Reinhard Krüger (Stuttgart) Die poesía concreta und das Internet: Metamorphosen des MediumsPoesía concreta and the Internet: Metamorphoses of the Medium 1 BerührungspunkteDass die konkrete Poesie und die spezifischen Möglichkeiten der Textinszenierung im Internet miteinander unter Erzeugung bemerkenswerter Resultate kollidieren würden, war nicht abzusehen; es verwundert im nachhinein betrachtet jedoch keinesfalls. Das Internet unter dem Gesichtspunkt seiner Darstellungs- und Erzeugungsmöglichkeiten von Texten und die Konkrete Poesie unter dem Gesichtspunkt der konkretistischen Auffassung von der Exploration aller Aspekte der Kommunikation erweisen sich bei genauerer Betrachtung als affine Systeme. In der poesía concreta sind Textverfahren präfiguriert, die ganz vorzüglich auf die technischen Möglichkeiten passen, die erst mit den technischen Verfahren der Datenver- und -bearbeitung des Computers und des Internet geschaffen wurden. Es geht dabei nun nicht nur darum, dass die Texte der konkreten Poesie einfach im Internet veröffentlicht werden, wie beispielsweise jeder andere Texttyp von Datenbanken wie dem Project Gutenberg in digitalisierter Form zur Verfügung gestellt werden kann. Zahlreiche Texte der konkreten Poesie weisen Merkmale auf, die, so scheint es, erst durch eine Präsentation im Internet unter Anwendung entsprechender tools so recht zur Wirkung kommen. Konkrete Poesie kann, wenigstens in einigen signifikanten Fällen, strukturelle Merkmale aufweisen, die zum Teil über ihren eigenen medialen Bedingungen hinausweisen und deren Potentiale erst unter Einsatz der spezifischen Möglichkeiten des Internet vollumfänglich freigesetzt werden. Es geht hier nicht darum, eine puristische Definition von Netz-Literatur vorauszusetzen. Nicht die exklusiven Möglichkeiten des Internet bei der Erzeugung von textuellen Konstruktionen, die nur im Netz und aus dem Netz heraus geschaffen werden können sind hier vorrangig von Bedeutung, sondern das gesamte Spektrum der tools, welche die Internettechnologie (hierunter auch das Wissen um diese) für die Erzeugung, Speicherung und Präsentation von textuellen Konstruktionen zur Verfügung stellt, steht hier im Vordergrund. Es soll gezeigt werden, wie das Medium des Internet tools für die Präsentation von Texten zur Verfügung stellt und damit neue Möglichkeiten schafft, Texte erstens andersartig zu präsentieren als es die alten Medien gestatteten und damit zweitens neue Rezeptionsbedingungen zu schaffen. Auf diesem Wege kann es geschehen, dass Texte aus der Zeit vor dem Internet durch die Applikation entsprechender tools überhaupt erst ihre Potentiale zeigen. PhiN-Beiheft 2/2004: 84 Auf der anderen Seite ist es so, dass der Mensch die Bedingungen und Grundstrukturen seiner eigenen kommunikativen Praxis nicht hintergehen oder überschreiten kann. So wie es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren (dies wäre wohl die Quintessenz aus Becketts Versuchen, die Grenzen der Kommunikation durch unendliche Reduktionen des kommunikativen Geschehens auszuloten), so ist es auch unmöglich, jenseits der biologisch verfügbaren und in Verlängerung dessen auch kulturell erzeugten Armaturen der Kommunikation zu handeln. Wenn Kultur alles ist, was auch anders getan werden kann, so bleibt der Mensch auf ein Verhältnis von Biologischem respektive Naturgegebenem und Kulturellem angewiesen, in dem die Vorgaben der condition humaine sich immer wieder unhintergehbar im Kulturellen ausprägen. Die trichterförmig vor den Mund gehaltenen Hände bündeln und verstärken den Schall, ohne die Stimme zur Nicht-Stimme zu verändern oder sie zu substituieren, und der Laser-Pointer ist nur eine Armatur der zeigenden Hand oder ihrer Abbreviatur: des ausgestreckten Zeigefingers. Der homo loquens bedient sich zum Zwecke der Kommunikation in kultureller Arbeit erzeugter Armaturen, die als Mittler der konventionalisierten Zeichen zwischen Sender und Empfänger wirken. Medien, darunter auch das Internet, sind also Armaturen, die grundsätzlich nichts an den biologisch gegebenen Möglichkeiten und den daraus gegebenen Strukturen der Kommunikation ändern. Wir kommunizieren im Wesentlichen nach wie vor, und zwar aufgrund einer biologischen Disposition, Worte und Bilder, und nur in sehr geringem Umfang haptische, olfaktorische und gustative Daten oder daraus gefertigte Zeichen. Als Menschen zielen wir aufs Akustische und Optische, weniger auf die anderen Sinne. Daher überwiegen rein numerisch auch die kulturellen Fabrikate aus akustischen und optischen Daten bei weitem gegenüber jenen, die aus haptischen, olfaktorischen oder gustativen Daten erzeugt wären. "Aus dem Blöken des Kindes ist Sprache so geworden, wie aus dem Feigenblatte ein französisches Galakleid" schreibt Lichtenberg in seinen Sudelbüchern (Lichtenberg 1984: 344). Ein analoger Aphorismus zu Gespür, Geruch oder Geschmack ist kaum möglich. Texte können als Bühnen verstanden werden, auf denen ihre Verfasser ihre Vorstellungen von kommunikativen Handlungen in Szene setzen. Dies geschieht in der Regel in Form der Schrift, die auf einem Schreibuntergrund aufgetragen wird. Mit der Schrift und dem Schreibuntergrund sind semiotische Sachverhalte begründet, welche das Verhältnis zwischen dem Text und den inszenierten Formen von Kommunikation betreffen. Wenn diese in ein anderes Medium überführt werden, dann kann das neue Medium nur eine Simulation des bisherigen Textes sein. Ein weiß auf rot gedruckter Text ist schon medial nicht gleichartig mit einem Text, in dem digital erzeugte Schriftzeichen in einen roten Hintergrund eingeblendet werden. Schon der Transfer von konventionellen Texten in das Medium des Internet begründet eine neue semiotische Beziehung: Der entstehende Internettext ist eine zeichenhafte Simulation des Ausgangstextes in anderem Material. Insofern ist der Internettext Zeichen eines Zeichens und als solcher grundsätzlich eigentümlich und andersartig. PhiN-Beiheft 2/2004: 85 Das heißt also, dass sich einiges ändert, wenn die Menschen neue Medien, also Armaturen ihres kommunikativen Handelns erfinden. Was sich zudem ändert, und zwar bereits seit man die ersten Zeichen einem dauerhaften Medium anvertraut und eingeschrieben hat, das sind die räumlichen und zeitlichen Bedingungen der Kommunikation. Die Vereinbarung von Ort und Zeit zum Zwecke der Kommunikation zwischen zwei kommunikativ Handelnden ist nicht mehr erforderlich, das Medium verbindet sie unabhängig von Raum und Zeit und trennt sie zugleich. Bedingung hierfür ist jedoch die gleichartige medientechnologische Ausstattung der Kommunikationspartner. Wenn es heißt: the medium is the message (vgl. McLuhan 1994: 721), dann kann nur aufgrund einer unzulässigen Verknappung dieses Satzes daraus geschlossen werden, dass mit dem medialen Wandel sich lediglich die vom Medium transportierten Daten veränderten. Vielmehr ist der Botschaftscharakter des Mediums als Instrument der Kommunikation gerade auch bei Marshall McLuhan so zu verstehen, dass Medienwandel einen Stilwandel in der Kommunikation anzeigt, ein Stilwandel, der besonders eindrucksvoll im intellektuellen, kulturellen und sozialen Konflikt zwischen Manuskript und Typographie, zwischen Skriptorien und Offizinen der frühen Neuzeit sich darlegen lässt. Wer hier ein Buch abschreiben und womöglich reichhaltig illustrieren lässt anstatt eine um 90 % billigere Druckausgabe zu erwerben, teilt durch diesen Umgang mit den Medien, durch den Stil seines Handelns der sozialen Umwelt etwas mit. Und wenn die Zapatistas im Dschungel der Lacandonischen Wälder des südlichen Mexico heutzutage jeden ihrer politischen Beschlüsse mit einem Web-Auftritt begleiten, dann ist auch hier ein Stilwollen hinsichtlich der Inszenierung des eigenen kommunikativen Handelns zu erkennen, das selbst bereits eine Botschaft ist: Es wird hier absichtsvoll nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehandelt, sondern die globale Öffentlichkeit wird als Zeuge und als Schutz engagiert. 2 Konkretismus, Sprachkritik und MedienwandelHelmut Heißenbüttel beschreibt in seinem Essay Anmerkungen zur konkreten Poesie (1971) gleichsam die Innenansicht des Produktionsprozesses konkreter Poesie:
Reduktion bedeutet nach Heißenbüttel vor allem die Preisgabe der konventionellen Verfahren der Komposition sprachlicher Syntagmen und damit die programmatische Unterwanderung der Standards der abendländischen Ordnung von Welt im sprachlichen Symbol. Überschreitung medialer Begrenzungen meint die Freisetzung des Textes aus seinen konventionellen Darbietungsformen und die grenzenlose Exploration unbekannter oder sich neu bietender Möglichkeiten. PhiN-Beiheft 2/2004: 86 2.1 Preisgabe der abendländischen Syntax, Revolutionierung der DichtungDie Radikalität, mit der die überwindende Ausleuchtung er Grenzen des abendländischen Textordnungssystems gedacht ist, zeigt Chris Bezzel in seinem Essay dichtung und revolution. Bezzel setzt seine Vorstellungen von Revolutionierung der Verhältnisse da an, wo er den Dichter am Werk sieht: bei der Sprache selbst. Die Sprache zu kritisieren und die Dichtung zu verändern, wird aus dieser Perspektive zum Modell der Revolution, die Bezzel sich mit zahlreichen anderen Konkretisten auf die Fahne geschrieben hatte. Im Ergebnis verschwindet nach Bezzel jede Form engagierter und auf Außenreferenz gerichteter Literatur:
Wir sehen, wie Bezzel hier weit über die kulturkritische und relativierende Haltung Heißenbüttels hinausgeht und die Revolutionierung der Dichtung als symbolische Handlung versteht, welche der von ihm als notwendig erachteten Revolutionierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse analog ist. Die immer noch aus der Tradition surrealistischer Hintergehung der Sprache als dem Machtmittel der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse gespeiste Position, erwartet vor allem von der Revolutionierung der poetischen Sprache die Revolutionierung eines Zeichensystems, welches in seinen Strukturen "das system der sozialen hierarchien in allen abstufungen spiegelt." (ebd.) Ganz in der Nachfolge Wittgensteins sieht Bezzel nun im Sprachspiel die Möglichkeit der Revolutionierung der kommunikativen Verhältnisse, wenn der Begriff des Sprachspiels selbst in jeder poetisch-revolutionären Aktion in Frage gestellt wird:
PhiN-Beiheft 2/2004: 87 Es gilt hier das gleiche, was die Noigrandes in Brasilien im Jahre 1961 als Post-Scriptum ihres Plano Piloto para Poesía Concreta als Zitat von Majakovski nachgetragen haben (vgl. Krüger 2004): "sem forma revolucionária não há arte revolucionária." Wir sind heute, wenigstens in unserem Teil der Welt, gerade dreißig Jahre später inzwischen weit entfernt von der Greifbarkeit der Utopien, die hier noch durchklingt. Auf der anderen Seite jedoch scheint das Internet mit seinen Möglichkeiten nun gerade dadurch für derartige Konzepte interessant zu werden, dass es ein idealer Ort der beständigen Erfindung neuer Sprachspiele und damit der symbolischen Demontage der in der Sprachstruktur erfassten gesellschaftlichen Struktur ist. Mit entsprechenden utopischen Vorstellungen einer herrschaftsfreien Kommunikation ist das Internet ja von Anbeginn seiner öffentlichen Zugänglichkeit an immer wieder beladen worden. 2.2 Transgression medialer BeschränkungenDie Überschreitung medialer Begrenzungen ergibt sich für die konkrete Poesie zwangsläufig aus der artistischen Exploration aller Dimensionen des Textes. Guillaume Apollinaire hatte unter dem Pseudonym Gabriel Arbouin bereits in einem Kommentar zu seiner ideographischen Komposition Lettre-Océan (1914) nach Mallarmés Un coup de dés (1896) dem wohl bedeutendsten Meilenstein in der Entwicklung einer Poesie, welche alle Aspekte der aktuellen Entwicklung der Kommunikationsprozesse reflektiert und im Text in Szene setzt darauf verwiesen, dass an Stelle der analytisch-diskursiven Lektüre jetzt die synthetisch-ideographische geübt werden solle:
Die Vertreter der konkreten Poesie in Brasilien entwickeln unter explizitem Rückbezug auf Apollinaires Position, die sie in ihrem Plano piloto para poesía concreta (1958) zitieren, eine Poetik, die vor allem den Aspekt der non-verbalen Kommunikation auch für die Präsentation eines konkretistischen Textes erkunden und nutzen will.
PhiN-Beiheft 2/2004: 88 Unter Berufung auf die Struktur der chinesischen Sprache vor allem der Schriftsprache wird mit Hinweis auf entsprechende Positionen bei Alexander v. Humboldt, Edward Sapir, Fennollosa und Ernst Cassirer die Möglichkeit eines sprachlichen Ausdrucks ins Auge gefasst, der ausschließlich aus der räumlichen Ordnung der als Ideogramme verstandenen Worte auf ihrem Untergrund resultiert: "Chinese offers an example of pure relational syntax, based exclusively on word order." (ebd.) Nehmen wir hinzu, dass die Noigrandes im Kontext der Reflexion über das Chinesische explizit erklären, dass die konkrete Poesie auf das kleinste gemeinsame Vielfache der Sprache zielt ("Concrete Poetry aims at the least common multiple of language"; ebd.), so zeichnet sich die Leibnizsche Dimension des Unterfangens ab: Es gilt, aus den Bauformen der Sprache jene Elemente und Regeln abzuleiten, die den Anspruch auf die allgemeinste Gültigkeit erheben und daher für die Grundlage einer universellen Sprache genommen werden können. Anders als bei Leibniz dient der Rekurs aufs Chinesische jedoch nicht der Hoffnung, eine Sprache universeller Logik zu generieren, sondern eine Sprache jenseits der Subordinationen und Dominanzen, welche das europäische grammatikalische System auszeichnen, zu erproben. Indem die konkrete Poesie nun die Möglichkeit einer Toposyntax ins Auge fasst, wird der Fläche des Textes eine Funktion zugewiesen, welche sie bisher nur in der konstellativ operierenden Poesie einnehmen konnte, wie sie von Mallarmé und Apollinaire geschaffen worden war. Die Transgression der bisherigen medialen Verfassung des Textes im Sinne der konkreten Poesie bedeutete vor allem die Preisgabe der Vorstellung, Schrift und Medium seien sekundäre Aspekte des Textes. Der graphischen Gestaltung wie dem typographischen Arrangement kommt jetzt ein ganz anderer Wert zu. Dass hier die Möglichkeiten des Internet geradezu katalysierend wirken müssen ist evident, ist der Autor doch jetzt frei von den technischen Beschränkungen, die ihm bisher durch die konventionellen Printmedien auferlegt waren. 2.3 Aleatorische Strukturen der Assoziation und LektüreEin weiterer Aspekt der internen Mechanismen konkretistischer Textarbeit, der mit dem Internet eine Verbindung einzugehen scheint, liegt in der Eigenart der Oberflächenstruktur konkreter Poesie. Worte und Syntagmen werden hier nicht mehr transparent auf einen Sinn gebraucht. Sie werden auch nicht mehr durch die üblichen linguistischen Verfahren desambiguisiert. Vielmehr wird gerade die schillernde Vielfalt der morphologischen und semantischen Möglichkeiten, insbesondere, jene, die durch Ver-Rückung der eingesetzten Worte erzeugt werden können, als Darreichungsform des Textes gesucht. Das Ergebnis ist ein semantisch opaker Text, der eine Vielzahl von Lektüren und syntaktischen Kombinationsmöglichkeiten gewährt. Es gibt dabei keine vorgegebene Richtung des Weges durch den Text, sondern vielmehr eine von der individuellen Lesestrategie des einzelnen Lesers abhängige Lektürepiste auf der Fläche des Textes. Ekkehardt Jürgens beschreibt dieses Verfahren so:
PhiN-Beiheft 2/2004: 89 Wenn hier von den "zufälligen Kontaktstellen" die Rede ist, die sich bei der Lektüre des Textes ergeben, dann scheint für die Lektüre konkreter Poesie gerade das Aleatorische zur konstituierenden Dynamik zu werden. In diesem Punkte jedoch ist die konkrete Poesie wenigstens mit Blick auf die erforderlichen und generierten Lesestrategien in ähnlicher Weise auf das Aleatorische angewiesen wie das Aleatorische auch konstitutiv für die Konstruktion und die Lektüre des Hypertextes im Internet wird (vgl. Krüger 2003). Über die aleatorischen Verknüpfungen der Schaltstellen, an denen die Lektüre neue Richtungen einnehmen kann, drängt sich das Modell des Netzes als Instrument der Beschreibung der hier zu beobachtenden Vorgänge auf. Mit der Frage der Netzartigkeit oder der 'Retalität' von Texten kommen zu der entscheidenden Frage, an der sich nun doch eine spezifische Differenzqualität des Internet gegenüber den bisherigen Erzeugungs- und Mediatisierungsformen von poetischen Texten erweisen könnte. Das Verhältnis von Prätext und Text, wie es ja in seriell verfertigten Texten in nuce enthalten ist, konstituiert bereits eine wenigstens dyadische Beziehung zwischen zwei Texten und ihren Produzenten. Dabei ist der Plural von Produzenten bereits im weitesten Sinne zu verstehen. Stellen wir in Rechnung, dass Texte im Grunde genommen nicht einen Autor haben das hat schon Giambattista Vico am Beispiel der Ilias und der Homerfrage entwickelt , sondern nur einen individuellen Agenten, der als Autor auftritt, jedoch eine Vielzahl von kommunikativen Handlungen in seinem eigenen auktorialen Handeln bündelt, welche der Erzeugung seines Textes vorgängig waren, so lässt sich leicht das Bild eines umfassenden Gespinstes von kommunikativ Handelnden entwerfen, welche an der Erzeugung eines jeden einzelnen Textes in letzter Konsequenz mitgewirkt haben. Borges hat dies in El inmortal mit dem Bild vorgestellt, dass es den einen Agenten der Texte gibt, nämlich den poetisch Handelnden, der letztlich alle Texte von der Ilias über die Chanson de Roland, die Kreuzzugsberichte bis hin zu den Erzählungen aus 1001 Nacht generiert hat. Der eine Autor ist letztlich alle Autoren, die jemals an der Verfertigung eines Textes gearbeitet haben, denn in sein Werk gehen die Traditionen der Arbeit aller anderen ein, so wenigstens das Bild, das Borges hier entwirft. So wie die Bewohner des zerstörten Troja in El inmortal diese Stadt nicht mehr kennen, doch aus ihren Steinen ihre eigene Stadt errichten, so ist auch jedes einzelne Sprachzeichen sozial vorgefertigt und wird in jedem Akt der Wiederverwendung angeeignet, neu ausgemünzt und mit neuem, differenten Sinn belegt. Alles, was wir tun, hat eine Geschichte, und in dieser Geschichte ist die Praxis der anderen eingeschrieben. Textproduktion erscheint somit als Verwendung von vorgefundenen, sozial vorfabrizierten ready-mades (so würde Marcel Duchamp es auffassen), nur dass diese ready-mades im singulären Akt eines kommunikativen Handelns in einer so bisher vielleicht nicht dagewesenen Weise kombiniert und eingesetzt würden. Edgar Allan Poes Philosophy of composition weist in diese Richtung der Auffassung von Texterzeugung. PhiN-Beiheft 2/2004: 90 Der Einsatz von Zeichen in einem beliebigen kommunikativen Akt kann also hinsichtlich seiner Geschichte transparent gemacht werden, oder wenigstens können plausible Geschichten von der Verwendung bestimmter Zeichen oder der aus ihnen verfertigten Konstrukte konstruiert werden. Dies haben mit Blick auf Sprachkunstwerke früher die Quellenforschung, in neuerer Zeit die Intertextualitätsforschung getan. Für noch komplexere Zeichenrelationen, in denen vor allem Beziehungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen von Belang sind, etabliert sich seit Neuestem die Intermedialitätsforschung. Alles weist darauf hin, dass der alte Satz zutrifft: nihil ex nihilo. Konkret ließe sich diese Sentenz am Beispiel einzelner Texte (Umschreibung oder Kompilation bereits vorhandener Texte, Motive etc.), Textfragmente (fragmentarisierende Verwendung von Händlerrufen in Gedichten Apollinaires oder die Centonen-Dichtung) oder auch nur Worte (Verwendung des Wortes Kodak oder der Konstruktion Pilules pink pour personnes pâles in Texten der klassischen Moderne) in Modellen der Beziehungen zwischen den verschiedenen Verwendungen der in Frage stehenden Zeichen fassen. Hier scheint nun das Modell oder die Metapher des Netzes nahezuliegen. 'Vernetzungen' dieser Art, wobei wir uns des Aspekts der Metaphorizität dieses Begriffs immer bewusst bleiben müssen, scheinen aus dieser Perspektive schon das Grundprinzip der Texterzeugung überhaupt zu sein. Wie viel kann unter diesen Bedingungen kommunikative Praxis im Internet überhaupt noch an transzendierender Erneuerung leisten? Lange bevor an das Internet gedacht wurde, haben Autoren sich zu Gemeinschaften zusammengefunden, welche das Ziel hatten, den Prozess der Texterzeugung zu vergesellschaften oder im Akt der kollektiven Produktion den unhintergehbaren Aspekt der sozialen Verfertigung eines jeden kommunikativen Aktes vor aller Augen zu führen. Als die Dadaisten und Surrealisten den cadavre exquis als poetisches Verfahren wieder-erfunden hatten, als einzelne Mitglieder des OuLiPo sich zur Verfertigung des Kollektivwerks Renga zusammengefunden hatten, als schließlich Michel Butor mit Passage de Milan und Degrés den Kollektivroman in die Gegenwartsliteratur eingeführt hatte (vgl. Wolfzettel 1969), war schon echte Netzliteratur avant la lettre entstanden.1 Sie war auch konkret im Sinne des Konkretismus, setzte sie doch den sozialen Aspekt der Textverfertigung ostentativ in Szene. Das Internet hat diesen Vorgang, wie es die Medien so oft getan haben, nur von der sozialen Konventionalisierung des Ortes, an dem dies geschehen kann, freigesetzt, und es hat den Zeitfaktor tendenziell ausgeschaltet, indem es in Abhängigkeit von der Modemgeschwindigkeit eine nahezu simultane Kommunikation über große Entfernungen gestattet. PhiN-Beiheft 2/2004: 91 3 ÖffentlichkeitKonkrete Poesie erbt vom Dadaismus die Vorstellung, dass ein Gedicht so wirksam sein soll, wie ein Reklameslogan. Der dadaistische goût de la réclame begründet ein neues Verhältnis der Poesie zur Öffentlichkeit: Poesie wird nicht mehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit oder für eine Gruppe von initiés geschaffen, sondern ihr Artikulationsort ist die moderne Öffentlichkeit, die vor allem vom städtischen Leben konstituiert wird. In den Raum der Stadt hinein und für die Stadt hat Augusto de Campos das Gedicht Cidade (1963) komponiert. Hier arbeitet er mit der Doppeldeutigkeit des Wortes cidade, das einerseits Stadt heißen kann, andererseits aber auch ein Nominalisierungspartikel für eine Vielzahl von Worten ist. Das Ergebnis ist ein linguistisches Wortungetüm über die Stadt, welches alle nominalisierbaren Eigenschaften des städtischen Lebens in einer ungetrennten Verkettung vorführt: atrocaducapacaustiduplielastifeliferofugahistoriloqualibrimendimultiplicor ganiperiodiplastipubliropareciprorustisagasimplitenaveloveravivauni voracidade Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Konstruktion dieses Wortes, von dem es auch eine von de Campos eingesprochene französische Version auf der Grundlage der gleichen Lexeme gibt, publiziert er diesen Text gemeinsam mit Julio Plaza im Jahre 1987 an einer hervorragenden Stelle im Stadtbild von São Paulo: In überdimensionalen Lettern wird dieses Wort vor den Ausstellungsgebäuden der Biennale von São Paulo errichtet. Die Photographie von dieser Publikation kursiert bis auf den heutigen Tag im Internet: Abb. 1: Cidade, Biennale (Campos 1987) PhiN-Beiheft 2/2004: 92 Es gibt von diesem Text weitere Realisierungen, u.a. eine Übertragung des Textes in die Lochstreifensprache der frühen Computer. Abb. 2: Cidade (Campos 1975) Auf eine aktuelle Version von Cidade, die für Flash-Applikationen geschaffen wurde, gehe ich weiter unten ein. Es ist evident, wie sich die Suche der konkretistischen Dichter nach Öffentlichkeit für ihre Texte mit den Möglichkeiten des Internet treffen. Dieses bietet eine Öffentlichkeit, die vom Zeitungs- und Medienmonopol kaum zu kontrollieren ist. Hier könnten die Texte, wenigstens der Intention nach, in einem virtuellen öffentlichen Raum placiert werden, auch wenn die Lektüren in letzter Konsequenz nur als individuelle realisiert werden können. 4 Serialität Sequenzialität4.1 Kommutation PermutationIn der Erforschung der Verfahren der konkreten Poesie ist sehr früh erkannt worden, dass die Innovation ohne traditionellen Rekurs kaum stattfinden kann (vgl. Beyer 1971). Dies stimmt sehr gut überein mit den Selbstaussagen der Vertreter der konkreten Poesie, die anders als Marinetti und Breton für den Futurismus und Surrealismus nicht den absoluten und radikalen Bruch mit den Traditionen proklamieren, sondern eine erstaunliche Filiation an forerunners benennen (vgl. Campos 1958). Mit der Frage der Tradition bestimmter Texttechniken jedoch stellt sich die Frage, wie sehr diese technischen Verfahren der Textproduktion in vielleicht unhintergehbarer Weise an die Textproduktion als solche gebunden sind und daher auch im Falle der konkreten Poesie, nur lediglich offensichtlicher, den Augen des Lesers vorgeführt werden. PhiN-Beiheft 2/2004: 93 Eines der wichtigsten Verfahren zur Exploration der Konstitution und der Wirkungen von Differenz ist die Wiederholung. Es gilt das Prinzip: dasselbe, noch einmal, nur anders. Es ist hier die Erfahrung aufgehoben und zugleich überwunden, die bereits im Ecclesiastes zu einem philosophischen und ontologischen Aphorismus geronnen war. Wenn es nichts Neues unter der Sonne gibt, dann kann alles nur Wiederholung sein, jedoch erst in der Untersuchung der Wiederholung würde der Beweis erbracht werden können, inwieweit des Ecclesiastes Postulat zutrifft, oder ob dem Ganzen nicht doch einige neue Momente hinzugewonnen werden müssten. Das Prinzip der Wiederholung ist bereits von den Dadaisten und Surrealisten als dynamisches Verfahren eingesetzt worden, um die Entstehung von Differenz zu untersuchen. Es geht jedoch auf erheblich ältere Traditionen der kommutativen Poesie zurück, welche aus immer den gleichen Textmaterialien immer neue Texte erzeugt.2 Ein frühes Beispiel gibt Julius Caesar Scaliger in seiner enzyklopädisch angelegten Poetik De poetices libri septem. Hier nennt er das Proteus-Gedicht, ein Text der die grenzenlose Umstellung seiner Elemente erträgt, ohne dass er sinnlos würde: "Perfide sperasti diuos te fallere Proteu." Durch Permutation entsteht eine Serie von 720 Sätzen oder Versen, die alle aus dem gleichen Textmaterial verfertigt sind. Wagenknecht kann eine ganze Reihe analoger Fälle aus der Literaturgeschichte heranziehen und stellt die Verbindung zu permutativen Verfahren der konkreten Poesie her. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass hinter der Permutation und analogen Verfahren ein bestimmter Grundimpuls modernen poetischen Schaffens zu erkennen ist: Texte befinden sich grundsätzlich im Zustand eines mouvement perpétuel. So wie Montaigne bereits die Stabilität des menschlichen Individuums als Illusion angezweifelt hat, so sind auch dessen Produkte von diesen Veränderungen nicht ausgenommen. 4.2 Wiederholung und Differenz im Dadaismus: BretonIn der klassischen Moderne nun führt André Breton eine neue Variation über dieses Thema vor. Er hatte in seinem Gedicht Pièce fausse den Text aus immer wieder anders geformten Syntagmen geschaffen, die jedoch als Variationen über einen Ausgangstext mit einem ersten Vers "Du Vase en Cristal de Bohème …" erzeugt wurden: Pièce fausse Du vase en cristal de Bohême PhiN-Beiheft 2/2004: 94 Bohême Bohême Bohême Hême hême oui Bohême Du vase en cristal de Bo Bo Du vase en cristal de Bohême Aux bulles qu'enfant tu soufflais Tu soufflais Tu soufflais Flais Flais Tu soufflais Qu'enfant tu soufflais Du vase en cristal de Bohême Aux bulles qu'enfant tu soufflais Tu soufflais Tu soufflais Oui qu'enfant tu soufflais C'est là c'est là tout le poème Aube éphémère de réflets Aube éphé Aube éphé Aube éphémère de reflets.3 Abgesehen davon, dass Breton mit diesem Gedicht in der Manier von Arno Holz ein Mittelachsengedicht erzeugt, das jedoch zugleich kalligraphisch-figurative Funktion aufweist und damit auf die Medienreflexion der konkreten Poesie vorausweist, sind hier bewerkenswerte Operationen am Worte zugange. Breton zielt auf eine Desautomatisierung der Lektüre, indem er einen hypothetischen Vierzeiler, den man aus diesem Text herausfiltern kann: Du vase en cristal de Bohême Dieses Gedicht wird einer Vielzahl von Operationen unterzogen, welche diesen Text weitgehend defigurieren und seine Elemente gleichermaßen bis zu einer Verdunkelung des banalen Sinns in neuen Versen isolieren. Aus dieser Isolation kann jedoch gegebenenfalls neuer Sinn entstehen, wie bei "Du vase en cris", was nichts anders bedeutet, als dass in den banalen Texten bereits latente andere Texte enthalten sind, nur noch freigelegt werden müssen. Hier jedoch und Breton weist mit "C'est là c'est là tout le poème / Aube éphémère de réflets" darauf hin schließt sich die prismatische und fragmentarisierende Zerlegung der Textzeilen mit der Vorstellung von einer böhmischen Kristallvase gleichsam kurz: Wie diese die Bilder der Objekte, die sich in ihr spiegeln und auffächern, zerlegt, so verfährt auch der Dichter, der aus einem Text durch Entfaltung seiner Elemente mehr herausholt, als zunächst offensichtlich ist. Breton entwickelt hier das Verfahren der prismatischen und fragmentierenden Wiederholung, welches mit der noch offensichtlich gebliebenen Differenz arbeitet. PhiN-Beiheft 2/2004: 95 Wir können hier umstandslos Helmut Heißenbüttel zitieren, der in seinen Anmerkungen zur konkreten Poesie (1971) faktisch die hier schon als konkretistisch aufzufassende Poetik beschreibt, die Breton mit Pièce fausse ins Werk setzt:
4.3 Wiederholung und Differenz im Dadaismus: AragonLouis Aragon hat in seinem Persiennes die Frage der Wiederholung jedoch noch viel radikaler aufgeworfen und das Wort Persienne unter dem Titel 20 mal in verschiedenen typographischen und topographischen Arrangements gesetzt. PERSIENNES Persienne Persienne Persienne Persienne persienne persienne Persienne? (Aragon 1974: 102) Zunächst operiert er mit der Polysemie von Persienne, das sowohl 'Perserin' als auch 'Fensterladen' bedeuten kann. Zudem postuliert er durch das typographische Arrangement, dass jede Okkurrenz dieses Wortes auf dem Papier letztlich schon aus diesem Grund durch Differenz gegenüber allen anderen gekennzeichnet sei, da jedes Wort oder Wortbild einen anderen Ort auf dem Papier einnimmt. Aragon gelangt mit dieser Konstruktion zur Präsentation der Einsicht, dass zwei gleiche Wörter nicht identisch sein können. Einsichten dieser Art sind von großer philosophischer Relevanz. So geht schon die antike Kosmologie und die mittelalterlichen Kosmologen werden ihr darin folgen davon aus, dass es niemals möglich ist, dass zwei Atome den gleichen Ort einnehmen werden. Für Nikolaus Cusanus ergibt sich daraus im 15. Jahrhundert der Schluß, dass alles von Differenz gekennzeichnet ist und Identität nicht möglich ist. Differenz ist damit ein ontologisches Prinzip, ihr inhäriert die Dynamik des Seienden eben wie den Zeichen, die von den Menschen für die Elemente des Seienden erzeugt werden. PhiN-Beiheft 2/2004: 96 Bei Breton und Aragon finden wir somit sehr früh Belege dafür, wie durch eine konkretistische Behandlung des Sprachmaterials Sprachkunstwerke entstehen, die aufdecken, wie sehr dadaistische und surrealistische Textpraxis bereits Prinzipien der konkreten Poesie in nuce enthalten. Die dadaistische und surrealistische Text-Technik der verändernden Wiederholung erzeugt Text-Gebilde, welche Strukturen aufweisen, die den Produkten der Lektüre analog sind: Jede erneute Lektüre eines bereits gelesenen Textes und handelte es sich hierbei auch nur um ein einziges Wort generiert neue semantische Strukturen, zumal der späteren erneuten Lektüre wenigstens die Erfahrung der vorangegangenen Lektüre zur Entzifferung, Decodierung, Enträtselung, hermeneutischen Aufschließung etc. etc. des Textes zur Verfügung steht.4 Indem das Gedicht sich während der Lektüre selbst vorführt, führt es auch die ihm angemessene Lektüre vor: Identität des Gedichts und die spezifische Lektüre, die in seiner Faktur begründet ist, bedingen einander und der Leser verwandelt sich vom Leser des Gedichts zum Leser für das Gedicht, indem er der impliziten Poetik folgt und diese nachvollzieht: "The poem as a mechanism regulating itself: feed-back," (Campos 1958) heißt es im Jahre 1958 im Plano piloto para poesía concreta, den die brasilianische Gruppe der Noigrandes nach einige Jahren der Erfahrung mit modernen Textkonzeptionen in die Öffentlichkeit geben. Texte wie die von Breton und Aragon weisen also über den Aspekt der hier vorgeführten Texttechnik hinaus auch auf die Praxis einer vollkommen veränderten oder zu verändernden Lektüre hin: Sinnkonstitution erfolgt während der Lektüre und Wahrnehmung von geringfügiger Differenz. Bei Breton ist dies recht plakativ, bei Aragon jedoch erheblich subtiler vorgeführt. Es kommt ein zweiter Aspekt hinzu: Das Prinzip des texte en mouvement können wir bereits an den zahlreichen publizierten Versionen bestimmter Texte von Guillaume Apollinaire beobachten. Jede neue Version entspricht einer neuen Sichtung und Revision sowie Restitution des Textes durch den Autor in jeweils neue artistische und ästhetische Koordinaten. Dabei bleiben alle Versionen gültig. Als Serie aufgefasst, repräsentieren die verschiedenen Versionen gleichsam eine dynamische Studie über die Veränderung der artistischen Konzepte des Autors: die Textserie wird zur Spur dieser Dynamik. Zugleich zeigt sie schon die Dialektik von Wiederholung und Abweichung und damit die Mikrodynamik der Innovation, welche der eigentliche Kern eines jeden artistischen Schaffensprozesses ist: die Neuerfindung der zeichenhaften Repräsentationen und Modelle von der Welt. 4.4 Sequenzialität im KonkretismusDie Nutzung des dynamischen Prinzips, welches aus dem Verhältnis von Differenz und Wiederholung resultiert, ist nun auch konstitutiv für die poetischen Techniken jener Dichtergenerationen, die der Konkreten Poesie zuzurechnen sind oder wenigstens in deren Umfeld angesiedelt sind. Spuren solcher Verfahren finden wir im Übermaß, wenn wir alleine das brasilianische Umfeld betrachten, bei Décio Pignatari und Augusto de Campos. PhiN-Beiheft 2/2004: 97 Abgesehen davon, dass wir hier große Serien von Texten finden, welche über viele Jahrzehnte hinweg immer wieder in neue Medien transponiert werden wie Augusto de Campos Cidade treffen wir jetzt auf Texte, welche das Prinzip der Veränderung als Abfolge von verschiedenen Zuständen des Textes präsentieren. Zunächst wäre da Décio Pignataris Beba Cloaca (1958, vgl. Abb. 3) zu nennen, das noch ganz in der Tradition des dadaistischen goût de la réclame zu einem linguistischen Angriff auf das symbolische Getränk der US-amerikanischen Hegemonialmacht ausholt: Aus dem, Werbeslogan Beba Coca Cola wird durch zahlreiche Deplazierungen und Inversionen der Wörter und Buchstaben allmählich der neue und enthüllende Slogan Beba Cloaca. Die durch die Variation des Ausgangstextes geschaffenen neuen sprachlichen Realitäten, die von Vers zu Vers zu einer Serie arrangiert sind, decken gleichsam eine verborgene und unterdrückte Botschaft des Werbeslogans aus. Abb. 3: Beba Cloaca (Pignatari 1958) In die Richtung der Animation geht schließlich die von Elson Fróes 1997 veranstaltete Übertragung des Gedichts Orgasmo von Décio Pignatari (1963) aus der Sequenz von Einzelbildern in eine automatisch gesteuerte Abfolge dieser Bilder. Abb. 4: Orgasmo (Pignatari 1963) PhiN-Beiheft 2/2004: 98 Hier folgen die Textbilder nicht einfach nur einander, sondern der Schriftzug wird zugleich auch immer größer, so dass er auf den Leser zuzukommen scheint. In viel größeren Umfang noch gilt das Gesagte für die Texte von Augusto de Campos. Zum einen wäre da sein Poema-bomba zu nennen, von dem eine Vielzahl von Versionen im Internet kursieren oder auf CD zu erwerben sind. Die älteste im Internet verfügbare Textform ist eine holographische Version: Abb. 5: Poema bomba (Campos 1983) Hier war es bereits möglich, dass durch die Bewegung des Hologramms Bewegung in die Schriftzeichen gebracht wurde. Es ist auch ein Bild des Prototyps dieses Hologramms im Internet verfügbar. In einer weiteren Version wandeln sich die Farbe der Buchstaben und die des Untergrundes 'explosionsartig'. Es folgt eine Version, die nur mit dem flash-player abzuspielen ist (vgl. Campos 1997/1983). Hier haben wir es nicht nur mit dem Wandel der Farbe zu tun, sondern der Text bewegt sich auch zentrifugal aus dem Darstellungsrahmen, während Augusto de Campos eine Collage aus verschiedenen Varianten des Worts bomba einspricht. Praktisch zur gleichen Zeit hatte er mit seinem Sohn Cid Campos während der Veranstaltung poesia é risco (1996) eine "apresentação verbivocovisual" des Gedichts poema-bomba zur Gitarrenbegleitung seines Sohnes gegeben. Auf die Rückwand der Bühne werden die Buchstaben des Textes projiziert. PhiN-Beiheft 2/2004: 99 Mit rã de bashô (Campos o.J.), einem hommage an den Meister des japanischen Haiku, erreicht Augusto de Campos schließlich jene filmischen Effekte, die in jeder Sequenzialität von Textproduktion ob ovo angelegt waren. Hier werden die a's des Textes abwechselnd grün dargestellt, was so in keiner konventionellen Form von Textmediatisierung möglich ist. Das Internet ist hier nicht mehr Medium, welches Potentiale freilegt, die in den konkreten Texten der älteren Generation bereits enthalten waren. Vielmehr wird es jetzt zum konstitutiven Element der konkretistischen Reflexion über die Medialität des Textes. Die letzte Entwicklung ist die Erzeugung von konkretistischen Texten, die als bewegte Texte, sog. clip-poemas, mit den von Augusto de Campos dazu eingesprochenen Worten als Flash-Anwendungen für das Internet erzeugt wurden und in diesem publiziert sind (vgl. Campos 19992003), darunter auch eine weiter entwickelte, kinästhetische Variante des Cidade-Projekts (vgl. Momentaufnahmen in Abb. 6). Abb. 6: Cidadecitycité (Campos 1999) Die konkrete Poesie hat hier die technologische Herausforderung des Internet angenommen und sich selbst auf den aktuellsten Stand der Informationstechnologie bewährt. Diese Texte sind voll und ganz an das Medium des Internet respektive des Computers gebunden, der diese Daten ausliest. Es gibt jetzt nur noch ein Medium der Publikation konkreter Texte, dessen Monopol das Internet und der Computer noch nicht gebrochen haben: die dreidimensionale Projektion von Texten durch die Holographie. PhiN-Beiheft 2/2004: 100 Es scheint daher sinnvoll zu sein, als die Aufgabe einer zukünftigen Topopoetik und einer Chronopoetik die Erfassung solcher Textphänomene zu definieren. Topopoetik und Chronopoetik hätten wahrscheinlich zu überprüfen, wie weit deskriptive Konzepte aus den Wissenschaften, welche sich mit verräumlichten und verzeitlichten Zeichenprozessen befassen, in die Philologie transferiert werden könnten. Dabei dürften vor allem semiotische Betrachterstandpunkte von besonderem Interesse sein, zumal die Semiotik, solange sie sich als allgemeine Wissenschaft von den Zeichen versteht, imstande sein könnte, gleichsam das begriffliche 'allgemeine Äquivalent' für die Beschreibung der hier virulent werdenden Textphänomene zu liefern. Die Sichtung und die aus einer philologischen Sicht betriebenen Bewertung der spezifischen Leistungen einer semiotisch orientierten Bildwissenschaft für die Beschreibung topopoetischer Phänomene und einer semiotisch orientierten Film- und Musikwissenschaft für die Beschreibung chronopoetischer Phänomene könnten hier vielversprechend sein. BibliographieAragon, Louis (1974): "Persiennes", in: ders.: L'Œuvre poétique II. Paris: Livre Club Diderot, 102. Arbouin, Gabriel (pseud.) (1914): "Devant l'idéogramme d'Apollinaire", in: ders. (Hg.): Les Soirées de Paris, 38385. Beyer, Renate (1971): "Innovation oder traditioneller Rekurs? 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Wolfzettel, Friedrich (1969): Michel Butor und der Kollektivroman. Von Passage de Milan zu Degrés. Heidelberg: Winter. Digitale BibliographieCampos, Augusto de (1975): Cidade. Campos, Augusto de (1983): Poema bomba. Campos, Augusto de (1987): Cidade, Biennale. Campos, Augusto de (1997 / 1983): Poema bomba. Campos, Augusto de (19992003): Clip poemas do livro "Nao". Campos, Augusto de (o.J.): rã de bashô Pignatari, Decio (1958): Beba Cloaca. Pignatari, Decio (1963): Orgasmo. Anmerkungen1 Zur Tradition der kollektiven Texterzeugung als Gesellschaftsspiel vgl. Goebel-Schilling (1988). 2 Diese Traditionslinie der konkreten Poesie ist von Christian Wagenknecht (1971) aufgedeckt worden. 3 Der Text erscheint einmal in Kursiven gesetzt mit der banalen Bezeichnung chanson in Bretons Sketch Vous m'oublierez aus dem Jahre 1923 und dann erneut, jetzt recte, unter dem Titel Pièce fausse in Clair de terre im Jahre 1923. Vgl. Breton (1988a: 143144) sowie Breton (1988b: 155156). 4 Ähnlich empfiehlt auch Lichtenberg die Wiederholung bereits hundertfach getätigter Lektüre, weil aus ihnen aufgrund der Verschiedenheit des Lesers wie der Leser notwendigerweise immer wieder Neues entstehen muss: "Es ist sehr gut, die von andern hundertmal gelesenen Bücher immer noch einmal zu lesen, denn obgleich das Objekt einerlei bleibt, so ist doch das Subjekt verschieden." (Lichtenberg 1984: 340). |