PhiN-Beiheft 2/2004: 123



Peter Schneck (München)



"The Necessity of Fiction":
Einige Anmerkungen zur Fiktion der Hyperfiction



"The Necessity of Fiction":
A Few Remarks Concerning the Fiction in Hyperfiction

The essay proceeds from the question ''what is the fiction in hyperfiction'? If hyperfictions are somehow more 'literary' than simple hypertexts, how is this quality connected to their status as 'fictions'? The central thesis here is that the literary nature of a text cannot be grasped without a thorough understanding and discussion of its fictional potential – which goes both for conventional fictions and hyperfictions. Unfortunately, the aspect of fiction or fictionality has been rather neglected as a point of inquiry probing into the new possibilities of digital literature. While the first phase of critical interest with its tendency to emphasize the differences between hyperfictions and conventional literature in order to demand a radically new approach to electronic writing has given way to more sophisticated perspectives in interactive narratology, ergodic literature, and narrative environments, the nature of hyperfiction as fiction still remains underrrated and theoretically neglected. Looking at three more recent approaches one can nevertheless observe that fictionality slips into hypertheory through the back door as the return of the repressed. In contrast, this paper argues for a more open discussion of fictionality as an option for a comparative perspective on both literary texts and literary hypertexts, especially when dealing with the hybrid phenomenon of hyperfiction.


1 Vorbemerkung

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind Fragen wie diese: Wenn es 'literarische' Hypertexte im Sinne von 'Fiktionen' gibt, worin liegt dann die Wirkung dieser Fiktionen, worin die Fiktionalität dieser Texte? Und: Kann es überhaupt eine Interpretation, mehr noch, eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen 'Texten' geben, ohne den Bezug auf einen wie auch immer gearteten/definierten Fiktionsbegriff?

Ob ein Fiktionsbegriff notwendig ist für die literaturwissenschaftliche Würdigung von Hyperfiktionen oder nicht, hängt natürlich wesentlich von der Definition von 'Fiktion' ab, von welcher man ausgeht. Was Fiktion ist, worin die spezifischen Eigenheiten fiktionaler Texte bestehen, worin ihre Funktion und Leistung zu sehen sind, darüber herrscht in der Literaturwissenschaft keineswegs Einigkeit. Natürlich ist nicht jeder fiktionale Text sogleich Literatur, und es muss nicht jeder literarische Text Fiktion sein – die Kategorien 'Literatur' und 'Fiktion' sind, obwohl oft in diesem Sinne in Verbindung gebracht, keineswegs deckungsgleich.1

Klar ist jedoch, dass die literarische Fiktion eine besondere Form von Fiktion darstellt, die sich von anderen Formen, wie der filmischen zum Beispiel, unterscheiden lässt. Soweit sie Fiktion ist, setzt Literatur das Leistungspotential von Sprache (als Text) auf spezifische Weise ein, um besondere Wirkungen zu erzielen.




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Dies ist allerdings nur möglich, weil es Konventionen, oder besser Optionen der Rezeption gibt, die den Lesern zur Verfügung stehen und als Lesepraxis vertraut sind, und die ihnen ermöglichen, den Text zugleich als Fiktion und als Literatur wahrzunehmen und zu realisieren. Mit anderen Worten: Man braucht sowohl ein Konzept von Literatur als auch ein Konzept von Fiktion, um die je verschiedenen Wirkungsrelationen beider Konzepte in literarischen Fiktionen überhaupt wahrnehmen, aktivieren und schließlich auch literaturwissenschaftlich würdigen zu können.

Die folgenden Bemerkungen stellen nicht den Versuch dar, ein grundlegendes Fiktionskonzept für die Auseinandersetzung mit digitaler Literatur allgemein oder narrativen Hypertexten im Besonderen bereit zu stellen. Letztere werden hier im Vordergrund stehen, weil sie in der theoretischen Diskussion und Definitionsversuchen der Hyperfiktion eine besondere Rolle gespielt haben und immer noch spielen. Ein Grund dafür ist auch die in der Übertragung des Begriffs hyperfiction angelegte enge Identifikation von 'Fiktion' mit erzählerischen Texten, die im anglo-amerikanischen Sprachraum weit verbreitet ist. Der folgende Beitrag plädiert jedoch weder dafür, diese Identifikation unreflektiert zu übernehmen, noch dafür, durch die Verwendung anderer Begriffe das in der genannten Identifikation angelegte Problem auszublenden und zu umgehen. Das Problem bezeichnet nämlich genau jene Interdependenz von Literarizität und Fiktionalität, die in narrativen literarischen Fiktionen besonders ausgeprägt erscheint und an deren Klärung sich die konventionelle – und immer noch dominante – Form der Literaturwissenschaft ohne Unterlass abgearbeitet hat. Es gibt keinen Grund, so lautet eine meiner Ausgangsüberzeugungen, diese intensive und fruchtbare Beschäftigung mit einem zentralen Problemgebiet der Literaturwissenschaft aufzugeben, nur weil sie sich nicht mit Fiktionen, sondern auch mit Hyperfiktionen beschäftigen will.


2 Die (Hyper-)Fiktion vom Ende der Fiktion

Die Theorie des Hypertext2 hat sich, sofern von Hyperfiktionen die Rede war bzw. ist, darauf beschränkt, das Potential von Hypertexten als Literatur teils hoffnungsfroh, teils provokativ zu betonen. Von Fiktion war und ist indes nur wenig, wenn überhaupt die Rede. Man kann das Schweigen der Hypertexttheorie zum Konzept der Fiktion in literarischen Hypertexten unter anderem auf eine einfache, aber folgenreiche Verschiebung der kritischen Aufmerksamkeit zurückführen. Diese wendet sich verstärkt den technischen Bedingungen und medialen Möglichkeiten von Textualität zu, womit vor allem die Wechselwirkung (oder die gegenseitige Bedingung) zwischen Medium und spezifischen Formen der Narrativität in Zentrum der Betrachtung rückt. Aus diesem Fokus fällt die Frage nach der Fiktion heraus – mitsamt den unterschiedlichen Arealen eines weit über den Begriff hinaus reichenden semantischen Feldes, in welchem die je verschiedenen Aspekte der Wirkung und Funktion von Texten als Fiktionen verhandelt wurden – und zumindest in der konventionellen Literaturwissenschaft immer noch verhandelt werden. Das heißt, der Fiktionsbegriff reflektiert immer schon ein bestimmtes Verständnis von und Verhältnis zu Formen der Imagination, der Phantasie, der Einbildungskraft etc.




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Die frühen Ansätze in der Literaturtheorie, dem Phänomen Hypertext auch in seiner Erscheinung als Literatur gerecht zu werden, zeigen in dieser Hinsicht zwar ein stark ausgeprägtes Interesse an den Wirkungen und Auswirkungen der technischen Struktur auf die Produktion und Rezeption solcher Texte. Die Frage nach ihrem Status als Fiktion dagegen wurde ausgeblendet, weil offenbar weder die Fiktionalität der Texte noch ihr fiktiver Gehalt noch ihre Wirkung als Fiktionen besonders relevant schienen.

Hier lässt sich etwas beobachten, was ich versucht bin, die Austreibung der Fiktion aus der Theorie zu nennen, was durchaus als ein Akt ritueller Purgation verstanden werden kann. In dieser selbst auferlegten Reinigung befreit sich die Theorie der digitalen Literatur – die Hypertheorie – vom 'Makel' des Fiktiven: der passiven Rezeption, des unkritischen Eskapismus und der ideologisch-manipulativen Literatur. Genauer gesagt, die Hypertheorie versucht, den Literaturbegriff von der Fiktion zu lösen, was aber zur Folge hat, dass literarische Hypertexte als Hyperfiktionen nur noch wie (Hyper-)Texte ohne Eigenschaften erscheinen.


3 Die Utopie des absoluten Texts

"Erst wer in der Erfahrung lebt und von da aus in die Phantasie 'hineinfasst', wobei das Phantasierte mit dem Erfahrenen kontrastiert, kann die Begriffe Fiktion und Wirklichkeit haben." – so bemerkte einmal Edmund Husserl (Husserl 1964: 35). Nähme man diese Bemerkung einmal so ernst, wie sie gemeint war, man wäre versucht, einem großen Teil der Theorie der Hyperfiction – der Hypertheory–, zu unterstellen, sie verwechsele nur allzu leicht das Phantasierte mit der Erfahrung.

Denn obwohl viele Emphatiker der neuen elektronischen Literatur(en) den Begriff "Fiktion" (meist in seiner anglisierten Version als "fiction") mit atemberaubender Selbstverständlichkeit im Munde führen, sucht man vergeblich nach einem grundlegenden Konzept, einem Modell, oder wenigstens einem angemessenen Verständnis von "Fiktion". Was also hat "Hyperfiction" mit Fiktion (im üblichen, aber vielleicht auch in einem neuen, ungewohnten Sinn) zu tun?

Gar nichts, würde wahrscheinlich die Antwort derer lauten, für die Husserls Weisheiten ziemlich retro und vor allem hoffnungslos medial unaufgeklärt erscheinen. Schließlich, so betont zum Beispiel Dirk Schröder in seiner Tirade gegen die konventionelle literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit digitaler und digitalisierter Literatur, handelt es sich dabei gar nicht um Literatur im üblichen Sinne. Denn "weder hat die heute häufigste Erscheinungsform der digitalen Literatur, die via WWW publizierte multimediale 'Literatur', primär mit Literatur zu tun, noch ist sie einem vom Buch herkommenden Verstehen zugänglich" (Schröder 1999: 44). Diese andere, neue "Literatur", entsteht durch eine Art 'Aufstieg' in das neue digitale Pantheon der "NetArt": von der "nicht-multimedialen Hypertextliteratur" über "computergenerierte nicht-multimediale Literatur" sowie "kollaborative Schreib-/Leseprojekte" und "Mischformen" bis schließlich zur reinen "multimedialen Literatur, die alles vorangegangene beinhaltet ".Bemerkenswert ist wie durch alle Stadien als einzig verbindendes Konzept der Literaturbegriff insistent aufrechterhalten wird; diese 'Literatur' findet schließlich ihre wahre Bestimmung, wenn sie, so Schröder "parallel zum technischen Fortschritt [...] den Literaturbegriff zunehmend fallen [lässt] und sich in Richtung NetArt [bewegt]" (Schröder 1999: 46, meine Hervorhebungen, P.S.).




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Während der Autor so die Begriffsverwirrung der Literaturwissenschaften beklagt, nimmt er doch selbst nach Kräften daran teil – noch dazu in einem Band, dessen Titel nach den Überzeugungen Schröders wohl eher 'dadaistisch' anmuten muss. Das "hyperliterarische Lesebuch: Internet und Literatur" führt dazu noch im Haupttitel den Begriff Hyperfiction auf – genau jenen problematischen Begriff, um den es hier gehen soll.

Aversionen gegen einen herkömmlichen Literaturbegriff und seine Vertreter finden sich häufig gerade in Texten, denen das Grundsätzliche am Herzen liegt, mithin die grundlegende Definition der neuen Literatur und deren besondere Bedingungen und Eigenheiten. Eigenheiten, denen man mit dem gewohnten Begriffsrepertoire nicht mehr zu Leibe rücken kann; "ergodische" Literatur, wie Espen Aarseth in Cybertext (1997) die digitale Literatur (und nicht nur diese) nennt, verlangt nach anderen Modellen der Konzeption und Rezeption: dem I-Ging, dem Tarot oder dem Go-Spiel zum Beispiel, dem Labyrinth (Idensen 1996) oder auch dem Rhizom (vgl. Berressem 1996, Harpold 1991), um einige der bekannteren Orientierungs- und Kategorisierungskonzepte der "Hypertheory" zu nennen.

Auch Espen Aarseth, dessen als Buch erschienene Dissertation von der Hypertheory als lang erwarteter Befreiungsschlag empfunden wurde, beklagt die Begriffsverwirrung diesseits und jenseits der Digitalisierung. Die Anwendung literaturtheoretischer Konzepte auf das "new empirical field" des cybertext von Hyperfiction bis Computerspiel zeuge von einem offensichtlichen "lack of self-reflection". Gegen solch unfokussierte Vorgehensweisen zieht Aarseth folgenden Schluss:

Even if important insights can be gained from the study of extraliterary phenomenon with the instruments of literary theory (cautiously used), it does not follow that these phenomena are literature and should be judged with literary criteria or that the field of literature should be expanded to include them. In my view, there is nothing to be gained from this sort of theoretical imperialism, but much to lose. . . (Aarseth 1997: 14, meine Hervorhebung)

Starke Worte, fürwahr, doch durchaus nicht ungewöhnlich für den grundsätzlichen Gestus der Distanzierung von bestehenden Praktiken der Interpretation und Analyse, verbunden mit der Zurückweisung möglicher kritischer Ansprüche. Doch noch in der forcierten Distanzierung lässt sich in den meisten dieser grundsätzlichen Positionen gerade jene romantische Tendenz zur umfassenden Anschauung, zur Generaltheorie wieder erkennen, der doch gerade abgewehrt werden soll. Die "multimediale Literatur" Schröders, so haben wir gehört, umfasst eben "alle vorangegangenen", und auch Aarseths "cybertext" ist als Versuch, einen generellen Textbegriff für alle Formen von "Literatur" zu formulieren, von ebensolcher Absolutheit wie die Vorstellung Reinhold Grethers von der Netzliteratur als "Welttext": "Literatur auf der Höhe der Zeit[...] muss 'Welttexte' schaffen, auf der Basis der Konnektivität [...] der Netze" (Grether 1999: 85, Anm.).

Selbst die wesentlich differenziertere Auseinandersetzung Christiane Heibachs mit den Besonderheiten einer "Netz-Ästhetik" (zu der auch "Hypertextfiktionen" – ihr Begriff – gezählt werden müssen) wirft amerikanischen "Pionieren" der Debatte wie Michael Joyce, Jay Bolter oder George Landow einen beschränkten Blickwinkel vor, "der sich noch stark an der Printliteratur orientiert." Das wiederum verhindere die "Möglichkeit, eine mediumspezifische Ästhetik zu entwickeln". Stattdessen fordert Heibach eine "innovative Terminologie", die sich an der "bestehenden Netzkunst" orientieren soll.




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Doch auch Innovation schützt offensichtlich nicht vor Regression, und so endet auch dieser wohl meinende Versuch in der Utopie des Absoluten: Nämlich in jener des "Gesamtdatenwerks" von Roy Ascott als Leitfaden einer neuen Ästhetik, die jedoch mindestens so alt ist wie die Romantik und deren Vorstellung vom "absoluten Buch" (Heibach 1999: 103; siehe dazu auch Mayer/Schneck 1996: 1):

Ort der Arbeit und der Handlung für ein solches Werk muss der Planet als ganzes sein, sein Datenraum, seine elektronische Noosphäre. Die Dauer des Werkes wird letzlich unendlich sein müssen, da das Werk, das eine Unendlichkeit von Interaktionen, Inputs und Outputs, Zusammenarbeit und Verbindungen zwischen den zahlreichen Mitarbeitern haben muss, stets in Bewegung und im Fluß sein müsste. (zitiert in Heibach 1999: 110)

Heibach hat diesen universalen Anspruch inzwischen in einer beeindruckenden Untersuchung zur Literatur im elektronischen Raum untermauert, in der über eine Fülle von Einzelanalysen digitaler Netzkunstwerke und Internetprojekte der Forderung Nachdruck verliehen wird, eine neuen Literaturwissenschaft ins Leben zu rufen. Aus der "buchorientierten Literaturwissenschaft" soll eine "medienorientierte Sprachkunstwissenschaft" werden, die "ihre Modelle an der Struktur der jeweiligen Medien orientiert". Je nach Medium würden, so Heibach weiter, verschiedene Gegenstandsbereiche definiert werden müssen, mit "unterschiedlichen Formen der Produktions-, Darstellungs-, und Rezeptionsästhetik" (Heibach 2003: 269). Einerseits entkommt der neue Literaturbegriff der Bindung an ein Medium (Kennzeichen konventioneller Buch-Literatur) durch seine Ausweitung auf alle möglichen Medien und deren Mixturen (soweit sie im digitalen bzw. elektronischen Raum zu finden sind). Andererseits wird dieser universale Literaturbegriff dann wieder, nach einzelnen Medien differenziert, eine je eigene Ästhetik in den Blick nehmen.

Die Verbindung aus Sprache, Kunst und Wissenschaft wird hier also rein medientheoretisch gedacht und definiert (und schließlich differenziert). An keiner Stelle jedoch wird auf auf die Kunst verwiesen, mit Hilfe von Sprache Fiktionen zu konstruieren. Das ist insofern erstaunlich, weil das Kernstück von Heibachs neuer Sprachkunstwissenschaft die Untersuchung der vielfältigen Formen der Interaktion im elektronischen Raum darstellen soll – diese aber sind zu einem großen, wenn nicht gar überwiegendem Teil abhängig von den Fiktionen (z.B. von Spielwelten, virtuellen Gegenständen oder künstlichen Identitäten) im weitesten Sinne, auf denen sie basieren und die sie ausbauen, verändern und revidieren.

Dieser kurze Einblick in einige repräsentative Versuche der Revision und Redefinition dessen, was nun die digitale von der 'realen' Literatur unterscheide, soll weniger der Kritik an bestimmten, immer wieder zu beobachtenden Gesten und Pathosformeln dienen. Dies ist bereits sehr früh und umfangreich an anderer Stelle geleistet worden (vgl. u.a. Schmundt 1996; Winkler 1997; Porombka 2000). Hier sollte nur pointiert auf eine folgenreiche Tendenz in der Theoretisierung der digitalen Literatur als grundlegend neuer oder anderer Form von Literatur aufmerksam gemacht werden. Diese Tendenz äußert sich einerseits in der Abweisung konventioneller Konzepte (von Literatur, aber, wie wir sehen werden auch von Fiktion) als zu einseitig druck- und buchfixiert, einschränkend und schlicht unangemessen. Andererseits wird diese Abweisung verbunden mit dem Versprechen neuer umfassender Konzepte, Modelle und Terminologien, in der dann auch die "alte" Literatur – die Buchliteratur – analysiert und interpretiert werden kann: als Sonderform einer stark medienfixierten Literatur mit ideologischer Intention und manipulatorischen Strategien und Effekten.

Ohne gleich ins Symptomatische zu gehen, lässt sich vermuten, dass der Literaturbegriff, der hier ausgetrieben werden soll, ebenso hartnäckig wiederkehrt wie der Fiktionsbegriff, der sich mit ihm verbindet. Allerdings sind diese Wiedergänger in ihren neuen Erscheinungen so widerspenstig geworden, dass sie sich kaum als Grundlage zur Selbst-Reflexion anbieten, sondern umgehend wieder verdrängt werden müssen. Das bedeutet, dass im Bemühen um ein Begriffsrepertoire und eine Methodologie, die ohne die Termini "Literatur" und "Fiktion" auskommen sollen, auf Beschreibungen und Konzeptualisierungen von Effekten zurückgegriffen werden muss, die die ganze Progressivität des Unternehmens Hypertheory hintertreiben. Dass die zunehmende Verwirrung dann als Befreiung von Konvention und Tradition gefeiert wird, ist ein zusätzliches, aber auch wieder ein anderes Problem. Zunächst muss die Frage wiederholt werden: Was ist die Fiktion in der Hyperfiktion?




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4 (N)Once Upon a Time: märchenhafte Interaktionen

Wer den Blick starr aufs Ganze richtet, kann schon mal das eine oder andere Detail übersehen. Wo es um "Welttexte" oder "Gesamtdatenwerke" geht, erscheint daher die Frage nach der Unterscheidung zwischen "Hypertext" und "Hyperfiktion" schon fast unvermeidlich als reine Petitesse. Offensichtlich ist die Differenzierung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten nur in einer Kultur von Interesse, deren Vorstellungskräfte hilflos von einem Medium, dem Buch nämlich, abhängen, und die nur mit dessen Hilfe in der Lage ist, reale Sachverhalte und Phänomene als imaginäre Relationen zur Anschauung zu bringen. Doch wer dies als besondere Leistung von Literatur betont und Aufklärung darüber verlangt, wie und wodurch denn diese Wirkung in einer Hyperfiktion möglicherweise ausgelöst wird, erliegt schon einer medieninduzierten Ausblendung oder Überblendung. Mit anderen Worten, die Vorstellung von der besonderen Leistung der literarischen Fiktion ist selbst eine Fiktion, die nur im Buch funktioniert und einen Effekt universalisiert und als wünschenswert qualifiziert, der medienspezifisch ist. Weder kann man mit einem solchen Fiktionsbegriff klären, was Literatur, noch, was das Fiktionale oder Fiktive an Hyperfiktionen ist. Hier lässt sich tatsächlich ein Paradigmenwechsel beobachten: Aus dem Blickwinkel der neuen Medien und ihrer 'Texte' tritt nun das Fiktionale als Wesensmerkmal von Literatur in den Hintergrund, während das Zentrum der Aufmerksamkeit auf formal beschreibbare Eigenheiten schwenkt; nicht mehr die differenzierenden Effekte (fiktional/nicht-fiktional), sondern die generalisierbaren formalen Eigenschaften von Texten (Sequenz, Struktur, Kombinatorik etc.) sollen eine solide Grundlage für die Analyse und Interpretation digitaler Literatur bieten.

Doch diese Aufgabe ist so einfach nicht, denn selbst grundlegende Begriffe der konventionellen Literaturtheorie haben ihre Trennschärfe verloren und neue Terminologien werden in der Hypertheorie erst nach und nach entwickelt. So klagt denn auch Dirk Schröder, dass schon eine "Analyse reiner Hyperfictionwerke [sic!]" scheitern muss, weil "nicht einmal ein verlässlicher Begriffsapparat für die Beschreibung von Hypertextstrukturen verfügbar ist" (47). Mit dieser Aussage geht Schröder wenig über jene Forderungen hinaus, die bereits in der ersten Phase der ernsthaften Auseinandersetzung mit Hypertext und -fiktion im Mittelpunkt standen. Auch Jay Bolter, George Landow, Michael Joyce, Stuart Moulthrop und andere verwiesen vor allem auf jene Eigenheiten von Hypertexten, die schon allein aus medientechnischen Gründen eine offenkundige Differenz zur gewohnten Literatur darstellten. Das heißt, "Hypertextstrukturen", deren Beschreibung ja zunächst geleistet werden muss, sind vor allem technische Strukturen, die sowohl in der Produktion (Komposition) wie in der Rezeption (Realisierung) auffällig werden (das Gegenstück zum Seitenumbruch, der weit weniger auffällig als kompositorisches und damit auch rezeptionswirksames Element wahrgenommen wird).




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Aus diesen zunächst rein technischen Potentialen wurden nun in der theoretischen Beschreibung und Konzeptualisierung Potentiale für den Produktions- und Rezeptionspol, und zwar im Sinne von literarischen Potentialen, denn hier geht es nicht um wissenschaftliche ("exploratory" – Joyce) Hypertexte, sondern um literarische Hypertexte ("constructive"), also um Hyperfiction. Das bedeutet, dass die ersten zaghaften (und zugleich waghalsigen) Versuche einer Definition von Hyperfiction nach einer doppelten Logik der Distanzierung und Differenzierung operieren mussten. Denn einerseits musste die Differenz zum konventionellen Literaturbegriff (und Fiktionsbegriff) herausgestellt werden, doch darüber hinaus andererseits auch eine Distanz zu bereits vorliegenden Hypertexten geschaffen werden. Es ist klar, dass die rein medientechnischen Unterschiede zwar die erste Differenzierung ermöglichen, für den zweiten Schritt aber mussten diese Unterschiede, wenn man so will, 'ontologisch' besetzt werden. Das heißt, genauer gesagt, während die Möglichkeit der Verlinkung von einzelnen Textsegmenten oder -teilen für wissenschaftliche Hypertexte lediglich eine technische Verstärkung und Optimierung ihrer Funktion darstellte, wurde diese Möglichkeit zur grundlegenden Bedingung einer völlig neuen Form von Literatur – die es freilich in der Theorie schon gab. In der folgenden Beschreibung von Jay Bolter wird diese Besetzung deutlich – besonders in der umstandslosen Überblendung und Differenzierung von Hypertext und Hyperfiction:

There are relatively few literary hypertexts [1995, P.S.], perhaps a few hundred; only a few dozen have been published or made widely available. [...] These fictions already demonstrate the oscillatory character of hypertext. They refuse to be fixed. They say things and then take them back. They challenge the reader to question repeatedly where the narrative is going. They enact the indeterminacy, the flexibility, and the interactivity that poststructuralists have ascribed to all texts. Yet, what the poststructuralists discovered in printed texts only by the subtlest and most extreme rhetorical analysis, hypertexts lay open for the most casual reader. (Bolter 1995)

Die Melodie ist bekannt – es geht hier aber weniger um das folgenreiche Pathos der Befreiung des Lesers und der Offenheit des Textes (alles Positionen, die ja bereits in der post-strukturalistischen und postmodernen Theorie angelegt sind, aber in der Hyperfiktion eben 'realisiert'...). Wichtig ist hier die Differenzierungslogik, die den Fiktionsbegriff erst im Textbegriff aufgehen lässt, um ihn dann in einem zweiten Schritt völlig fallenzulassen bzw. zu ersetzen durch Begriffe wie zum Beispiel "Interaktivität" oder "Virtualität". Bolters repräsentative Definition steht hier für den ersten Schritt.

Was nämlich bei Bolter den fiktionalen vom nicht-fiktionalen Hypertext unterscheidet, wird erst in der emphatischen Verwirklichung jener Eigenschaften deutlich, die eigentlich bereits jedem Hypertext, also nicht nur dem fiktionalem, zuzuordnen sind: Offenheit, Oszillation, Unentscheidbarkeit, Interaktivität. Das heißt, die Unterscheidung zwischen Hypertext und Hyperfiktion liegt allein in der Realisierung dieser Potentiale: Werden diese eingeschränkt, in lineare Bahnen gelenkt oder auf Eindeutigkeit hin ausgerichtet, haben wir es vielleicht noch im technischen Sinne mit Hypertext zu tun, doch gewiss nicht mit Hyperfiction in diesem emphatischen Sinne.




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Anders ausgedrückt: Der Begriff "Fiktion", soweit wir ihm in dieser Bemerkung Bolters eine spezifische, d.h. differenzierbare und definierbare Bedeutung zumessen können, bezeichnet hier die übergreifende, allgemeinere Kategorie: Jeder Hypertext ist für Bolter im Grunde immer schon Hyperfiktion, weil dies sozusagen in seiner technischen Struktur bereits angelegt ist. Der nicht-literarische Hypertext dagegen erscheint als Sub-Kategorie, die nur dann möglich wird, wenn die inhärenten techno-fiktionalen Potentiale sozusagen unterdrückt werden – wenn also der Autor beispielsweise die Linkstruktur und damit die Auswahlmöglichkeiten der Leser einschränkt, oder aber die verschiedenen Möglichkeiten (Lexien) einer linearen, widerspruchsfreien Erzählung (einem 'plot') unterordnet.

So absurd die 'Verortung' der hypertextuellen Fiktionalität allein in der technischen Programmierbarkeit und deren spezifischen Möglichkeiten gelenkter oder 'befreiter' Interaktion zwischen Text und Leser erscheinen mag: Es ist offenkundig, dass hier ein wesentlicher Unterschied zu Printfiktionen liegen muss – der Bruch der linearen Logik einer Erzählung ist eben nicht nur aus der Perspektive einer Gegenüberstellung und eines Vergleichs unterschiedlicher narrativer Verfahren interessant und wichtig, sondern auch für die Untersuchung von Fiktionalität in unterschiedlichen Medien oder Medienkorrelationen.

Zwar ist inzwischen die Vorstellung von der inhärenten Nicht-Linearität von Hypertexten als mehr oder weniger rein theoretisches Wunschdenken abgelegt worden, und man redet heute lieber von der Multi-Linearität als Optionsstruktur digitaler Literatur. Doch selbst in dieser angemesseneren, abgeschwächten Form bleiben zwei wesentliche Aspekte dieser differenzierenden Charakterisierung wirksam: 1. grundsätzliche Offenheit des Erzählens als Widerstand gegen Linearität auf der Autorenseite, und 2. grundsätzliche Wahlmöglichkeit einzelner Erzählstränge als Überwindung / Widerstand gegen Passivität auf der Leserseite. Auf diese beiden Dimensionen – Interaktivität und Multilinearität – muss sich die Literaturtheorie bei der Analyse und Interpretation von Hyperfiktionen konzentrieren, denn sie stellen offensichtlich die entscheidenden Differenzmerkmale zur herkömmlichen Literatur dar – so wenigstens betont Marie-Laure Ryan:

The most talked-about, and potentially most significant consequence of recent advances in electronic technology for the practice and theory of literature is the promise of interactivity. For literary theorists, the idea of interactivity is associated with hypertext, a form of writing through which the reader is given a choice of directions to follow. (Ryan 1997: 677)

Interaktivität und Multilinearität sind also die entscheidenden Merkmale eines neuen Literaturbegriffs, der aus den besonderen strukturellen und technischen Eigenheiten von Hypertexten abgeleitet wurde. Dass Interaktivität (und implizit auch Multilinearität) von Ryan nur noch mit Hypertext "assoziiert" werden, obwohl diese Aspekte nachweislich und leicht einsehbar auch in nicht-digitalen literarischen Texten eine Rolle spielen, muss als gewollt eingeschränkte Identifikation aufgefasst werden, die quasi als conditio sine qua non der Verwirklichung eines bestimmten Konzepts digitaler Literatur zu gelten hat. Selbst dort, wo auf die Kontinuität zwischen diesen Konzepten und ähnlichen in der konventionellen Literaturtheorie und -ästhetik seit der Moderne hingewiesen wird, kommt schnell der Hinweis, dass wahre Interaktivität und Multilinearität nur in Hypertexten (und natürlich, und sogar noch besser, in anderen digitalen Environments, vgl. Ryan 1997) möglich sind, weil dies bereits in den technischen Bedingungen angelegt sei.




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Viele halten inzwischen jedoch solche Vorstellungen für konzeptuell naiv oder gar regressiv. Schon Michael Joyces Hyperfiktion Afternoon, die gern als Prototyp digitaler Literatur analysiert und interpretiert wurde und wird, verstößt bewusst und in geradezu eklatanter Weise gegen die Postulate optionaler Linearität und leserkontrollierter Interaktivität. Afternoon, so betont Espen Aarseth, ist trotz seiner offensichtlichen anti-narrativen Struktur (im Sinne von 'linear' oder geordnet) immer noch in herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Kategorien fassbar:

... one traditional term seems almost perfect to describe literary hypertexts. Afternoon does not represent a break with the novel. On the contrary, it finds its place in a long tradition of experimental literature in which one of the main strategies is to subvert and resist narrative. The novel ("the new"), from Cervantes to the Roman Nouveau, has always been an anti-genre, and Afternoon is but its latest confirmation. (Aarseth 1994: 71; siehe auch Heibach 2000).

Dennoch sind die Postulate 'Interaktivität' und 'Multi-Linearität' keineswegs aus dem Repertoire grundlegender Definitionen verschwunden, sondern werden immer noch dort aufgerufen, wo es darum geht, die Differenz zur konventionellen Literatur und ihren theoretischen und ästhetischen Ansprüchen aufrechtzuerhalten. Selbst Aarseths Hinweis "there may be more difference between two digital texts than between either of those and a paper text" (71) mündet letztlich in der oben zitierten Definition des Romans als "anti-genre", was den Blick wiederum stark auf ein Merkmal, nämlich 'Anti-Narrativität' als Experiment, einschränkt. Es ist natürlich auch Aarseth klar, dass zur Herausbildung einer Tradition des experimentellen Romans erst einmal eine andere Tradition existieren muss, von der sich die genannten Werke, einschließlich Afternoon, absetzen können.

Das lässt vermuten, dass die Distanzierung gar nicht so sehr jenen konventionellen Konzepten gilt, mit denen Interaktivität (als Partizipation der Leserin bzw. des Lesers) oder optionale Linearität (als Wahlmöglichkeit alternativer Geschichten etc.) schon immer in der Geschichte und Theorie der Literatur verhandelt und begriffen wurden. Vielmehr zielt die Fokussierung der genannten Kriterien darauf ab, das Konzept der Fiktion oder Fiktionalität aus dem Zentrum der Literatur- und Textwissenschaften möglichst zu verdrängen (und diese Verdrängung kann man durchaus im Freudschen Sinne lesen!).


5 A Question of Belief: (Hyper-)Fiktionskonzepte

Der Versuch, in Hypertext-Theorie-Texten eine Antwort auf die Frage 'was ist eigentlich die Fiktion in der Hyperfiktion?' zu finden, ist einigermaßen frustrierend. Generell lässt sich feststellen, dass

    1. diese Frage in der Theorie überhaupt nicht auftaucht, eine direkte Antwort oder gar eine konkrete Definition daher nicht aufzufinden sind.

    2. zwischen Hyperfiktion und Hypertext kaum Unterschiede gemacht werden, was wiederum darauf hindeutet, dass die gemeinsamen strukturellen, formalen Eigenheiten dieser Texte stärker besetzt werden als die möglichen funktionalen effektiven Unterschiede zwischen 'fiktionalen' und 'nicht-fiktionalen' Hypertexten.3




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In der folgenden Spekulation möchte ich dennoch den Versuch wagen, verschiedene Fiktionskonzepte aus der Hypertheorie zu extrahieren, wobei das bei einigen Ansätzen auf einen eher impliziten Begriff des Fiktionalen oder Fiktiven hinaus läuft. Dabei geht es nicht darum Kuckuckseier (oder vielleicht besser 'cookies') in das neue literaturwissenschaftliche Nest zu schmuggeln, indem ich ein Fiktionskonzept imaginiere, das eigentlich gar nicht da ist. Vielmehr möchte ich andeuten, wie stark Fiktionskonzepte selbst dort noch auf die terminologische Auseinandersetzung und die Interpretationsansätze einwirken, wo Fiktion als Konzept aus der Diskussion ausgeschlossen werden soll.

Dass die Frage nach der Fiktion eine eher irreführende, störende Frage ist, zeigt sich in zwei neueren Ansätzen, die versuchen, der schrillen Programmatik der Differenzierungsphase solide Definitionen entgegen zu stellen. Sowohl Espen Aarseths Konzept des "ergodischen" Textes wie auch die Überlegungen Marie-Laure Ryans zur Narrativität möglicher Welten (1991) und zur Cyberspace Textuality (1999) stellen dabei Text- und Narrativitätsmodelle vor, die zwar deutlich den Paradigmenwechsel von der Buch- zur elektronischen Textualität vollziehen, aber dennoch auch nicht-elektronische oder nicht-digitale Formen der Literatur im weitesten Sinne einschließen wollen. Eine weitere Position findet sich in Janet H. Murrays Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace (1997), die eine ganze Reihe möglicher Fiktionsmodelle gegeneinander stellt, in einem eher utopischen Entwurf immersiver multi-medialer Interaktivität. Es ist kein Zufall, dass gerade der letztgenannte Entwurf einer Hyper-Fiktionalität einerseits am emphatischsten, andererseits aber auch am weitesten von dem entfernt ist, was im Zentrum des literaturwissenschaftlichen Interesses liegt, nämlich die Fiktion als Text oder Hypertext bzw. Hyperfiktion. Meine These, die hier als Orientierung im letzten Teil dienen soll, lautet daher, dass Hyperfiktionen ein Fiktionskonzept erfordern, dass zwischen alten und neuen Formen der Textualität / Narrativität oszilliert und zugleich vermittelt. Nur so können die Wirkungspotentiale von Hyperfiktionen im Unterschied zu konventionellen Printfiktionen, aber auch im Unterschied zur Netzkunst oder multi-medialen Formen der Immersion oder Partizipation dargestellt und interpretiert werden.

Die Konzentration auf narrative Strukturen in Texten aller Art führt bei Marie-Laure Ryan zu einer neuen Kategorisierung sowohl literarischer wie auch fiktionaler Texte, wobei entscheidend ist, dass die Aspekte Narrativität, Literarizität und Fiktionalität sich nicht gegenseitig bedingen, sondern in allen möglichen Mischformen aufzufinden sind. Damit wendet sich Ryan explizit gegen die notwendige Identifikation von Literatur mit Fiktion oder mit bestimmten Formen der Narration, wie sie zum Beispiel Wolfgang Iser andeutet, wenn er schreibt: "Das Fiktive ist zwar nicht mit dem literarischen Werk identisch, wohl aber dessen Ermöglichung" (Iser 1993: 292). Ryan dagegen hält diese Überblendung für irreführend:

Many literary scholars implicitly regard fictionality as the trademark of literariness, and scrutinize the problem of fictional discourse in the hope of finding there a key to the understanding of literary communication. But while it may be true that the most of literature belongs to the category fiction, that the prototype examples are narrative texts, and that the fullest variety of narrative techniques is displayed in fiction, the three features literary, narrative, and fictional remain distinct, and do not presuppose each other. Every one, or nearly every one, of their combinations is represented in Western culture. (Ryan 1991: 1)




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Das erscheint plausibel genug und ermöglicht es Ryan, Fiktionalität und Narrativität mit Konzepten der Kognitionswissenschaft und der Theorie möglicher Welten in völliger Trennung voneinander zu analysieren und definieren. Wie sie selbst jedoch zugibt, liegt ihr Interesse in der Untersuchung genereller Eigenschaften von Texten und ist allein auf die Form gerichtet: "my approach is largely formalist, and my concern is signification in all kinds of texts, not just literary ones" (Ryan 1991: 3). Das bedeutet aber auch, dass Ryan keinerlei Aussagen darüber machen kann, warum die Verbindung "Fiktion-Narration-Text" wie sie selbst im obigen Zitat konstatiert, offensichtlich zumindest in der "Western culture" den größten Teil literarischer Texte ausmacht. Anders gesagt, Ryans Kategorisierung und Terminologie verstellt die mögliche Frage nach der funktionalen Präferenz spezifischer Mischformen, was zum Beispiel die Überlegung beinhaltet, welche Effekte bestimmte Kombinationen auslösen können und welche nicht. Ryans Fiktionsbegriff ist daher immer noch vor allem ein Differenzierungsbegriff: "[a] definition of fiction is a machine built for the purpose of telling fiction from non-fiction" (Ryan 1991: 80).

In ihrem Vorwort zu dem Band Cybertextuality. Computer Technology and Literary Theory entfaltet Ryan (nahezu 10 Jahre später) die gesamte Spannbreite digitaler und digitalisierter Textualität als Feld der Literaturwissenschaft, um schließlich in ihrem Beitrag über Virtualität und Text auch nicht-digitale Texte der, in ihren Worten, "classical textuality" mit einzubeziehen. Dies gelingt nun seltsamerweise über eine funktionale Definition der Virtualität von Texten, wobei virtuality offensichtlich als Platzhalter für Fiktionalität im Sinne ihres früheren Buches als "possible world" gelesen werden muss:

Returning to the etymological source of the word "virtual" [...] I distinguish two meanings, the fake and the potential, which correlate to the two constitutive features of VR experience: immersion and interactivity. In these two features, we hold the cornerstones of what could become a phenomenology of reading encompassing both classical and cyberage textuality. Through immersion in a fictional world we become in make-believe a member of this world, a situation which enables us to relate emotionally to the situations depicted in the work, while through an active encounter with the text, we actualize its semantic potential into an individuated imaginative experience. (Ryan 1999: 19)

Die besondere Stellung, die der Begriff virtuality (und sein Gegenstück actuality) durch die possible worlds-Theorie in der neueren Erzählforschung erlangt hat, muss bei Ryan natürlich mitbedacht werden (vgl. Dannenberg 1998a: 63, u. 1998b). In ihrer Bemerkung jedoch, dass die – nahezu klassisch anmutende – Unterscheidung zwischen einer Form der narrativen Fiktion als Fälschung (fake) und einer Form der Fiktion als Austausch von Erfahrung (interactivity) eine neue Phänomenologie literarischer Texte begründen könne, wird ein viel umfassenderer Anspruch der Theorie deutlich, der über die reine Taxonomie narrativer Strukturen weit hinausreicht. Denn in dem Moment, in dem die phänomenologische Dimension in der Form des Erlebens oder der Erfahrung ("experience") ins Spiel gebracht wird, bricht Ryan aus dem formalistischen Beschreibungsdiskurs aus und weist Texten bzw. Wirkungen von Texten, bestimmte Funktionen zu, zum Beispiel emotionale Identifikation und imaginäres Erleben. Diese sind nun so allgemein gehalten, dass man fast geneigt ist, von anthropologischen Funktionen zu reden, zumal die strenge Einschränkung "in Western culture" wie im früheren Zitat hier völlig fehlt.




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Erstaunlicherweise sind Ryans Auffassungen bis in einzelne Formulierungen hinein durchaus kompatibel mit ähnlichen Beschreibungen, die wir in der Rezeptionsästhetik allgemein, vor allem aber in dem bereits erwähnten Ansatz Wolfgang Isers finden können. Denn auch Iser spricht über das Zusammenwirken von unterschiedlichen Formen der passiven und aktiven Partizipation, von der notwendigen Immersion in die Illusion der textuellen Wirklichkeit und ihrer kreativen Konkretisierung durch die im Prozess des Lesens vollzogenen Synthesen. So kompatibel wie diese beiden Fiktionsbegriffe in diesem Licht erscheinen, bleiben sie immer noch insofern distinkt, weil bei näherer Prüfung die je unterschiedliche Anbindung an spezifische mediale Formen und Realisierungen von Texten offenbar wird. Dennoch ergibt sich hier ein Anschlusspunkt, der mir wesentlich profitabler erscheint als die Kontinuität des literarischen Experiments oder des Widerstandes gegen narrative Formeln. Immerhin eröffnet sich ein Raum der Verhandlung von durchaus ähnlichen funktionalen Zuschreibungen, deren jeweilige Wirksamkeit in der Begegnung zwischen Text und Lesern überhaupt erst nachvollzogen werden kann (vgl. Ronen 1994: 87ff.). Diese Verhandlung umfasst vor allem auch die möglicherweise 'touchy question', ob und wie diese Fiktionskonzepte an einen allgemeinen übergreifenden Textbegriff gebunden sind, oder ob sie nicht vielmehr ebenso differenziert und modifiziert werden müssen, wie die textuellen Praktiken und Prozesse, in denen sie zur Geltung kommen.

Der Bezug zu den Theorien der Rezeptionsästhetik und dem, was im englischen Sprachraum unter dem Begriff "reader-response criticism" zusammengefasst wurde, ist in Janet H. Murrays Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace (1997) noch deutlicher und wird mehrfach explizit thematisiert. Der Titel von Murrays Buch deutet schon darauf hin, dass die Computerspezialistin und "teacher of interactive fiction writing" im Film Studies Department des MIT möglichst Geschichten in klassischer, d.h. geschlossener Form erzählen will, nur eben mit den Mitteln des Cyperspace. Auch bei Murray sind die Begriffe "immersion" und "interactivity" zentral. Die technischen Möglichkeiten, fiktionale Welten so überzeugend, ja in gewisser Weise real betretbar zu machen, hält Murray für ein gewaltiges Potential: "The age-old desire to live out a fantasy aroused by a fictional world has been intensified by a participatory, immersive medium that promises to satisfy it more completely than has ever before been possible. [...] Unlike Don Quixote's books, digital media take us to a place where we can act out our fantasies" (Murray 1997: 98). Während Murray das hohe Lied der Virtuellen Realität als Verwirklichung unserer (ihrer?) Phantasien singt, weist sie aber auch darauf hin, dass Immersion nur dann als "pleasureable" empfunden wird, wenn man schwimmt und nicht ertrinkt. Interessanterweise findet sie in der konventionellen Printfiktion das Vorbild für eine immersive und interaktive Fiktion, die nicht überwältigt, sondern emotional erfüllt: "shimmering with emotion, but definitely no halluzination". Eine 'gute' Geschichte, so betont Murray

serves [this] purpose [by] giving us something safely outside ourselves (because it is made up by someone else) upon we can project our feelings. [...] In order to sustain such powerful immersive trances, we have to do something inherently paradoxical: we have to keep the virtual world "real" by keeping it "not there." We have to keep it balanced squarely in the enchanted threshold without letting it collapse onto either side. (Murray 1997: 100)




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Um diese Balance an der Grenze zwischen Realität und Fiktion aufrecht zu erhalten, muss diese Grenze erst markiert sein – und genau dies hat die konventionelle Fiktion ihren digitalen Nachfolgern voraus: sie kann sich auf Kompetenzen und Konventionen des Lesens stützen, die den Drahtseilakt überhaupt erst möglich machen (vgl. dazu Nell 1988, Gerrig 1993) Das heißt, die Geschichte der Literatur ist auch eine Geschichte der Emanzipation der Fiktion und der Leser, die gelernt haben, in Husserls Worten, in die Phantasie hinein zu fassen, ohne den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen zu verlieren. Genau diese Emanzipation will Murray auch für die "Cybernarrativity":

Participatory narrative, then, raises several related problems: How can we enter the fictional world without disrupting it? How can we be sure that imaginary actions will not have real results? How can we act out our fantasies without becoming paralyzed by anxiety? The answer to all these questions lies in the discovery of the digital equivalent of the theater's fourth wall. We need to define the boundary conventions that will allow us to surrender to the enticements of the virtual environment. (Murray 1997: 103)

Für unsere Frage nach der Fiktion in der Hyperfiktion mögen Murrays emphatische Anmerkungen auf den ersten Blick zu sehr in Richtung Virtual Reality (VR) und Simulation gehen. Aber erstens bezieht Murray auch Hypertext und Hyperfiction in ihre Betrachtungen mit ein und prophezeit, ähnlich wie Dirk Schröder und Christiane Heibach (beide 1999), eine Entwicklung in Richtung multimedialer Kunst (vgl. Murray 1997: 55-58). Und zweitens impliziert ihre übergreifende Konzeptualiserung von Prinzipien der Fiktionalität, dass diese von bestimmten Bedingungen abhängt, die in jedem Medium möglich sind – auch im Hypertext. Die Fiktionalität der Hyperfiktion ist also eine Frage der Reflexion der besonderen Bedingungen und Möglichkeiten, die ein Hypertext – im Gegensatz zur Printfiktion, aber auch im Gegensatz zu VR – aufweist. Da ein Hypertext beide Elemente zumindest ansatzweise enthält oder einsetzen kann, muss er als hybride Fiktion aufgefasst werden.

Ähnlich wie Marie-Laure Ryan versucht auch Espen Aarseth einen Textbegriff zu finden, der zwar die besonderen Bedingungen digitaler Literatur berücksichtigt, aber dennoch auch auf 'klassische'Textformen angewendet werden kann. Das bedeutet, dass Hypertext nur eine von verschiedenen Manifestationen dessen ist, was Aarseth "Cybertext" nennt. Zudem betont Aarseth, dass hierbei konventionelle Konzepte außer Acht gelassen werden müssen:

I shall try to [...] investigate the larger repertoire of textual forms of which hypertext can be said to be one. [...] It must immediately be pointed out that this concept refers only to the physio-logical form (or arrangement, appearance) of the texts, and not to any fictional meaning or external reference they might have. Thus, it is not the plot, or the narrative, or any other well-known poetic unit that will be our definite agency but the shape of structure of the text itself. (Aarseth 1994: 52)

Doch damit nicht genug: Dieser Textbegriff muss auch, in Aarseths Worten, vom ideologischen Ballast 'hegemonialer' Theorien (wie die Roman Jakobsons und Umberto Ecos) befreit werden:

Where this new adaptation might [...] be a radical departure is in the way we shall use it to define textuality independent of its traditional associates, the reader/receiver/audience and writer/reader/author. This move, which might be seen as self-defense [sic!], serves two practical purposes: to avoid the rather silly idea that the reader and author are becoming the same person; and to free the text from being identified with its readings and its writings. (Aarseth 1994: 59)




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In dieser strengen Auffassung ist natürlich eine Konzeption fiktionaler Potentiale völlig ausgeschlossen, besonders aber als Wirkung, die in der Interaktion zwischen (Cyber-)Text und Leser entfaltet wird. Man sieht deutlich, dass Aarseth diesen Akt der Selbstverteidigung sowohl gegen konventionelle 'klassische', wie auch gegen neue hypertheoretische Vorstellungen interaktiven Lesens richtet, was allerdings dort problematisch wird, wo Aarseth auch Potentiale in den Blick nimmt, die über "non-linearity" hinausgehen. So tauchen dann verdrängte Konzepte wieder auf, wenn die Definition der Textualität auf Dimensionen ausgedehnt wird wie Handlung und Erfahrung, die einen Austausch zwischen dem Text und anderen Agenten implizieren:

The concept of cybertext focuses on the mechanical organization of the text, by positing the intricacies of the medium as an integral part of the literary exchange. However, it also centers attention on the consumer, or user, of the text, as a more integrated figure that even reader-response theorists would claim. The performance of their reader takes place all in his head, while the user of cybertext also performs in an extranoematic sense. During the cybertextual process, the user will have effectuated a semiotic sequence, and thus selective movement is a work of physical construction that the various concepts of 'reading' do not account for. (Aarseth 1997: 1, meine Hervorhebungen, P.S.)

Gerade indem Aarseth sein Textkonzept mit einem Konzept von Rezeption als Interaktion als Performanz unterlegt, öffnet er seine Theorie für einen möglichen Fiktionsbegriff. Und gerade in der Opposition zu den Theorien der Rezeptionsästhetik bzw. "reader response criticism" zeigt sich, dass der Unterschied zwischen der Interaktion seiner Leser und denen der genannten Theorien zwar ein gewichtiger, aber letztlich doch nur ein gradueller ist, beide Formen der Wechselbeziehung von Leser und Text sind "literary exchanges".

Auffällig ist, trotz der Zurückweisung der Konzepte der Reader-Response-Theorie (ähnlich wie bei Ryan), die offenkundige Übereinstimmung zwischen Aarseths Formulierung und ähnlichen bei Iser – was noch deutlicher wird, wenn man aus Isers englischen Texten, zum Beispiel The Act of Reading, zitiert: "In this respect, we can say that literary texts initiate 'performances' of meaning rather than actually formulating meanings themselves. Their aesthetic quality lies in this 'performing' structure, which clearly cannot be identical with the final product, because without the participation of the individual reader there can be no performance" (Iser 1978: 27).

Aarseths konzeptuelle Verrenkungen müssen durchaus positiv gesehen werden, sie sind keine Schwäche seines Ansatzes, sondern stellen eine Lockerung des programmatischen Diskurses dar, welcher die Theorie der digitalen und digitalisierten Literatur zu Beginn in ihren distanzierenden Gesten auszeichnete. Andererseits kann man aber auch erkennen, dass sich die Dimension der Fiktion als Erfahrung nicht so leicht verdrängen lässt, dass sie im Gegenteil immer dort wieder auftaucht, wo Texte, fiktionale zumal, in einen Rezeptionsprozess eingebunden werden.

Während in den bisher zitierten Passagen jedoch der Fiktionsaspekt eher negativ oder nur implizit angesprochen wurde, zeigt sich in dem folgenden Zitat das ganze Ausmaß des Dilemmas. Denn hier geht es um Cybertexte, die sich durch ein hohes Maß an Interaktion bzw. Partizipation auszeichnen, nämlich um Adventure-Spiele und deren Online-Derivate, den MUDs.




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Aarseth erkennt dies durchaus an, doch in dem Bemühen, seinen Textbegriff von dem freizuhalten, was er "ontologische Kategorien der Textualität" nennt – worunter eben auch Fiktionalität fällt –, muss er diese Kategorie erst aufrufen und dann transformieren in eine neue Kategorie. Der Abschnitt trägt bezeichnenderweise den Titel "The Limits of Fiction" und ich zitiere abschließend mehrere aufeinander folgende Passagen:


An important issue raised by [...] cybertexts is their relation to the ontological categories of textuality: fiction, non-fiction, poetry, drama, etc. In the case of cybertexts such as Adventure and TinyMUD, the most obvious choice, fiction, is not obvious enough. Adventure invites belief from the user, but this is not the same belief or suspension of disbelief that must be sustained by the user of realistic or fantastic novels. Cybertextuality has an empirical element that is not found in fiction and that necessitates an ontological category of its own, which might as well be called simulation. (Aarseth 1994: 79)

Mit anderen Worten, diese Cyber-Texte unterscheiden sich von anderen Cybertexten gerade dadurch, dass sie einen Grad von Interaktivität besitzen oder erfordern, der ihnen einen eigenen ontologischen Status zugesteht – im Sinne eines Glaubens an eine gewisse Eigengesetzlichkeit der Regeln und Bedingungen, auf die sich der Leser-User einlassen muss, um in einen bedeutsamen Austausch, einen "literary exchange" mit dem Text zu treten. Dies bringt die Adventure Games und die MUDs in eine ontologische Nähe zu Print-Fiktionen wie zum Beispiel dem Roman. Was diese Form der "Fiktionalität" jedoch von der des Romans unterscheidet, ist laut Aarseth ein noch höherer Grad der Übereinstimmung zwischen der Fiktion als ontologische Struktur und der Realität, die sie als Fiktion darstellt. Während konventionelle Fiktionen wie im Roman nur funktionieren, weil sie sich sofort verflüchtigen, d.h. bedeutungslos würden, wenn man nicht an sie glaubt: "A fiction [...] is not about something that does not exist but about something that it is meaningless to contradict", zeichnet sich die Simulation durch die Faktizität ihrer Fiktion aus: "the simulation of reality is [...] closer to the real thing, since [...] unlike fictions, [they] can be empirically tested" (Aarseth 1994: 79).

Das Entscheidende an dieser Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Fiktionskonzepte ist, dass Aarseth aufgrund des inhärenten Differenzpotentials seines Textkonzepts die einzige Differenzierung zwischen Adventure Games und konventionellen Printfiktionen nur auf der Ebene ihrer Fiktionalität finden kann, was in gewisser Weise eine funktionale Kontinuität unterschiedlicher Textsorten andeutet. Diese Kontinuität muss daher konsequenterweise minimiert werden, indem das gemeinsame Element – die Fiktionalität – auf beiden Seiten so 'heruntergekocht' wird, dass die potentiellen Unterschiede wie eine unhintergehbare, eben eine ontologische Differenz erscheint. Der Vergleich läuft daher auf die Unterscheidung zweier völlig regressiver, entstellter Konzepte von Fiktion bzw. Simulation hinaus, nämlich auf eine simple, um nicht zu sagen naive Unterscheidung zwischen dem Abbild eines Realen (= Fiktion) und einem Realen selbst (= Simulation):

Simulations are somewhere in between reality and fiction: they are not obliged to represent reality, but they do have an empirical logic of their own, and therefore they should not be called fictions. Unlike fictions, which simply present something else, cybertexts represent something beyond themselves. (Aarseth 1994: 79)




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Diese finale Unterscheidung ist sprachlich so fein formuliert, dass man den armen Übersetzer bemitleiden muss, der solche Finessen ins Deutsche übersetzen will. In der Tat kann man dies nur meinen und damit übersetzen, wenn man die strengen Definitionsgrenzen einer "physio-logischen" Texttheorie weit in den Bereich der Spekulation über Wirkung und Effekt von Fiktionen, mithin über fiktionale Erfahrungsmodi hin öffnet.

Im Gegensatz zu Ryan versucht Aarseth gar nicht erst, unterschiedliche Formen der Partizipation von einander zu trennen oder Fiktion und Simulation in dieser Hinsicht voneinander abzusetzen. Dass eine Simulation irgendwo zwischen der Realität und einer Fiktion einzuordnen ist, macht den Befund natürlich zum (wenn auch wenig spezifischen) Ausgangspunkt einer Debatte über die potentiell und graduell unterschiedlichen Fiktionalitäten in Hypertexten oder besser Hyperfiktionen. Denn Hyperfiktionen scheinen nun wohl genau 'irgendwo' zwischen Printfiktionen wie Romanen auf der einen und Adventure-Games oder MUDs auf der anderen Seite – also Simulationen im Sinne Aarseths – zu liegen. Man könnte also schließen, dass aufgrund der hybriden Stellung von Hyperfiktionen deren 'Hyper-Fiktionalität' nur von beiden Seiten in den Griff (in den Begriff!) zu bekommen sein wird. Worin sie besteht, wie sie sich äußert, wie sie wirkt, wo sie schwach und wo sie stark empfunden oder erlebt wird, dies kann nur verhandelt werden, wenn ihre konventionelle Fiktionalität ebenso in den Blick rückt wie ihre geänderten strukturellen Bedingungen. Dafür bräuchte man so etwas wie eine medial modifizierte oder aufgeklärte Form der Rezeptionsästhetik, die dann in den Dialog treten könnte mit einer Theorie der Hypertextualität, welche die Notwendigkeit eines Fiktionsbegriffes auch für die Hyperliteratur anerkennt. Denn schließlich, so meinte C. K. Chesterton einmal: "Literature is luxury, fiction a necessity".


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Anmerkungen

1 Der erste Teil des Arguments mag einsichtiger erscheinen als der folgende – ist nicht jede Form von Literatur immer zugleich Fiktion? Unter bestimmten Bedingungen der Definition beider Begriffe mag dies zutreffen, jedoch sicher nicht in der Weise, dass Fiktion zum alleinigen Kriterium der Definition von Literatur werden könnte. Literarische Strategien an sich erzeugen noch keine Fiktion, was man am Essay ebenso beobachten kann wie an vielen Formen der Lyrik, während umgekehrt Fiktion nicht gänzlich abhängig ist von literarischen Strategien. Eben dies macht aber den Begriff der 'Hyperfiction' dann problematisch, wenn er eingesetzt wird, um damit implizit eine Form von ('neuer' oder 'anderer') Literatur auszuweisen.

2 Die es natürlich so nicht gibt – zumindest nicht in der einheitlichen, geschlossenen Weise, die hier mittels des bestimmten Artikels suggeriert wird. Wie sich zeigen wird, weisen die unterschiedlichen Ansätze dort ihre größten Übereinstimmungen auf, wo sie mehr oder weniger bewusst, aber dennoch beharrlich zu etwas schweigen, was dennoch im Begriff 'Hyperfiktion' selbst immer mit geführt wird: die Bedeutung der Fiktionalität in literarischen Hypertexten. Im Folgenden soll der artifizielle Terminus 'Hypertheory' darauf verweisen, dass nur in dem genannten 'blinden Fleck' die Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen Ansätze vorausgesetzt wird, ihre zum Teil erheblichen Differenzen hinsichtlich anderer Aspekte damit aber nicht geleugnet werden sollen.

3 Wie Hilmar Schmundt beklagte, führte die Fokussierung auf Hyperfictions (im Sinne von Literatur oder Kunst) zunächst auch zur Ausblendung anderer Formen von Hypertexten, besonders journalistischen oder dokumentarischen Projekten. (Vgl. Schmundt 1998)