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Walter Genthe

Am frühen Nachmittag des 8. Februars 1949 bogen zwei thüringische Kleinunternehmer mit ihrem Pkw am Bahnhof Döhren in einen Wiesenweg ein. Sie wollten die britische Besatzungszone erreichen, um dort Werkstoffe zu kaufen. Als plötzlich Schüsse krachten mögen sie sich für einen Moment fassungslos angesehen haben. Dann geschah das Unerwartete.

geboren am 14. November 1911 in Schleifreisen

erschossen am 8. Februar 1949

Ort des Zwischenfalls: Döhrener Feldmark zwischen Döhren (Sachsen-Anhalt) und Mackendorf (Niedersachsen)

Walter Genthe war Malermeister. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg führte er eine kleine Firma. Nun, da der Krieg vorbei und er selbst unversehrt ins thüringische Schleifreisen zurückgekehrt waren, wollte er wieder in seinem Beruf arbeiten. Doch um Aufträge erfüllen zu können, brauchte er Farben und Arbeitsgeräte. Diese besorgte er sich des Öfteren aus der West-Zone. Dafür mussten die Wege mit Bedacht ausgewählt werden, denn die Deutsche Grenzpolizei der sowjetischen Besatzungszone verfolgte solche Einkäufe im Westen als „Schmuggel- und Schiebergeschäfte“. Doch mit einigem Geschick, mag sich der Malermeister gedacht haben, werde er schon an Farben und Arbeitsmittel kommen. Seine bisherigen Erfahrungen schienen das zu bestätigen: Ihn hatte die Grenzpolizei noch nie angehalten und kontrolliert.

Am 8. August 1949 brach er gemeinsam mit einem Sägewerksbesitzer aus dem Nachbarort in Richtung Helmstedt auf. Bis nach Döhren, dem letzten Ort in Sachsen-Anhalt vor der Demarkationslinie, hatten sie mit ihrem blau-grauen Auto, Marke „DKW“, das einen Anhänger zog, 230 Kilometer zurückzulegen. Als sie am frühen Nachmittag den dortigen Bahnhof umfuhren und in einen Wiesenweg einbogen, mögen sie auf dem flachen Land schon das zwei Kilometer entfernte Mackendorf, das in der britischen Besatzungszone lag, gesehen haben. Möglicherweise hatten sie den beiden Grenzpolizisten, die am Bahnhof Streife gingen, keine Bedeutung zugemessen, und vielleicht waren sie auch zu verdutzt um anzuhalten, als plötzlich ein Warnschuss abgegeben wurde. Dann traf ein gezielter Schuss Walter Genthe von hinten. Er fiel mit dem Kopf vornüber auf das Lenkrad, das Fahrzeug rollte weiter.

Die beiden Grenzpolizisten beobachteten, wie der Pkw auf dem Weg nach Mackendorf seine Spur verlor, waren sich aber unschlüssig darüber, „ob Personenschaden entstanden ist“, wie es in einer Meldung der Grenzbereitschaft Erxleben hieß. Erst einige Tage später wurde die Leiche von Walter Genthe zurück nach Schleifreisen gebracht. Den Familienangehörigen sagte man, dass es sich um einen „illegalen Grenzübertritt“ gehandelt habe, sie sollten über den Vorfall nicht öffentlich sprechen. Die Beerdigung durfte nur im engsten Familienkreis erfolgen. Doch dass der Familienvater etwas Illegales oder gar Politisches verbrochen haben sollte und dafür mit dem Leben bezahlen musste, konnten seine Angehörigen nicht begreifen. Ging es nicht nur um ein paar Farben?

Im Mai 1996 besichtigte ein Kriminaloberkommissar der Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) den Tatort. Der Bahnhof war, nachdem man 1961 den Schienenverkehr im Grenzgebiet stillgelegt hatte, abgerissen worden. Von dessen ehemaligem Standort aus sah er einen Betonplattenweg durch die Feldmark führen. War das der Weg, den Walter Genthe vor 47 Jahren entlangfahren wollte? Seinem Bericht ist Ratlosigkeit anzumerken, denn die Ermittlungen verliefen nicht nur hier ins Leere: Die historischen Berichte der Grenzpolizei gaben keine Hinweise auf die Namen der Schützen, der Beifahrer im „DKW“ blieb unauffindbar und die Verwandten konnten keine Hinweise auf mögliche Täter geben. Am 29. Juli 1996 wurden die Ermittlungen eingestellt. (Recherche und Autor: jk)