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Thomas Stöber (München)



Das Internet als Medium geistes- und kulturwissenschaftlicher Publikation. Pragmatische und epistemologische Fragestellungen



The Internet as a Medium of Publishing in the Humanities – Pragmatic and Epistemological Perspectives
The article starts with pointing out both the fundamental advantages and the actual problems created by electronic publishing in the humanities while detailing recent approaches which aim at solving these problems. In addition to this pragmatic perspective which illustrates how electronic publishing might optimize communication within the humanities, the article focuses furthermore on an epistemological perspective considering the way in which the hypertextuality of digital media could influence scientific discourse and contribute to new ways of knowledge representation.



1 Die Medien der wissenschaftlichen Publikation

Auf der organisatorisch-institutionellen Ebene lässt sich Wissenschaft definieren als Hervorbringung von Erkenntnissen, die durch Publikation dokumentiert werden. Die Publikation dient einem doppelten Zweck: Sie schreibt einerseits geistiges Eigentum fest; andererseits ist durch diese Darstellung und Verbreitung des Wissens gewährleistet, dass die Ergebnisse überprüft, gegebenenfalls falsifiziert und weiterentwickelt werden können. Wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt und das Prinzip der Publikation hängen somit eng zusammen.

Durch dieses Prinzip ist die Wissenschaft aber an Medien gebunden, die eine Publikation überhaupt erst ermöglichen, und mithin auch an Mediengeschichte und Medienumbrüche. Insofern betrifft auch der derzeitige Medienumbruch, das Aufkommen der digitalen Medien, die Wissenschaft in ihrem Kern. Wissenschaft ist Information; das Internet ist ein Informationsmedium – was wäre also nahe liegender, als das Internet zum Ort der wissenschaftlichen Publikation zu machen? lautet die vielfach gestellte Frage. Was wäre nahe liegender, als den von Tim Berners-Lee, dem Begründer des World Wide Web, formulierten "Traum" vom Internet als eines "common information space" (Berners-Lee o.J.) für die Wissenschaft Wirklichkeit werden zu lassen?




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Diese Frage ist in den letzten Jahren wiederholt aus der Sicht der Verlage, des Buchhandels und vor allem der Bibliotheken diskutiert worden, die durch diesen Medienumbruch eine grundlegende Veränderung ihrer Aufgaben und Funktionen auf sich zu kommen sehen.1 Was hier diskutiert wird, ist gewissermaßen die Distributionsseite des genannten "Traums": Inwiefern lässt sich die wissenschaftliche Kommunikation durch die elektronische Publikation verbessern, welche Umsetzungsprobleme sind dabei zu bedenken, und welche institutionellen Veränderungen zieht der Wechsel ins digitale Medium nach sich? Neben diesem pragmatischen Aspekt hat die skizzierte Frage jedoch auch eine systematische Seite. Berners-Lee fährt nach seiner oben zitierten Formulierung vom "Traum" eines "gemeinsamen Informationsraums" fort: "Its universality is essential: the fact that a hypertext link can point to anything, be it personal, local or global, be it draft or highly polished" (Berners-Lee o.J.). Die Frage, die sich hier andeutet, ist eine epistemologische: es ist die nach dem Verhältnis von wissenschaftlichem Diskurs und neuen Medien. Medientheoretisch lässt sich die Frage wie folgt formulieren: Werden die Medien durch das zeitgenössische Wissen (und die mit ihm verbundenen Diskurse) determiniert, oder ist es umgekehrt? Zieht also der Paradigmenwechsel zu den digitalen Medien eine (wie auch immer geartete) Transformation des wissenschaftlichen Diskurses nach sich?


2 Pragmatische Aspekte: Publikationsserver und Open Access

Man könnte die Relevanz dieser beiden Fragestellungen für die Geistes- und Kulturwissenschaften mit dem Hinweis auf zwei Spezifika dieser Disziplinen bestreiten: So sind die Geisteswissenschaften erstens einem geringeren Aktualitätsdruck ausgesetzt als etwa die Naturwissenschaften, und zweitens ist gerade die klassische Monographie, die für das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften eine zentrale Rolle spielt, von einer netzadäquaten Publikationsform denkbar weit entfernt.

Auf solche Einwände könnte man mit einer prinzipiellen Frage reagieren: der Frage nämlich, ob es nicht gerade eine genuine Aufgabe der Geistes- und Kulturwissenschaften ist, neue Diskursformen und neue Formen der Wissensrepräsentation auszuloten und zu erproben. Aber auch jenseits dieser grundsätzlichen Fragestellung ist diese Relevanz gegeben: Denn gerade hinsichtlich des Kostenaspekts, der oft als Argument für elektronische Publikationen angeführt wird, sind die Geistes- und Kulturwissenschaften mindestens ebenso betroffen wie die anderen Disziplinen.

In den letzten Jahren ist das wissenschaftliche Verlags- und Bibliothekswesen bekanntlich in eine handfeste Krise geraten: Die steigende Anzahl wissenschaftlicher Publikationen hat zu einem Rückgang der Bibliotheksbestellungen geführt, da das Budget der Bibliotheken nicht in entsprechendem Maße gestiegen ist, sondern vielmehr stagniert oder sogar gesunken ist. Dieser Rückgang hat seinerseits wiederum zu sinkenden Auflagen und steigenden Preisen geführt – ein Teufelskreis, der dadurch noch verstärkt wird, dass vor allem im Segment der naturwissenschaftlichen Zeitschriften die Preise durch die Verlage zum Teil erheblich angehoben wurden.2 Für die Geistes- und Kulturwissenschaften ist eine Statistik zu dem Ergebnis gekommen, dass die Durchschnittsauflage geisteswissenschaftlicher Monographien im Zeitraum zwischen 1990 und 2000 um 60% zurückgegangen ist, diejenige der Fachzeitschriften um 38%, und dass gleichzeitig ein Anstieg der Preise um bis zu 90% zu verzeichnen war (Füssel 2001: 21f.).




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Hier scheint nun gewissermaßen die Mediengeschichte der Ökonomie zu Hilfe zu kommen – das Aufkommen der digitalen Medien und mit ihnen der elektronischen Publikation ermöglicht es, vier grundlegende Kostenfaktoren der traditionellen Medienindustrie zu senken: die Kosten für Druck, Lagerhaltung, Transport und Handel. Als zentraler Kostenfaktor verbleibt im Fall der elektronischen Publikation lediglich der Aufbau und Erhalt der elektronischen Infrastruktur, der nach gegenwärtigem Erkenntnisstand weniger kostenintensiv ist als die bisherige Produktionskette.

Mit dieser Verschiebung stellt sich dann aber zugleich eine institutionelle Frage: Wer soll Träger der elektronischen wissenschaftlichen Publikation sein? Wenn erstens der Mehrwert, den Verlage klassischerweise produzieren (Lektorat, Korrektur, Satz, Druck, Marketing), in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist, und zweitens die Medien der Publikation, die elektronische Infrastruktur, nicht mehr – wie das bei den Druckmaschinen der Fall war – an die Verlage gebunden sind, können auch andere Institutionen zu den Trägern elektronischer Publikationen werden. Hier sind in den letzten Jahren verschiedene Universitäts- bzw. Bibliotheksserver entstanden, wie beispielsweise der Archivserver der Deutschen Bibliothek (auf dem sich übrigens auch schon eine romanistische Publikation findet) oder der Publikationsserver der Universitätsbibliothek München.3

In diesem Zusammenhang hat in den letzten Jahren das Prinzip des "Open Access" an Bedeutung gewonnen. Die grundlegende Forderung der Open-Access-Bewegung ist der freie Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen: Die Autoren und Rechteinhaber sollen allen Benutzern das freie, unwiderrufliche und weltweite Zugangsrecht erteilen – unter der Voraussetzung freilich einer korrekten Nennung der Urheberschaft bei der Nutzung der Publikation.4

Das Argument derjenigen, die das Prinzip des Open Access auf die Wissenschaft angewandt sehen wollen, ist ein denkbar einfaches: Wissenschaft wird in der Regel durch die Öffentlichkeit finanziert, ihre Ergebnisse sind also ebenfalls Allgemeingut und können nicht zum Privatbesitz von Verlagen werden. In der derzeitigen Situation werden die wissenschaftlichen Ergebnisse durch die öffentliche Hand sogar doppelt finanziert, insofern die Verlags-Publikationen wiederum vor allem durch wissenschaftliche Bibliotheken erworben werden. Dies gilt im Übrigen insbesondere für die Geisteswissenschaften, in denen verhältnismäßig wenige Drittmittel eingeworben werden.

Dieser Begründung wird ein weiteres Argument an die Seite gestellt: Die freie Zugänglichkeit der Publikationen sei letztlich die Existenzbedingung für einen funktionierenden Wissenschaftsbetrieb. Wenn die Publikation die Verbreitung und Weiterentwicklung von Wissen allererst ermöglicht, dann muss das Prinzip der Informationsfreiheit ein Grundprinzip der Wissenschaft bilden. In einer Zeit, in der die Literaturversorgung über das Medium Buch längst nicht mehr sichergestellt ist, liegt das adäquate Medium dieser Informationsfreiheit für die Open-Access-Bewegung im Medium Internet.




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Nachdem das Prinzip des Open Access ursprünglich vor allem in den Naturwissenschaften beheimatet war,5 wird es mittlerweile auf eine breitere Basis gestellt. Eine zentrale Rolle spielt dabei die "Budapest Open Access Initiative"6, die sich mit Unterstützung des Open Society Institute um die Umsetzung der Philosophie des freien Zugangs bemüht, und die "Open Archives Initiative"7, die Archivierungs-Standards für elektronische Publikationen entwickelt. Inzwischen hat die Open-Access-Bewegung auch in Deutschland Fuß gefasst, insbesondere über die u.a. von der Hochschulrektorenkonferenz, der DFG und dem Wissenschaftsrat getragene Berliner "Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen", die im Internet das "künftige Medium zur Wissensverbreitung" sieht und sich für das Open-Access-Prinzip stark macht.8

Im Fall der Geisteswissenschaften stellt sich die Frage nach dem Open-Access-Prinzip sogar in noch umfassenderem Maße, insofern es in diesen Disziplinen nicht nur um einen freien Zugang zur Forschungsliteratur, sondern auch zu digitalen Versionen der Quellen geht. Erste Ansätze in diese Richtung gibt es mittlerweile durch die Tagung "L'Open Source dans les sciences humaines"9 sowie durch das Berliner Symposium "Two Roads to Open Access: Stand und Perspektiven in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften"10.

Für ein solches Konzept eines freien Zugangs zu wissenschaftlicher Forschungsliteratur bietet die Publikation im Internet die technische Ermöglichungsstruktur. Stellt man die hier aufgeführten Aspekte in Rechnung, dann lässt sich dadurch eine verbesserte Zugänglichkeit wissenschaftlicher Publikationen erreichen:

– indem sich der Text nicht mehr auf den langen (manchmal mehrere Jahre dauernden) Weg über Verlag, Druck, Vertrieb und Bereitstellung in den Bibliotheken machen muss, verkürzt eine elektronische Publikation in der Regel die Zeitspanne zwischen Ergebnisgewinnung und -verbreitung;

– indem Online-Publikationen nicht an lokale Bibliotheken gebunden sind, die den entsprechenden Band angeschafft haben, sind sie ortsungebundener als Druck-Publikationen: Sie können von jedem Internet-Arbeitsplatz aus konsultiert werden, und dies auch simultan, d.h. sie können von mehreren Nutzern gleichzeitig konsultiert werden;

– indem elektronische Publikationen digital codiert sind, können sie durch Suchroutinen und Indexierung besser erschlossen und z.Bsp. nach Schlüsselbegriffen durchsucht werden.11

Im Sinne einer "Ökonomie der Aufmerksamkeit" verspricht man sich insofern von einem solchen freien Zugang eine bessere Verbreitung und Wahrnehmung der elektronisch publizierten Literatur: "Freier Online-Zugang zu wissenschaftlicher Literatur führt zu einer signifikant höheren Zitierrate" (Schallehn 2003).




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3 Dokumentcharakter und Bestandssicherung

Trotz dieser unbestreitbaren Vorteile dominiert jedoch nach wie vor die Praxis der Druck-Publikation. Die heutige Publikationspraxis ist de facto eine Re-Analogisierung: Während der Großteil der Vorarbeiten zu einer Publikation (von der Literaturrecherche über die Redaktion, die Formatierung und das Layout bis hin zur Druckvorlage) bereits digital abläuft, ist das Medium der Publikation in den allermeisten Fällen immer noch das Buch. Der Grund hierfür liegt in einem fundamentalen Akzeptanzproblem. Elektronische Publikationen werden aufgrund des 'demokratischen' Charakters des Internet, in dem 'jeder sein eigener Verleger werden kann', häufig mit Beliebigkeit und mangelnden Qualitätsstandards assoziiert; einer elektronischen Publikation fehlt also gerade jenes symbolische Kapital, das für wissenschaftliche Autoren wichtig ist (Warnecke 2004). Wissenschaftliche Qualitätsstandards sind jedoch im Internet auf dieselbe Weise zu garantieren wie in der Druck-Publikation: indem man Publikationsorte schafft, die wie die entsprechenden Druck-Publikationen durch Herausgeberkomitees und Peer-Review ein gewisses symbolisches Kapital besitzen. "Es gibt sicherlich keinen Grund anzunehmen, dass sich diese Verfahren der Qualitätssicherung nicht auch auf die digitale Ebene übertragen lassen" (Schallehn 2003). Dieser Punkt stellt insofern keinen prinzipiellen Einwand gegen elektronische Publikationen dar, sondern verweist eher auf die Tatsache, dass sich bislang noch zu wenige renommierte Publikationsorte im Internet etablieren konnten.

Ein weiterer Vorbehalt betrifft den Dokumentcharakter der elektronischen Publikation, und hier liegt auch das eigentliche pragmatische Problem. In der Druck-Publikation fungieren die Bibliotheken als eine Art kollektives Gedächtnis, das eine langfristige Bestandssicherung garantiert. Im Fall der elektronischen Publikation ist der materielle Träger der Information, die digitale Infrastruktur, wesentlich instabiler: digitale Speichermedien sind empfindlicher, Formate und Speichermedien veralten, die entsprechenden Programme und Lesegeräte sind u.U. schon nach einem Jahrzehnt nicht mehr verfügbar. Dieses Problem ist insbesondere für die Philologien relevant, in denen wissenschaftliche Publikation weniger rasch veralten als beispielsweise in den Naturwissenschaften, und die im Sinne des "kulturellen Erbes" auf der Ebene der Quellen auf eine langfristige Sicherung des Datenbestandes bedacht sein müssen.

Für dieses Problem wurden jedoch in den letzten Jahren eine Reihe von Lösungsansätzen entwickelt:

– die Anbindung der Publikations-Server an bestehende Institutionen wie Universitäten, Akademien, Universitätsbibliotheken oder Nationalbibliotheken, um den langfristigen Betrieb des Servers zu gewährleisten;

– der Ausschluss der Verwendung proprietärer Formate (wie etwa Microsoft Word), die durch Open Source-Formate wie HTML oder XML ersetzt werden;

– die Katalogisierung der elektronischen Publikationen in den traditionellen Bibliothekskatalogen und Bibliographien;

– die Verwendung eines so genannten "Persistent Identifier" – einer Art elektronischer ISBN, die unabhängig vom aktuellen Speicherort vergeben wird.12




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Diese Projekte zeigen, dass es sich beim Problem der Bestandssicherung um ein zwar komplexes, aber nichtsdestoweniger doch wohl lösbares Problem handelt. Sind diese pragmatischen Probleme gelöst, ist die elektronische Publikation der klassischen Druck-Publikation aus den genannten Gründen zweifellos überlegen.


4 Epistemologische Aspekte: Wissenschaftliche Hypertexte

Die digitalen Medien können also – die Lösung der genannten Probleme vorausgesetzt – gewissermaßen als pragmatische Optimierungsmittel für den wissenschaftlichen Diskurs fungieren und zur Verbesserung der wissenschaftlichen Kommunikation beitragen. Die Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Publikation und digitalen Medien lässt sich aber auch in umgekehrter Richtung stellen: ist es denkbar, dass die digitalen Medien und ihre technischen Möglichkeiten ihrerseits Auswirkungen haben auf den wissenschaftlichen Diskurs? Heute entspricht der Linearität des Mediums Buch die Linearität der wissenschaftlichen Argumentation, die nur in einigen Randphänomenen wie den Fußnoten, dem Anhang und den Querverweisen durchbrochen wird. Für die neuen Medien und insbesondere für das Internet ist jedoch das Prinzip der Hypertextualität, der multilinearen Verknüpfung von Textelementen zentral. Entsteht also mit den digitalen Medien und ihrer Hypertextualität eine andere Art der wissenschaftlichen Argumentation, eine neue Form der Wissensrepräsentation?

Hinter einer solchen Fragestellung steht letzten Endes eine Art "technologischer Determinismus" (Bolter 1997: 38) – die Annahme, dass Medien kulturelle Phänomene determinieren, dass also im vorliegenden Fall die technische Struktur der digitalen Medien eine Transformation des wissenschaftlichen Diskurses nach sich zieht. Angesichts der Tatsache, dass solche prononcierten Positionen mittlerweile zugunsten stärker pragmatisch orientierter Anforderungen an die digitalen Medien aufgegeben wurden (Münker 2002), kann es hier allerdings nicht um den utopischen Entwurf eines weltumspannenden, kollektiven Wissenschafts-Hypertextes, nicht um die Postulierung einer "völlig neuen Form des Wissensdesigns" nach dem "Ende des Gutenberg-Zeitalters" (Bolz 1993: 8) gehen. Es soll hier vielmehr um die Frage gehen, welche konkreten Potentiale und welche Umsetzungsmöglichkeiten für den wissenschaftlichen Diskurs in den digitalen Medien liegen.

Ich möchte diese Frage am Beispiel zweier Internet-Publikationen illustrieren: an Darntons mittlerweile schon klassischem Aufsatz "An Early Information Society", und an dem "Atelier de théorie littéraire", der Bestandteil des Internetportals fabula.org ist.

Hintergrund des Darntonschen Artikels ist ein "Experiment" der "American Historical Association": Ein Artikel des Princetoner Kulturhistorikers Robert Darnton, "An Early Information Society: News and the Media in Eighteenth-Century Paris", wird einmal als klassische Druck-Publikation in der "American Historical Review", einmal als elektronische Publikation veröffentlicht (Abb. 1).13




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Abb. 1: Die Online-Version von "An Early Information Society"


Darntons Beitrag behandelt die Informationsnetzwerke, die im Paris des 18. Jahrhunderts entstanden sind; er versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, wie Neuigkeiten in der damaligen Zeit, die noch kaum Zeitungen kannte, verbreitet wurden. Darntons Antwort lautet: Die "nouvelles" zirkulierten zwischen den unterschiedlichsten Medien – sie wurden nicht nur mündlich weitergetragen (in den "bruits publics" und den "on-dits"), sondern auch in handschriftlichen "feuilles volantes", in vereinzelten Drucken dieser "feuilles" und sogar mittels satirischer Chansons. Darnton insistiert dabei darauf, dass es keine einsinnige Weitergabe von Informationen beispielsweise von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit gab, sondern dass die Neuigkeiten zwischen all diesen Medien zirkulierten.

Der Charme der elektronischen Publikation dieses Artikels liegt zweifellos darin, dass Darnton mit dieser These Gegenstand und Präsentationsform in ein Homologieverhältnis bringt: Die netzartige Kommunikationsform des 18. Jahrhunderts wird über einen Hypertext präsentiert, die Multimedialität der zeitgenössischen Kommunikation in multimedialen Darstellungsformen veranschaulicht:

– die einzelnen Abbildungen können vergrößert und damit im Detail betrachtet werden (Abb. 2);




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Abb. 2: Beispiel für eine Abbildung aus "An Early Information Society" – "L'Arbre de Cracovie"


– in den Artikel ist ein zeitgenössischer Stadtplan integriert, auf dem die von den Spitzeln der Polizei frequentierten Cafés markiert sind; die einzelnen Teilpläne sind wiederum mit den Berichten verknüpft, die aus der Observierung dieser Cafés hervorgegangen sind;14

– dem Text wurden zwölf zeitgenössische, von der Sängerin Hélène Delavault interpretierte Chansons per MP3- bzw. Realmedia-Dateien beigefügt, die wiederum mit den Liedtexten, ihren Übersetzungen sowie Kommentaren verknüpft sind.15

Teil des "Experiments" ist außerdem eine Online-Diskussion sowie ein Link zu einer anderen Online-Publikation Darntons.

Darntons Artikel scheint also Hypertextualität und Multimedialität zu realisieren und ist dementsprechend auch als zukunftsweisend gelobt worden.16 Im Jahr vor Erscheinen dieser Doppelpublikation hatte Darnton in zwei Artikeln17 die "Vision" eines wissenschaftlichen Hypertextes entworfen, der es möglich machen sollte, die umfangreichen und verzweigten Ergebnisse seiner langjährigen Forschungen zum französischen Buchwesen des 18. Jahrhunderts darzustellen:




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Instead of bloating the electronic book, I think it possible to structure it in layers arranged like a pyramid. The top layer could be a concise account of the subject, available perhaps in paperback. The next layer could contain expanded versions of different aspects of the argument, not arranged sequentially as in a narrative, but rather as self-contained units that feed into the topmost story. The third layer could be composed of documentation, possibly of different kinds, each set off by interpretative essays. A fourth layer might be theoretical or historiographical, with selections from previous scholarship and discussions of them. A fifth layer could be pedagogic, consisting of suggestions for classroom discussion and a model syllabus. And a sixth layer could contain readers' reports, exchanges between the author and the editor, and letters from readers, who could provide a growing corpus of commentary as the book made its way through different groups of readers. (Darnton 1999a)

Gegenüber diesem Entwurf eines komplexen wissenschaftlichen Hypertextes sind die Spuren des Buch-Mediums in Darntons Artikel jedoch de facto überdeutlich. So bleibt die klassische Seitenaufteilung inklusive Paginierung erhalten (Abb. 3); die Diskussion beschränkt sich auf eine sehr begrenzte Zahl von Fragen verschiedener Wissenschaftler und Darntons Antworten darauf.

 

Abb. 3: Seite 1 von Darntons Artikel "An Early Information Society"





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Der wichtigste Punkt hierbei: Die lineare Argumentation Darntons, die in einem linearen Text präsentiert wird, bleibt das klare Zentrum der Publikation. Die visuellen und auditiven Daten sind dieser Abhandlung zu- und nachgeordnet, sie fungieren allesamt als 'Illustrationen' des Textes: "Maps are symbolic texts, and so are copperplate engravings and musical annotation", wie Darnton selbst es formuliert hat.18

Darntons Artikel ist in diesem Sinne ein mediales Schwellenphänomen: Er nutzt Hypertextualität, um bereits in die Wissenschaft eingeführte Verknüpfungen (vom Haupttext zur Fußnote, vom Text zur Abbildung) zu realisieren. Darnton hatte schon in seinem Artikel "The New Age of the Book" vor einer allzu eiligen Verkündung des "Endes des Gutenberg-Zeitalters" gewarnt (Darnton 1999a) und in einem anderen Artikel das Internet als "effective tool" für die Wissenschaft verortet (Darnton 1999c). Darnton gehört also zu den Pragmatikern, nicht zu den Utopisten, und in diesem Kontext ist wohl auch der systematische Schluss zu sehen, den Darnton aus der Homologie zwischen den Informationsnetzwerken des 18. und dem hypertextuellen Netz des 20. und 21. Jahrhunderts zieht: "every age", so Darnton gleich zu Beginn von "An Early Information Society", "was an age of information".

Der "Atelier de théorie littéraire" auf fabula.org hingegen macht Hypertextualität zum Grundprinzip seines Diskurses (Abb. 4).19

 

Abb. 4: Der "Atelier de théorie littéraire" auf fabula.org





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Ziel dieses Projekts ist die Erstellung eines wissenschaftlichen Hypertextes zur Literaturtheorie. Die Grundstruktur wird durch eine Reihe zentraler Begriffe vorgegeben: "auteur", "fiction", "genres", "intertextualité" etc. (vgl. Abb. 4). Diesen Begriffen sind Texte zugeordnet, die untereinander verlinkt sind:

 

Abb. 5: "Atelier de théorie littéraire" – Begriff "fiction"


Die verschiedenen Texte sind dabei recht unterschiedlicher Natur: teils kurze, lexikonartige Einträge, teils längere Abhandlungen, teils "notes de lecture". Weitere Links führen zu anderen Texten innerhalb des Portals fabula.org oder zu externen Seiten.

Die Abhandlungen können durch Kommentare, Ergänzungen etc. erweitert werden. Ein Fragezeichen verweist auf noch zu füllende Stellen des Hypertextes; der "Atelier" ist also eine offene Publikation, die Erweiterbarkeit zum Grundprinzip gemacht hat. Die Mitarbeit an dieser "encyclopédie collective" (Gefen 2002) steht im Prinzip jedem offen; vor der Veröffentlichung steht allerdings die Überprüfung durch das Herausgeber-Komitee.20

Schließlich gibt es die Möglichkeit, den Hypertext durch so genannte "cartes notionnelles" zu visualisieren (Abb. 6).




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Abb. 6: Ausschnitt aus der "carte notionnelle" zum Begriff "fiction"


Interessant ist dabei, dass die Zahl der externen Links relativ gering ist, während die Zahl der internen Links ersten Grades (innerhalb des "Atelier") und zweiten Grades (innerhalb von fabula.org) weit höher ist. Im Vordergrund steht also offenbar nicht ein weit in die Tiefen des Internet ausgreifender Hypertext, sondern fabula.org als in sich geschlossenes Hypertextsystem.

Während Darnton also Hypertextualität nutzt, um bereits etablierte Verknüpfungsmodi zu realisieren, wird Hypertextualität beim fabula-Projekt zum eigentlichen Grundprinzip des wissenschaftlichen Diskurses. Daran wird die epistemologische Dimension greifbar: Der Horizont des "Atelier de théorie littéraire" ist nicht die Durchführung einer linearen Argumentation, sondern eher die Schaffung einer Argumentationsumgebung.




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Es kann hier jedoch nicht darum gehen, den "Atelier" als 'fortschrittliche' Publikationsform gegenüber der 'Traditionsverhaftung' Darntons zu profilieren. In der wissenschaftlichen Publikation der Zukunft eine prinzipiell digitale, prinzipiell hypertextuelle und prinzipiell offene zu sehen, hieße, einer einfachen mediendeterministischen Logik zu folgen. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass auch in Zukunft 'offene' (wie der "Atelier") und 'geschlossene' Publikationen (wie Darntons Artikel) nebeneinander existieren werden, weil sie in ihrem jeweiligen konkreten Kontext die adäquate Diskursform bilden. Es geht insofern eher darum, wie sich in der gegenwärtigen medialen Umbruchphase innerhalb der Wissenschaft – und eben auch innerhalb der Geisteswissenschaften – verschiedene Praktiken mit je unterschiedlichen Möglichkeiten und Grenzen ausdifferenzieren. Medienumbrüche stellen, das zeigt die Mediengeschichte, komplexe und vielschichtige Phänomene dar, die sich erst langsam in Praktiken und Kulturtechniken sedimentieren. Gerade in der Umbruchphase geben die neuen Medien nur den Rahmen vor, gewissermaßen die Ermöglichungsstruktur, die dann durch die realisierten Praktiken und Kulturtechniken ausgelotet und schließlich institutionalisiert werden. Die beiden diskutierten Publikationen können als Beispiele für solche 'Auslotungen' dienen, als Beispiele für denkbare wissenschaftliche Diskursformen in den neuen digitalen Medien.


Bibliographie

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Darnton, Robert (1999c): "No Computer Can Hold the Past", in: The New York Times, 12. 6. 1999. [http://www.library.cornell.edu/colldev/mideast/darnton.htm, 1.5.2004]

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Füssel, Stephan (2001): "Geisteswissenschaften und digitale Medien. Von der Medienkonkurrenz zur Mediensymbiose", in: Wissenschaftspublikation im digitalen Zeitalter. Verlage, Buchhandlungen und Bibliotheken in der Informationsgesellschaft. Wiesbaden: Harrasowitz, 19–41.




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Gefen, Alexandre (2002): Le site fabula: courte histoire d'un portail universitaire pour la littérature. [http://www.bmlisieux.com/colloque/agefenco.htm, 1.5.2004]

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zeitenblicke 2/2 (2003): Wohin führt der Weg? Historische Fachzeitschriften im elektronischen Zeitalter. [http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/02, 1.5.2004]


Anmerkungen

1 Vgl. u.a. Tröger (2000), Wissenschaftspublikation (2001), Maier (2003). Zu den die Geistes- und Kulturwissenschaften betreffenden Aspekten vgl. zeitenblicke (2003).

2 Vgl. zu diesem Zusammenhang, insbes. zur "Zeitschriftenkrise" Maier (2003).

3 Vgl. http://deposit.ddb.de (bei der romanistischen Publikation handelt es sich um Achim Schröders Politische Geldkritik in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts im Kontext von Balzac, Vallès, Zola und Jarryhttp://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=96212348X); http://epub.ub.uni-muenchen.de; http://edoc.ub.uni-muenchen.de. Alle hier wie im Folgenden angegebenen externen Links wurden zuletzt am 1. 5. 2004 überprüft.

4 Vgl. die Formulierung der Budapest Open Access Initiative: "By 'open access' to this literature, we mean its free availability on the public internet, permitting any users to read, download, copy, distribute, print, search, or link to the full texts of these articles, crawl them for indexing, pass them as data to software, or use them for any other lawful purpose, without financial, legal, or technical barriers other than those inseparable from gaining access to the internet itself. The only constraint on reproduction and distribution, and the only role for copyright in this domain, should be to give authors control over the integrity of their work and the right to be properly acknowledged and cited" (http://www.soros.org/openaccess/read.shtml). Einen guten Überblick über die Materie bietet Graf (2003).




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5 Vgl. etwa das Projekt der "Public Library of Science" (http://www.publiclibraryofscience.org).

6 http://www.soros.org/openaccess.

7 http://www.openarchives.org.

8 Vgl. den Text der Erklärung unter http://www.mpg.de/pdf/openaccess/BerlinDeclaration_dt.pdf.

9 http://www.hypernietzsche.org/events/os/.

10 Vgl. dazu die Presseerklärung unter http://idw-online.de/public/zeige_pm.html?pmid=71283.

11 So werden beispielsweise im Rahmen der "Open Archives Initiative" Archivierungs-Standards für elektronische Publikationen entwickelt, die es ermöglichen sollen, alle mit diesen Standards verbundenen Publikationen mittels eines einheitlichen Protokolls zu durchsuchen.

12 Vgl. die verschiedenen Projekte zur Entwicklung eines "Uniform Resource Name" (http://www.persistent-identifier.de), eines "Persistent Uniform Resource Locator" (http://www.purl.org) und eines "Digital Object Identifier" (http://www.doi.org).

13 Darnton (2000). Die Online-Version ist zugänglich unter http://www.indiana.edu/~ahr/darnton. Über die Online-Publikation heißt es dort: "Robert Darnton's 'An Early Information Society' is [...] is an experiment in using the new electronic medium as a means of disseminating historical scholarship" (http://www.indiana.edu/~ahr/darnton/about.html).

14 http://www.indiana.edu/~ahr/darnton/maps/.

15 http://www.indiana.edu/~ahr/darnton/songs/.

16 Vgl. beispielsweise den "Link-Wink" im geschichtswissenschaftlichen Portal historicum.net: http://www.sfn.historicum.net/links/2000/liwi2000-25.htm.

17 "The New Age of the Book" (Darnton 1999a) und "A Historian of Books, Lost and Found in Cyberspace" (Darnton 1999b).

18 "Topic and Reply 5", http://www.indiana.edu/~ahr/darnton/discussion/d05.html.

19 http://atelier.fabula.org.

20 Darin unterscheidet sich der "Atelier" von Enzyklopädien wie Wikipedia (http://www.wikipedia.de).