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Update: Neue Zahlen der Bundesregierung

Die regierungsamtliche Zahl der Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze beträgt nun 260

News vom 13.08.2020

Auf ihren Internetseiten spricht die Bundesregierung unter der Überschrift "Berliner Mauer und innerdeutsche Grenze. Eine traurige Bilanz" inzwischen von mindestens 260 Todesopfern an der innerdeutschen Grenze und von mindestens 140 Mauertoten in Berlin. Siehe: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/eine-traurige-bilanz-393916 Trotz wiederholter Nachfrage war aus dem Verantwortungsbereich von Staatsministerin Grütters nicht in Erfahrung zu bringen, auf welcher Grundlage die Zahlenangaben beruhen und wer die "mindestens 260" Todesopfer an der innerdeutschen Grenze namentlich waren. Am 9. April 2019 hatte Frau Grütters während einer von ihr initiierten Veranstaltung in Berlin die Studie des Forschungsverbundes SED-Staat über "die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989" kritisiert und erklärt, "fragwürdig ist die Einbeziehung der an der innerdeutschen Grenze Getöteten vor 1961, weil vor der endgültigen Abriegelung der Sperranlagen auch Schmuggel oder blanker Hunger die Gründe sein konnten, die Zonen- und spätere DDR-Grenze zu überqueren". Frau Grütters gab als Ergebnis einer Überprüfung durch ihr Haus und andere Wissenschaftler bekannt, an der innerdeutschen Grenze hätten "mindestens 140 Menschen" in dem von ihr als relevant anerkannten Zeitraum zwischen 1961 und 1989 das Leben verloren. gegenüber dem rbb erklärte Frau Grütters ebenfalls am 9. April 2019: "Mindestens 140 Mauertote an der innerdeutschen Grenze werden von den meisten Wissenschaftlern anerkannt". Wer diese anerkennenden Wissenschaftler damals waren, wurde auf Nachfrage nicht mitgeteilt. Die Herausgeber der von Frau Grütters kritisierten Studie wurden dazu nicht befragt. Sie wurden auch nicht zu der Veranstaltung eingeladen, auf der Frau Grütters ihre alternativen Fakten zur Studie des Forschungsverbundes SED-Staat diskutieren ließ. Die Angabe von Frau Grütters, es habe an der innerdeutschen Grenze "mindestens 140 Mauertote" gegeben begradigte beiläufig auch die Ermittlungsergebnisse der Strafverfolgungsbehörden aus den 90er Jahren. Die Staatsanwaltschaft Berlin hielt in ihrem letzten Jahresbericht aus dem Jahr 2000 fest, daß an der DDR-Westgrenze zwischen 1949 und 1989 durch Gewaltakte von Grenzsicherungskräften und durch dort verlegte Minen 161 Menschen starben. In diese Statistik wurden Flüchtlinge nicht aufgenommen, die in Grenzgewässern ertranken oder bei Fluchtversuchen ohne Einwirkung der DDR-Grenztruppen ums Leben kamen. Die beachtenswerte Rede der Staatsministerin vom 9. April 2019 ist im Internet abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/rede-von-kulturstaatsministerin-gruetters-auf-der-diskussionsveranstataltung-zum-30-jahrestag-der-aufhebung-des-schiessbefehls-an-der-ddr-grenze-1600378
Obwohl Frau Grütters darin erklärt, es sei "weder Aufgabe noch Kompetenz der Politik" die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie des Forschungsverbundes SED-Staat "abschließend zu beurteilen", hat sie bereits einen Tag nach der skandalisierenden und einseitigen rbb-Sendung vom 6. November 2018 genau das getan und gegenüber dem Tagesspiegel geäußert, sie werde die Untersuchungsergebnisse "prüfen und erneut wissenschaftlich bewerten lassen". Die Bundeszentrale für politische Bildung zog noch am gleichen Tag die Studie aus ihrem Angebot zurück und erklärte, sie "begrüße aber die öffentliche Debatte um dieses wichtige Thema der gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte". Der Präsident der Bundeszentrale, Krüger, begründete den Schritt gegenüber dem Forschungsverbund SED-Staat folgendermaßen: "Wir halten unsere Sonderausgabe des von Ihnen herausggebenen biografischen Handbuchs zum wichtige Thema der Todesopfer an der innerdeutschen Grenze aus einem einzigen Grund und im Sinne einheitlichen Verwaltungshandelns der Bundesregierung zurzeit im  für die Auslieferung gesperrten Bestand: Die Auftraggeberin der Studie, die Staatsministerin für Kultur und Medien, hat ernsthafte Zweifel an einzelnen Forschungsergebnissen geäußert und angekündigt, die Validität der Studie überprüfen zu lassen." Frau Grütters war allerdings nicht "Auftraggeberin der Studie", obgleich sie diesen Anschein erweckte, was die Bundeszentrale dann auch bewogen hat "im Sinne einheitlichen Verwaltungshandelns der Bundesregierung" die Studie zu sperren, über deren Inhalt sie "eine öffentliche Debatte" jedoch für begrüßenswert hielt. Diesem pilatushaften Gerede setzte die auslösende Instanz des "einheitlichen Verwaltungshandelns der Bundesregierung" die Krone auf, indem sie erklärte, daß es "weder Aufgabe noch Kompetenz der Politik" sei, "die von Schroeder und Staadt gewählten Opferkategorien [...] abschließend zu beurteilen".

Anmerkungen zur Rede von Staatsministerin Grütters auf ihrer "Diskussionsveranstaltung" am 9. April 2019

Frau Grütters erklärte in ihrer Rede am 9. April 2019, sie habe "den 30. Jahrestags der Aufhebung des Schießbefehls zum Anlass genimmen, gemeinsam mit Herr Prof. Hütter zu einer Diskussion über das DDR-Grenzregime und über die von meinem Haus geförderte Studie einzuladen". Weder die Herausgeber der Studie noch die Autorinnen und Autoren aus dem Forschungsteam erhielten eine Einladung zu dieser Diskussion über ihre Forschungsergebnisse, die Frau Grütters in ihrem Vortrag kritisierte. Doch schon der darin von der Staatsministerin gebrauchte Begriff „Mauertote an der innerdeutschen Grenze“ ist unzutreffend. An der fast 1 400 km langen innerdeutschen Grenze gab es nur an ganz wenigen Stellen eine Mauer. Die wissenschaftlichen Kriterien, auf denen die Studie des Forschungsverbundes SED-Staat über "die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze" beruht, wurden 2016 und 2017 mit dem Beauftragten der Staatsministerin erörtert und von ihm gebilligt. Frau Grütters hielt das in ihrem öffentlichen Vortrag offenbar nicht für erwähnenswert. Nachstehend die 2017 mit den Beauftragten von Bund und Ländern abgestimmten Ergebnisse des Forschungsteams.

 327 Todesfälle durch das Grenzregime an der DDR-Westgrenze von 1949 bis 1989

238 Todesopfer im Grenzgebiet nach Fallgruppen

  31    Grenzgänger, erschossen von Grenzpolizisten
    6    Suizide im Zusammenhang mit Zwangsaussiedlungen aus dem Grenzgebiet
114     Flüchtlinge
  42    Todesfälle ohne Fluchthintergrund durch Schusswaffen, Minen oder Unfälle im Grenzraum und in Grenzanlagen
  24    Todesfälle von Fahnenflüchtigen, die erschossen wurden, Minen auslösten, ertranken oder nach dem Scheitern ihres Fluchtversuchs Suizid verübten
   2      Todesfälle von Zollbeamten, die von DDR-Grenzpolizisten erschossen wurden
  11     Suizide nach Festnahmen im Grenzgebiet
   3      im Grenzgebiet erschossene sowjetische Deserteure
   5      Flüchtlinge, die nach Fluchtversuchen durch Grenzgewässer vermisst blieben

25 Todesfälle in Ausübung des DDR-Grenzdienstes nach Fallgruppen

   3      erschossen von amerikanischen Patrouillen
   1      erschossen durch Bundesgrenzschutz
   3      erschossen von bewaffneten Zivilisten
   9      erschossen von Fahnenflüchtlingen
   9      irrtümlich als Flüchtlinge erschossene Grenzsoldaten

21 Todesfälle im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes nach Fallgruppen

   2      erschossen bei Fahnenflucht in Richtung Grenzgebiet
   6      erschossen von sowjetischen, ČSSR- oder NVA-Deserteuren
   2      im Vorfeld von Fluchtversuchen getötete Volkspolizisten
   1      von einem betrunkenen Grenzsoldaten erschossener Zivilist
   1      Suizid im Krankenhaus nach Minenverletzung
   2      im Grenzgebiet festgenommene und in Moskau hingerichtete Zivilisten
   8      hingerichtete ehemalige DDR-Grenz und Volkspolizisten
   1      in Moskau hingerichteter westdeutscher Zollbeamter.

43 Selbsttötungen von Grenzpolizisten und Grenzsoldaten mit dienstlichem Hintergrund

Staatsministerin Grütters verkündete am 9. April 2019 im Berliner Tränenpalast, es gehe ihr darum, dass die "Debatte" über die Studie des Forschungsverbundes SED-Staat  „öffentlich, transparent und für alle Interessierten nachvollziehbar geführt wird". Die von ihr und Herr Hütter einberufene Diskussionsverantsaltung sei "erinnerungspolitisch - im Sinne einer seriösen, wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung der DDR-Diktatur - enorm wichtig". Es gehe ihr als Staatsministerin "auch um das Vertrauen in die Wissenschaft. Wenn der falsche Eindruck entstünde, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auf einer wackeligen Basis stehen oder gar auf bestimmten Interessen beruhen, wäre dies Wasser auf den Mühlen populistischer Demokratieverächter, die Misstrauen gegen Politik, Medien und Wissenschaft - die so genannten „Eliten“ - schüren und Fakten als 'fake news' diskreditieren, um ihre Propaganda verbreiten zu können."

Der Maßgabe einer „seriösen, wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung der DDR-Diktatur“ widersprechen gleich mehrere von der Ministerin in ihrem Vortrag getroffene Aussagen zum DDR-Grenzregime, die tatsächlich „auf einer wackeligen Basis“ stehen oder schlichtweg falsch sind. So erklärt Frau Grütters „drei Jahrzehnte nach der Friedlichen Revolution sind die Spuren des DDR-Grenzregimes nahezu verschwunden: die Mauer, die Zäune, die Wachtürme, die Schußapparate und Minen, das schwere Kriegsgerät und die Maschinengewehre, mit denen etwa 50 000 Mann einen Staat zum Gefängnis für seine Bürgerinnen und Bürger machten und den totalitären Machtanspruch der SED-Diktatur durchzusetzen halfen“. Den DDR-Grenztruppen gehörten zu keiner Zeit 50 000 Mann an. Ihre Truppenstärke lag zwischen 30 000 und 40 000 Mann. Würde man die im Grenzvorfeld eingesetzten Volks- und Transportpolizisten, die Zollkontrolleure, die freiwilligen Grenzhelfer und die im Grenzraum angeworbenen inoffiziellen MfS-Mitarbeiter sowie die dort tätigen hauptamtlichen MfS-Leute hinzuzählen, käme man auf eine weitaus höhere Zahl als die von der Ministerin verkündete. Grundlegen erforscht hat das Peter Joachim Lapp in seiner Untersuchung über das DDR-Grenzregime. Die Selbstschußapparate und Minen waren bis Jahresende 1985 bereits abgebaut, welches „schwere Kriegsgerät“ an der DDR-Westgrenze zum Einsatz kam, mag Frau Grütters bei Gelegenheit erläutern. Die 700 Schützenpanzerwagen (SPW) standen, wie Peter Joachim Lapp schreibt, für einen etwaigen Angriff der NATO in Bereitstsellung, "in der praktischen Grenzsichertung spielten sie keine Rolle".

„Auf einer wackeligen Basis“ stehen ebenfalls die Angaben der Ministerin über die Zahl der Todesopfer des DDR-Grenzregimes. Während die von ihrem Haus geförderte Gedenkstätte in der Bernauer Straße die Biografien von 140 Todesopfern an der Berliner Mauer erforscht hat, spricht Frau Grütters in ihrem Vortrag von „138 Toten an der Berliner Mauer“. Sie erklärte nicht, welche beiden Todesfälle sie aus der Berliner Opferstatistik herausgerechnet hat.

Auf einer „wackeligen Basis“ steht auch die von Frau Grütters verkündete Auffassung, „fragwürdig ist die Einbeziehung der an der innerdeutschen Grenze Getöteten vor 1961, weil vor der endgültigen Abriegelung der Sperranlagen auch Schmuggel oder blanker Hunger die Gründe sein konnten, die Zonen und spätere DDR-Grenze zu überqueren“. Nun war die innerdeutsche Landgrenze schon seit Anfang er 50er Jahre, lange vor der „endgültigen Abriegelung“ der innerstädtischen Grenze in Berlin nur unter Lebensgefahr passierbar. Deswegen nutzten Hunderttausende den Fluchtweg über die noch offene innerstädtische Berliner Zonengrenze. Das Handbuch über die Todesfälle an der innerdeutschen Grenze enthält die Biografien von Todesopfern seit der DDR-Gründung. Es ist kein Fall darunter, in dem „blanker Hunger“ der Grund für eine Grenzüberquerung war. Ein Blick in das Handbuch hätte Frau Grütters vor solch offenkundigen Fehldeutungen bewahrt. Doch selbst wenn es so wäre, daß blanker Hunger zu einer Grenzüberquerung geführt hätte, rechtfertigte das in keiner Weise die Schußwaffenanwendung gegen diese Menschen. Das gleiche gilt für den Hinweis von Frau Grütters auf Todesfälle wegen Schmuggelei. Das biografische Handbuch enthält 31 Biografien von Frauen und Männern, die als „Grenzgänger“ erschossen wurden. Nur drei davon lassen sich dem gewerblichen Schmuggel zuordnen. Da die Ministerin die Einbeziehung der durch DDR-Grenzpolizisten erschossenen Schmuggler, in die Fallgruppe der Todesopfer des Grenzregimes für „fragwürdig“ hält, lohnt es sich an vergleichbare Vorgänge in der Bundesrepublik zu erinnern. Anfang der 50er Jahre erschossen Zollbeamte an der holländischen Grenze etliche in Banden organisierte Kaffeeschmuggler. Die CDU-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen forderte daraufhin die Landesregierung auf, bei der britischen Militärregierung eine Änderung der Bestimmungen über den Waffengebrauch beim Zoll zu beantragen. Die CDU-Fraktion hielt das Schießen auf Schmuggler damals für fragwürdig. Heute pflegen Mitglieder des CDU-Ortsverbandes Schmidt in ihrer Freizeit das „Schmuggler-Denkmal“ am Ortseingang.

Die folgenden fünf Fallbeispiele aus dem biografischen Handbuch des Forschungsverbundes SED-Staat mögen verdeutlichen, welche Todesfälle Frau Grütters u.a. für „fragwürdig“ hält:

  • Am 15. Oktober 1949, nur ein paar Tage nach der DDR-Gründung verabredeten sich acht thüringische Grenzgänger für eine Tauschtour nach Bayern. Jeder von ihnen trug einen Rucksack, gefüllt mit dem beliebten Thüringer Christbaumschmuck bei sich. Einer von ihnen, Karl Gustav Sommer, von Beruf Griffelmachers, sollte die Tour nicht überleben. Karl Sommer gehörte der evangelischen Glaubensgemeinschaft an und heiratete im März 1929 seine Frau Frieda. Zuletzt wohnte die Familie mit zwei Kindern im Alter von zwölf und sechzehn Jahren in Haselbach, einer thüringischen Gemeinde im Altenburger Land. Für den 43-Jährigen gehörte es vermutlich zum Alltag, aus der sowjetischen Besatzungszone in die Westzone nach Bayern zu reisen, um dort Glaserzeugnisse gegen stets knappe Lebensmittel zu tauschen. Durch die ihm schon aus Kindertagen vertrauten heimatlichen Gefilde in der Nähe von Steinach überquerte Karl Sommer mit seinen Gefährten die innerdeutsche Demarkationslinie von Ost nach West in Richtung des bayerischen Dorfes Meilschnitz. Zu dieser Zeit standen noch keine Warnschilder an der Grenze, auch Grenzzäune oder Schlagbäume gab es noch nicht. Für den gemeinsamen Rückweg verabredeten sich die Gruppe für den Sonntagmittag. Am 16. Oktober 1949 gegen 17.30 Uhr entdeckten zwei DDR-Grenzpolizisten des Kommandos Effelder die Grenzgänger, die sich auf dem Heimweg in die DDR befanden aber bayerisches Gebiet noch nicht verlassen hatten. Die Gruppe suchte Schutz im Unterholz des Waldes. Die Grenzpolizisten gaben nach Halt-Rufen insgesamt vier Warnschüsse ab. Dann schoss einer von ihnen gezielt in das Unterholz, aus dem er Geräusche vernommen hatte. Karl Sommer erlitt einen Oberschenkeldurchschuss. Nachdem zwei bayrische Grenzpolizisten und eine Streife der US Constabluary vor Ort eintraf, zogen sich die DDR-Grenzer vom bayrisches Gebiet zurück. Karl Sommer starb auf dem Weg ins Neustadter Krankenhaus. Siehe: https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/articlemd/1-karl-sommer/
  • Die beiden Radsportler Gerhard Oelze und Gerhard Zöffzig befanden sich am 27. Oktober 1950 auf dem Rückweg über die Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Schon oft waren sie im Westen, um sich an Radrennen zu beteiligen. Diesmal wollten sie allerdings Ersatzteile für ihre Räder und ein paar Lebensmittel besorgen. Nach erfolgreichen Einkäufen hatten sie ihre Rucksäcke vollgepackt und ihre Fahrräder mit Kisten beladen. Da sie versuchten sich der Kontrolle durch DDR-Grenzpolizisten durch rasches Weiterfahren zu entziehen, schoss der 19-jährige DDR-Grenzpolizist Josef K. ihnen hinterher und traf Gerhard Oelze tödlich in den Rücken. Das Landgericht Magdeburg sprach ihn 1995 vom Vorwurf des Totschlags frei, hielt jedoch eine „fahrlässige Tötung im Rahmen der Grenzsicherung“ für gegeben. Nach Auffassung von Staatsministerin Grütters ist Gerhard Oelze als Opfer des DDR-Grenzregimes „fragwürdig“. Siehe: https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/articlemd/25-gerhard-oelze/
  • Am Abend des 24. Februar 1951 bat Mylius Sperschneider seinen Bruder Erich, ihm von „drüben“ Apfelsinen für seine kranke einjährige Tochter mitzubringen. Erich brach gegen 18.30 Uhr zu seinen Großeltern auf und wurde bereits zwei Stunden später zurückerwartet. Doch gegen Mitternacht erhielt seine Familie die telefonische Nachricht, Erich liege angeschossen im Sonneberger Krankenhaus. Die DDR-Grenzpolizisten hatten ohne Vorwarnung auf ihn geschossen. Erich Sperrschneider erlag am 25. Februar 1951 im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach Auffassung von Staatsministerin Grütter ist es „fragwürdig“, ob er ein Opfer des DDR-Grenzregimes ist. Siehe: https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/articlemd/29-erich-sperschneider/
  • Die 21-jährige Irmgard Stark, geb. Schilling, schloss sich in der Nacht vom 16. auf den 17. März 1950 einer Gruppe von Grenzgängern an, um in den Westen zu flüchten. In der Nähe von Dorndorf (Krayenberggemeinde) entdeckte eine Streife der DDR-Grenzpolizei Oberzella gegen 22.30 Uhr die Gruppe. Die Grenzer eröffneten, ohne einen Warnschuß abzugeben, das Feuer. Irmgard Stark erlitt einen tödlichen Lungendurchschuss. Sie erlag noch an Ort und Stelle den Folgen dieser Verletzung. Irmgard Stark war Mutter eins zweijährigen Jungen. Nach Auffassung von Staatsministerin Grütters ist es „fragwürdig“, ob Irmgard Stark Stark ein Opfer des DDR-Grenzregimes ist. Siehe: https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/articlemd/9-irmgard-stark/ 
  • Harry Krause war das jüngste von vier Kindern der Familie Krause, die vor den Kampfhandlungen im Zweiten Weltkrieg nach Groß Thurow geflohen war. Die Familie wohnte unweit des Goldensees auf einem Bauernhof. Im Winter war es üblich, auf dem See Schlittschuh zu laufen, obwohl das gegenüberliegende Ufer bereits zur Bundesrepublik gehörte. Auch von dort, vom Gut Goldensee, kamen die Kinder aufs Eis – man spielte miteinander, versorgte sich mit Süßigkeiten. All dies tolerierte die Grenzpolizei. Am letzten Januartag des Jahres 1951 überquerten der ältere Bruder von Harry Krause und dessen Freund Helmut den zugefrorenen Goldensee. Sie wollten auf der bundesdeutschen Seite an Bekannte Lebensmittel verkaufen. Der zehnjährige Harry, der als lustiger, sympathischer Junge beschrieben wird, folgte ihnen unbemerkt auf seinen Schlittschuhen. Als er sich dem westlichen Ufer näherte, fiel plötzlich ein Schuss. Der Junge brach getroffen zusammen. Wachtmeister Otto R. hatte den kleinen Harry Krause tödlich getroffen. Nach Auffassung von Staatsministerin Grütters ist es „fragwürdig“, ob Harry Krause ein Opfer des DDR-Grenzregimes ist. Siehe: https://todesopfer.eiserner-vorhang.de/articlemd/28-harry-krause/

Insgesamt 92 Männer, Frauen und Kinder kamen vor dem Bau der Berliner Mauer an der innerdeutschen Grenze ums Leben, erschossen durch DDR-Grenzpolizisten, ertrunken bei Fluchtversuchen, durch Zwangsaussiedlungen in den Suizid getrieben. Nach Auffassung von Staatsministerin Grütters ist es „fragwürdig“, ob sie Opfer des DDR-Grenzregimes sind. Darüber hinaus wurden im Dienst an der Grenze im gleichen Zeitraum 14 DDR- Grenzpolizisten erschossen. Während die Gedenkstätte Bernauer Straße, die aus dem Etat von Staatsministerin Grütters finanziert wird, acht im Dienst getötete Grenzsoldaten zu den 140 Todesopfer an der Berliner Mauer zählt, soll das nach Ministerinnenmeinung für die innerdeutsche Grenze nicht gelten. Das mag die Staatsministerin "erinnerungspolitisch" so sehen, "im Sinne einer seriösen, wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung" sind solche Zahlenspiele wenig förderlich.

Zu den Meinungsäußerungen von Frau Nooke

Die Studie des Forschungsverbundes SED-Staat sei "in der Fachwelt und in der öffentlichen Diskussion massiv in die Kritik geraten" behauptete Frau Grütters im Tränenpalast. Aus der Fachwelt sprang ihr die Brandenburger Beauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und frühere stellvertretende Leiterin der Gedenkstätt Bernauer Straße zur Seite. Ansonsten reagierte die Fachwelt eher mit Unverständnis auf die von rbb und Tagesspiegel verbreiteten Aufgeregtheiten, die zum Teil auf Falschbehauptungen und der Auslassung wichtiger Fakten beruhten. Maria Nooke machte geltend, daß nur solche Opfer von statistischer Relevanz seien, "die durch Schusswaffeneinsatz, Minen, Selbstschussanlagen, Handeln oder Unterlassen der Grenztruppen im unmittelbaren örtlichen und kausalen Zusammenhang mit dem Grenzregime zu Tode kamen". Diese Kategorisierung trifft auf die von der Gedenkstätte Bernauerstraße in ihre Statistik aufgenommen Flugzeugentführer Christel und Eckhard Wehage nicht zu und auch nicht auf die in dem Berliner Handbuch enthaltene Selbsttötung von Wolfgang Hoffmann, der nach seiner Festnahme an der Grenze aus dem Fenster eines Polizeireviers in den Tod sprang. Er war aus West-Berlin gekommen und hatte keine Fluchtabsicht. Das Flugzeug wurde von dem Ehepaar Wehage auf dem Weg von Berlin nach Leipzig mit Waffengewalt entführt, um eine Landung in der Bundesrepublik zu erzwingen. Eckhard Wehage versuchte durch Schüsse auf das Türschloß, in das Cockpit einzudringen. Als das mißlang und der Pilot zur Landung in Schönefeld umkehrte, töteten sich die beiden Entführer im Flugzeug. Die biografische Würdigung der beiden Flugzeugentführer ist vollkommen angebracht. Im Fall der verzweifelten Suizide von Christel und Eckhard Wehage auf dem Gelände des Flughafens Schönefeld liegt aber „kein Handeln oder Unterlassen der Grenztruppen im unmittelbaren örtlichen und kausalen Zusammenhang mit den Grenzregime“ vor. Genau am Beispiel dieses tragischen Falles hat das Team des Forschungsverbundes SED-Staat diskutiert und entschieden, die 203 recherchierten Suizide in den Grenztruppen auf einen kausalen Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime zu prüfen. Im Ergebnis wurden 43 Suizide im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes festgetellt.

Als Frau Nooke noch als stellvertretende Direktorin der Stiftung Berliner Mauer amtierte, erschien 2016 das von dieser Stiftung herausgegebene Buch über die „Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Berlin von der Teilung bis zum Mauerbau (1948–1961). Darin wird als „Todesopfer des DDR-Grenzregimes“ der sowjetische Deserteur Iwanowitsch Scholomitzki aufgeführt, der sich 1958 nach einem mißglückten Fluchtversuch in Waßmansdorf selbst erschossen hat. Waßmansdorf liegt vier Kilometer vor der West-Berliner Grenze.  Auch dieser Fall wurde völlig zu recht den Todesopfern des DDR-Grenzregimes zugeordnet. Warum aber sollen dann Todesfälle von Deserteuren aus den DDR-Grenztruppen und den sowjetischen Streitkräften an der innerdeutschen Grenze nicht zu den Opfern des DDR-Grenzregimes gerechnet werden?


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