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Hans-Joachim Kunath

Bei einem Überholversuch stieß das Westberliner Tanklastschiff „Lichterfelde DT 47“ mit einem NVA-Schnellboot auf der Elbe zusammen. Das Militärboot wurde bei der Kollision unter Wasser gedrückt und versank. In der Kajüte eingeschlossen fanden zwei wehrdienstleistende Matrosen den Tod.

Geborgen GT 110
Bildquelle: BStU

geboren am 20. April 1953

ertrunken am 10. Dezember 1973

Ort des Zwischenfalls: Elbe bei Dömitz (Mecklenburg-Vorpommern)

Der 53 Jahre alte Schiffsführer Otto Z. war am Morgen des 10. Dezembers 1973 mit seinem Tanklastschiff „Lichterfelde Detmar-Tank 47“ von Schnackenburg aus in Richtung Hamburg unterwegs. Gegen 10.30 Uhr passierte er Dömitz. Unterhalb der Hafeneinfahrt bemerkte er ein NVA-Schnellboot mitten im Fahrwasser, das ebenfalls in seine Richtung fuhr. Da es ein geringeres Tempo hatte, versuchte Otto Z., nachdem er die Dömitzer Eisenbahnbrücke passiert hatte, zu überholen. Das Boot der Grenztruppen blieb zwar in der Mitte des Fahrwassers, doch der Abstand zwischen Boot und Buhnenköpfen müsste zum Überholen ausreichen, befand der Schiffsführer und wich nach Steuerbord aus. Seltsam fand er nur, dass niemand auf dem Boot zu sehen war. Da die „Lichterfelde“ ohne Fracht fuhr und hoch aus dem Wasser ragte, konnte der Schiffsführer nicht sehen, wie das Schnellboot dicht neben seinem Tanker ebenfalls zum östlichen Ufer abdrehte. Es geriet quer vor das Tanklastschiff und wurde von diesem unter Wasser gedrückt. Das knapp zehn Meter lange Boot der Grenztruppen sank sofort auf den Grund der Elbe. Otto Z. sah noch, wie sich ein Soldat ans Ufer retten konnte. Er ging vor Anker und rief dem Mann zu, er könne ihn mit dem Beiboot zum Aufwärmen an Bord holen lassen. Doch dieser lehnte ab und entfernte sich.

Von der dreiköpfigen Besatzung des NVA-Schnellbootes 110 hatte nur Bootsführer Detlef D. überlebt. Der 19-jährige Funker und MPi-Schütze Otfried Balschuweit und der 20 Jahre alte Motorenmeister Hans-Joachim Kunath konnten die Kabine des Bootes nicht mehr verlassen und ertranken. Wie war es zu dem Unfall gekommen? Bei der Vernehmung erklärte Detlef D., dass er mit der Besatzung in einen Streit über „Probleme der Klubarbeit“ geraten war. Während dieser heftig geführten Diskussion habe der Funker das nahende Tanklastschiff nicht bemerkt. Sie seien sich der Gefahr erst bewusst geworden, als der Tanker bereits mit dem Bug ihr Boot überragt hatte.

Eine Expertengruppe der Grenztruppen untersuchte hernach die Unfallursache. Die Bootsbesatzung war zuvor durchaus positiv aufgefallen und mehrmals belobigt worden. Otfried Balschuweits Grundwehrdienst hatte am 4. Mai 1973 begonnen. Bei der NVA wurde er zum Funker und MPi-Schützen ausgebildet. Er sei, so heißt es in einer Beurteilung der Dienststelle Dömitz, trotz positiver Einstellung zur DDR gegenüber Vorgesetzten des Öfteren aufmüpfig aufgetreten. Sein Kamerad Hans-Joachim Kunath diente bereits seit Oktober 1972 bei der NVA und hatte den Rang eines Maats. Seine Vorgesetzten lobten seine „positive Einstellung zu der Politik unserer Partei und Regierung“. Sein Hobby war das Bergsteigen. Doch vor allem lag dem ausgebildeten Anlagenmonteur die Musik am Herzen. Er gehörte der „Klampfengruppe“ des Bergsteigerverbandes an und engagierte sich auf dem Gebiet des politischen Liedes als Mitglied des Dresdner Singeclubs „Pasaremos“ und bei den Grenztruppen in der Singegruppe seiner Ausbildungskompanie. Anstoß nahm man allerdings daran, dass seine Leidenschaft für die Musik auch das westdeutsche Radioprogramm einschloss, das die Grenzer eigentlich nicht empfangen durften. Nach der Militärzeit wollte Kunath ein Ingenieurstudium aufnehmen.

Wenige Minuten nach dem Zusammenstoß bot ein Oberstleutnant des Bundesgrenzschutzes den hinzugekommenen Offizieren der DDR-Grenztruppen an, eine dreiköpfige Tauchergruppe, die mit einem Hubschrauber am Unglücksort eingetroffen war, zur Bergung der Vermissten einzusetzen. Generalmajor Bär vom Grenzkommando Nord erklärte sein Einverständnis. Die Taucher des Bundesgrenzschutzes bargen wenig später die Leichen von Otfried Balschuweit und Hans-Joachim Kunath. Doch um das gesunkene Schiff heben und die blockierte Wasserstraße wieder für den Verkehr freigeben zu können, war ein Großaufgebot des Bundesgrenzschutzes, des Zolls der Bundesrepublik und der Wasserschutzpolizei nötig. Nach sechs Stunden wurde das NVA-Schnellboot schließlich durch den West-Berliner Tanker „Steglitz“ gehoben, an dessen Heck vertäut und zum DDR-Ufer transportiert.

Bergung des NVA-Schnellbootes 110 durch den West-Berliner Tanker „Steglitz

Im Ministerium für Nationale Verteidigung war man über das Unglück und die Sicherheitsmängel, die es offenbarte, zutiefst aufgebracht. Der stellvertretende DDR-Verteidigungsminister und Chef des Hauptstabes thematisierte auf einer Kommandeurstagung am 5. Januar 1974 den Vorfall. Sein Redeentwurf ist überliefert. Darin heißt es: „Wie wollen unsere Bootsbesatzungen den Gegner aufklären, den Grenzverletzer erkennen und Grenzdurchbrüche verhindern, wenn sie nicht einmal die unmittelbare Annäherung eines so großen TMS [Tankmotorschiffs] bemerken.“ Mindestens ebenso stark wurde die Bergung des Schnellbootes durch bundesdeutsche Kräfte als Niederlage empfunden. Den militärischen Bestimmungen entsprechend hätte Generalmajor Bär das Hilfsangebot ablehnen müssen. Stattdessen sei „dem Gegner die Möglichkeit gegeben“ worden, „aus dieser Handlung politisches Kapital zu schlagen“.

Im Grenzregiment 8 lägen offenkundig bei der „Erziehung zur gewissenhaften Dienstdurchführung und zur militärischen Wachsamkeit in der Bootsabteilung“ große Versäumnisse vor. Es sei bereits früher schon eine „mangelhafte Wirksamkeit in der Grenzsicherung dieses Truppenteils“ festgestellt worden. Es müsse wohl nicht extra betont werden, „welch großer politischer und anderer Schaden unserer Republik mit diesem Vorkommnis entstanden ist“. In der Ausbildung der Bootsbesatzungen müsse künftig das „Havarietraining“ verbessert werden, sie müssten auch darauf vorbereitet werden, „um bei Kentern und Sinken sich aus dem Boot retten zu können“. Bei hinreichender Ausbildung „wäre es möglich gewesen, die Kollision und den Tod der beiden Angehörigen der Grenztruppen zu verhindern“. Ein Mangel liege auch in der „Schwerfälligkeit unseres Meldewesens und des Reagierens auf derartige Lagesituationen“. Das Grenzregiment verfüge weder über Taucherausrüstungen noch über ausgebildete Taucher und auch über kein Schiff, das ein gesunkenes Boot heben könne. Der Befehl zum Einsatz einer Tauchergruppe sei erst nach zwei Stunden bei der Einheit des Pionierregiments Havelberg eingegangen. Die Taucher seien erst fünf Stunden nach dem Unglück vor Ort gewesen. Sogar die Taucher der Volkspolizei aus Wismar seien 40 Minuten früher vor Ort gewesen als die Taucher der Grenztruppen. Der Bundesgrenzschutz-Hubschrauber Alouette II hingegen habe bereits um 13.15 Uhr mit Tauchern aus Lüneburg den Unglücksort erreicht. Das alles widerspreche dem Prinzip, „daß wir in allen unseren Handlungen schneller sein müssen als der Gegner“.

Doch von dem hier beklagten „Ansehensverlust für die DDR“ kann, zumindest was die westdeutschen Presseveröffentlichungen betrifft, nicht die Rede sein. Vielmehr wurde die Zusammenarbeit gelobt. „Es ist außergewöhnlich, daß die DDR so schnell reagierte und uns die Rettungsarbeiten überließ“, zitierte dpa den Chef der Hamburger Wasserschutzpolizei. Die Welt schrieb gar von einem „gesamtdeutschen Rettungseinsatz“. Unmut erregte auf westlicher Seite vielmehr, dass nach dem Unglück wieder der gewohnt feindselige Ton einsetzte. Zwar hatte die Lauenburger Wasserschutzpolizei das Vernehmungsprotokoll des Tankschiff-Führers an den Generalstaatsanwalt der DDR geschickt, doch die Erwartung, dass für die bundesdeutschen Ermittlungen auch die Vernehmungsunterlagen des überlebenden Bootsführers Detlef D. eingesehen werden könnten, erfüllte sich nicht. Der Verkehrsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik umfasse die Binnenschifffahrt, gelte aber nicht für Dienstfahrzeuge, lautete die Begründung der ablehnenden DDR-Entscheidung. Prompt reagierte die Hannoversche Allgemeine mit der Schlagzeile: „DDR wünschte keine Aufklärung“. Die Staatsanwaltschaft in Lüneburg stellte bald darauf das Ermittlungsverfahren gegen den Schiffsführer Otto Z. wegen fahrlässiger Tötung ein. (Recherche: jos, jk; Autor: jk)