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Wilfried Senkel

Am 15. Oktober 1977 um 18.00 Uhr erfolgte nördlich von Mechau die Auslösung des Grenzsignalzaunes Feld 18, um 19.55 Uhr erfolgte eine weitere Auslösung im Feld 20. Die alarmierten DDR-Grenzer hörten kurz darauf eine Detonation und entdeckten am Grenzzaun zwei durch Minen verletzte Flüchtlinge.

Senkel, Wilfried
Bildquelle: Stefan Appelius

geboren am 25. Dezember 1937 in Salzwedel

durch Mine verletzt am 15. Oktober 1977, gestorben am 17. Februar 1991 im Städtischen Obdachlosenasyl Wolfsburg (Niedersachsen)

Ort des Zwischenfalls: 2000 Meter nördlich Mechau im Altmarkkreis, Bereich der Grenzsäule 347 (Sachsen-Anhalt)

Wilfried Senkel war das sechste von sieben Kindern einer Arbeiterfamilie. Sein Vater fiel im April 1945 als Unteroffizier bei Fürstenwalde. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf und musste schon als Kind bei einem Bauern in der Landwirtschaft arbeiten, während seine Mutter als Putzfrau bei einem Fleischer die Familie über Wasser zu halten versuchte. 1957 lernte er seine spätere Ehefrau Magdalene kennen (Heirat am 28. November 1959), mit der er zwei Söhne hatte. Familienangehörige erinnern sich an einen „ganz lustigen Typ, mit dem man Pferde stehlen” konnte. Die Ehe wurde bereits im Mai 1962 wieder geschieden, während Wilfried Senkel eine Strafe im Arbeitslager Sollstedt verbüßte. Senkel hatte zwei Unteroffiziere der Nationalen Volksarmee zusammengeschlagen. Nach der Haftentlassung durfte Senkel seine Heimatstadt Salzwedel nicht mehr betreten. Ein 1961 gegen ihn verhängtes „Kreisverbot” wurde mehrfach verlängert. Daraufhin entschloss sich der gelernte Melker am 23. Juni 1963 gegen 23 Uhr zur Flucht in die Bundesrepublik, die ihm im Raum Mechau über die zu diesem Zeitpunkt noch wenig ausgebaute innerdeutsche Grenze auch unbemerkt gelang. Er arbeitete nach der Entlassung aus dem Notaufnahmelager Gießen erst als Bauarbeiter und später als Helfer bei einer Holzfirma in Schnega (Landkreis Lüchow-Dannenberg).

Aus Heimweh nach seiner Familie kehrte Senkel im März 1965 illegal in die DDR zurück, wobei er erneut unbemerkt die innerdeutsche Grenze im Raum Mechau überquerte. Senkel hielt sich eine Weile illegal in seiner Heimatstadt Salzwedel auf, ein Bauer versteckte ihn auf seinem Heuboden. Doch der Abschnittsbevollmächtigte (ABV) der Volkspolizei sorgte für seine Verhaftung. Wilfried Senkel wurde erneut zu einer Haftstrafe verurteilt, eine weitere in der Zwischenzeit geschlossene Ehe ging in die Brüche. Nach seiner Haftentlassung lebte Senkel in Magdeburg. Er hatte sich erneut verheiratet, und sein Leben verlief über einen längeren Zeitraum in geordneten Bahnen. Doch als sich seine dritte Frau im März 1978 von ihm scheiden ließ und auch eine Rückkehr zu seiner ehemaligen Frau Magdalene nicht zustande kam, geriet Senkels Leben erneut aus der Spur. Inzwischen als Melker in der LPG Stappenbeck beschäftigt, lernte Senkel den damals 20-jährigen Rainer Burgis kennen. Die beiden Männer freundeten sich an und beschlossen Mitte Oktober 1978, gemeinsam über die innerdeutsche Grenze in die Bundesrepublik zu fliehen, um bei Angehörigen von Rainer Burgis in Bayern zu leben. Zwischenzeitlich hatte Wilfried Senkel seine Arbeit als Melker auf der LPG wegen „Arbeitsbummelei” wieder verloren

Senkel führte Rainer Burgis erneut in jenen Abschnitt im Bereich Mechau, in dem er selbst 1963 und 1965 die damals nur mit einem Stacheldrahtverhau gesicherte innerdeutsche Grenze problemlos überwunden hatte. Als in dem Abschnitt der Grenze am Abend des 15. Oktober 1978 ein erster Alarm ausgelöst wurde, fuhr eine Alarmgruppe der Grenztruppen über den Kolonnenweg an die fragliche Stelle. Doch Senkel und Burgis hatten sich versteckt und wurden nicht bemerkt. „Nachdem um 19.55 Uhr die zweite Auslösung optisch sichtbar wurde (rote Rundumleuchte), wurde unmittelbar danach die Kontrolle des Feldes 20 befohlen.” Die Kontrollstreife erreichte den betreffenden Abschnitt genau zu dem Zeitpunkt, als die Selbstschussanlage detonierte. Die Grenzer sahen die beiden von der Splittermine getroffenen, verletzt am Boden liegenden Männer. Nachdem sie feststellten, dass Rainer Burgis nicht mehr lebte, versteckte man ihn im Unterholz, während man den schwer verletzten Wilfried Senkel ins Kreiskrankenhaus nach Salzwedel schaffte. Von hier wurde Senkel wenig später ins Haftkrankenhaus des Ministeriums für Staatssicherheit nach Berlin-Hohenschönhausen transportiert. Den Vernehmern des Staatssicherheitsdienstes erklärte er: „In der BRD kann ich mir mein Leben ohne Einmischung, Bevormundung, Vorschriften und Beschränkungen entsprechend meinen Vorstellungen aufbauen und gestalten.” Das Kreisgericht Magdeburg-Nord verurteilte Wilfried Senkel am 18. Januar 1979 „wegen Fluchtversuchs in schwerem Fall” zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis.

Nach einer Amnestie Ende 1979 vorzeitig aus der Haft entlassen, versuchte Senkel im Dezember 1979 erneut, über die innerdeutsche Grenze in die Bundesrepublik zu fliehen. Er brach das Vorhaben wegen einsetzenden Schneefalls ab, ohne von den Grenztruppen bemerkt zu werden. Nachdem man ihn im Februar 1981 wegen „Arbeitsbummelei” wiederholt verhaftete, wurde Senkel zur Verbüßung der Reststrafe in die Strafvollzugsanstalt nach Bützow-Dreibergen eingeliefert. Laut den vorliegenden Berichten von „Zellen-Informanten” der Stasi wollte Senkel auch weiterhin in den Westen. Dort wollte er im Fernsehen über die Zustände in Haftanstalten der DDR sprechen. Doch nach seiner vorzeitigen Haftentlassung Ende August 1982 gab es nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen keine weiteren Fluchtversuche mehr. Senkel lebte in Burg bei Magdeburg, seine fortgesetzte Überwachung durch die Stasi endete Anfang 1984. Erst als die Mauer im November 1989 fiel, sah ihn seine in Salzwedel lebende frühere Frau Magdalene wieder. Wilfried Senkel, gesundheitlich stark angeschlagen, hatte seine Sachen gepackt und wollte die DDR verlassen. Doch der Neuanfang im Westen gelang ihm nicht. Nach Auskunft des zuständigen Sozialamtes ist Wilfried Senkel am 17. Februar 1991 im Wolfsburger Obdachlosenasyl gestorben, laut Magdalene Senkel an einem Blutgerinnsel im Bein, einer Folge der durch die Selbstschussanlage verursachten Verletzung. „Er war ja kein schlechter Mensch”, erinnert sich Magdalene Senkel, er habe nur zeitweise zu viel getrunken: „Alle mochten ihn, weil er freundlich und kameradschaftlich war.” (Recherche: App; Autor: App.)

Vgl. ergänzend zu Wilfried Senkel die Biografie von Rainer Burgi.