Klaus-Jürgen Bruder

Die Freudsche Erzählung von Ödipus als Mythos der Macht

I.

Freuds Theorie der Macht, könnte man sagen, ist der Ödipus Mythos. Ödipus: das ist der, der den Vater getötet hat und die Mutter geschwängert – und damit: geheiratet. Nach Freud ist es die „Trieb“-Geschichte eines jeden von uns, jedes Jungen - nicht die Real-Geschichte. Freud behauptet, er habe sie in den (eigenen) Träumen entdeckt.

Die Geschichte des Ödipus ist bekannt. Nur: inwiefern ist diese eine Geschichte der Macht? Bei Freud wird sie dies explizit durch „Totem und Tabu“ (1913). Auch in dieser Geschichte geht es um Vater-Mord; ebenso wie der Mord am (Ur)Vater die Voraussetzung zum Besitz der Frauen ist - denn dieser Vater besitzt sie ursprünglich.

Freud stellt den Zusammenhang zwischen Ödipus und der Geschichte von Totem und Tabu ausdrücklich her. In einer nachträglich in die „Traumdeutung“ (1900) eingefügten Fußnote schreibt er: „Der hier zuerst in der „Traumdeutung“ berührte „Ödipus-Komplex“ hat durch weitere Studien eine ungeahnt große Bedeutung für das Verständnis der Menschheitsgeschichte [...] gewonnen“ (S. 270). Und Freud verweist dort auf „Totem und Tabu“.

In „Totem und Tabu“ „ist mir die Vermutung nahegekommen, dass vielleicht die Menschheit als Ganzes ihr Schuldbewusstsein, die letzte Quelle von Religion und Sittlichkeit, zu Beginn ihrer Geschichte am Ödipus-Komplex erworben hat“ (1916/17, S. 344). In „Totem und Tabu“ spricht er von seiner „großen Überraschung, dass auch diese Probleme des Völkerseelenlebens eine Auflösung von einem einzigen konkreten Punkte her, wie es das Verhältnis zum Vater ist, gestatten sollten“ (1913, S. 188).

Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht für Freud das Verbrechen - des Ödipus: die „Auflehnung“ gegen die Macht: “die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität“ (1913, S. 188). Die Macht wird von Freud zwar durchaus als tyrannisch charakterisiert, gleichwohl bleibt für ihn der Tyrannen-Mord ein Verbrechen: „Vater“Mord!! – wie bei Ödipus.

Im Unterschied zu Ödipus, der nicht wusste, und nicht wollte, was er tat (= das „Unbewusste“) ist dies den Brüdern der „Urhorde“ in „Totem und Tabu“ durchaus bewusst, und von ihnen durchaus gewollt. Nicht bewusst war ihnen, nicht vorausgesehen hatten sie, was sie vielmehr erst nach dem Mord entdeckt haben werden, dass sie den Vater wieder einsetzen - müssen, sagt Freud, - als Idol – die „Idealisierung“ („Liebe“), dass sie sein „Gesetz“ wieder aufrichten: das Verbot des Besitzes der Frauen (das „Inzesttabu“), um die Rivalität der Brüderhorde in Fesseln zu legen und damit Mord und Totschlag.

Sie erkennen, anerkennen (im Nachhinein) die Notwendigkeit der Macht, des Gesetzes (des Vaters). Das Gesetz nun nicht als aufgezwungenes, sondern „freiwillig“ übernommenes, aufgrund von Einsicht in seine Notwendigkeit. Zugleich aber: „verinnerlichen“ sie den Vater: in Gestalt der Einverleibung des Totem, als Idol, haben sie ihre „Liebe zum Vater“ entdeckt. Der verinnerlichte Vater reguliert nun das Verhalten der Brüderhorde.

Natürlich stimmt diese Geschichte mit ihrer Mischung aus Rationalismus und Magie nicht. Rationalismus: sie „erkennen“, dass Gesetz und Macht „notwendig“ sind (um sich gegenseitig zu schützen). Magie: der Totem, der Kult, das Unbewusste, die Verinnerlichung.

Widersprechen sich diese beiden Begründungen nicht?

Es ist aber das, was wir heute haben: der „Widerspruch“ im Diskurs der Macht, über die Macht selbst. „Rationalismus“ der „Notwendigkeit“, „Einsicht“, der „Aufklärung“ - und „Liebe“ zum Idol, das archaische Bild.

Die Verinnerlichung (der Macht) ist gleichwohl (heute) notwendig: Verinnerlichung der „Notwendigkeit“ der Macht - da hat Freud durchaus recht. Nur beantwortet er die Frage nicht, warum, bzw. er gibt eine tendenziöse Antwort.

Wenn die Anerkennung des Gesetzes aufgrund einsehbarer Gründe nicht ausreicht, dann muss etwas der Einsicht im Wege stehen, dann ist die Voraussetzung dieser Einsicht nicht gegeben: die Gleichheit der Interessen.

Das ist die Situation, wo die Zustimmung zum Gesetz nicht freiwillig gegeben wird, sondern erzwungen. Erzwungen durch eine Macht, die ihr Interesse gegen widerstreitende Interesse anderer, den „Willen“ durchsetzen kann (Max Webers Definition der Macht). Die Macht ist nicht auf Einsicht angewiesen. Dadurch ist sie ja gerade definiert. Mehr brauchen wir nicht zur Erklärung ihrer Wirkung.

Wozu brauchen wir dann aber die Magie, das „Irrationale“, die Liebe zur Macht? Ganz einfach: um die Wirkung der Macht anders erklären zu können als mit der Macht selbst. Wir greifen zu einer solchen Erklärung, um die Macht selbst verleugnen zu können.

Hier erklärt sich die Notwendigkeit der „Magie“. Sie versteckt die Macht, die Bedingung ihrer Wirkung – die Ungleichheit (der Macht). Der Widerspruch zwischen dem behaupteten Rationalismus der Freiwilligkeit und Magie löst sich auf.

Damit löst sich (allerdings) auch die Vorstellung von einer (homogenen) Gruppe gleichberechtigter, gleichmächtiger „Brüder“ auf, die das Gesetz (des Vaters) aus Einsicht in die Notwendigkeit und aus freiem Willen wieder aufgerichtet hätten. Diese Vorstellung ist Fiktion: die Fiktion der Gleichheit der Interessen. Um diese Fiktion aufrechtzuerhalten hatte es der „Magie“ bedurft.

Der Widerspruch zwischen Einsicht und Magie hatte also einen anderen „Widerspruch“ (Gegensatz) verdeckt: den zwischen Mächtigen und weniger Mächtigen, zwischen Herrschenden und Beherrschten, macht(e) ihn „unbewusst“. Für die Mächtigen ist es rational, sich gegenseitig durch Vertrag zu binden, für die Beherrschten ist es nicht rational. Sie müssen gezwungen werden, ihre (vermeintliche) Freiwilligkeit ist tatsächlich „irrational“, wie die „Liebe“ zum Idol, zum toten Vater, zum toten Tyrannen. Für sie wird der Zugang zum Genießen, der Zugang zu den „Frauen“ durch Vertrag nicht geregelt, sondern versperrt. Sie mussten „irrational“ gebunden werden: die „libidinöse Bindung an den Führer“ - durch die Totem-Feier.

Jorge Semprún erzählt in seinem Roman „Zwanzig Jahre und ein Tag“ eine wirkliche Geschichte über eine solche Totem-Feier im Spanien aus der Zeit nach dem Bürgerkrieg: „Am 18. Juli 1936 hatten die Bauern auf einem Landgut in der Provinz Toledo, als sie von der Erhebung der Militärs erfuhren, den jüngsten Sohn der Besitzer umgebracht. [...] Nach dem Ende des Bürgerkriegs veranstaltete die Familie des Verstorbenen jedes Jahr am 18. Juli eine Gedenkfeier, in der die Bauern des Gutes gezwungen wurden, den Mord rituell zu wiederholen. In einer Art Mysterienspiel, mussten sie abermals eintauchen in die Erinnerung an jenen Tod. Sie sahen sich gezwungen, ein weiteres Mal Buße für ihn zu tun, [...] hineingezogen in diese von der Familie inszenierte kollektive Erinnerung, schuldig gesprochen durch sie“.

„In der Verewigung dieser Erinnerung mussten die Bauern nicht nur ihren Status als Mörder verewigen, sondern auch ihren Status als Besiegte. Sie verewigten damit den unerträglichen Grund ihrer Niederlage, indem sie der Ungerechtigkeit jenes Todes gedenken mussten, der ihre Niederlage, ihre Reduzierung auf den Status von Besiegten in heimtückischer Weise rechtfertigte. Kurz, diese Bußzeremonie - der Vertreter von Kirche und weltlicher Obrigkeit beizuwohnen pflegten – trug dazu bei, die soziale Ordnung zu heiligen“.

Die libidinöse Bindung an den Führer ist also nicht für die Geführten, sondern für die Führer selbst eine „Notwendigkeit“. Sie sind es, die sie brauchen, die sie herzustellen versuchen, notfalls erzwingen.

Was Freud also „vergisst“, verbirgt mit diesem Widerspruch zwischen „rationaler“ Einsicht in die Notwendigkeit der Wiedererrichtung der Macht des Gesetzes des Vaters und „irrationaler“ Bindung an den als Idol „verinnerlichten“ „Vater“: ist der gewalttätige Charakter des Gesetzes - nicht nur in der Vorzeit, sondern heute, der gewalttätige Hintergrund, den er in die Vorzeit verlegt. Er „vergisst“ dies, weil er die „Beherrschten“ vergisst.

Gewalt steht am Anfang von Gesetz und Kultur. Aber nicht erst durch den Sturz der Tyrannei; sondern bereits die Errichtung der Tyrannei selber war nichts anderes als das Ergebnis von Gewalt. Die Macht des (Ur)Vaters war bereits das Ergebnis einer Usurpation, nicht erst die der Brüder.

Weil Freud das vergisst, d.h. ausblendet, muss er andere Gründe für Mord (und Inzest) und damit für die Notwendigkeit der Macht finden – nicht der gemeinsamen Macht der Brüder, sondern der Macht, die sich über die einzelnen setzt. Er findet diese Gründe in den (aggressiven) „Trieben“, in der „Natur“ des Menschen. So wird er 1915 den Grund des Weltkrieges in „Triebregungen“ sehen, „die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind“ und aus denen „das tiefste Wesen im Menschen“ bestehe (Freud 1915, S. 331f.). Und noch im „Unbehagen in der Kultur“ von 1930 wird er daran festhalten, dass es „das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem“ sei, „dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, [...] sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf“ (Freud 1930, S. 470). Für die „Zähmung der aggressiven Triebe“ - “eines der Hauptprobleme der Kultur“ sei daher „äußerer Zwang“ nötig, der dann in „inneren Zwang“ umzusetzen sei (Freud 1915, S. 333).

Das ist die berühmte Freudsche Verkehrung von individuellem und gesellschaftlichem, die Verlagerung der äußeren Ursachen ins Innere (des psychischen Apparats).

Sie entspricht der tatsächlichen Verschiebung: es ist tatsächlich die Verinnerlichung der Macht, die uns der Macht folgen lässt. Aber Freud verkehrt Ursache und Wirkung: die feindseligen (und inzestuösen) Triebe seien der Grund für die Notwendigkeit der Macht: um diese zu bändigen, zu kultivieren. Er schließt von der Macht auf ihre Notwendigkeit, vom Verbot auf das Begehren.

Aber: dass etwas verboten ist, heißt nicht dass es begehrt wurde

(Deleuze & Guattari 1972, S. 90). Die Feindseligkeit, gegen die die Macht als notwendige eingeführt wird, ist durch die Macht hergestellt. Sie ist Antwort auf die Einschränkung, die Enteignung der Bedingungen und Mittel ihrer Befriedigung.

Freud schreibt diese fest, indem er die Gründe nicht in der Macht, sondern im einzelnen sucht.

II.

Vergleichen wir diese Theorie Freuds mit der Theorie Adlers: „Machtstreben aus Minderwertigkeit“. Machtstreben: ein Versuch, die Position der Minderwertigkeit, Ohnmacht zu überwinden, ihr zu entkommen. Diese Position der Minderwertigkeit, der Ohnmacht geht also dem Macht-Streben voraus. Man könnte sie der Situation von „Totem und Tabu“ vergleichen: die Brüder streben nach der Macht des Vaters, aus der Position der Machtlosigkeit, der Verweigerung der Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Ihre Macht, die sie nach dem Mord am Tyrannen/Urvater erobert hatten, kann man als das Ergebnis ihres Machtstrebens betrachten.

Allerdings ist dieses Streben nach Macht (bei Adler) gebunden an das Vorhandensein der Macht (in der Hand des Urvaters) und gebunden an die Situation ihres Unterworfenseins unter diese Macht, die die Unterworfenen zu überwinden suchten. Das „Machtstreben“ richtet sich gegen diese Situation: im Begriff des “männlichen Protests“ von Adler präzise festgehalten.

Macht-Streben ist (also) nicht primär, nicht „angelegt“ – im Individuum, sondern sekundär, hervorgerufen durch die außerhalb des Individuums vorhandene, präexistente Macht, gegen die es sich wendet.

Diese Macht nimmt auch Freud (in „Totem und Tabu“) als vorgegeben an. Er charakterisiert sie als tyrannisch, grausam und im Besitz aller Befriedigungsmittel. Der Aufstand der Brüder würde also von Freud im selben Licht betrachtet werden - als „männlicher Protest“, gerechtfertigt?

Nein, im Gegenteil, er wird von Freud als Verbrechen dargestellt“ - die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität“ (1913, S. 188) – bzw. der Aufstand führt dazu, zum Verbrechen des Vatermords, mit dem (durch den) der Aufstand der Brüder sich ins Unrecht setzt, von Freud ins Unrecht gesetzt wird.

Und das Verbrechen muss gesühnt werden, seine Wiederholung muss gebannt und der alte Zustand wieder hergestellt werden, zumindest in der (Ersatz)Form des Totem und der Wiedereinrichtung des Macht (des Gesetzes) des Vaters.

Im Gesetz (des Vaters) erscheint die Macht gerechtfertigt - nicht der Aufstand der Söhne. Dieser Aufstand ist in Freuds Perspektive vielmehr ein Verbrechen, das nicht gerechtfertigt ist, auch nicht durch die tyrannische Macht der Triebunterdrückung (durch den Vater). Im Gegenteil wird die Triebunterdrückung gerechtfertigt – nachträglich: denn die Triebe haben sich als mörderisch erwiesen.

Und: die Triebe zeigen sich – in der Rivalität der Brüder nach dem Tod des Vaters weiterhin so: sie sind a-sozial, egoistisch, sie müssen deshalb durch die Macht in Schranken gehalten werden.

Wenn sie hier nicht – wie bei Adler – aus dem Vorhandensein der Macht, der Unterdrückung und Enteignung erklärt werden, also aus den gesellschaftlichen Bedingungen (ihrer Behinderung), so müssen sie (bei Freud) im „Wesen“ des Menschen, in seiner „Natur“ gesucht werden, finden sie dort ihren „Ursprung“, (quasi)biologisch, anthropologisch.

Daher die biologische Durchdringung des Triebbegriffs bei Freud. Die Biologie gestattet, von den gesellschaftlichen Bedingungen abzusehen: von Unterdrückung, Ungleichheit, Minderwertigkeit. Diese verschwinden als Ursachen, bzw. auch sie werden als „angeboren“ dargestellt: die „angeborene Ungleichheit unter den Menschen“, die Freud im Brief an Einstein diesem erwidert (Freud 1932, S.24).

In diesem Brief benützt Freud dieses Argument, dass etwas „niemals beseitigt sein“ werde, weil „im tiefsten Wesen des Menschen“ begründet, nicht nur für die „menschliche Aggression“, sondern zugleich auch für die gesellschaftliche Ungleichheit. Auch diese sei „nicht zu beseitigen“, weil „angeboren“. Freud behauptet tatsächlich, es sei angeboren, „daß sie in Führer und Abhängige zerfallen“. “Die letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen“. (Freud 1932, S.24).

Das Gesetz, das aufgrund der Triebe als notwendig erklärt wird, muss deshalb mit Gewalt durchgesetzt werden (nicht rationale Übereinkunft, der freiwillig zugestimmt würde, aus Einsicht in die Notwendigkeit).

Und deshalb kann die Feier der Erinnerung an die Einsetzung des Gesetzes auch nicht eine Feier des Sieges der Rationalität sein, sondern eine Erinnerung an das Verbrechen - des Vatermordes, der Auflehnung gegen die Macht, die sich nicht wiederholen darf: der Totem (als Ersatz des getöteten Vaters, der an seiner Stelle getötet wird - und einverleibt, “internalisiert“) als der „geliebte“, idealisierte Vater (nicht als der Tyrann, dieser wird durch die Internalisierung „vergessen“, verdrängt).

In Freuds Interpretation der griechischen Tragödie (in Totem und Tabu) wird die Umwandlung (Verwandlung) des gehassten Urvaters in den geliebten in der Totem-Feier so dargestellt, dass der Urvater, indem er die Schuld der Söhne, ihr Verbrechen auf sich nimmt, zu ihrem Erlöser wird: „Der Held der Tragödie [...] hatte die so genannte „tragische Schuld“ auf sich geladen [...]. Er muss leiden, weil er der Urvater, der Held jener großen urzeitlichen Tragödie ist... und die tragische Schuld ist jene, die er auf sich nehmen muss, um den Chor von seiner Schuld zu entlasten...Das auf ihn gewälzte Verbrechen, die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit die Genossen des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird der tragische Held – noch wider seinen Willen – zum Erlöser des Chors gemacht“ (1913, S. 188).

Diese Verwandlung des Tyrannen in den Erlöser wäre die Voraussetzung der Umkehrung der Feindseligkeit in ihr Gegenteil der „Liebe“: die Voraussetzung, dass die Macht auf Gewaltanwendung verzichten kann, dass ihr vielmehr in Liebe, Verehrung, Gehorsam gefolgt wird, durch die Liebenden selbst, „verinnerlicht“.

So kann man die Wirkung der Macht heute noch beschreiben: sie wirkt aus dem Inneren, in uns selbst stationiert, wenn gleich tyrannisch: als Instanz: das „Über-Ich“. Nur wenige halten die Herkunft dieser Instanz in Erinnerung, wie z.B. Brückner (1978, S. 132, 150) der vom „verinnerten Staat“ spricht. Der „Kulturfortschritt“ besteht in der Verinnerlichung der Macht, die die „äußere“ Macht zwar nicht unnötig macht, aber unsichtbar, vertreten durch eine „Repräsentanz“ im („Inneren“ des) Subjekt(s) selbst.

Der Aufstand der „Brüderhorde“ ist nicht nur Zwischenstadium auf dem Weg zur Verinnerlichung der Macht, sondern deren ständige Bedrohung: mit jedem Neugeborenen werden die – unzivilisierten – Triebe wieder geboren und mit ihnen die Gefahr des ödipalen Verbrechens. Es muss also von jedem Individuum der „Ödipus“ durchlaufen werden (der „notwendige Durchgang durch den Ödipus“), die Aufrichtung der Macht des Gesetzes des „Vaters“, die Verinnerlichung seiner Gebote im „Über-Ich“.

III.

Adlers Sichtweise führt zu ganz anderen Schlüssen: die Macht muss nicht verinnerlicht werden, sondern überwunden. Die Macht ist nicht notwendig, um die Triebe zu unterdrücken, denn: die „Triebe“ (Strebungen), aus deren – notwendiger – Unterdrückung die Notwendigkeit der Macht abgeleitet wird, sind nicht primär, sondern durch die Macht hervorgerufen. Sie sind nicht primär feindselig, anti-sozial, sondern sekundär, durch die Macht dazu gefordert, verführt. Sie sind nicht primär „ödipal“, sondern nehmen sekundär jene Züge an, „die auf die Mutter gerichteten Begehrensvorstellungen entsprechen“ (Adler 1910 c, S. 493). Sie sind für Adler Ausdrucksweisen im Rahmen des „männlichen Protests“: “Erniedrigung und Entwertung der Frau“, „Herrschsucht aus Angst vor Unterwerfung und als Sicherungstendenz“ (Adler 1911 d, S. 218).

Primär ist das Streben nach Befriedigung, nicht gegen den anderen, sondern mit ihm. Streben nach dem anderen, nach „Gemeinschaft“ mit anderen, gemeinsamem Leben und Verwirklichung im Austausch mit anderen.

Dieses Streben nach Gemeinschaft mit anderen wird durch die Macht behindert, sabotiert, seiner Grundlage entzogen, umgelenkt in die Rivalität gegen den ersehnten anderen. Dort, in der Rivalität mit dem (den) anderen wird die Minderwertigkeit erlebt, die „feinen Unterschiede“, die Klassendifferenzen des Geschmacks, der Bildung, der Kultiviertheit, hinter ihr, hinter dem anderen, hinter der Rivalität verschwindet die Macht, entzieht sich die Macht unserem Blick.

Die Rivalität wird also nicht wie bei Freud in der Brüderhorde entstehen, die durch die Macht verhindert werden müsste, in den Schranken des Gesetzes der Macht „befriedet“, sondern sie ist bereits Ergebnis der Macht, ihrer Präsenz, ihres Eingriffs, ihr Gift, die die Brüder gegeneinander ausspielt - um von sich (der Macht) abzulenken, um sich vor dem Aufstand gegen sie zu schützen: eine Taktik der Machterhaltung - durch Spaltung ihrer Gegner.

Dadurch ist das Machtstreben alltäglich - und gleichzeitig: ohne die Macht selbst anzutasten. Der Kampf um die Macht ist nicht gegen die Macht (des Urvaters) gerichtet. Die Machtkämpfe der „Brüder“ untereinander verhindern vielmehr, die Macht des Vaters zu erobern.

Die Macht wird nicht durch das Verbot (des Machtkampfes) geschützt, sondern durch das Machtstreben selbst (deshalb stachelt sie dieses auch an). Nicht die Verinnerlichung (der Gesetze) des Vaters lässt deren - nicht Gesetze, sondern - Parolen befolgen, sondern die Fiktion selbst Herr zu sein, Fiktion der “Teilhabe an der Macht“.

Dies wäre nach Adler die Verinnerlichung (der Macht), bzw. deren Ergebnis. Das Streben nach Macht: eine Folge der Ablenkung des Strebens nach Überwindung der Minderwertigkeit - durch die Macht (selbst) als Sackgasse, Ausweg gewiesen, mit dem sie selbst aus der Schusslinie gebracht werden sollte.

Diese Verinnerlichung gälte es, folgte man Adler, rückgängig zu machen, die Umkehrung des Strebens nach Gemeinschaft mit den anderen in das Streben nach Macht (über den anderen) wäre aufzuheben, die Idealisierung der Macht, die Unterwerfung unter sie, ihre Verehrung, ihre Nachahmung.

Man kann (könnte) auch das Streben nach (Gemeinschaft mit) den anderen als eine „Fiktion“ bezeichnen. Das allein machte sie nicht schlechter als die Fiktion des Kampfes der Brüderhorde aus Totem und Tabu. Der entscheidende Unterschied ist ihr Verhältnis zur Macht.

Es ist falsch, Freud und Adler, i.S. der Dichotomie von „Sexual“-„Trieb“ und „Macht“-“Trieb“ gegen einander zustellen. Das Macht-Streben ist bei Adler kein Trieb, weder biologisch, noch anthropologisch im „Wesen“ des Menschen begründet. Auch die Aggression ist bei Adler kein Trieb, vielmehr ist sie provoziert durch die negative Intervention eines anderen, durch die Behinderung der Befriedigung der Bedürfnisse (nach der Gemeinschaft mit dem anderen).

Das Macht-Streben ist gesellschaftlich determiniert, durch die Macht selbst hervorgerufen. Sie verwehrt den Zugang zu den „Mitteln der Befriedigung“, fordert den Widerstand gegen sie heraus, den „männlichen Protest“ (Adler). „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“ (Foucault 1976, S. 116). Und die Macht lenkt diesen Widerstand zugleich ab in die Konkurrenz gegen den „Nebenmenschen“.

Die Differenz Freud/Adler liegt also auf dieser Dimension der Gesellschaftlichkeit, der gesellschaftlichen Bestimmtheit des Strebens, (des Begehrens).

Adler rückt nicht nur das Macht-Streben in den Blick, sondern die Macht selbst. Und d.h.: er macht die Blickwendung Freuds nicht mit, die Umkehrung der Ursache und Folge. Nicht: die gesellschaftliche Machtstruktur ist Ergebnis individuellen Machtstrebens, sondern umgekehrt: das individuelle Macht-Streben reproduziert die gesellschaftliche Macht-Struktur, deren Ergebnis es ist. Macht gibt es nicht, weil es Machtstreben gibt, sondern umgekehrt: die Macht ist das „Krebsgeschwür“ (Adler), sie „macht Feige aus uns allen“ - wie Adler Nietzsches Charakterisierung des „Gewissen“ übernimmt.

Ergebnis von individuellem Macht-Streben kann immer nur sein: einen Platz an der Macht, in der Macht-Struktur erobert zu haben - nicht diesen Platz selbst geschaffen haben. Machtstreben: ein Schnappen nach dem Speck, der uns vorgehalten wird - meist nicht einmal Teilhabe an der Macht, sondern „Umverteilung“ des Specks, ihn anderen wegzuschnappen. Deshalb richtet sich dieses Machtstreben vorzugsweise gegen den anderen (statt gegen die Macht): Neid, Konkurrenz, Entwertung.

Von „Machtstreben“ kann nicht deshalb gesprochen werden, weil das Individuum nach Macht strebt, sondern weil dieses Streben von der Macht angeleitet ist. Gleichwohl kann es von der Illusion begleitet sein (und ist dies auch meist), dass das, was man damit erreicht, „Macht“ ist – über den anderen, in den Augen des anderen: „als ob“. Insofern Streben nach einem Surrogat, einem Schein (von Macht), “imaginär“, eine Ablenkung von der „eigentlichen“ Macht (der realen Macht). Eine Kompensation (der Minderwertigkeit), auch im wörtlichen Sinne „bloßer“ Kompensation: nicht Aufhebung – der Minderwertigkeit, der Ungleichheit, der (Struktur der) Benachteiligung, der Herrschaft.

Dieser Charakter des „als ob“ kann durchaus die Qualität des Unbewussten haben, aber es ist nicht ein „als ob ich den Führer liebe“, sondern als „ob ich selbst der Führer wäre“, Herr meines eigenen Tuns - und nicht „Knecht fremder Machtgelüste“ sei (Adler 1919 a, S. 14).

Vielleicht haben Adler und Freud verschiedene (unbewusste) Verarbeitungsweisen der Macht im Kopf, unterschiedliche gesellschaftliche Schichten, ein jeweils anderes „Bewusstsein“. Es ist aber die Frage des Verhältnisses zur Macht, die Freuds und Adlers Position unterscheidet. In „Totem und Tabu“ ebenso wie in den Antikriegsschriften Freuds (1914a +b, 1915, 1932) wird die Macht gerechtfertigt, und zwar mit der „Notwendigkeit“ der Unterdrückung der „Triebe“, der Beherrschung der verbrecherischen Natur des „Menschen“: die „Kulturleistung“ der Macht. Im Ödipus-Mythos, der Darstellung der „Triebschicksale“, gerät die gesellschaftliche Macht überhaupt aus dem Blick.

IV.

Der Mythos von Ödipus bleibt auch in und nach „Totem und Tabu“ weiter der entscheidende Mythos der „Grundstruktur des Menschen“ für Freud: das Verbrechen der Brüderhorde wird als „ödipales“ bezeichnet, der Mythos des Ödipus erfährt keine machttheoretische „Umkodierung“, Umschreibung, sondern umgekehrt wird die Machttheorie in Begriffen der „ödipalen“ Struktur gefasst. Menschheitsgeschichte und Individualgeschichte werden im Triebschicksal des Ödipus ineinander verschlungen. Ödipus ist nun nicht mehr nur die Triebgeschichte eines jeden von uns, sondern zugleich der Kern der Menschheitsgeschichte. Umgekehrt: wir wiederholen in unserer (Trieb)Geschichte die Ursprungsgeschichte der Menschheit.

Daher kann man sagen, dass es die Verleugnung der Macht ist, die die entscheidende Haltung Freuds gegenüber der gesellschaftlichen Macht darstellt. Die Theorie der Urhorde erscheint eher wie eine Entgegnung gegenüber der Machttheorie Adlers. Sie ist in der Zeit der Kontroverse mit Adler und nach der Trennung von Adler 1912/1913 entwickelt worden. Das Bild könnte nicht treffender sein für den „Vatermord“, den ein Teil seiner Anhänger dadurch verübte, dass sie mit Adler die Mittwochsgesellschaft verlassen haben.

Dass der Ödipus-Mythos diesem Projekt der Verleugnung der Macht verpflichtet ist, wird nicht nur durch die ödipale Struktur der Machttheorie Freuds in „Totem und Tabu“ bestätigt, sondern durch die Freudsche Rezeption des Ödipus-Mythos selbst. Betrachtet man das Stück, das diese Figur, wenngleich nicht in die Literatur eingeführt hat, so doch in ihr immer wieder aufgegriffen worden ist, die Tragödie von Sophokles, so muss man sich die Augen reiben.

In dem Stück ist keine Rede vom uns (durch Freud) nahegelegten „ödipalen“ Begehren des Sohnes zur Mutter und nicht von der daraus folgenden feindseligen Rivalität gegen den Vater. Vielmehr ermordet Ödipus seinen Vater und heiratet seine Mutter ohne zu wissen, dass er das tut: er weiß nicht, dass der Mann, den er umbringt, sein Vater ist und dass die Frau, die er heiratet, seine Mutter.

Nun könnte man darin eine schöne Definition des Unbewussten sehen: wir handeln, ohne zu wissen was wir tun und weshalb, ohne Bewusstsein und Willen.

Dass Ödipus, durch das Orakel gewarnt, seine Eltern verlässt, um gerade nicht zu tun, was ihm prophezeit worden ist: auch hier handelt er ohne Wissen, wenngleich mit Willen: er weiß nicht, dass die, die ihn aufgezogen haben, nicht seine Eltern sind. Das Unbewusste zeigt sich eben – im Handeln - nicht im Bewusstsein. Ödipus tötet seinen Vater, heiratet seine Mutter: darin zeigt sich sein Wille, Wunsch als unbewusster.

Aber hier müssen wir genau bleiben, uns nicht mit voreiligem Verstehen zufrieden geben: Wenn wir darin eine zutreffende Definition des Unbewussten sehen wollen, dass sich der (unbewusste) Wunsch im Handeln zeigt, so zeigt sich in Ödipus´ Handeln gerade nicht sein Wunsch, sondern ein anderer: der der Götter.

Die Götter: das sind in der griechischen Mythologie und bei Sophokles: die Personifikation einer Macht, jenseits des Willens und Bewusstseins der Menschen, die das Handeln der Menschen lenken, bestimmen, woanders hin führen, als diese wollen und denken. Wir müssen die „Götter“ übersetzen. Sie sind, wie Freud (1925, S. 86) zutreffend sagt, „die Materialisation“ von etwas anderem, das wir hier einsetzen müssen.

Und zwar: „die Materialisationen der inneren Notwendigkeit“: „dass der Held ohne sein Wissen und gegen seine Absicht sündigte, verstand sich [für Freud] als der richtige Ausdruck der unbewussten Natur seiner verbrecherischen Strebungen“ (Freud 1925, S. 86).

Aber: Hier liegt (bereits) Freuds Kurzschluss vom (verbrecherischen) Handeln auf verbrecherische Strebungen. Dieser Schluss ist begründet in der Verlagerung der „Notwendigkeit“ nach „innen“. Diese Verlagerung muss aber erst stattgefunden haben. Für Freud ist sie vorausgesetzt, nicht Ergebnis.

Die Götter werden nicht ersetzt durch das Unbewusste, sondern zum Verschwinden gebracht. Ihr Platz bleibt leer. Die Wirkung der Macht der Götter wird dem Unbewussten zugeschrieben. Damit wird die Macht (der Götter) unbewusst gemacht.

Diese Freudsche Unbewusstmachung hat ihre Entsprechung im Realen, in der realen Unbewusstmachung der Macht selbst, die Freud aber als solche nicht expliziert. Im Gegenteil, er tut so, als sei diese primär.

Das Unbewusste ist (zunächst) an einem anderen Ort anzusiedeln: unbewusst sind Ödipus die Bedingungen, unter denen sein Handeln zum verbrecherischen wird – unbewusst i.S. von unwissend, von Nicht-Wissen. Ödipus weiß nicht, was er tut - nicht weil er seine Strebungen nicht kennt, sondern die Personen, auf die sich seine Strebungen richten.

Dieses Wissen wird ihm von diesen Personen selbst vorenthalten. Dort, bei den Eltern hat also das Unbewusste seinen Ort. „Die Psychoanalyse vergisst seit Freud der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Verdrängung und das Unbewusste beim Anderen da sind, bevor sie es beim Kind sind: bei den Eltern“ (Laplanche 1991, S. 489). Sie, die Eltern übertragen das Unbewusste auf das Kind.

Es ist aber nicht, wie Laplanche annimmt, das Unbewusste der Eltern, sondern es wird erst zum Unbewussten, und zwar dem Unbewussten des Kindes durch diese Übertragung, durch dieses Vorenthalten von Wissen. Es handelt sich also um eine Transformation. (aktuelles Beispiel: das den Kindern der Nazi-Eltern von diesen vorenthaltene Wissen, das die Kinder als ihr Unbewusstes mit sich schleppen).

Die Eltern tun das, weil sie sich der Strafe entziehen wollen, der Konsequenzen ihrer Taten, weil sie den Willen der Götter außer Kraft setzen wollen, eine Macht verleugnen, der sie selber unterworfen sind.

Das ist nicht möglich, sagt Sophokles: wir setzen die Macht nicht außer Kraft, indem wir sie verleugnen. Das ist die Botschaft, die Sophokles als Vertreter des „demokratischen“ Athen an seine Bürger gibt, die sich im Rahmen der Dionysos - Festspiele ein mal im Jahr versammelt haben.

Der Fortschritt der Demokratie, für die Sophokles spricht, liegt nicht darin, die Macht (der Götter) abgeschafft zu haben, (hinter der sich die Macht der Herrschenden verbirgt), sondern es ist ein Fortschritt in der Praxis des Rechts, wie Foucault (1970) herausgearbeitet hat: dem Recht gegenüber ist auch der König unterworfen.

Foucault erinnert trocken daran, dass dies der Titel des Stückes von Sophokles ist: „Ödipus Rex“ (und nicht „Ödipus der Blutschänder“, oder „Ödipus der Vatermörder“). Als König wird er auch in seinem Verhalten und in seiner Aufgabe dargestellt: den Mörder des Vorgängers auf dem Thron zu finden (und natürlich ihn der gerechten Strafe zuzuführen). Foucault sieht darin den eigentlichen Inhalt des Stückes von Sophokles, eine „dramatisierte Geschichte des griechischen Rechts“ zu sein (S. 128). Es würden „eine Reihe von Verfahren“ zur Ermittlung des Straftäters vorgeführt: Das Orakel, die Weissagungen, die religiöse Anweisungen, ihre typischen Formen des Fragens und Antwortens - in den ersten Szenen (S. 132) - und die Formen des neuen Verfahrens zur Wahrheitsermittlung im griechischen Gerichtsverfahren des 5. Jahrhunderts, als Ödipus am Ende die Rolle des Richters übernimmt und die beiden Knechte befragt (S. 133)

Dass der König als Richter sich selbst verurteilen muss, zeigt die Beschränkung der Macht durch das Recht und zugleich deren Affirmation als gerechtfertigte Macht. Dies, denke ich, ist die wesentliche Botschaft des Ödipus, des Ödipus Rex von Sophokles. Der Mord und der Inzest sind dabei lediglich der Vorwand, diese Botschaft als Geschichte auf die Bühne zu bringen.

V.

Freuds Botschaft ist eine andere: die Macht wird affirmiert - nicht durch ihre Legitimation, sondern durch ihr Verschweigen. Mit der Geschichte von Ödipus, so wie Freud sie erzählt und in der Bedeutung, die er ihr gibt, wird die Macht, die unser Handeln bestimmt, die „Notwendigkeit“, das Nicht-Wissen, das „Unbewusste“ ins Innere des Individuums verschoben. Die „innere“ Notwendigkeit wird in der „Trieb“-Struktur des Individuums versteckt: das ödipale Begehren.

Das Schweigen über die Macht, die Verschiebung der Macht, die uns bestimmt, ins „Innere“ des Individuums, bedeutet nicht, dass die („äußere“) Macht verschwindet, sondern dass sie un(an)greifbar gemacht wird.

Mario Erdheim (1982, S. 433) bezeichnet dies als „Unbewusstmachung der Realität der Macht“. Die Macht wird in die Vorstellungswelt der Kindheit geholt, auf das Format eines Familiendramas zurechtgeschnitten: die „Phantasmen der guten Herrschaft“. Allerdings werden uns diese Bilder tagtäglich durch die Medien aufgedrängt - und gleichzeitig werden uns andere Bilder vorenthalten, die nicht „phantastisch“ wären, sondern „realistisch“. Indem uns die einen gezeigt werden, werden die anderen versteckt. Bourdieu (1996) nennt diese Strategie „Verstecken durch Zeigen“: die Strategie des Diskurses der Macht - neben der anderen Strategie der Zuschaustellung der Macht - in ihren Selbstinszenierungen, in der Ausübung von Gewalt – gegenüber den „Feinden“ der Macht (der Demokratie).

Die (Freudsche) Verschiebung der Macht ins Individuum macht die Psychoanalyse „anschlussfähig“ an den Diskurs der Macht. Diese Anschlussfähigkeit stellt sich aber nicht erst post festum ein, sondern das gesamte Freudsche Projekt seines Ödipus-Mythos selbst ist in den Diskurs seiner Zeit eingebettet, aus diesem entnommen. Ödipus war wenn auch nicht unbedingt der Mythos des 19. Jahrhunderts, so doch zentrale Figur in der Rezeption der klassischen Antike in Literatur, Theater, Kunst und Architektur.

Die zahlreichen Inszenierungen und Bearbeitungen des Ödipus-Stoffes, die es gab, hatten diesen bereits mit der gesamten antiken Kunst aus seinem historischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext gelöst - wie auch Freud es tat. Wie Freud abstrahierten sie von den gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, in denen, aus denen heraus und für die das Stück geschrieben worden war: von der gesellschaftlichen Situation und Position des Schreibers (Sophokles als Staatsmann und Kriegherr Athens), vom Zusammenhang, in dem das Stück aufgeführt und für den es geschrieben worden war, (den Dionysos Festspielen, in denen die Bürgerschaft des athenischen Staates sich in der Selbstdarstellung ihrer neuen Macht als Metropole der griechischen Welt selbst feierte). Ebenso abstrahierten sie von den formalen ästhetischen Neuerungen, die Sophokles in die traditionelle Struktur und Aufführungspraxis der Tragödie eingeführt hatte, um auf der formal-ästhetischen Ebene dem Neuen Ausdruck zu verleihen: die neue Legitimation der Macht, in Gestalt der Demokratie, die der „Willkür“ der alten Mächte Schranken gesetzt hatte - wobei der Demos dieser „Demokratie“ sich auf die Besitzbürger beschränkte, immer noch eine Minderheit von etwa 15% der Bevölkerung.

Ebenso löste Freud die „Griechenland“-Begeisterung seiner Zeit, die die Dramatiker und Schauspieldirektoren dazu brachte, dieses Stück immer wieder zu inszenieren und zu bearbeiten, aus ihrem aktuellen politischen Bedingungen: Dem Zeitalter der Restauration und des Rückzugs des Bürgertums aus der politischen Arena, die Angst der Bürger vor der Revolution, das sich im Glanz der Perikleischen Klassik (der Zeit Sophokles´, als dem Zeitalter der „Demokratie“ spiegelte (und kostümierte), “das Land der Griechen mit der Seele suchend“, wie Winkelmann und Goethe vorgegeben hatten und wogegen Nietzsche (1872) mit sarkastischer Polemik und einer Kritik am falschen Bild der griechischen „Heiterkeit“ protestiert hatte.

Von all dem sieht Freud ab, sowohl vom zeitgeschichtlich aktuellen als auch historischen Kontext, wenn er scheinbar naiv allein aus der Handlung des Stückes die „Wirkung [des Stoffes] auf den Betrachter“ erklären will. So behauptet er in seinem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ vom 15.10.1897: „... die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat (Freud 1897, S. 293).

Freud habe diesen Zwang auch bei sich „entdeckt“: „Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit... Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt...“ (Freud 1887, S. 293).

Von dieser Wirkung behauptet Freud auszugehen. Sie ist ihm Erklärung dafür, dass dieses Thema (des Ödipus-Stückes) immer noch auf die Zuschauer anziehend wirke, unter Absehung von diesem zeitgeschichtlichen Kontext.

„Es muss eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist... Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können [...]. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Hass und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon“ (Freud 1900, S. 269).

„Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus“. (Freud 1887, S. 293). „König Ödipus [...] ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. [...]. Vor der Person, an welcher sich jener urzeitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten haben (Freud 1900, S. 269).

„Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres eigenen Innern, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind. Wie Ödipus leben wir in Unwissenheit der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufgenötigt hat“ (Freud 1900, S. 269).

Freud behauptet, er habe diese Wünsche in seinen (und der Patienten) Träume „entdeckt“. Das mag sein, aber wie kommen diese Wünsche in die Träume?

Lange bevor Freud diese Entdeckung seinem Freund Fliess mitgeteilt hat, hat er selbst eine der berühmten Inszenierungen jener Zeit während seines Aufenthaltes in Paris (1885/86) gesehen (s. Jones 1953-57, Bd. I, S. 213). Freud war also, so ist anzunehmen, unter der „Wirkung“ dieser Dramen-Figur gestanden, als er seine „Entdeckung“ gemacht hat. Die Erklärung, er habe den Mythos des Ödipus in den Träumen entdeckt und die Geschichte von Sophokles habe diese Entdeckung nur bestätigt ist also umgekehrt zu lesen: Freud hatte die Träume unter dem Eindruck der Wirkung der Ödipus-Figur “gedeutet“, die zu seiner Zeit überall (im Theater) präsent gewesen war.

Diese über die Träume gelegte Deutung gibt Freud als die Erzählung der Träume aus. Die Träume erzählen ihm keine andere Geschichte als die, die er um sich herum auch außerhalb der Träume hört, im Theater, in der Literatur, oder in sonst einem Medium des Diskurses der Zeit, heute: im Kino, im Fernsehen.

Freud verlegt diesen Diskurs in die Träume. „Das Unbewusste [selbst] wird Theater, Inszenierung - und noch nicht einmal avantgardistisches Theater“, wie Deleuze & Guattari bemerken, „sondern klassisches, Theater der Repräsentation“ (– der Macht), „der Psychoanalytiker wird dessen Spielleiter“ (Deleuze & Guattari 1972, S. 69).

Die Träume werden „dramatisiert“: die „Verliebtheit“ in die Mutter wird zum Inzest-Wunsch, die „Eifersucht“ auf den Vater zum Todeswunsch (Mord-Wunsch).

Die Wünsche werden „ödipalisiert“ (Deleuze & Guattari), in den Rahmen des „ödipalen Dreiecks“ der Familie zurückgeholt - obwohl sie gar nicht dort entstanden sind und auch ihr Objekt und Bezugszentrum nicht in der Familie haben. Das ödipale Begehren ist keineswegs eine „Grundstruktur des menschlichen Daseins“, sondern Ergebnis der Ödipalisierung (Refamiliarisierung) des Begehrens (durch die Psychoanalyse). Dieses wird infantilisiert, von seinen gesellschaftlichen Objekten und Bezugszentrum abgeschnitten, sein emanzipatorischer Horizont verriegelt (Bloch), seines widerständigen Potentials beraubt und damit seiner schöpferischen, produktiven Kraft (Adler).

Dieses Einsperren in das ödipale Dreieck ist zugleich ein Verschweigen der Macht, gegen die das Begehren Widerstand leistet, aufbegehrt: Verschweigen durch Reden (über etwas anderes), eine Form des „Versteckens durch Zeigen“. Die Macht wird ins „Innere“ des Subjekts verschoben, ins Unbewusste als der eigentlichen Macht, dem unser Verhalten, Denken, Wahrnehmen, Fühlen gehorcht. Diese Unbewusstmachung der Macht verdunkelt den emanzipatorischen Horizont der Psychoanalyse, des „Sagen sie alles, was Ihnen durch den Kopf geht“.

Das ödipale Dreieck ist zwar nicht von der Psychoanalyse erfunden worden, sondern von ihr übernommen worden aus dem Diskurs der Zeit. Aber indem die Psychoanalyse diese Geschichte übernimmt, affirmiert sie das Schweigen (des Diskurses der Macht) über die Macht, die Unbewusstmachung der Macht, macht sie sich selbst zum Instrument dieser Macht (ihres Diskurses).

Das ödipale Dreieck ist selbst eine Machtbeziehung, die Gesellschaft, Familie, politische Macht usw. gegenüber dem Einzelnen herstellen (Foucault 1970, S. 129); eine Machtbeziehung, die nicht als solche erscheint, die vielmehr verschwindet hinter der – ödipalen – Struktur der Familie, in welcher das Begehren ödipalisiert wird.

Indem die Psychoanalyse die Geschichte des Ödipus dem Sprechen des Subjekts unterschiebt, zur Deutung seines Begehrens, als dessen – unbewusste – Geschichte benutzt, bindet sie dieses Sprechen an diesen – ödipalen - Diskurs (des Schweigens über die Macht), trägt sie die ödipale Struktur ins Begehren des Subjekts.

Dadurch wird die Psychoanalyse nicht nur kompatibel dem Diskurs der Macht, sondern - in ihrer Praxis - selbst ein Machtinstrument, eine „Deutungsmacht“ (Pohlen & Bautz-Holzherr 1991): Macht, die durch Deutung wirkt.

Die Psychoanalyse kann sich von dem Vorwurf, Macht-Instrument zu sein, nur befreien, wenn sie ihr Schweigen über die Macht, ihre Macht-Verleugnung aufgibt, wenn sie ihre eigene Macht-Ausübung („Ödipalisierung“) thematisiert, ihren Mythos von Ödipus dekonstruiert, wenn sie die Macht selbst thematisiert, die Macht, die unser Denken und Handeln, unser Wahrnehmen und Fühlen – auch gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres Bewusstseins – bestimmt.


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