zugunsten einer "seriellen" ausgeschaltet wäre (vgl. 65) und strukturelle Affinität (z.B. zwischen literarischer und politischer Avantgarde) auch Spannung bedeutet. Schließlich regt Jurts Synthese dazu an, über eine erweiterte Rezeptionsästhetik nachzudenken: "Literatur besteht darin, die Sprache vielsinnig zu machen. [...] Wenn man aber die Vielsinnigkeit der Literatur annimmt, kann man sich nicht mehr damit begnügen, deren sozialen Charakter nurmehr in ihrem Ursprung in der Gesellschaft, in der sie entstanden ist, zu sehen. Ihre soziale Natur manifestiert sich dann ebenso in den verschiedenen Deutungsweisen und Sinnkonkretisationen, welche Zeitgenossen und spätere Generationen von einem Werk entwerfen" (55f.).


Bibliographie


Bourdieu, Pierre (1984): "Le champ littéraire. Préalables critiques et principes de méthode", in: Lendemains 36, 5-21.

Bourdieu, Pierre (1991): "Le champ littéraire", in: Actes de la recherche en sciences sociales 89, 3-46.

Bourdieu, Pierre (1992): Les règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris.

Hepp, Rolf-Dieter (1995): [Rez.], in: European Journal for Semiotic Studies/Revue européenne d'études sémiotiques VII, 1/2, 347-360.

Kalinowski, Isabelle (1996): [Rez.], in: Actes de la recherche en sciences sociales, III/112, 129-130.

Lobsien, Eckhard (1988): Das literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft. München.




PhiN 1/1997: 68


Robier, Martine (1994): "Schriftsteller, Verlagswesen und literarisches Feld", in: Asholt, Wolfgang (Hg.): Intertextualität und Subversivität. Studien zur Romanliteratur der achtziger Jahre in Frankreich. Heidelberg, 21-28.

Sapiro, Gisèle (1996): "La raison littéraire. Le champ littéraire français sous l'occupation (1940-44)", in: Actes de la recherche en sciences sociales, II/112, 3-35.

Stephan, Inge / Winter, Hans-Gert (Hgg.) (1989): Liebe, die im Abgrund Anker wirft. Autoren und literarisches Feld im Hamburg des 20. Jahrhunderts. Hamburg.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis von PhiN 1/1997

Impressum