Springe direkt zu Inhalt

Brigitte Frauendorf

Mit Mutter und Stiefvater befand sich die elfjährige Brigitte Frauendorf aus Leipzig in der Nacht zum 26. Juli 1949 auf dem Weg über die Zonengrenze nach Westdeutschland. Als sich die Familie vor ostdeutschen Grenzpolizisten in einem Getreidefeld versteckte, schoss einer von ihnen in das Feld. Der Schuss traf das Mädchen in den Unterleib.

geboren am 18. Dezember 1937 in Leipzig

erschossen am 26. Juli 1949

Ort des Zwischenfalls: Nähe Kirchgandern, ca. 500 Meter vor der Zonengrenze (Thüringen)

Wie aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Erfurt vom Sommer 1994 gegen den früheren SBZ-Grenzpolizisten Paul W. hervorgeht, wollte die Familie aus Leipzig im Sommer 1949 die Großeltern der elfjährigen Brigitte in Neu-Isenburg bei Frankfurt am Main besuchen. Brigittes Stiefvater verfügte über eine Aufenthaltserlaubnis dieser Gemeinde für alle drei Personen sowie einen Urlaubsschein seines Arbeitgebers - der Firma Erich Nordmann in Leipzig, bei der er als Elektromechaniker beschäftigt war. Er bezweifelte jedoch, dass er für eine Urlaubsreise den dazu nötigen Interzonenpass erhalten würde. Deshalb versuchte er, mit seiner Familie über die grüne Grenze in den Westen zu gelangen. Die Familie traf am Abend des 25. Juli 1949 in Arenshausen im Eichsfeld ein. Ganz in der Nähe grenzten damals die Besatzungszonen der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens aneinander. In der Dorfgastwirtschaft Ammer lernte die Familie weitere Grenzgänger kennen. Gegen 23.00 Uhr brach eine Gruppe von etwa zehn Personen, darunter auch Frauen und ein weiteres Kind, in Begleitung eines „Grenzführers“ in Richtung Westzonen auf.     

Ab Mitternacht patrouillierten zwei SBZ-Grenzpolizisten in etwa 500 Metern Entfernung von der Zonengrenze nördlich der Gemeinde Kirchgandern. Sie waren vor ausgebrochenen Schwerverbrechern gewarnt worden, die über die Grenze nach Westen durchbrechen wollten. Plötzlich hörten sie in einer Entfernung von etwa 100 Metern Geräusche aus den angrenzenden Getreidefeldern, die von den Grenzgängern herrührten. Die Grenzpolizisten ließen die Gruppe bis auf etwa zehn Meter herankommen und forderten sie dann zum Stehenbleiben auf, worauf diese nicht reagierten, sondern zurück in das Kornfeld flüchteten. Nachdem die Flüchtlinge auf einen Warnschuss nicht reagierten, schoss W. mit seinem Karabiner aus kurzer Entfernung ziellos in Richtung der Grenzgänger.

Nach den Schüssen begaben sich die beiden Grenzpolizisten in das Getreidefeld und entdeckten das schwerverletzte Kind. Sie hörten eine Frauenstimme sagen: „Komm, Brigitte, steh auf“, worauf das Mädchen erwiderte: „Ich kann nicht, ich bin getroffen.“ Nach wenigen Minuten gab das Kind keinerlei Lebenszeichen mehr von sich. Es wurde von den Eltern und den Polizisten zum Grenzpolizeikommando Kirchgandern gebracht. Als sie dort ankamen, war das Kind tot. Der hinzugezogene Arzt aus Hohengandern stellte einen „Unterleibsdurchschuss“ fest. In seinem Bericht heißt es: „Dem starken Blutverlust nach ist eine Verletzung der großen Unterleibsarterie erfolgt. Die Schussverletzung wirkte tödlich - der Tod muß etwa 10 - 15 Minuten nach der Verletzung eingetreten sein.“ Die Leiche des Kindes wurde in das Spritzenhaus der Gemeinde Kirchgandern gebracht und noch am gleichen Tag durch das Amtsgericht Heiligenstadt zur Bestattung freigegeben. Die Eltern wurden zunächst festgenommen. Die übrigen Grenzgänger waren unerkannt entkommen. Auch der Schütze kam in U-Haft. Er wurde der Kreiskriminalvolkspolizeiabteilung (KKPA) Heiligenstadt zugeführt und am nächsten Tag um 11.50 Uhr wieder entlassen.

Während es in den Berichten der VP- Abteilung Grenzpolizei Weimar, der Kreiskriminalpolizeiabteilung Mühlhausen und der KKPA Heiligenstadt vom 26. und 28. Juli hieß, W. habe in rechtmäßiger Ausübung seines Dienstes gehandelt, meinte VP-Kommandeur R. am 30. Juli 1949, W. habe keinesfalls richtig gehandelt, als er den zweiten Warnschuss in die Richtung der Geräusche aus dem Getreidefeld abgab. „Das kleine Mädchen hat sich wahrscheinlich im Getreide nur noch vorwärts bewegt, um näher an die Mutter heranzukommen, die ja schon im Getreidefeld stehengeblieben war. W. macht den denkbar schlechtesten Eindruck und zeigt nicht das geringste Bedauern über diesen Vorfall.“ Am 29. August ließ das Büro des thüringischen Innenministers Willy Gebhard (SED, früher KPD) mitteilen, dass „von einigen Angehörigen der Volkspolizei - insbesondere dem, welcher den fraglichen Schuss abgegeben hat - nicht nur leichtfertig, sondern straffällig gehandelt wurde“. Bezugnehmend auf diese ministerielle Stellungnahme beharrte VP-Inspektor M. von der Landesbehörde der Volkspolizei Weimar am 12. Dezember 1949 jedoch darauf, dass W. bei Abgabe des Schusses in nicht straffälliger Weise gehandelt habe, vielmehr habe er seinen Dienst als Grenzpolizist rechtmäßig ausgeübt. Die Schuld an „diesem tragischen Unglücksfall“ träfe einzig und allein die Eltern, da diese das Kind und sich selbst der Gefahr des illegalen Grenzübertrittes ausgesetzt hatten.

Bei seiner Vernehmung in den 90er Jahren gab W. an, er habe sich damals in Richtung der Grenzgänger bewegt, „wobei er den geladenen, nicht gesicherten Karabiner unter dem rechten Arm mit dem Finger am Abzug gehabt hätte. Hierbei habe sich, als er näher zum Getreidefeld gekommen sei, aufgrund der Unebenheit des Geländes oder seiner Nervosität bei dieser Aktion ein Schuss gelöst. Er habe jedoch in keinem Fall gezielt auf einen Menschen geschossen, wozu es auch generell zu dunkel gewesen sei.“ Die Staatsanwaltschaft Erfurt kam hingegen zu dem Schluss, „die heutigen Einlassungen des Angeschuldigten, der tödliche Schuss habe sich versehentlich gelöst“, sei eine Schutzbehauptung. „Es erscheint äußerst realitätsfern, daß der Angeschuldigte - hätte dies den Tatsachen entsprochen - sich nicht bereits damals auf diese Weise exkulpiert hätte.“
Dennoch sprach das Landgericht Mühlhausen den wegen Totschlags angeklagten W. „aus tatsächlichen Gründen frei“. Seine Darstellung des Geschehens sei nicht zu widerlegen gewesen. (Recherchen: TP, St.A.; Autor: St.A. )