Springe direkt zu Inhalt

Georgi Matjuscha

Am „Kampftag der Arbeiterklasse“ 1982 gegen 21.30 Uhr sah eine Funkstreifenbesatzung bei Sangerhausen einen LKW „W-50" vorüberfahren, nach dem gefahndet wurde. Die Volkspolizisten nahmen die Verfolgung des Lasters auf. Dessen Fahrer, ein 19-jähriger sowjetischer Deserteur, überlebte die Verfolgungsjagd nicht.

geboren am 2. Mai 1962 in der Region Krasnodar (Russland)

erschossen am 1. Mai 1982 bei Sangerhausen (Sachsen-Anhalt)

Ort des Zwischenfalls: Landstraße vor Bennungen (Sachsen-Anhalt)

Einen Tag nach den Feierlichkeiten zum 1. Mai 1982 traf im Büro Honecker eine Eilmeldung über den Todesfall eines sowjetischen Soldaten in der DDR ein. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR informierte den SED-Generalsekretär über die Erschießung eines Fahnenflüchtigen aus der sowjetischen Garnison in Jena durch einen Volkspolizisten. Es handelte sich bei dem Todesopfer um Georgi Iwanowitsch Matjuscha, der seit dem 26. April 1982 zur Fahndung ausgeschrieben war.

Einem Rapport des DDR-Innenministeriums, verfasst vom Oberst der Volkspolizei Schröter, ist die folgende Darstellung des Vorfalls zu entnehmen. Am 1. Mai 1982 gegen 21.30 Uhr „nahm der Genosse Hauptwachtmeister der VP Ackermann bei der Prüfung einer Ordnungswidrigkeit in der Ortslage Sangerhausen einen LKW W 50 wahr”. Da ein solcher Laster am Vortag in Döschwitz entwendet worden war, habe der Funkstreifenwagen die Verfolgung aufgenommen, „zur exakten Überprüfung, inwieweit es sich bei diesem LKW um ein fahndungsmäßig gesuchtes Kfz handelt”. Zwischen Hohlstedt und Bennungen „wurde durch die Genossen Obermeister der VP Fleisch und Hauptwachtmeister der VP Ackermann der zur Eilfahndung Stufe II ausgeschriebene LKW W 50, polizeiliches Kennzeichen KV 87-52, vorgefunden. Der LKW stand mit laufendem Motor am rechten Fahrbahnrand. Zur Sicherung der folgenden Prüfungshandlungen wurde der FStW [Funkstreifenwagen] in ca. 4 Meter Entfernung schräg von dem LKW abgestellt, um eine Weiterfahrt des LKW zu verhindern. Beide Genossen verließen den FStW [Funkstreifenwagen], um den Fahrer des LKW zu kontrollieren. Der Genosse Hauptwachtmeister der VP Ackermann versuchte die Fahrertür zu öffnen. Da sich diese nicht öffnen ließ, schlug er zweimal gegen die Scheibe der Fahrertür. Er verfolgte damit das Ziel, den Fahrer zu veranlassen, die Tür zu öffnen. Der Fahrer des LKW, welcher zunächst zum Beifahrersitz blickte, war mit einer schwarzen Trainingshose und einer grauen Strickjacke bekleidet. Er drehte sich sodann in Fahrtrichtung um und fuhr normal an. Genosse Ackermann befand sich zu diesem Zeitpunkt ca. 50 Zentimeter von der Fahrertür entfernt. Da der LKW links anzog, wich Genosse Ackermann einige Schritte rückwärts in Fahrtrichtung des LKW aus. Dabei nahm er wahr, daß der FStW an der rechten hinteren Fahrzeugseite erfaßt wurde. Zur Verhinderung der Flucht wandte er ohne Ankündigung und Warnschuß die Dienstwaffe, Makarow Nr. 2004, an, indem er in die Scheibe der Fahrertür schoß. Da der Fahrer die Fahrt fortsetzte, gab Genosse Ackermann 6 weitere Schüsse auf das Fahrerhaus ab. Eine Patrone verblieb im Lauf.”

Der Laster habe sich nach den Schüssen in Richtung Bennungen entfernt und sei nach etwa 200 Metern über den rechten Straßengraben auf ein Feld gefahren, dann wieder in Richtung Straße bis er schließlich im rechten Straßengraben zum Stehen kam. Die beiden Volkspolizisten näherten sich dem Fahrzeug und stellten fest, dass der Fahrer offensichtlich getroffen worden war. Als sie die Tür öffneten, stellten sie fest, dass er nicht mehr lebte. Unter seiner Wolljacke trug er eine sowjetische Tuchuniform ohne Rangabzeichen. Am Führerhaus des Lastwagens wurden fünf Einschüsse an der linken Fahrertür, am linken Holm sowie an der Rückwand festgestellt.

Georgi Matjuscha war von zwei Kugeln in der Herzgegend getroffen worden. Das Bestattungsinstitut Sangerhausen überführte seine Leiche am 2. Mai 1982 zum Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalistik nach Halle. Am folgenden Tag erfolgte dort die Obduktion, an der für die sowjetische Seite der Oberleutnant des medizinischen Dienstes Genadi Skakun, Chirurg im Sanitätsbataillon der GSSD Jena, teilnahm. Im Körper des Toten fand man zwei Kugeln. Als Todesursache stellten die Obduzenten einen Durchschuss der Herzspitze sowie Zerreißungen von Milz und Lunge festgestellt.

Die volkspolizeiliche Untersuchung des Todesfalles ergab, dass die Anwendung der Schusswaffe aus folgenden Gründen rechtmäßig gewesen sei: „Gemäß Ziffer 2 a der Schußwaffengebrauchsvorschrift ist die Anwendung von Schußwaffen bei einem unmittelbar bevorstehenden Verbrechen gegen die staatliche Ordnung gerechtfertigt. Der Genosse Hauptwachtmeister Ackermann mußte angesichts der Fahndung nach dem LKW W 50 mit der möglichen Fluchtrichtung Grenze damit rechnen, daß der LKW zu einem gewaltsamen Grenzdurchbruch benutzt werden soll. Begründet ist der Schußwaffengebrauch weiter nach Ziffer 2 b zur Verhinderung der Flucht von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind. Bei Kenntnis der Fahndung nach dem LKW W 50 und der rücksichtslosen Flucht unter Beschädigung des FStW mußte der Hauptwachtmeister Ackermann diesen Sachverhalt unterstellen. Der Militärstaatsanwalt, Oberstleutnant Köcher, schätzt den Sachverhalt als gerechtfertigten Schußwaffengebrauch ein.” Weitere Untersuchungen erfolgten durch die Bezirksdirektion der Volkspolizei Halle, Kriminalpolizei – Arbeitsgruppe Ausländer.

Nur eine halbe Stunde Fahrzeit trennte Georgi Matjuscha aus dem Kaukasusvorland von der niedersächsischen Grenze, als er einen Tag vor seinem 20. Geburtstag ums Leben kam. (Recherche: jos., MP; Autor: jos.)