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Dietrich Scholler (München)



Digitale Rückkopplung: zur Darstellung der neuen Medien in Giuseppe Calicetis 'Tagebuchcollage' Pubblico/Privato 0.1, mit einem methodischen Vorspann zu Problemen der Intermedialität*



 

Digital Feedback: on the Representation of New Media in Giuseppe Caliceti's 'Diary Collage' Pubblico/Privato 0.1, with some some introductory remarks on the methodological problems of intermediality
In general, literary texts are called 'intermedial' if they display or employ affinities to photography, film or television, i.e. if they transfer aspects of these media to the structure of the literary text. A recently emerged group of Italian authors, the "generazione pulp", tries to compose their stories as Quentin Tarantino composes his films. In a similar way, Giuseppe Caliceti's diary collage Pubblico/Privato 0.1 (2002) displays obvious references to other media – mostly, however, to the new electronic media. The essay introduces a model of intermediality which will account for this new constellation and which will subsequently serve as the basis for an interpretation of Caliceti's diary collage.

 

 

"SIE HABEN RECHT – UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN: WANN WERDE ICH ES UEBER MEINE FINGER BRINGEN; EINEN LANGEN SATZ ZU SCHREIBEN!"

Friedrich Nietzsche, im Februar 1882, auf seiner ersten Schreibmaschine

Einleitung

"Mi pare [...] che i libri siano una specie di lettera più voluminosa, di e-mail infinito." (Caliceti 2002: 173) In dieser metabesprechenden Äußerung des Erzähler-Autors kommt eine Einschätzung zum Ausdruck, die bei immer mehr Schriftstellern oder 'Textern' im weiteren Sinne um sich greift und in dem vorliegenden, tagebuchartigen Text sichtbare Spuren hinterlassen hat: Die Schriftstellerei unter den Bedingungen elektronischer Texterzeugung resp. weltweiter Distribution konditioniert, so meine These, nicht nur Hyperfiktionen, also digitalspezifische, auf elektronischen Trägermedien gespeicherte und diese voraussetzende Literatur, sondern auch die Print-Literatur. Das geschieht zum einen ganz schlicht und manchmal doch ergreifend dadurch, dass die Lebenswelt der elektronischen Medien für erzählwürdig befunden wird. Zum anderen färbt Digitalia insofern auf die Gutenbergwelt ab, als neue Kommunikationsformen und -stile die tradierte Literatur infiltrieren oder, andersherum formuliert, von letzterer zum Zwecke ästhetischer Innovation assimiliert werden, Innovationen, die bezeugen, dass der vielfach beklagte mediale Wandel die Literatur nicht verdrängt, sondern bereichert.




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1 Intermediales Erzählen in der italienischen Gegenwartsliteratur

Altermediale Thematisierung und Assimilierung haben in der jüngeren italienischen Literaturgeschichte eine notorische Konjunktur, ja, fast könnte man der Meinung sein, dass die italienischsprachige Romanproduktion der letzten 20 Jahre geradezu zwanghaft mit photographischen, filmischen oder televisuellen Sujets bzw. Strukturhomologien arbeitet. Als Einsatzpunkt forcierter Intermedialität darf wohl der Erstlingsroman Treno di panna (1981) des inzwischen nicht mehr so ganz jungen giovane scrittore Andrea De Carlo gelten. In Treno di panna lassen sich sowohl auf histoire- wie auch auf discours-Ebene deutliche photorealistische Modellierungsverfahren nachweisen (vgl. Greiner 2000).

Prägten neben Andrea De Carlo auch noch Antonio Tabucchi und Pier Vittorio Tondelli als Vertreter der ersten Generation der giovani scrittori die italienische Literatur der 1980er Jahre auf nachhaltige Weise, so entsteht in den 90ern eine zweite, wenn nicht dritte Welle postmoderner Literatur, in der die Lust am Erzählen ungebrochen ist und intermediales switching geradezu lustvoll forciert wird, zumal sich die Medienlandschaft in den 90er Jahren grundlegend verändert. An erster Stelle zu nennen ist in diesem Zusammenhang die nachgerade in Italien frühzeitige Privatisierung und Ausfächerung der Fernsehlandschaft, die aufkommende Multimedialisierung durch PC und Playstation, aber auch neue Trägermedien wie CD-Rom, DVD und Laptop bzw. neue Abspielgeräte (MP3-Player u.a.): allesamt schöne neue Instrumente, einzig und allein ersonnen zum Zwecke des zeitlich und räumlich uneingeschränkten, flexiblen Medienkonsums. Dieser Konsum bildet nicht länger die Ausnahme, sondern er wird – bei sorgfältiger Pflege – zur zweiten Natur: consuetudo est altera natura. Kein Wunder also, dass der skizzierte, breit ausgefächerte Medienverband ein Dispositiv bildet, das die scrittura der jüngsten, medienerprobten Generation ganz entscheidend konditioniert.

Als repräsentative Vertreter seien Enrico Brizzi, Niccolò Ammaniti und Aldo Nove genannt. Allerdings zeigt der jüngste Forschungsstand, dass diese Autoren zwar einen beträchtlichen Schritt über die erste Generation der giovani scrittori hinausgehen, indem zum einen Photographie und Film durch das TV-Paradigma ersetzt werden und zum zweiten der Hiat zwischen 'Wirklichkeit' und medialer Verfasstheit nicht länger problematisiert, sondern als inexistent ausgewiesen wird (vgl. Rajewsky 2003: 384), aber die neuen elektronischen Medien und Kommunikationsformen haben die Figuren der generazione pulp wohl noch nicht affiziert und geraten folglich auch nicht in den Untersuchungsfokus: Den epistemischen Filter dieser écriture bilden eindeutig die alten Medien.

Immerhin deutet Rajewsky in der Schlussbetrachtung ihrer grundlegenden Studie zur italienischen Literatur der 80er und 90er Jahre ausblicksartig an, dass "intermedialen Bezügen ein immer größerer Stellenwert zukommen und sich die Radikalität im literarischen Umgang mit den elektronischen, insbesondere den digitalen Medien möglicherweise von Generation zu Generation verstärken wird." (ebd.: 390, meine Hervorhebung)




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An diesem Punkt gilt es anzuknüpfen, zumal auch und gerade auf der Ebene der zu untersuchenden Objekte mehr als ein Anknüpfungspunkt affichiert wird. Die Rede ist von wiederholten Erwähnungen eminenter giovani scrittori in Calicetis Pubblico/Privato 0.1, wodurch sich der Autor-Erzähler ganz bewusst und gezielt im juste milieu einer scheinbar ungebrochen schwingenden Trendliteratur verortet.1 Schon der Untertitel "Diario on line dello scrittore inattivo" verweist auf Pier Vittorio Tondellis Frammenti dell'autore inattivo, eine artige Verbeugung also Richtung Tondelli als der Vorläufer- und Integrationsfigur einer ganzen Schriftstellergeneration.2

Calicetis eigenwillige Auslegung des Attributs inattivo ist ein klassischer Bescheidenheitstopos, den man gewöhnlich in Texteingängen antrifft: Das zu schreibende Tagebuch sei paradoxerweise dann entstanden, "quando non sono impegnato a scrivere libri" (Pubblico: 13), näherhin eine Form der Gymnastik ("di tenermi in allenamento"; "Per me il Diario è la mia palestra"; ebd.). Aus der Gruppe der pulp-Autoren fällt am häufigsten der Name Aldo Noves – ebenfalls im Kontext einer Legendenbildung qua Generationszugehörigkeit:

Ho comprato Amore mio infinito, l'ultimo libro di Aldo 9. Ho finito di leggerlo poco fa. Molto bello. Mi pare che Aldo si sia messo in gioco veramente, fino in fondo. Un libro vero. Capace di descrivere bene cosa vuol dire nascere e crescere in Italia quando siamo nati noi. Macché cannibale innamorato! Un libro di una dolcezza che uccide! (ebd.: 87)

Außerdem erwähnt werden Enrico Brizzi, Chiara Zocchi (ebd.: 118), Giuseppe Culicchia (ebd.: 144), Silvia Balestra (ebd.: 198) aber auch betagte Avantgardisten vom Schlage Sanguinetis (102) und Balestrinis (218), letztere übrigens durchweg wohlmeinend, was als Zeichen für jene seit Eco andauernde postmoderne Kontinuität gedeutet werden kann, die im Unterschied zur Avantgarde keine Brüche inszeniert, sondern sich das Vorangegangene aneignet und auf spielerische Weise verwandelt.


2 Intermedialität im Zeichen der neuen Medien

Ausgehend von Calicetis Tagebuch wäre das Intermedialitätsparadima unter Einbeziehung des Systems 'elektronische Medien' zu erweitern. Dabei ist wie im Falle reformierter intertextueller Theoriebildung zwischen Einzel(text)referenz und Systemreferenz zu unterscheiden. Diese aus dem Kreis der Berliner Schule im Gefolge einer andauernden Debatte (vgl. Pfister 1985, Hempfer 1991 und 2002, Penzenstadler 1993) hervorgegangene Unterscheidung wurde von Rajewsky (2003) mit Blick auf intermediale Untersuchungen entsprechend angepasst, weil altermediale Bezüge evidentermaßen einen Wesensunterschied gegenüber intramedialen Text-Text- oder Text-System-Relationen aufweisen, in concreto: Plurimediale TV-Spots beispielsweise oder fluide elektronische Gebilde können sich aufgrund des medial gap im monomedialen Druck materialiter überhaupt nicht manifestieren, sondern allenfalls indiziert, erwähnt, evoziert oder 'irgendwie' imitiert werden.




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Mit anderen Worten: Der von Hempfer3 in Bezug auf die Funktionsweise von literarischer Systemreferenz geprägte Begriff der Aktualisierung scheint hinsichtlich intermedialer Studien nicht länger angemessen, weil sich fremdmediale Systeme im Medium der Literatur nicht aktualisieren können. Um es mit einem Beispiel zu sagen: Wenn Gaspara Stampa in ihren Rime auf ostinate Weise die Unerreichbarkeit eines geliebten Du im Horizont der voluptas dolendi inszeniert und darüber hinaus typische Motive aus Petrarcas Canzoniere verwendet, dann kann man mit gutem Recht von der Aktualisierung des petrarkistischen Systems sprechen, weil es sich um eine intramediale, variierende Wiederholung gleicher oder ähnlicher verbaler Strukturen und Konzepte handelt. Wenn dagegen in Alain Robbe-Grillets Roman La jalousie eingangs der auf einer Terasse wandernde Schatten einer Säule wie mit dem Kameraauge – simuliert durch präsentische Erzählweise – bei gleichzeitiger Suspendierung einer vermittelnden Erzählinstanz verfolgt wird, dann wird zwar ein filmbezogenes Verfahren gewählt, aber dieses wird bloß im Modus des Als ob nachgeahmt, und der Leser bleibt letztinstanzlich auf eine letternvermittelte Deixis zurückgeworfen.

Aus diesem Grund unterscheidet Rajewsky auf dem Feld intramedialer Bezüge zwischen Systemerwähnung und -aktualisierung einerseits, auf dem der intermedialen Relationen hingegen zwischen Systemerwähnung und -kontamination (Rajewsky 2003: 64) andererseits. Für unsere Zwecke von Bedeutung sind natürlich intermediale Systemerwähnung und insbesondere Systemkontamination. Der Begriff der Systemerwähnung wird in Anlehnung an Penzenstadler (1993) weiter differenziert, je nachdem, ob ein altermediales semiotisches System nur erwähnt wird ('Reden über' = explizite Systemerwähnung) oder ob das Bezugssystem evoziert, simuliert oder gar teilreproduziert wird.4 Für die letztgenannten, ästhetisch gesehen sicherlich interessanteren Fälle, wird der Begriff Transposition vorgeschlagen, weil diese Verfahren beim literarischen Bedeutungsaufbau eine Illusion des Fremdmedialen in den literarischen Text hineintragen (Rajewsky 2003: 71).

Die intermediale Variante der intramedialen Systemaktualisierung bildet schließlich die Systemkontamination. Im Falle der Systemkontamination wird das altermediale Bezugssystem im literarischen Text "tatsächlich durchgehend zu einer Grundlage der Textkonstitution." (ebd.: 77)

Zum Zwecke griffiger Präzisierung sei vorgeschlagen, die differentia specifica beider Phänomene mit einer der Tempussemantik entlehnten Begriffsopposition auszuzeichnen: Simulierende oder teilreproduzierende Systemerwähnung wäre m.E. ihrem Wesen nach punktuell, während eine Systemkontamination genau dann vorliegt, wenn die 'Aktualisierung' des altermedialen Systems durativ ist. Denn genaugenommen handelt es sich nicht – wie suggeriert wird – um einen qualitativen, sondern um einen rein quantitativen Unterschied, weshalb ich geneigt bin, die Kategorie der simulierenden resp. teilreproduzierenden Systemerwähnung zu streichen bzw. sie teilweise in die der Systemkontaminierung zu überführen und stattdessen lieber von punktueller oder durativer Systemkontaminierung sprechen würde.




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Denn darüber hinaus erscheint mir der Begriff Systemerwähnung von seiner Semantik her ungünstig gewählt, um ein Phänomen wie Simulation oder teilweise Reproduktion von altermedialen Elementen und / oder Strukturen zu bezeichnen: Setzt doch das Erwähnen immer schon die aktivische Meta-Position einer Haltung des Besprechens voraus, die mit dem eher automatisierten, passivisch-erzählenden Verwenden inkompatibel ist. Deshalb unterscheide ich im Bereich Systemerwähnung ausschließlich zwischen beiläufigem Erwähnen (= Indikation) mehr oder weniger längerem 'Reden über' (= Besprechung) bzw. dem erzählenden oder beschreibenden Erwähnen (= Darstellung).

Schließlich sei ein weiterer begrifflicher Präzisierungsvorschlag eingebracht: Sollte man aus wissenschaftspragmatischen Gründen an Stelle von Systemkontamination nicht besser von Systeminterferenz sprechen? Es sei gerne zugestanden, dass der italienische Begriff contaminazione eine spezifische mit "lett." ausgewiesene Unterbedeutung im Sinne Rajewskys aufweist, also auf solche literarischen Werke zutrifft, die Elemente unterschiedlicher Herkunft verschmelzen (vgl. Zingarelli, s.v. contaminazione). In der Gegenwartssprache findet man dieses Gebrauchsweise auch in der Musik, etwa dann, wenn es in einer rezenten Ausgabe des Corriere della Sera in Bezug auf eine deutsche Kraut-Rock-Gruppe heißt: "[...] dal 1969 gli Embryo di Christian Burchard sono aperti alle contaminazioni della world music." (Carnevale 2004: 50)

Im Deutschen allerdings sucht man diese Bedeutung vergeblich. Der Begriff Kontamination löst im Deutschen als erste konnotative Assoziation den der 'Verseuchung' aus, was vielleicht nicht so günstig erscheinen mag. Auch als philologischer Fachbegriff kann er nicht in der von Rajewsky gebrauchten Bedeutung verwendet werden: Als Terminus technicus fungiert er ausschließlich auf der Wort- nicht auf Struktur-, Text- oder Diskursebene und bezeichnet das Phänomen der Wortvermengung (Bsp. 'Kurlaub', vgl. Lewandowski 1994: s.v. Kontamination). Dagegen wird der Begriff der Interferenz ausdrücklich in Bezug auf zwei sich überlagernde Systeme in Anschlag gebracht, in erster Linie auf dem Gebiet der Spracherwerbsforschung, nämlich dann, wenn Überlagerungen einer bereits gelernten Ausgangsprache A 'störend' auf Elemente und / oder Strukturen einer zu lernenden Sprache B einwirken (vgl. Tesch 1978). Auf dieser Prämissengrundlage erscheint es also sinnvoller, den auf Systemebene eingeführten und gefestigten Begriff der Interferenz zu gebrauchen. Aus dieser linguistisch geprägten Blickrichtung (Ausgangssprache > Zielsprache) wäre Systeminterferenz (altermediales System > [literarischer] Text) demnach wie folgt zu definieren:

Systeminterferenz ist die entautomatisierend wirkende, punktuelle oder durative Überlagerung eines altermedialen Systems auf das System literarischer Texte bzw. auf einen konkreten literarischen Einzeltext. Erscheinungen der altermedialen Systeminterferenz stehen aufgrund des mediologischen Hiats unter dem Vorzeichen des 'Als ob' und können sich im literarischen Text auf der Ebene des Lexikons, der (text)grammatischen Strukturen und Topoi sowie in der Textpragmatik manifestieren.5




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Der Wesensunterschied zwischen Systemerwähnung und Systeminterferenz besteht also darin, dass bei ersterer der Darstellungsbereich um Altermediales kreisen muss, gleichviel, ob bloß indizierend, besprechend, beschreibend oder erzählend, was umgekehrt bei letzterer ganz ohne Bedeutung bleiben kann. Ausschlaggebend für Systeminterferenz ist der Bereich der Darstellung, also der Darstellungsapparat: Greift dieser beim literarischen Situationsaufbau auf pseudo-altermediale Elemente oder Strukturen zurück, dann liegen systeminterreferentielle Relationen vor.

Selbstverständlich gibt es das Phänomen gleichzeitiger Erwähnung und Interferenz, also solche Fälle, in denen zum Beispiel die digitalen Medien sujetträchtig zum Zuge kommen und in denen solche altermedialen Sujets mittels pseudo-altermedialer, genauer, pseudo-digitaler Darstellungstechniken modelliert werden. Anzusetzen ist also eine graue Übergangzone, eine Schnittmenge von variabler Größe, die in dem Maße anwachsen kann, wie Erwähnung und Interferenz überblendet werden.

Schließlich sei eine letzte bedeutungsunterscheidende Dimension eingezogen. Sie stützt sich auf die Annahme, dass Erwähnungen und Interferenzen die aufgerufenen Bezugssysteme literarisch 'interpretieren', und zwar in unterschiedlicher Weise. Mit Gumbrecht (2003), der die Macht philologischer Techniken unlängst in differenzierter Weise auseinandergelegt hat, könnte man sagen, dass Erwähnungen eine laterale Relation zum Bezugssystem ausbilden. So dürften beispielsweise indizierte Fersehwerbespots oder besprochene Websites zum restlichen literarischen Textgeschehen in einer horizontalen, dominant metonymischen Relation stehen. Es handelt sich um mehr oder weniger verstreute Kommentarpartikel, deren Bedeutung sich auf der Textoberfläche in Form von Kontiguitätsrelationen zu anderen Erwähnungen konstituiert. Dagegen formiert sich – wiederum in Analogie zu einem Gumbrechtschen Argument – die Interferenz als eine vertikale Beziehung zwischen res auf der einen und verba / media auf der anderen Seite. Denn die pseudo-altermediale Ausstattungsillusion des Darstellungsapparats basiert auf Similaritätsbeziehungen zwischen Lettern und fremdmedialen Systemen, die beim literarischen Situationsaufbau wie ein Dispositiv wirken und dem literarischen Text eine Tiefendimension verleihen, welche durch bloßes Kommentieren nicht hinreichend erfasst werden kann und deshalb der Interpretation bedarf. Vielleicht liegt darin der verborgene Impuls intermedialen Schreibens.

Aus vorstehenden Modifikationen, die der theoretischen Exploration Rajewskys viel verdanken, wenn sie ihr auch nicht folgen, ergibt sich nachstehendes, vereinfachtes Tableau:

Systemreferenz

[to mention]

Systemerwähnung

[Kontiguitätsbeziehung]

[to use]

Systeminterferenz

[Similaritätsbeziehung]

indizierend

besprechend

darstellend

punktuell

durativ

literal

literal / pseudo-altermedial




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Es gilt nun, mit Hilfe dieses Modells, die Art und Weise systemreferentieller Bezugnahmen in Calicetis Pubblico einzukreisen, um ihr intermediales Differenzpotential näherhin zu bestimmen. Das setzt natürlich eine weitere, an dieser Stelle nicht zu leistende, begriffliche Klärung voraus, nämlich die Bestimmung des kontaktgebenden Systems, also der wichtigsten Systemmerkmale und -strukturen der neuen elektronischen Hypermedien und ihrer unterschiedlichen Kommunikationsformen und -stile. An anderer Stelle mit dem Fokus Hypertext ausführlicher erläutert (vgl. Scholler 2004), seien diese Systemelemente und -strukturen im Folgenden nur kurz skizziert, immerhin mit einem erweiternden Schwerpunkt zum Komplex der – in meinen Worten – 'sekundären Literalität'.

Die Hypermedien und ihr wichtigster Ermöglichungsraum WWW wachsen exponential. Als Bezeichnung sind zwar web und net gebräuchlich, also zweidimensionale Bildspender, aber das beschleunigte Wachstum erklärt sich gerade daraus, dass überall im weltweiten Raum täglich neue Knoten entstehen, die ihrerseits wieder neue Knoten hervorbringen usw. Kurz nach der Geburt des ARPANET (1969) gab es gerade einmal vier (nicht öffentliche) Knoten, nämlich am UCLA, am Stanford Research Institut sowie an den Universitäten von Santa Barbara und Utah. Aber auch in den achtziger Jahren, als akademische Netzwerke entstehen, die dann durch das sogenannte Internet Protocol miteinander vernetzt werden, weiß praktisch niemand von der Existenz des neuen Hyperraums.

Das hat sich geändert, die seitherige Entwicklung verlief rasant, als wichtigste Tendenz sei in diesem Zusammenhang gleich ein wesentliches Merkmal benannt: Multimedialität. Zielte die ursprüngliche Idee der Hypertextvorstellung darauf ab, mit Hilfe platzsparender, photomechanischer Verkleinerung wachsende Datenmengen auf intelligente Weise zu speichern, so hat die Softwareoptimierung dazu geführt, dass der PC mittlerweile als ein Supermedium bezeichnet werden muss, das alle Sinneskanäle bedient und – ganz entscheidend – im Unterschied zum alten Medium TV kein reines Empfängermedium ist. Damit wäre ein zweiter, wichtiger Aspekt benannt: die Interaktivität. Insbesondere E-Mail, Chat und neuerdings Weblogs haben zu einer erheblichen Erweiterung der Kommunikationskreise und -formen sowie zu einer Vervielfachung der Kommunikationsintensität geführt, weil man zu allem und jedem jederzeit schnell und unkompliziert Gleichgesinnte finden kann. Dass die dabei entstehenden Produkte und Äußerungen häufig nach dem Prinzip der Multilinearität angelegt sind, wird besonders deutlich in der Blog-Kommunikation, weil dank Hyperlinks und Softwareagenten ins Netz gestellte (vulgo "gepostete") Texte und Kommentare automatisch auf mehrfache Weise verknüpft werden. Um es einfacher zu sagen: Es wird über den Seitenrand hinausgeschrieben bzw. Texte beziehen sich nicht bloß auf andere, sondern sind direkt mit diesen verbunden. Darüber hinaus zeichnen sich hypertextuelle Äußerungen und Medienprodukte durch neue Formen der Performativität aus, und zwar im doppelten Sinne des Wortes. Ob es sich nun um den High-Tech-Webauftritt eines großen Konzerns oder um die hastig dahingeschriebene E-Mail eines einzelnen Kommunikationsteilnehmers handelt, beide werden durch spezifische technische Dispositive konditioniert; im ersten Fall durch die Gesetze der Softwareergonomie, im zweiten Fall durch eine andersartige mediale Einbettung des Schreibens, das sich wesentlich von klassischer Literalität unterscheidet.




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Exkurs: Was ist sekundäre Literalität?

Das Neue an den neuen Medien kann erst erkennbar werden durch Mediendifferenz. Wer über ein neues Medium sprechen will, muss auf ältere Bezug nehmen. Betrachtet man die Mediengeschichte unter den Auspizien Walter J. Ongs (1987), dann lassen sich zwei epochale Wendepunkte ausmachen: Die Einführung der Schrift vor ca. 3500 Jahren und die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Beide Umbrüche, so Ongs Hauptthese, führten mit unterschiedlicher Schubkraft dazu, dass sich orale Kulturen in literale verwandelten. Durch die Technologisierung des Wortes wird die Psychodynamik einer mündlich geprägten Sprache verabschiedet. Zum Beispiel sind mündliche Formen der Wissensspeicherung und -überlieferung in primären oralen Kulturen nach den Gesetzen der Mnemonik angelegt, sie sind eher additiv als subordinierend, eher aggregativ als analytisch, sie weisen mehr Redundanz auf als schriftlich fixierte, stärker linear fortschreitende Aufzeichnungen, sie sind homöostatisch, das heißt, sie scheiden für die Gegenwart unbrauchbare Erinnerungen aus, außerdem pflegen orale Kulturen "Begriffe in einem situativen, operativen Bezugsrahmen anzuwenden" (ebd.: 54).

Mit dem Aufkommen der Schrift zieht nun eine Technologie ein, welche die genannten Eigenarten primär oraler Kommunikation überflüssig macht. Nachgerade in Form des Alphabets mit seinen kleineren, analytisch genaueren und operationalisierbaren Einheiten stellt die griechische Schrift gegenüber piktographischen oder silbenorientierten Schriften einen enormen Fortschritt dar – so der Schrifttheoretiker Kerckhove (1981) –, weil sie die linksseitige Aktivität des Gehirns begünstige und damit analytisches Denken fördere. Dass geschriebene Sprache aufgrund mangelnder situationaler Kontexte distanzierter ist und präziser sein muss, ist eine linguistische Binsenweisheit und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Alle Schreibenden wissen das und erfahren es immer wieder aufs Neue, wenn es gilt, ebendiesen situational gap auf mühsame Weise schreibend zu überbrücken.

Ist die chirographische Epoche noch an ein Subjekt und dementsprechende Idiosynkrasien gebunden, so wird die Technik des Schreibens vollends objektiv durch die Typographie. Vor dem Gutenbergzeitalter gab es beispielsweise noch keine Großwörterbücher, die den Schatz einer Sprache umfassend gespeichert hätten, weil ein solches Werk spätestens nach der dritten Abschrift zu vielen Ungenauigkeiten geführt hätte. Neben dem Schullatein, das eine primär literale Existenz führt und immun ist gegenüber muttersprachlicher Situationalität, geht insbesondere von den Großwörterbüchern eine vereinheitlichende, objektivierende Wirkung aus.




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Ong weist hinsichtlich der Wörterbuchgeschichte auf einen bemerkenswerten Rückkopplungseffekt innerhalb des Mediums Druck hin: Wörterbücher akzeptieren ausschließlich gedruckte Sprache als Norm, keineswegs die mündliche Sprache und nicht einmal Handschriftliches: 'verba volant, (typo)scripta manent', möchte man dem hinzufügen. Das ändere sich – so Ong (1987: 130) im Hinblick auf anglophone Lexika – erst mit Webster's Third New International Dictionary" (1961), was dann auch prompt zu empörten Protesten auf Seiten der Sprachpuristen geführt habe, so sehr war Gutenberg verinnerlicht worden.

Am Ende dieser langfristigen Technologisierung des Wortes entsteht mit dem Aufkommen von Telephon, Radio und Fernsehen das Phänomen der sekundären Oralität. Sie ist sekundär, weil sie auf dem Humus der Schriftkultur gedeiht ('Reden wie gedruckt') und sich deshalb auch grundlegend von primärer Mündlichkeit unterscheidet. Zwar hat sie mit primärer Mündlichkeit die Mystik der Partizipation gemeinsam, sie führt Interessengemeinschaften zusammen und steht damit gegenstrebig zum vereinzelnden Lesen, aber es handelt sich nicht um lokale, sondern um globale Gemeinschaft, so Ong (ebd.: 136) unter Hinweis auf Mc Luhans Formel vom global village.6

Vor diesem hier nur kurz skizzierten Hintergrund wäre nun die Frage aufzuwerfen, ob mit den neuen elektronischen Medien nicht eine weitere Zäsur gesetzt werden müsste.7 Genauer: Könnte nicht durch die veränderten Bedingungen des elektronischen Schreibens und Veröffentlichens ein Phänomen wie das der sekundären Literalität entstanden sein? Immerhin ist doch zu beobachten, dass die neuen Medien entgegen früheren Unkenrufen nicht zum Untergang der Schriftkultur, sondern ganz im Gegenteil zu einer wunderbaren Vermehrung des Geschriebenen geführt haben.

Von hier aus rückblickend könnte man – analog zu Ongs Idee der primären Oralität – die 3500 Jahre währende chiro- und typographisch geprägte Ära als Epoche der primären Literalität definieren, die mit dem Aufkommen elektronischen Schreibens einen qualitativen Sprung macht bzw. dem Neuen weicht, nämlich dem Zeitalter sekundärer Literalität.

Diese Annahme stützt sich auf die Tatsache, dass neben der schon traditionellen Textverarbeitung eine ganze Reihe neuer Schreibformen und -stile entstanden ist, die – und davon waren wir ausgegangen – ihr performatives Potential aus der 'tippend beschleunigten Echzeitkommunikation' zieht. Zumindest E-Mail, Chat, SMS und Weblogs ist bei aller Verschiedenheit im Einzelnen als situative Voraussetzung eine theatralische Dimension gemeinsam, dergestalt, dass eine "Simultäneität von Sprech- [besser: "Äußerungs-"; D.S.] und Handlungsproduktion einerseits und deren Rezeption anderseits" (Hempfer 1999: 163) erzeugt wird, dass also wie zwischen Bühne und Zuschauerraum ein Wahrnehmungskontinuum existiert, nämlich dasjenige zwischen Produzent, Produziertem resp. zu Produzierendem und dem Rezipienten der übermittelten Nachricht, ein Kontinuum, das zudem auf der Reversibilität von Senden und Empfangen basiert.




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Als zweiter Grund für diese Beschleunigung sei auf den materiellen Prozess der Schriftzeichenerzeugung selbst hingewiesen: Das Schreiben mit der Hand, aber auch auf der Schreibmaschine ist eigentlich ein vergleichsweise langsamer Vorgang, zehnmal langsamer als Sprechen. Es zwingt den Geist zum Innehalten, zur konzentrierten und dadurch auch unnatürlichen Ausbildung linearer, Redundanzen ausschwemmender Denkstrukturen (vgl. Chafe 1982). Diese Dichotomie wird nun aufgelöst, wenn man bedenkt, dass ein des Zehnfingersystems mächtiger Chatter mit einem geübten Partner es leicht auf ein 'natürliches' chaining der Redezüge bringen kann.8

Es sind also technische Dispositive, die mit ursächlich für sekundäre Literalität sind, Dispositive, die – der Gedanke liegt nahe – aufgrund der Symmetrie von Denken und Schreiben zugleich ein Einfallstor für orale Sprachstrukturen bilden. Sekundäre Literalität ist folglich als eine mündlich geprägte zu konzipieren, auf der anderen Seite aber auch als eine solche, die innovative Textmuster und -strukturen des typographischen Zeitalters wie beispielsweise Listen und Indizes wieder aufgreift und in modifizierter Art und Weise fortführt. Diese vorläufigen Mutmaßungen sind im nächsten Abschnitt im Akt der Textinterpretation weiter zu entfalten.


3 Intermediale Bezugnahmen auf das World Wide Web

3.1 "è proprio una spudorata copiatura" (Makrostruktur)

Man wird es an den eingangs aufgeführten Zitaten schon gemerkt haben: Calicetis Pubblico/Privato ist ein Flickenteppich aus unterschiedlichsten Geschichten und Textsorten, zudem bereichert um Photographien, Screenshots sowie Zeichnungen von Autorhand, häufig komischen, z.T. satirischen Inhalts, in denen sich auktoriale Idiosynkrasien gegen die Zumutungen des italienischen Alltags karikierend aufstauen, wie etwa in nachstehender Invektive gegen eine immer mächtiger werdende Gerontokratie im geburtenschwächsten Land Europas:

Abb. 1: Vignetta: "Ma tutti 'sti pensionati..." (ebd.: 169)




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Diese heterogene Gemengelage trifft auch auf die geschriebenen Texte selbst zu, was schon beim ersten Hinsehen augenfällig wird, weil vier unterschiedliche Schrifttypen eingesetzt werden. Außerdem bereits auf rein graphischer Ebene erkennbar sind lyrische Texte, längere Listen, Zitate und Dialoge sowie Presseartikel. Diese Vielfalt lässt sich bestens mit dem in den ersten Einträgen formulierten Copy-&-Paste-Credo des Autor-Erzählers erklären, das zusätzlich durch einen Auszug aus William Burroughs Manifest Les voleurs autorisiert wird:

Fuori dallo sgabuzzino e dentro a musei, biblioteche, monumenti architettonici, sale da concerto, librerie, sale di incisione e studi cinematografici di tutto il mondo. Tutto appartiene al ladro ispirato e devoto. Tutti gli artisti della storia, dai pittori delle caverne a Picasso, tutti i poeti e gli scrittori, i musicisti e gli architetti, offronono le loro merci, importunandolo come venditori ambulanti. [...] Saccheggiate il Louvre! A bas l'originalité, lo sterile e assertivo ego che imprigiona mentre crea. En haut le vol – puro, sfrontato, totale. Non siamo responsabili. Rubate tutto ciò che è in vista. (ebd.: 12)

Es leuchtet daher ein, dass nicht nur der Untertitel, sondern auch der Titel des Buches eine "spudorata copiatura" (ebd.: 12) ist, flüchtig abgekupfert von einer Ausstellung, die zum Sprechzeitpunkt gerade in Reggio Emilia stattfindet. Die Sammel- und Kopierleidenschaft soll sich darüber hinaus auch auf zugeschickte "racconti, saluti, lettere, poesie, commenti, annotazioni, eccetera" (ebd.: 13) erstrecken, kurz, ein großer Teil der versammelten Tagebucheinträge stammt gar nicht vom Erzähler-Autor, der sich damit zum Erzähler-Autor-Arrangeur-Herausgeber erweitert, mithin eine Rolle, wie man sie von Weblog-Machern kennt.

Dennoch wird dieses vielstimmige Nebeneinander zusammengehalten durch die Struktur des Tagebuchs und um den roten, syntagmatischen Faden des Erzähleralltags herum angeordnet. Die Tagebucheinträge umfassen einen Zeitraum von eineinhalb Jahren, nämlich vom Juli 2000 bis zum Dezember 2001, mit deutlich erkennbarer Ausweitung der Erzählzeit rund um das Gipfeltreffen der G8-Staaten in Genua Mitte Juli 2001 sowie um den 11. September des selben Jahres. Im Kontrast zu diesen Ereignissen von globaler Bedeutung stehen die kleinen Sorgen und Freuden des Erzähler-Autors 'Caliceti' oder auch 'Calix', der über sein Berufsleben als Grundschullehrer und über seine Beziehung zu Mina berichtet sowie ganz nebenbei das charmante Bild einer verschlafenen Provinzstadt namens Reggio Emilia entstehen lässt.




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Als Zwischenbilanz muss festgehalten werden, dass Calicetis Pubblico/Privato zwar unterschiedliche semiotische Systeme und heterogene Geschichten und Strukturen bündelt, dass diese aber bis zu diesem Punkt der Analyse auch mit der tradierten Darstellungstechnik der Montage zu verrechnen wären – freilich nur aus dem Blickwinkel der Rezeptionsästhetik. In produktionsästhetischer Hinsicht besteht schon auf dieser Ebene für den Autor-Erzähler Caliceti eine ganz andere schöpferische Freiheit: Da alle semiotischen Systeme auf den binären Code von Null und Eins zurückgeführt werden können, entsteht selbstverständlich eine unvergleichliche kombinatorische Breite. Innovativen Mehrwert gewinnt der Text dann insbesondere durch seine intermedialen Bezüge zum System der elektronischen Medien, was im Folgenden zu erklären ist.


3.2 URLs, Mails, Screenshots (indizierende Systemerwähnung)

Es wurde bereits erwähnt, dass Titel und Untertitel auf Tondelli bzw. auf das Copy-and-Paste-Verfahren verweisen. Diese Bezüge sind relativ schwach markiert, es handelt sich um bloße Allusionen, die entsprechendes Vorwissen beim Leser erfordern. Mit den Hinweiszeichen "0.1", "online" bzw. "Pubblico/Privato" wird der Systemverbund der neuen Medien dagegen ohne alle Umschweife indiziert: "0.1" verweist selbstbezüglich auf die vormalige, digitale Codierung der gedruckten Lettern, "online" auf das weltumspannende Netz, in das Calicetis Tagebuch zunächst eingespeist worden war, und "Pubblico/Privato" steht für Öffentlichkeit und Privacy, also für ein Spannungsverhältnis, das im elektronischen Zeitalter neu justiert wird. Dass dem so sein könnte, signalisiert zumindest die syntagmatische Symmetrie zu "0.1". Alludiert wird damit zudem auf die im WWW selbst anzutreffende Operationalisierung dieser beiden Sphären. Viele Internetseiten unterscheiden zugängliche von internen Bereichen, die vorgenannten Antonyme bilden dabei ein gängiges Textmuster. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der italienische Ableger der französischen Literaturgruppe OULIPO namens OPLEPO (= Opificio di Letteratura Potenziale) hat auf seiner Startseite die Buttons "Forum pubblico" und "Forum privato" installiert (vgl. http://www.oplepo.it, 20.10.03).

Darüber hinaus buchstabiert der im Sinne Genettes thematische Titel natürlich das raumsemiotische Grundmuster des Tagebuchs, also das o.g. Spannungsverhältnis zwischen globaler Geschichte und emilianischem Erzähleralltag. Schließlich ist der Titel nicht frei von Ironie, denn Calicetis Witz besteht entgegen allem Anschein gerade darin, dass diese Sphären in seinem Diario nicht zugangsbeschränkt, sondern für jedermann einsehbar sind, und zwar zwischen zwei Buchdeckeln, also in einem fremden Medium, das das kontaktgebende Medium WWW dekontextualisiert, neu einrahmt resp. verfremdet und damit auf neue Weise sichtbar werden lässt.




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Indiziert werden die elektronischen Medien in Calicetis Tagebuch auch durch URLs, E-Post-Adressen und Browsershots, Zeichen, die schon auf Signifikantenebene von Altermedialem zeugen. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um Verweise ohne technisch gestützte Verknüpfungsstruktur. Um die jeweilige Semantik dieser Zeichen zu erfassen, müsste man beim Lesen des gedruckten Buches eigentlich mit einem speziellen Lesesensor, vielleicht auch mit einer elektronischen Kontaktlinse (?) ausgestattet sein, wodurch der angegebene Anker eingelesen und über das solchermaßen biotechnisch verbesserte vor das geistige Auge des Lesers gebracht würde. Da diese Linse noch nicht erfunden worden ist, muss man sich in der Zwischenzeit damit behelfen, die über die gesamte Textstrecke hinweg eingestreuten WWW-Situs über das Adressen-Feld eines Browsers aufzusuchen.

Beim Aufsuchen eines repräsentativen URLs (http://calza2000.supereva.it) wird man sogleich mit der permanenten Mutabilität des Netzes konfrontiert, denn die Seite ist umgezogen. Per Weiterschaltung landet man im virtuellen Caféhaus Caffè della Calza (http://www.caffedellacalza.cjb.net, 20.10.03), einem der vielen charmanten Netz-Projekte, die oft von kurzer Dauer sind, weil finanzielle und elektronische Ressourcen versiegen. Unter dem Poe-Motto "Coloro che sognano di giorno sanno molte cose che sfuggono a chi sogna soltanto di notte" werden die Besucher aufgefordert, das literarische Leben dieses virtuellen Ortes mit eigenen Beiträgen zu bereichern. Vorgegeben ist ein geringfügig strukturierter Erzählrahmen, in dem man als bloßer Leser aber auch als Geschichtenerzähler z.B. die Perspektive des "professore", des "pianista cieco" oder des "strillone" einnehmen und adäquate Geschichten lesen oder verfassen kann. Die Einzelheiten sollen hier nicht weiter interessieren, wichtig ist dagegen die kontextuelle Einbettung in Calicetis vielstimmiges Tagebuch. Erwähnt wird das Caffè della Calza in einer Mail, in der ein gewisser "Kingcole" den Autor-Erzähler Caliceti um Mitarbeit bzw. einen "linkino ino ino" (Pubblico: 56) bittet, was aber mangels Zeit von Seiten Calicetis abgelehnt wird. Dieses neue Thema 'Zeitmangel' wird nun vom Autor-Erzähler aufgenommen, um den Gespächsfaden in eine andere Richtung fortzuspinnen. Befragt wird der gemeinhin als "Nostromo Daniele" titulierte, mutmaßliche Online-Redakteur des Situs Emilianet, ob seine gewohnten und vermissten Kommentare etwa wegen Zeitmangels ausblieben. Dieser meldet sich und bejaht, eingeführt als "Nostromosexual":

La prima [ragione] che hai detto [cioè troppo lavoro]. Troppo... dai, vabbè... MOLTO lavoro. In più la tua [quella del Caliceti] anseatica efficienza ci porta a pubblicare il diario già al mattino, quando io non ci sono e non ti posso ovviamente rispondere. Ma ti amo sempre tantissimo, sciocchino. (ebd.: 57)




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Zwischengeschaltet wird eine dritte Stimme, eine das Tagebuch und die Beiträger Capitan Fango sowie Nostromo Daniele lobende Mail eines gewissen Aldo. Daraufhin wird eine weitere Nachricht von Nostromo Daniele montiert, angekündigt als "Pornostromo":

E nel prossimo eccitante numero del diario, in esclusiva per voi, le foto di tutta la redazione. Saremo nudi e bagnati, non perdeteci! (ebd.)

Auffällig und für den ungeübten Leser irritierend ist an dieser Stelle die abenteuerliche Themenführung, ein mäanderndes Entlanghangeln an Stichwörtern, wenn nicht eine typische Form des elektronischen Marivaudage. Man bleibt nicht beim Thema, sondern kapriziert sich – dabei die schnellen Reaktionszeiten des Mediums ausnutzend – auf ein répondre sur le mot, um in einem dezent agonalen Schlagabtausch dem Gegner den 'Wind aus den Segeln' zu nehmen. Ausgangspunkt war ja die Indikation des virtuellen literarischen Caffè della Calza. Der Autor-Erzäler 'Caliceti' geht nicht auf die Illokution, sondern nur auf einen Teil der Proposition ein, um selbst in die Rolle des Fordernden zu schlüpfen. Die Gewitztheit der Daniele-Anworten besteht darin, dass mit naheliegenden Präsuppositionen gespielt wird: Der vermeintliche Entzug der Freundschaft wird mit superlativisch verstärkten Liebesbekundungen gekontert, der Vorwurf der Trägheit, indem verstärkter publizistischer Einsatz in Aussicht gestellt wird, dabei ironisch auf einen nirgendwo geäußerten, aber überall in der Luft liegenden voyeuristischen Erwartungshorizont der Internetgemeinde abhebend. Die dramaturgische Rahmung dieses Minidialogs obliegt dem Angesprochenen, der die battute wie in einem Theatertext mit der – freilich konnotativ variierenden – Benennung des Sprechers einleitet.9 Kurz, der Autor-Herausgeber schlägt ästhetisches Kapital aus der Absage bzw. ironisch überbietenden Pseudozusage zur schriftstellernden Mitarbeit an Internetprojekten, eine Form der Metakommunikation über das Medium selbst, die dann ihrerseits zum Zwecke des Geschichtenerzählens dramatisch funktionalisiert wird, ein Verfahren, das bspw. durch Pirandellos Theater bestens bekannt ist.

In Pubblico/Privato werden immer wieder einzelne Adressen von Internetseiten angezeigt. Im Kontext des Tagebuchs haben sie unterschiedliche Funktionen, die im Folgenden zumindest kurz skizziert seien.

Der Situs http://www.maffia.it wird in einer E-Mail-Zuschrift genannt. Er verfolgt den simplen Zweck der Werbung für einen Musikclub und wirft natürlich zugleich ein bestimmtes Licht auf das kulturelle Umfeld des giovane scrittore. Zudem bietet die Anzeige Anlass für eine medientypische, schmähende Intervention durch Nostromo Daniele, eingeführt als "Nostromo Oi!", der offensichtlich einen anderen Musikgeschmack hat: "Secondo me il Maffia deve smettere di ospitare le solite frotte di dj jungle fichetti e darci giù a più non posso con lo ska." (Pubblico: 55) Die Musikclubseite ist ganz offensichtlich Auslöser für das netztypische flaming, also eine Form der Schimpfrede, die von der Sprachwissenschaft inzwischen als medienspezifisches Sprachverhalten, insbesondere in Newsgroups, ausfindig gemacht werden konnte: "Flames sind die Wortschleudern des Internet. Aus irgendwelchen Gründen [...] beleidigen sich Netter gern und sind sofort dabei, wenn es gilt, wütende Ad-hominem-Attacken zu starten." (Herz 1997: 3) Im o.g. Fall liegt eine eher gemäßigte Variante vor, geht es doch in vergleichsweise ziviler Manier darum, die intime Kennerschaft und Lässigkeit in Sachen Mode und Musik in Form eines verbalen Turniers ins hellste Licht zu setzen.10




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In diesem Zusammenhang können natürlich auch Hyperlinks als autoritative Belege für den 'coolen' Connaisseur fungieren. Im Rahmen eines mit Begeisterung geschilderten Besuchs des "spettacolo più esaltante e marginale in questa afosa asfittica estate emiliana" – der "Mondiali Antirazzisti di Montecchio" (Pubblico: 175) – erwähnt der Autor-Erzähler den fulminanten Auftritt der Musikband Chumbawamba, was umgehend Daniele, den Experten für Coolness, auf den Plan treten lässt, eingeführt als "Nostromo ai Mondiali":

[...] semplicemente dicevo che una serata montecchiese me la sono fatta anch'io. Bravi eh, i Chumbawamba? Però l'idea dell'ecatombe dei fetentoni l'avevano azzardata anche i leggendari Paolino Paperino Band (mai abbastanza rimpianto combo di hardcore-punk dialettofono da Mòdna: http://digilander.iol.it/mangiabudino/paolinopaperino.htm) nella loro La Pentola [...]. (Pubblico: 176)

Auch in diesen beiden Redezügen lässt die Dynamik des chaining das Übertreffen des Vorredners erkennen, ein Phänomen übrigens, das nach Auffassung der Varietätenlinguistik auch typisch für die Jugendsprache (Stempel 1993) und für Großstadtdialekte ist (vgl. Schlobinski 1987). Daniele lässt durchblicken, dass die Idee mit den "fetentoni" bereits anderweitig umgesetzt wurde. Damit macht er dem Autor-Erzähler die Meinungsführerschaft streitig, und er reklamiert mit seinem Hinweis authentische Teilhabe am szenetypischen Mythos des innovativen Trendscouting mit Hang zur Transgression. Folgerichtig enthält dann auch der Paolinopaperino-Situs eine Einladung zur Regelüberschreitung, nämlich zum unbefugten MP3-Download der Pentola-Canzone.11 Nebenbei sei schließlich erwähnt, dass mit Danieles Äußerung in Calicetis gedrucktem Tagebuch eine typische Form elektronischen Schreibens ausgestellt wird, die unverkennbare Elemente der Mündlichkeit aufweist: zweimalige Linksverschiebung ("una serata ... me la sono fatta", "l'idea ... l'avevano"), Lexik ("farsela"), Interjektionen ("eh") und Dialekteinsprengsel ("Mòdna") können als Ausprägungen für Informalität und Expressivität netzspezifischer Kommunikation interpretiert werden, worauf noch zurückzukommen ist.12

Während die vorgenannten Situs-Indizierungen in erster Linie dem Herauskehren lässiger Gesinnung und damit eher der sprecherzentrierten Selbstformung dienen, finden sich auch Nennungen, die weniger auf Distinktionsgewinne spekulieren als vielmehr auf den informierenden Charakter des kontaktgebenden Mediums abheben. Ein Beispiel: Der Erzähler-Autor berichtet von einer abendlichen Diskussionsveranstaltung unter dem Titel "Stato laico e religioni" (Pubblico: 114). Aus diesem – womöglich auch aus einem anderen – Anlass13 werden grundlegende Missverständnisse gegenüber nicht-christlichen Religionen beklagt, wie zum Beispiel gegenüber dem Islam. Dieser sei zwar durch die Migration im Lande präsent, werde jedoch kaum verstanden. Aus diesem Grunde macht sich 'Caliceti' zum Fürsprecher eines Dialogs mit dem Unverstandenen: "E un dialogo tra culture e religioni diverse può avvenire solo se aumenta la conoscenza delle nostre culture d'appartenenza e delle altre culture." (ebd.: 115) Damit sind alte aufklärerische Ideale im Sinne einer räsonnierenden Toleranzkultur des 18. Jahrhunderts aufgerufen, die seinerzeit, wie Robert Darnton gezeigt hat, ganz wesentlich an ein entsprechendes mediales Netz, das durch Zeitschriften, Pamphlete bis zu simplen Gerüchten geknüpft war.




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Strukturell mag Caliceti an diese im weiteren Sinne 'demokratisierende', alteuropäische Vorgeschichte anknüpfen,14 materiell transformiert er sie, indem er in seinem Plädoyer auch einschlägige Links anzeigt: Der zitierte Situs http://members.xoom.it/khalid (20.10.03, über die Wayback-Maschine von http://www.archive.org) etwa, die studentische Homepage eines marokkanischen Migranten der zweiten Generation, enthält eine Beschreibung der Grundprinzipien des Islam, aber auch solche Angebote, die auf die Diaspora-Situation abgestimmt sind ("canzoni arabi in italiano"). Kurz, es handelt sich um eines von jenen vielen unprofessionellen, typischen Informationsportalen, die sich als Nebenöffentlichkeit in den Nischen des WWW gebildet haben und die wichtige kommunikative Brücken innerhalb einer verstreuten aber auch regional konzentrierten Gemeinde bilden können. Nebenbei sei erwähnt, dass Caliceti in Pubblico selbst einen Beitrag zur europäisch-arabischen Bespiegelung leistet, indem er allerdings umgekehrt europäische Sitten und Gebräuche durch das klassische literarische Verfahren des fremden Blicks bloßstellt.15

Abschließend sei in Bezug auf Systemindizierung mittels URL darauf hingewiesen, dass auch das gedruckte Buch den Anstrich eines unabgeschlossenen bzw. instabilen Hypertextes erhält, denn die zitierten Seiten können zwischen Drucklegung und Lektüre längst ihre Inhalte verändert haben oder ganz aus dem WWW verschwunden sein. In diesem Zusammenhang würde das philologische (mediologische?) Quellenstudium eine ganz neue Bedeutung erhalten.


3.3 Webmaster-Apostrophe (besprechende und darstellende Systemerwähnung)

Ein typisches Kennzeichen eigentlich aller neuen elektronischen Formate – seien es Online-Portale, Online-Ausgaben von Tageszeitungen, E-Zines, Tagebücher, Newsgroups, Websoaps oder Weblogs – besteht darin, dass WWW-Kultur in ihrer Gesamtheit auf textsortenspezifische Weise thematisiert wird, häufig in ihrer deiktischen Situationsgebundenheit. In dieser Kultur nimmt (nahm?) der Webmaster ohne Zweifel einen vorderen Platz ein. Er ist zuständig für Aufbau, teils auch Gestaltung und Pflege der Homepage und sorgt mittels Editoren und FTP für die korrekte Transformation und Einspeisung der gelieferten Daten. Als Hüter des elektronischen Oikos ist der Webmaster jedoch eine bereits mythische Figur aus der heroischen Zeit des Internet, einer Periode, in der auf den meisten Startseiten unübersehbar eine Mailto-Verknüpfung zum Meister führte. Interessanterweise sieht man diese Links immer seltener auf dem Schirm blinken. Über die Gründe mag man spekulieren. Sicherlich ist die schwindende Bedeutung des Meisters resp. der Mistress auch auf die zunehmende Bereitstellung von Softwareagenten zurückzuführen, dank derer sich das Geschäft automatisiert. Man denke nur an die einfach zu bedienende und wohl deshalb auch so erfolgreiche Publikationssoftware der Weblogs.16 Kurz, die gnadenlose Innovationsbeschleunigung führt dazu, dass sich die Halbwertzeit des Webmasters gegenüber seinem archäologischen Prototyp, dem Schriftsetzer, um einige Jahrhunderte verkürzt hat.




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In Calicetis Online-Offline-Tagebuchcollage tritt der Webmaster des Situs Emilianet als handelnde und als erzählte Figur auf. Wir haben ihn bereits kennen gelernt, es ist besagter Daniele, dessen Kommentare gern und häufig in den Text eingelassen werden. Im Eingangsbereich zur Tagebuchfiktion (Juli 2000) wird er wie folgt vorgestellt:

Interviene il Nostromo Daniele, Sommo Ricevitore Impaginatore Stampatore, lì alla Base Spaziale di Emilianet, dei dispacci quotidiani che gli spedisco dal mio Meteorite Domestico: lui poi li immette prepotentemente nella Grande Rete Globale perché ogni internauta possa leggerli.
Eccovi i link all'intervista di Isabella Santacroce pubblicata dall'Espresso, e al forum della stessa ineffabile rivista. Buona navigazione e che la New Wave degli anni Ottanta sia sempre con voi!
Nostromo Daniele! Mi piace! Mi piace questo tuo intervenire in prima persona in 'sto nostro Diario on line come hai fatto ieri attivando il link col forum dell'«Espresso» dedicato a Isalover! Mi piace quel rivolgerti direttamente agli internauti! (Pubblico: 16)

Zur Klärung der Umstände sei vorausgeschickt, dass der Webmaster Daniele auf Wunsch der Jungschriftstellerin Isabella Santacroce eine Verknüpfung zum Interview in der Online-Ausgabe des Espresso hergestellt hat. Es werden also in selbstbezüglicher Manier die technischen Produktionsbedingungen besprochen.

Von höherem Interesse ist aber die literarische Modellierung der Publikationssituation: wird doch dem Webmaster im epischen Proömial-Stil gehuldigt. Unübersehbar wird eine 'erhabene' Szenerie mittels SF-Versatzstücken evoziert.17 Es handelt sich um den Majuskel-Raum des "Grande Rete Globale", in dem die redaktionellen und häuslichen Arbeitsplätze in aller gebotenen Bescheidenheit als technologisch hochgerüstete Raumfahrtzentren ("Base Spaziale di Emilianet") resp. Himmelskörper ("Meteorite Domestico") dargestellt werden. Der raunende Beschwörer dieses Szenariums von kosmischen Ausmaßen wendet sich wie im Texteingang der franko-italienischen Ritterepik in einer Mischung aus invocatio und dedicatio an die Online-Muse Webmaster, der im Verbund mit Emilianet zugleich auch als Principe ein bedeutender Verbreiter regionaler Nachrichten ist. Wenn Daniele in Großbuchstaben als präpotenter "Sommo Ricevitore Impaginatore Stampatore" apostrophiert wird, dann verweist das in ungewöhnlichem Kontext doch recht deutlich auf die Invokationsrhetorik der Karlsepik bzw. auf die des poema eroico.18




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Während aber im rinascimentalen Weltgebäude wahlweise eine antike Gottheit oder der christliche Gott auf der höchsten Stufe steht, waltet und schaltet im Cyberspace der Webmaster. Die Kommunion mit Gott und gottgegebener Herrschaft wird säkularisiert, und sie verwandelt sich in eine Kooperationsbeziehung zwischen scrittore inattivo und Kommunikationsexperte. Um den Vergleich noch zuzuspitzen: Die gedrechselten Oktaven des Epikers sind nichts ohne göttliche resp. fürstliche Beihilfe. Ohne den "magnanimo Alfonso" (I, 4, 1) bleibt der Erzähler in Tassos Gerusalemme ein "peregrino errante" (I, 4, 3). Bei Caliceti ist nicht länger von Versen, nicht einmal von Texten oder Wörtern die Rede. Er schickt seinem Meister "dispacci" oder auch "Drahtnachrichten", wie eine etwas unglückliche und doch erhellende Übersetzung im zweisprachigen Lexikon lautet (Sansoni 1979: s.v. dispaccio). Dieser ist Garant für Empfang, Transformation und Verbreitung ("Ricevitore Impaginatore Stampatore") der Nachricht. Er entbietet der Gemeinde seine Gnade ("sia sempre con voi") und sorgt für geregelten Datenfluss ("buona navigazione").19

Nun könnte man sich mit einigem Recht fragen, wie es im Zusammenhang mit Calicetis besprechender resp. darstellender Systemerwähnung zu einer scheinbar abwegigen Parallele zwischen Versepik und Online-Tagebuch kommen kann, wo doch Aktanten und Funktionen des Kommunikationsgeschehens erhebliche historische Differenzen aufweisen. Die Antwort muss lauten, dass beide literarischen Formen eine Strukturverwandtschaft aufweisen, die im Zwischenzeitalter Gutenbergs verloren gegangen war. Genauer: Die in der Ritterepik noch greifbare mündliche Vermitteltheit und Kontextgebundenheit literarischer Praxis wird im elektronischen Format reaktualisiert und kann auf diesem Seitenpfad auch wieder im Druck erscheinen.

Es sei daran erinnert, dass die Technologisierung des Schreibens durch den Druck im Sinne Walter J. Ongs (s.o.) zu einer Vereinzelung des Lesens und – damit einhergehend – zur Dekontextualisierung der Übermittlungssituation geführt hatte: Der dominante Lektüremodus bis zum Aufkommen der neuen Medien war privater Natur. Auf der Produktionsseite war dementsprechend ein Abbau situativer Merkmale zu verzeichnen. Phatische Zeichen, wie man sie als Überbleibsel der mündlichen Vermittlungssituation zum Beispiel noch in Boccaccios Decameron finden kann, verschwinden aus der Erzählliteratur,20 weil im Gutenbergzeitalter das gemeinsame Handlungs- und Wahrnehmungskontinuum entfällt bzw. der Umgang mit Fiktion zunehmend eingeübt und habitualisiert wird und sich damit ein entsprechender 'Leserservice' erübrigt, so dass schließlich im 19. Jahrhundert genau solche Fiktionen zum epischen Höhenkamm aufsteigen konnten, in denen jegliche Vermittlungsinstanz negiert wird. Trainingsgerät ist bekanntlich der reproduktionsfähige, raum- und zeitkomprimierende Massenspeicher 'Buch'. Genau dieser komprimierte und verschwundene Raum der communitas wird nun in Calicetis gedruckter Tagebuchcollage – wie gezeigt – wieder gefüllt, und zwar auf dem Umweg über das WWW.

Stellt die Thematisierung der Figur des Webmasters als pars pro toto elektronischer Kommunikation zweifelsohne eine Form der besprechenden bzw. darstellenden Systemerwähnung dar, so verweist die Art und Weise der Erwähnung mit ihren phatischen Elementen bereits auf das Feld der Systeminterferenz, das abschließend bestellt werden soll. Die in der Webmaster-Apostrophe ausgeprägte Textphatik läßt sich an weiteren Beispielen belegen.




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3.4 Phatik, Aufzählungen, Chat (Systeminterferenz)

In Calicetis Pubblico wird Internetkommunikation häufig indiziert, dargestellt und / oder besprochen. Darüber hinaus gibt es altermediale Bezüge, die Stileme und Strukturen netzaffiner resp. spezifischer Schreibweisen in das Medium des Drucks transponieren. Durch die elektronischen Medien wird also nicht nur die Topik klassischer Printliteratur rekonfiguriert, insofern neue Gegenstandsbereiche literarische Diginität erhalten, darüber hinaus lassen sich auch auf der Darstellungsebene Rückkopplungseffekte erkennen, und zwar durch eine neue, performative Phatik, durch listenartige dispacci sowie durch die Materialität der Kommunikation.

Wenn man den oben gesponnenen Faden wieder aufnimmt und den Blick hinsichtlich weiterer phatischer Signale schärft, dann wird man schnell fündig. Zum einen erhält der Autor-Erzähler 'Caliceti' immer wieder Texte, E-Mails und Links, die nicht einfach unkommentiert in den Diario aufgenommen werden. Denn darüber hinaus wird auch das Beiwerk zum Werk stets mit veröffentlicht: u.a. Anschreiben, Grüße, Kommentare, also der gesamte situative Kontext des Geschriebenen, der eben nicht einfach suspendiert oder – die andere mögliche Lösung – kohärent berichtet, sondern eins zu eins abgedruckt wird. In folgendem Beispiel etwa hat der erboste Schriftstellerkollege Mario Gamba drei kurze Online-Texte geschickt, die der Zensur durch seinen Arbeitgeber Raisatzoom zum Opfer fielen. Sie werden in Pubblico veröffentlicht, aber auch der kommunikative Kontext, der wichtige Merkmale sekundärer Literalität aufweist und selbst Ereignischarakter gewinnt.

Caro Giuseppe, non so se hai notato che la settimana del mio giornalino su Raisatzoom è di quattro giorni soltanto. Come mai? Semplice: i tre mancanti sono stati cancellati d'autorità. Censura odiosissima. [...] Ciao, Mario Gamba.
Ho notato, ho notato, Mario. Con raccapriccio. Non solo manderò la mia protesta alla Rai, ma provvedo subito a pubblicare il tutto su questo mio Diario online Pubblico/Privato. Ciao. (Pubblico: 157)

Der private, informelle Charakter dieses literalen Gesprächs ist evident und äußert sich in der Anrede resp. der rechts versetzten Anrede, in Ellipsen ("Semplice", "Censura odiosissima") sowie in der Reduplikation von "Ho notato", wodurch eine pragmatische Sekundärbedeutung aktualisiert wird, die man im Deutschen vielleicht mit "Sei unbesorgt!" oder – angemessener: "Reg' Dich ab!" – wiedergeben könnte. Indem nun Caliceti dieses beinahe schon chat-ähnliche, in jedem Falle aber aggregative Parlando mitveröffentlicht, gewinnt er für den Print eine neue Ausdrucksdimension: Kontext wird Text. Wichtig sind nicht die politischen Botschaften in Gambas Texten, sondern die Tatsache, dass darüber vor E-Publikum kommuniziert und anschließend die Magie der elektronischen Kanäle entfacht wird, sich also eine Netzwerkgemeinde selbst bestätigt: the network is the message.




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Phatische Signale werden selbstverständlich auch Richtung Leserschaft ausgestrahlt, nämlich in der ostinaten Formel "cari Suini & Vagine Tutte della Grande Rete Globale" (Pubblico: 12), mit der der Sprecher über die gesamten 338 Seiten hinweg Kontakt zur fiktiven Netzwerkgemeinde hält. Mit diesen und den vorgenannten Gepflogenheiten im Bereich der Web-Phatik werden über die ritualisierte Kontaktfunktion hinaus durchaus auch ganz konkrete Zwecke verfolgt, u.a. die Idee der Kollaboration. Denn der ganze Dreh- und Angelpunkt der elektronischen Medien besteht ja in der Reversibilität und Potenzierung des Kommunikationsgeschehens. Im Druck abgebildet und still gestellt wird das Netzwerkgeschehen, und zwar mit Hilfe wiederum netzwerkaffiner Textsorten wie zum Beispiel der Liste. Schon beim bloßen Durchblättern des Buchs stechen listenartige Texte deutlich heraus, deren enumeratives Design von der ungeordneten Spiegelstrichaufzählung (kleine Archäologie der 80er, ebd.: 155–157) über das Ranking der "top ten delle scrittrici sgherle" (ebd.: 192) bis zur alphabetischen Ordnung eines "dizionario Suino – Italiano" (ebd.: 186–188) reicht. Nachstehend einige Auszüge aus dem vorgenannten Wörterbuch:

After. O After-hour. Fuori Orario. Feste segrete del gran popolo della notte. Generalmente iniziano al mattino e finiscono alla sera. Si balla senza interruzione per 6 (After-tea), 12, 24 o 48 ore (After-hour). Alla consolle una staffetta di dj. [...]
Light-j. Il dj delle luci.
Lista. Ogni pr ha la sua lista, dove sono segnati i nomi degli amici che potranno entrare gratis in disco o pagando un biglietto ridotto. [...]
Manzo. Un bel ragazzo. Alto, possente, eccitante. [...]
Sghèrla. Giovane e bella vagina intellettualeggiante. [...]
Vagina. Il nome più comune con cui vengono chiamate le donne dai suini. Ma ci sono altri sinonimi a seconda dei casi e delle differenti situazioni: fata, figa, fighetta, lolita, opera omnia, scrofa, suinetta, vacca, vagina da sega perenne... [...]
Zorro. Playboy, sciupafemmine. Dove passa lascia il segno. (ebd.: 186–188)

Man könnte sicherlich einwenden, dass Listen nicht an die Spezifik elektronischer Kommunikation gebunden sind und auf eine lange Gebrauchsgeschichte zurückverweisen, und zwar sowohl im Sinne der Netzwerkidee als auch im Sinne einer Poetik des Enumerativen.21 Aber im Rückblick auf die Geschichte dieser Textsorte wird doch zugleich klar, warum die Liste als Textformat eine ausgeprägte Disposition für hypermediale Anwendungen aufweist. Das Beispiel der französischen Enzyklopädisten lehrt, dass das Prinzip der alphabetischen Liste nicht nur bestens mit dem der Kollaboration vereinbar ist, sondern sich als effizienter und wahrscheinlich einzig angemesser Zugang zur Erschließung bestimmter Gegenstandsbereiche erweist. Listeneinträge können auf unkomplizierte Weise hinzugefügt oder erneuert werden, weil der Gesamttext nicht länger dem Prinzip der Junktion unterstehen muss. Im Gegenteil, man kann im Lexikonprinzip bereits einen Vorboten hypertextueller Flexibilität sehen: produktionsseitig, insofern Textmodule ohne Umschweife verändert werden können, rezeptionsseitig, insofern Gesuchtes schnell aufgefunden werden kann.




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Ist die Dynamisierung des Literalen in bestimmten Textgruppen schon im Gutenbergzeitalter vorgeprägt, so können ihre Stärken erst im Hypertext voll und ganz zur Entfaltung kommen. Interaktion, Mutabilität, Retrievalkombinatorik und Performanz machen elektronische Listen in Gestalt von Datenbanken zu enzyklopädischen High-Tech-Maschinen. Caliceti rahmt dieses Listenprinzip. Seine listenartigen Texte sind – ob bewusst oder unbewusst – schon mit Blick auf eine Datenbankstruktur angelegt, insofern sie als Lettern zugleich den Keim zu data in sich tragen, also als sortierbare Datensätze angesehen werden müssen. Zum Beispiel legt es Calicetis Diario dem Leser förmlich nahe, einmal alle Einträge der rekurrenten Kategorie "Frasi su cui devo riflettere con calma" (ebd.: 30) zu sortieren und in einer Liste erscheinen zu lassen.

Auch beim Thema Liste werden übrigens die Kontexte zu Textereignissen promoviert, denn die vorgegebenen Lemmata des "dizionario Suino – Italiano" werden von der Netzgemeinde ergänzt oder kritisiert, Äußerungen, die dann wiederum vom Sprecher kommentiert werden. Zum Beispiel liefert die Linguistin "von Brunozzi" – wahrscheinlich ein fiktiver Rollenname – weitere Einträge mit möglichen Querverweisen und lexikalischen Ausfächerungsvorschlägen, darunter "coprifiga", "uniculo (v. unigluteo)", "augello (con i relativi aggettivi: onesto ecc.)" (ebd.: 193–194). Außerdem schlägt sie eine varietätenlinguistische Differenzierung nach regionalen Varianten vor. Kurz, als Leser 'schaut' man dem interaktiven Entstehungsprozess eines scheinbar sich selbst webenden, offenen Werkes zu, ein Prozess, der vom Autor-Erzähler in metadiskursiven Passagen mit Erstaunen zur Kenntnis genommen wird, wenn es etwa heißt "questo diario un po' sembra si faccia anche da sé!" (ebd.: 188) oder wenn das Tagebuch als "Opera Totale, Opera Aperta, in continuo divenire" (ebd.: 250) apostrophiert wird.

Da es sich bei Calicetis Tagebuch um eine Collage handelt, finden sich auch fiktionale Erzählminiaturen, die für sich stehen und weder syntagmatisch noch paradigmatisch in einen der vorhandenen Themenbereiche eingebunden sind. Als Beispiel sei ein kurzer Text über eine Mücke zitiert:

zzzzzzz zzzz sono una zanzara zz zzzz sono una zanzara che vola zz zzzzzzzzzzz sono una zanzara che ti vola attorno zz zz zz zzzz sono una zanzara che ti vola attorno e ti vuole pungere zzzzzzzzzz zz zzzz zzz dove vuoi essere punta? zz zzz sul naso naso? sulla guancia sinistra? zz zzzz zzzzz zzzz sull'avambraccio destro? zzz zzzz zz zz nella pancia pancia? non hai preferenze? zzzz zzzzz scelgo io? zz zzzz zz zz adesso ti pungo zzz zzzz PIC! ti ho punto. mi dici dove ti ho punto? zz zzz zz zzz ti ho punto sul mento? sulla chiappa destra? adesso vuoi fare la zanzara tu? zz zzzz zzzz zz vuoi pungermi? dove vuoi pungermi? zzzz zzz non vuoi pungermi? non vuoi essere tu la zanzara che vola? zzz zzzzzz vuoi che sia sempre io la zanzara? zz zzz zzz zzzz vuoi essere punta ancora? zzz zzzzzz non vuoi? non ti piace questo gioco? vuoi che giochiamo a un altro gioco? zz zzzzz PIC! ti ho punto un'altra volta! zzzzzz zzzz zzz zzzz mi dispiace! zz zzz non volevo zzzz zzzzz dove ti ho punto? zzz zzzzz non volevo, giuro! zzzzzzzzz zzzzzzzzz giochiamo a un altro gioco? zzzzzz zzzzzzzz fai in fretta a pensarlo! zzzzzz zzz zzzz in fretta! zzzz zzzz zzzzzz zzzzzzz (Pubblico: 68–69)




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Die im engeren Sinne literarische Mini-Geschichte handelt von einer anthropomorphen Mücke, die herumfliegt, sich einem menschlichen Körper nähert, diesem Stiche ankündigt, die Ankündigung umsetzt und nach vollbrachter Tat zum Rollentausch auffordert. Da eine Antwort ausbleibt, sticht die Mücke ein zweites Mal zu. Es erfolgt aber immer noch keine Antwort. Um das schweigende Gegenüber aus der Reserve zu locken, überlässt sie ihm das Vorschlagsrecht für ein neues, anderes Spiel. Ohne Kenntnis der elektronischen Kommunikation würde man die Geschichte als eine merkwürde Sonderform der Fabel oder als Kindergeschichte lesen. Der geübte Besucher von Chatrooms wird hingegen sofort merken, dass die Geschichte auffällige Elemente und Strukturen des Webchat aufweist.22

Von linguistischer Evidenz sind sicherlich die genreüblichen Konventionen der Kleinschreibung, des Kurzsatzes, des effetto eco bzw. der Lautnachahmung und der Großschreibung (mit Feststelltaste). Es handelt sich um Merkmale, die auf die Materialität des Mediums sowie auf das erforderliche Kommunikationstempo zurückzuführen sind: Chatten heißt literales Plaudern in Echtzeit, die Kommunikation kann also nur dann gelingen, wenn eine beschleunigte Abfolge der Redezüge eingehalten wird.23 Durch die verringerte Planungszeit wird die Kontrolle über die verschiedenen linguistischen Ebenen entsprechend vermindert, weshalb schon mal einiges aus dem Ruder laufen kann.24 Außerdem ist das Format der Eingabefelder meist relativ klein, so dass schon aus diesem Grund der Zwang zur Kürze besteht. Ausdrucksökonomie ist eine kommunikative Tugend, Kleinschreibung und Kurzsatz sind ihre linguistischen Diener. Echoeffekt (z.B. ciaoooooooo, hier: "zzzzzzzzz"), Lautnachahmung (z.B. uffaaaaaaaa, hier: "zzzzzzzzzz") und Großschreibung ("PIC!" = [+] Intensität) markieren als ikonographische Zeichen situative Faktoren wie zum Beispiel den Gemütszustand und simulieren einen letternvermittelten Schallraum der Mündlichkeit, in dem travestierte Skribenten (hier als "zanzara") als literale 'Quasselstrippen' in Form des 'Quick-Talks' ("fai in fretta") interagieren.

Ohne Zweifel also liegt der Kurzgeschichte das Strukturmuster des Chat zugrunde. Es handelt sich um verkappte Redezüge, die jeweils durch lautmalerische Eröffnungssignale eingeleitet werden. In den ersten vier Redezügen wird der propositionale Gehalt sukzessive aufgestockt, was als genretypische, kommunikative 'Entblätterung' des travestierten Sprechers zur Werbung um einen Chatpartner interpretiert werden kann. Allerdings sind keine Reaktionen zu verzeichnen. Deshalb wendet sich der Sprecher ab dem fünften Redezug mit einer Frage direkt an ein hypothetisches Du. Aber auch diese und weitere Fragen, ja, selbst das lukrative Angebot des Rollentauschs verfangen nicht, es bleibt bei einem Monolog, und zwar bei einem literarischen Monolog.25 Das wiederum heißt, dass es sich um inszenierte Mündlichkeit handelt. Caliceti befindet sich nicht tatsächlich in einer pragmatischen Chatsituation, vielmehr imitiert und aemuliert er diese mittels altermedialer Interferenzen. Damit öffnet er die Literatur sensu stricto einerseits für neue Techniken der Darstellung, auf der anderen Seite wird eine altermediale Form der Kommunikation, der Chat, mittels Verfremdung literarisch gerahmt und kenntlich gemacht. Die automatisierten, wenn nicht verinnerlichten Gepflogenheiten des Chattens einschließlich der Flüchtigkeit der Lettern werden in einer gedruckten Kurzgeschichte arretiert und auf verstörende Weise ausgestellt. Dabei wird angedeutet, was elektronische Kommunikation trotz exponentieller Zunahme und Vernetzung auch sein kann: autistische Travestie.




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Bibliographie

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Anmerkungen

* Eine Vorabversion dieses Beitrags wurde am 2.2.2004 in dem von mir administrierten romanistischen Weblog "romblog: sammeln & jagen" (vgl. http://romblog.twoday.net) abgelegt und dem geneigten Publikum zur Diskussion gestellt (vgl. http://romblog.twoday.net/stories/135412, 4.5.2004). Die Diskussionsvorlage wurde bis dato von Rombloglesern unterschiedlicher Couleur 220 mal herunter geladen. Der Beitrag ist Teil eines Forschungsprojekts zur Literatur im elektronischen Zeitalter. Für wichtige Hinweise, die ich zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht durchweg berücksichtigen kann, danke ich Kerstin Lillich, Brigitte Jostes und Paola Bozzi.

1 Einen sehr guten Einblick in die Poetik der Pulp-Generation bietet Brolli (1997). In Sachen pulp strickt Caliceti alles in allem an einer Kontinuitäts- resp. Zugehörigkeitslegende, aber – ob bewusst oder unbewusst – es lassen sich auch Indizien ausmachen, die das schräge Jahrzehnt des pulp sanft auslaufen lassen, wenn nicht eine Wende einleiten resp. neue Sinnfindungsangebote in Aussicht stellen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die erweiterte Semantik besagter Kultvokabel: "Piazza del Monte. Io e Mina incrociamo Andrea e Marcella col pargolo in carozzina. Nato da pochi giorni. Lupo Lorenzo Canova. Beatamente sonnecchiante. Augurissimi. Andrea mi ha detto che non c'è niente di più pulp che assistere a un parto." (PP: 213)

2 Vgl. etwa Pasti (1996): "Ricordate Altri libertini di Pier Vittorio Tondelli? Fu salutato come il libro della generazione degli anni Ottanta. Drogati, travestiti, battone: gruppi di ragazzi allo sbando, una fauna scassata e scatenata, raccontata con un misto di stili e di toni." Vgl. dagegen Huss (2002), der in Tondellis Roman Rimini (Erstausgabe 1985) eine Abkehr von der postmodernen Wertegemeinschaft ausmacht. Die von Huss postulierte Renovierung der Postmoderne leuchtet unter Berücksichtigung der z.T. ernsthaften bis elegischen Sujetfügung ein, berührt aber nicht eine deutlich markierte Neigung zu intermedialem Erzählen, wie man am Beispiel des unverkennbar an die Filmsprache angelehnten Romananfangs, aber auch am Beispiel des Ferngesprächs zwischen Beatrix und Roddy (Tondelli 2001: 174–177) zeigen könnte.

3 Texte, so Hempfer (1991: 15), seien immer und notwendig Aktualisierung allgemeinerer textkonstitutiver Strukturen (= Systemreferenz), zusätzlich könnten sie Bezüge zu anderen, konkreten Einzeltexten aufweisen (= Einzeltextreferenz). Das, was fakultativ sei, müsse speziell markiert werden, textkonstitutive Strukturen müssten notwendig verwendet werden (ebd.). Mit anderen Worten: Im ersten Fall handelt es sich um zusätzliche Hinweiszeichen, im zweiten Fall um Elemente des aktualisierten Systems.

4 Bei erstmaliger Lektüre dieser Begriffsbestimmungen ist man als Leser schon ganz neugierig darauf, wie die feinsinnig abgestimmten Unterscheidungen dann operationalisiert werden sollen, also wann man denn genau von Evokation, Simulation und Teilreproduktion sprechen könne. Leider wird man wenige Seiten später enttäuscht, weil Verf.in zurückrudert und ihren kunstvoll geöffneten Differenzfächer wieder schließt: "[...] handelt es sich doch um Verfahren, die sich in der Praxis häufig überlagern oder miteinander verbunden werden und nicht immer eindeutig von einander abzugrenzen sind." (ebd.: 72) Immerhin wird klar zwischen Evokation und Simulation auf der einen und Teilreproduktion auf der anderen Seite unterschieden. Eine Teilreproduktion ist dann gegeben, wenn die mediale Differenz nicht relevant ist, also beispielsweise dann, wenn medienunspezifische Komponenten (wie z.B. Standardmotive des Hollywoodfilms) literal reproduziert werden.




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5 In der Sprachwissenschaft werden Interferenzen als 'störend' im Sinne von Fehlern definiert. Im Diskurs der Literaturwissenschaft wäre der Interferenzbegriff m.E. an dem von den Prager Strukturalisten entwickelten, deskriptiven Markierungsbegriff auszurichten und ergänzend mit dem Deautomatisierungskonzept des russischen Formalismus kurzzuschließen. Demnach gelten in einem literarischen Text weniger komplexe, erwartete Formen als unmarkiert. Dagegen sind markierte Formen von geringerer Distribution und wirken – angewandt auf unseren Fall – im poetischen Buch-Kontext als positive Störsignale, die den Letternzusammenhang entautomatisieren, den Rezipienten aufmerken lassen und zur Reflexion anhalten. Eine bündige Darstellung von Anwendungsbereichen des Markierungskonzepts findet man in Schlaeger (1983). Einen hervorragenden Überblick über die Ideen der russischen Formalisten um Roman Jakobson und Viktor Šklovskij bietet der Jakobson-Schüler Viktor Erlich (1987).

6 M.E. übersieht Ong dabei den weiteren Ausdifferenzierungsprozess der alten Medien Radio und Fernsehen. Beide haben in den letzten zwanzig Jahren eine erstaunliche Vielfalt an lokalen Sendern bzw. rein gruppenorientierten Sendungen hervorgebracht, Phänomene also, die quer zur Globalisierungsthese stehen. Verkürzt ausgedrückt: Jede Kleinstadt besitzt einen Fernsehkanal, mindestens aber einen Radiosender. Die Globalisierungsmedien haben also entgegen allen Weissagungen eine ganz neuartige Dynamik in lokale, aber auch tribale Verdichtungsprozesse getragen.

7 Mit dieser Hypothese weiche ich ganz entschieden von Ongs Kurs ab, der die elektronischen Medien einfach pauschal auf das Feld der alten Medien schiebt und sie, die neuen Medien, als mitursächlich für die von ihm konstatierte sekundäre Oralität ansieht. Das sollte man Ong nicht unbedingt vorwerfen, weil er die Spezifika elektronischer Kommunikation Anfang der 1980er Jahre noch gar nicht in dem Maße erfassen konnte. Aber immerhin sollte man darauf hinweisen.

8 Welche Anpassungsleistungen der menschliche Körper und Geist hinsichtlich der neuen Medien immer wieder vollbringt, wird einem im öffentlichen Raum mit Blick auf das Simsen nachhaltig klar: Tätowierte, wasserflaschentragende Wesen blicken wie in Trance auf ein kleines Plaste-Teil und tippen dabei mittels Daumen in atemberaubender Geschwindigkeit Nachrichten ein. Das hat die Wissenschaft neugierig gemacht, wie eine Studie über die "Generation Thumbie" belegt. Sadie Plant, Autorin des digitalfeministischen Buches nullen+einsen, hat für ihr Cybernetic Culture Research Institut über längere Zeit hinweg in London, Tokio, Chicago und Berlin die Daumen von jungen Menschen aus der Generation Gameboy untersucht. Zur Gegenprobe mussten Angehörige der Generationen Golf und Nachkrieg den Daumen herhalten. Ergebnis: Bei den älteren Herrschaften ist "der Zeigefinger der rechten Hand der beweglichste, kräftigste und geschickteste aller Finger. Bei den Kindern aber sind es – Nintendo und Nokia sei Dank – die Daumen, die mittlerweile zu den beweglichsten, kräftigsten und geschicktesten Fingern geworden sind." (Roll 2003)

9 Im Falle von "Nostromosexual" nimmt sich der Autor-Erzähler eine poetische Lizenz, indem er an den Ausgangswortkörper ein englisches Lexem anhängt (paragoger Metaplasmus), das mit dem vorangehenden Lexem "omo" eine neue Bedeutung erzeugt, die ironisch aufgefasst werden muss und parasitär auf Kosten Danieles gehen soll. Bei "Pornostromo" liegt ein prothetischer Metaplasmus vor, ebenfalls mit dem Ziel der sympathetischen Herabsetzung des Sprechers.

10 Im Grunde genommen handelt es sich um jene linguistische Gewandtheit, die auf das sprezzatura-Ideal des Castiglione-Höflings zurückzuführen ist. Gemeint ist eine Form der verbalen Anmut, die natürlich und spielerisch erscheinen muss, obgleich sie das Resultat harten Trainings ist. Der Begriff sprezzatura wurde ins Französische mit nonchalance und ins Deutsche mit Lässigkeit übersetzt. Das beste 'deutsche' Wort wäre aber coolness. (vgl. hierzu ausführlich Trabant 2001) Suchte der Renaissance-Höfling im Unterschied zum Latein des Gelehrten eine elegante, am Mündlichen orientierte, überregionale Konversationssprache, so benötige auch der zeitgenösische, coole Mensch "eine Sprache mit telekommunikativem Potential" (ebd.: 168), man darf wohl hinzufügen: 'mit elektrokommunikativem Potential'. Dabei ist es gar nicht so einfach, die goldene Mitte zu treffen. Wer die sprezzatura übertreibt, wirkt affektiert, wer also den Bogen in Sachen Coolness überspannt, kann ganz schnell 'uncool' werden. 'Coole Schreibe' im digitalen Raum dürfte wohl im Übergangsbereich zwischen Rede und Schrift zu verorten sein (vgl. Wegmann 1998), um diese dann noch genauer auf das jeweilige elektronische Format abzustimmen.




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11 Auf der genannten Seite wird man von Homer, dem Familienvorstand der Simpson-Familie aus der gleichnamigen Comic-Serie, mit offenen Armen begrüßt, und zwar mit folgender Einladung: "Qui è possibile scaricare gratis brani musicali in formato MP3. Anche se illegale, questa pratica può venir perpetrata indisturbatamente a beneficio di tutti – autori compresi. Sei sempre in tempo ad abiurare tornando alla pagina precedente, ma nessuno ti impedisce di trasgredire impunemente." (http://digilander.iol.it/mangiabudino/paolinopaperino.htm, 20.10.2003) Zum Wandel der Audioarchive von den Speichermedien der analogen Phonographie hin zu den vernetzten Datenräumen der MP3-Generation vgl. Großmann (2003).

12 Vgl. hierzu die auf das Italienische bezogene Studie "Digitare in piazza: zur Sprache im italienischen Chat" von Annette Gerstenberg (2004). Das Typoskript wurde mir freundlicherweise vorab zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke.

13 Silvio Berlusconi, der italienische Ministerpräsident und derzeitige Ratspräsident der Europäischen Gemeinschaft sorgt, wie man spätestens seit dem Sommer 2003 gemerkt haben dürfte, regelmäßig für unterhaltsame Aufregung in Kerneuropa. Hintergrund des o.g. Treffens könnte eine rezente Äußerung gewesen sein, in der Berlusconi einer erstaunten Öffentlichkeit erklärte, dass das Christentum dem Islam überlegen sei.

14 Inzwischen gibt es erste Studien, welche den derzeitigen Boom der Blogkultur auf die Kommunikationsformen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurückführen (vgl. Heidegger 2003).

15 Zu diesem Zweck zitiert Caliceti aus einem Buch des Schriftstellers Andrea Canova (Kebab, 2001) – Erzählungen in der Art der Lettres persanes, in denen ein Sittenbild des heutigen Norditalien aus der Perspektive eines Arabers entsteht, wie zum Beispiel in folgender Miniatur: "Tutti lavora e nessuno sta felice con lavoro / tutti corrono e nessuno ha tempo / di fare le cose che piaceno fare / tutti mangiano e parono felici di mangiare / ma poi vanno dal dottore per parlare di quello / che hanno mangiado / io quando venuda comperato / latina di carne al supermercato / per mangiare a miei figli / pensavo che era carne per bambini / perché foto di cagnolino / bello per divertire bambini / era carne per cane / cani italiani mangia meglio di bambini del Brasile / cani del mio paese magri magri / gente pure [...]." (Pubblico: 50)

16 Als typisch für diesen Wandel kann folgende Äußerung gelten, in der entsprechende Software mit dem expliziten Hinweis auf den nicht länger benötigten Webmaster beworben wird: "Mit dem askSam 5 Web Publisher können Daten sehr schnell und einfach im Web veröffentlicht werden – jetzt auch 'mit Anhang'. Super schnell und einfach ist auch die Datenpflege mit dem askSam 5 Web Publisher und damit richtig kostensparend! Das begünstigt besonders 'Verleger im Web', die häufig zu aktualisierende Themen veröffentlicht haben. Ändern direkt – ohne den Weg über den Webmaster. Wer diese Prozedur kennt, weiß den Vorteil zu schätzen." [http://www.asksam.de.de, 9.1.2004] Zur technischen Funktionsweise und ersten mediologischen Hypothesen hinsichtlich des Kommunikationsstatus von Weblogs vgl. Dünne (2003); aktualisierte Fassung letzter Hand in diesem PhiN-Beiheft.

17 Zur Funktion vorgängiger Science-Fiction- bzw. Hyperraum-Welten als Bildspendermodelle für einschlägige Konzeptualisierungen des neuen Cyberspace vgl. ausführlich Porombka (2001: 202–211)

18 Vgl. nachstehenden Texteingang aus dem Spagna-Epos, das der italienischen Karlsepik als Modell dient: "Altissimo Signore, eterno lume, / misericordia e pace e caritate, / somma giustizia e perfetto fiume, / principio se' delle anime create; / o via di verità senza volume, / da cui son tutte cose gernate; / o sommo padre, re dell'universo, [...]." (La Spagna 1939: I,1; meine Herh.) Mit vergleichbarer Huldigungshyperbolik ausgestattet sind Invokation und Widmung in Tassos Incipit der Gerusalemme liberata ("O Musa, [...] hai di stelle immortali aurea corona" und "Tu, magnanimo Alfonso"). Zum Eingang in der Orlando-Epik vgl. Hirdt (1975).




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19 Nebenbei sei erwähnt, dass die dedicatio im Incipit auch auf die mäzenatische Institution des sommo ricevitore ausgeweitet wird, nämlich auf den Anbieter Emilianet, indem die üblicherweise kaschierte Kehrseite des Huldigungstopos in hemmungsloser Überbietung herausgekehrt wird: "Tranquilli, tranquilli. Se a questo punto della mia infinita finta giovinezza ho deciso di dare in pasto agli internauti di tutte le galassie questo spericolato Diario on Line Pubblico/Privato, è solo per una questione di soldi. Qualcuno mi ha promesso una bella sommetta per ogni cartella dattiloscritta. Naturalmente ho accettato. C'è il mutuo della casa da pagare. C'è la mia vecchia Bmw a GPL con 265.000 km a carico. Ed è necessario cha la cambi, cazzo." (Pubblico: 11)

20 Seit Ong weiß man, dass Schreiben das Denken neu konstruiert, dass Textualität als solche den kommunikativen Austausch in solipsistische Vorgänge auseinanderdividiert, ein Vorgang, der in der Theoriengeschichte immer wieder Anlass für ausschweifende Lamentationen gab (zur Schriftkritik Platons, Rousseaus, Herders und Derridas vgl. zusammenfassend Laermann 1990). Dabei wird das Publikum dem Schreibenden zu einer Fiktion, was den Schreiber wiederum veranlasst, für den abwesenden Leser eine Rolle zu erfinden. Im Übergangsbereich von der dominant oralen zur dominant literalen Gesellschaft werden solche Rollen Bestandteil einer vorgestellten Rezeptionssituation noch imaginiert: "Boccaccio und Chaucer halfen dem Leser mit fiktionalen Gruppen von Männern und Frauen, welche einander Geschichten erzählten, mit einer 'Rahmenhandlung' also, so daß der Leser sich in die Zuhörerschaft versetzt fühlen konnte." (Ong 1987: 104)

21 Vgl. hierzu grundlegend Mainberger (2003), ein Unternehmen, mit dem der Beweis erbracht wird, dass die Aufzählung als scheinbar banale und funktional abgezweckte Textsorte auf eine glänzende literarische Karriere zurückblicken kann. Lässt man die bei Mainberger erwähnten Aufzählungskünstler Revue passieren, dann ergibt das schnell ein 'Who is who?' der Literaturgeschichte, eine Liste nämlich, die von Homer über die Bibel, Rabelais, Sterne und Flaubert bis zu den großen Aufzählungsfanatikern des 20. Jahrhunderts reicht, also bis zu Joyce, Gadda, Borges und Perec, um nur die wichtigsten zu nennen. Die zeitgenössische Registrier- und Sortierlust in Gestalt von Datenbanken resp. entsprechenden künstlerischen Reaktionen – m E. der Fluchtpunkt, auf den alles zuläuft – wird leider nur erwähnt (ebd.: 1) und im Folgenden nicht weiter in die Reflexion eingebunden.

22 Grundlegende Studien über linguistische Sitten und Gebräuche in der Chatkommunikation bieten Runkehl u.a. (1998) für das Deutsche und Gerstenberg (2004) für das Italienische.

23 In nachstehendem Beispiel aus dem Forum Romanum (Weblog, http://3blatein.twoday.net, 2.1.2004) hat die synchrone Interaktion ganz offensichtlich nicht funktioniert, was aber auch daran liegen mag, dass die latinisierenden Weblog-Novizen den Unterschied zwischen Chat und Weblog noch nicht verstanden haben.
"Nie ist jemand da wenn ich hier bin!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! )-: (...)
Courtney antwortete am 13.01, 20:45:
Hallo Ich bin eh da! Aber wahrscheinlich bist du schon wieder weg!
Kimahri meinte am 13.01, 22:13:
Irgendwie verpass ich immer alle!
Courtney meinte am 17.01, 13:31:
Hallo!!
Is wer da?????????????? Wahrscheinlich eh wieder nicht! (...)
Julius Caesar antwortete am 18.01, 15:47:
ist wer da
ist da jemand?" (zit. n. http://romblog.twoday.net/stories/125864/; 19.1.2004)




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24 Eine größere Zahl von Besonderheiten der Internetsprache lässt sich als materielle Vereinfachung der Ausdrucksmittel bezeichnen: Abkürzungen, Parataxe, Anakoluthe, Aposiopesen usw. (vgl. Haase u.a. 1997: 81).

25 Beinahe reflexartig und unisono wurde Calicetis Pubblico von der italienischen Literaturkritik als ein Buch aufgenommen "[c]he dimostra che la scrittura può anche passare attraverso un microfono aperto, un flusso continuo [...]." (Mauri 2003: 38) Solche Hinweise sind hilfreich und können dem Leser sicherlich eine erste Orientierung geben, aber dabei wird der Konstruktcharakter elektronischen Schwatzens (= to chat) übersehen, zumal in Form der bereits literarisierten Mimesis, wie im vorliegenden Fall. Im Grunde genommen wiederholt sich die Literaturgeschichte. Als Gegenreaktion auf die zunehmende Verschriftlichung hatte man Ende des 18. Jahrhunderts damit begonnen, den Roman zu dialogisieren. Die Literatur sollte dadurch 'mimetischer' werden. Was dabei übersehen wurde: Gelungene Romandialoge sind weniger Spiegel authentischer Gesprächssituationen, als vielmehr Produkte höchster Kunstanstrengung. (vgl. hierzu grundlegend Kalmbach 1996 und Scholler 2002, insbes. 88–105).