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Gefreiter Klaus-Peter Seidel

Der 21-jährige Postenführer und MG-Schütze Klaus-Peter Seidel wurde gemeinsam mit dem Soldaten Jürgen Lange zu einem Sondereinsatz im Abschnitt der Grenzkompanie Eishausen befohlen. In der winterlichen Nacht sollten sie den Grenzdurchbruch des bewaffneten Deserteurs Werner Weinhold verhindern.

Foto Seidel
Bildquelle: NVA

geboren am 22. Oktober 1954 in Weimar

erschossen am 19. Dezember 1975

Ort des Zwischenfalls: Sicherungspunkt Waldecke Staudig, zwei Kilometer südlich der Ortschaft Harras (Thüringen)

Klaus-Peter Seidel wurde am 22. Oktober 1954 in Weimar geboren und war später mit seinen Eltern nach Berlin-Oberschöneweide gezogen. Bevor er am 2. November 1974 zu den Grenztruppen einberufen wurde, hatte er eine Ausbildung zum Baufacharbeiter mit Abitur abgeschlossen. In einem halben Jahr würde er seinen Wehrdienst abgeleistet haben und ein Bauwesen-Studium beginnen. „Besonders geschätzt wurden seine Aufgeschlossenheit, Hilfsbereitschaft und Konsequenz“, hieß es in einem Nachruf auf ihn im Neuen Deutschland.

Klaus-Peter Seidel in der Bildmitte.                                                        Bildquelle: Phoenix

Der Postendienst, den der Gefreite Klaus-Peter Seidel mit seinem Stubenkameraden Jürgen Lange und weiteren Angehörigen der Grenzkompanie Eishausen am 18. Dezember 1975 um 17.00 Uhr antraten, war kein Routineeinsatz. Seit dem 15. Dezember fahndete ein Großaufgebot aus Grenztruppen, Polizei und MfS nach dem bewaffneten Fahnenflüchtling Werner Weinhold, der sich nach vorliegenden Alarmmeldungen der DDR-Grenze zur Bundesrepublik näherte. Der Fahnenflüchtling war drei Tage zuvor unter Mitnahme von Waffe und Munition aus der Kaserne des Panzerregiments 14 in Spremberg geflüchtet. Er stahl einen Trabant und entzog sich einer Kontrolle in der Nähe der Autobahnabfahrt Wüstenbrand, indem er eine Polizeistreife mit seiner Maschinenpistole bedrohte. Kurz bevor Seidel und Lange am 18. Dezember 1975 zum Grenzeinsatz ausrückten, fand ein Suchtrupp in Schackendorf, nur fünf Kilometer von ihrem Einsatzort entfernt, das gestohlene Fluchtauto Weinholds. Bei der Vergatterung wurde den Soldaten befohlen, den Rechtsbrecher festzunehmen. Sofern er auf Anruf nicht reagiere, sei sofort das Feuer auf ihn zu eröffnen. Doch nicht nur die Gefahr, die von dem gesuchten Deserteur ausging, beschäftigte die Soldaten, sondern auch der strapaziöse Nachtdienst, in dem sie bei Minustemperaturen von bis zu 20 Grad in einer sternklaren Nacht zwölf Stunden an einem Platz ausharren mussten. Sie waren erschöpft von dem nun schon drei Tage andauernden Sondereinsatz. Gegen 18.00 Uhr bezogen Seidel und Lange ihre Stellung: Sie befand sich in einer Erdkuhle bei einem Baumstumpf im freien Gelände zwischen Hochwald und Grenzsicherungsanlage, etwa zwei Kilometer südlich der Ortschaft Harras.

Jürgen Lange und Klaus-Peter Seidel erhielten am 19. Dezember 1975 früh gegen 1.00 Uhr Nachtverpflegung. Noch um 2.00 Uhr sah der Zugführer des Abschnitts beide Soldaten mit den Rücken am Baumstumpf sitzen. Anschließend muss sich Jürgen Lange auf seinen Regenumhang gelegt haben. Um 2.15 Uhr hörten mehrere Grenzer einen langen Feuerstoß. Als der Zugführer daraufhin den Doppelposten überprüfen wollte, fand er Klaus-Peter Seidel auf dem Rücken und Jürgen Lange auf der Seite liegend vor. Beide hatten erhebliche Schusswunden und waren ohne Bewusstsein. Während die Grenztruppen danach mit Hundemeuten das Waldgebiet durchkämmten, in dem Weinhold noch immer vermutet wurde, war dieser bereits per Anhalter und Bahn nach Nordrhein-Westfalen unterwegs, um dort bei Verwandten unterzukommen.

Die Tatortuntersuchungen ergaben, dass Weinhold sich bis auf fünf Meter an die Posten herangeschlichen hatte, als er das Feuer eröffnete. Er traf Klaus-Peter Seidel sitzend oder im Aufstehen begriffen mit sieben Kugeln in Brustkorb und Beine. Jürgen Lange trafen vier Geschosse in Rücken und Arme. Beide verbluteten noch am Tatort.

Informiert von Berichten aus der DDR nahm die Polizei Werner Weinhold am 21. Dezember in Recklinghausen fest. Bei seinen Vernehmungen gab er zu, auf der Flucht ein Fahrzeug entwendet und auf zwei Soldaten geschossen zu haben. Die wiederholten Auslieferungsgesuche der Generalstaatsanwaltschaft der DDR wurden von bundesdeutscher Seite abgelehnt, weil ihm in der DDR die Todesstrafe drohte. Am 2. Dezember 1976 sprach ihn das Schwurgericht Essen von der Anklage des zweifachen Totschlags frei und legte eine Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft fest. Aus Beweisnotstand schenkte das Gericht der Aussage des Angeklagten Glauben, in Notwehr auf die Schüsse eines der Grenzsoldaten reagiert zu haben. Die DDR reagierte auf diesen als „Schandurteil“ bezeichneten Freispruch in ihren Medien und Verlautbarungen mit heftiger Empörung. Hier waren Jürgen Lange und Klaus-Peter Seidel posthum zu Unteroffizieren befördert und mit dem Kampforden „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ ausgezeichnet worden. Sie wurden in Eishausen mit einer Gedenktafel und einem Gedenkzimmer geehrt. Zum Todestag von Lange und Seidel besuchten später Grenzsoldaten, Betriebsgruppen und Schülerdelegationen alljährlich deren Grabstätten in Werdau und auf dem Waldfriedhof in Oberschöneweide.

Auch der Bundesgerichtshof rügte am 9. September 1977 den Freispruch Werner Weinholds und wies das Landgericht Hagen zur nochmaligen Verhandlung der Sache an. Dieses nutzte zur Beurteilung des Falls ein vom Bezirksgericht Dresden überstelltes Protokoll zur Beweiserhebung. Das Landgericht Hagen verurteilte Werner Weinhold am 1. Dezember 1978 wegen Totschlags in zwei Fällen und wegen bewaffneten Kraftfahrzeugdiebstahls zu fünfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass keine Notwehr vorlag, jedoch eine Strafmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit zu berücksichtigen wäre. Am 7. Juli 1982 wurde Werner Weinhold vorzeitig nach dreieinhalb Jahren Haft entlassen. MfS-Unterlagen belegen intensive Vorbereitungshandlungen zu seiner Entführung oder Ermordung durch Agenten des Staatssicherheitsdienstes, die jedoch nicht realisiert wurden. (Recherche: jos, MS, ST, TP, jk; Autor: jk)

Anzeige aus der Berliner Zeitung vom 10. Januar 1976