Peter Mattes

Postmoderne Psychologie

Als philosophischer Diskurs, als Thematisierung aktueller Lebenswelten sowie als Ästhetisierung stellt Postmodernes Denken Grundannahmen der Psychologie in Frage. Eben damit eröffnet es jedoch auch neue Möglichkeiten für psychologisches Wissen und Handeln.

Der Term 'Postmoderne' steht für eine Reihe von auch anders lautenden Kennzeichnungen der in der abendländischen Kultur gegenwärtigen 'Moderne' (u.a.: 'reflexive Moderne', 'unerkannte Moderne', 'andere Moderne' - aber nicht: Post-histoire!), wobei eine Radikalisierung ebenso wie ein Aufbrechen des szientistischen Programms dieses Zeitalters gemeint ist. Gemeinsam ist ihnen der Verweis auf die weder eingelösten noch einlösbaren Totalentwürfe von rationaler Ordnung und Beherrschung einer Welt, als deren Zentrum das denkende und schaffende Subjekt angenommen wird. Postmodernes Denken, als Skepsis gegenüber jenen Großentwürfen schon früh aufgetaucht (u.v.a.: Montaigne, die Romantiker, Nietzsche, die Literatur und Kunst des fin-de-siècle), verbreitete sich seit den siebziger Jahren, vor dem Hintergrund des drastischen Scheiterns von Totalitarismen in Weltanschauung und Politik, von wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Großentwürfen. Es wird mit ihm das Besondere, Lokale, Zeitgebundene gegenüber dem Allgemeinen, Orts- und Zeitlosen thematisiert (Toulmin), die Vielfalt in gegenwärtigen Rationalitätskonzepten, Lebensformen und Gestaltungsmöglichkeiten ins Gespräch gebracht. In Übereinstimmung mit physikalisch-mathematischen Theoremen aus diesem Jahrhundert (Relativitätstheorie, Unschärferelation, Theorie der Fraktale, Konnektionistisches Paradigma der Informatik) werden Bezugssysteme eines präsumptiv geordneten Ganzen verabschiedet, wird diskreten Strukturen in mannigfachen Relationen Beachtung geschenkt. Es enden - wie Lyotard es für die Möglichkeiten zeitgenössischen Wissens benennt - die 'großen Erzählungen' zugunsten von 'Paralogien' und des 'Widerstreits der Diskursarten' (Lyotard 1993, frz. 1979).

Die Wissenschaft Psychologie ist ein vergleichsweise spätes Produkt der Moderne. Koch (1959) kritisiert ihr erstes Jahrhundert als eine Phase abgehobenen, inhaltsleeren und selbstreferentiellen Bemühens um eine einheitliche theoretische Fassung. Die meisten ihrer Paradigmenstifter lehnten sich an die klassischen Naturwissenschaften an, die jedoch häufig in schon überholter Form rezipiert wurden. In der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie entwickelten sich demonstrative Methodenzentriertheit, Streben nach Universalität, formale Rationalität (u.a. des hypothetico-deduktiven Verfahrens und der Variablenkonstruktion). Trotz der in ihrer Geschichte immer präsenten gegenläufigen Intentionen (schon zu Beginn: W.James, partiell Wundt, Freud) hält sich die 'moderne' Option bis in die Gegenwart (vgl. Westmeyer: 'Experimentelle Psychologen sind Seefahrer auf der Suche nach Inseln der Ordnung. ... Daß es solche Inseln der Ordnung gibt, davon sind sie überzeugt. (1994, 50)). Der postmoderne Einwand wäre schon mit Wittgenstein zu formulieren. Er kritisiert das 'Streben nach Allgemeinheit', 'unsere Voreingenommenheit für die naturwissenschaftliche Methode', die versucht, 'die Erklärung von Naturerscheinungen auf die kleinstmögliche Anzahl primitiver Naturgesetze zurückzuführen. ... . Diese Tendenz ist die eigentliche Quelle der Metaphysik.' (Wittgenstein 1984, 5:38, 5:39)

Postmoderne Psychologiekritik greift weiters auch die Universalentwürfe humanistischer, hermeneutisch arbeitender und Kritischer Psychologen an (vgl. Kvale 1992, Sichler 1994, Mattes 1994). Hier wird die Unhaltbarkeit der den 'großen Erzählungen' entstammenden Konzepte des sich entfaltenden Subjekts, des sich entbergenden Sinns und der dialektisch sich entwickelnden Gesellschaft in Frage gestellt. Solche Gesamtzusammenhänge sind nicht (mehr) einholbar. Kognitiv und sozial verhandelbar dagegen ist Disparates, Kontingentes und Fraktioniertes.

Schließlich will postmoderne Kritik weg vom paradigmatischen, wissenschaftlich verpflichtenden Denken, hin zur 'ent-unterwerfenden' Bewegung in Diskursen. In Anschluß an Foucaults philosophisch-historische Analysen werden Unterwerfungs- und Ausschlußdispositive untersucht, die nicht nur in den Konzeptem der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie zu finden sondern auch in die Grundannahmen der qualitativ arbeitenden Psychologie (Individualität, Persönlichkeit, Subjektivität) sowie deren Methoden (Gesprächsführung, Interpretation, Psychoanalyse) eingeschrieben sind. Statt dessen werden vielstimmige, anarchische Diskursformen favorisiert, die Konzept- und Methodenbildung pluralisieren und dezentrieren (Feyerabend 1980). 'Die Vielheit hat weder Subjekt noch Objekt' (Deleuze & Guattari 1977, 13), was den generalisierten Beobachter ebenso wie einen generalisierten Untersuchungsgegenstand zugunsten rhizomartig sich bildender Konstellationen auflöst.

Postmodern orientierte Persönlichkeits- und Sozialpsychologen verweisen auf die alltäglich gewordenen Lebensformen des 'proteischen' (Keupp 1996) oder des in der Vielfalt der sozialen Beziehungen konstruierten 'sozial gesättigten' (Gergen 1994) Selbst. In diesen Szenarien erscheint die Suche nach und das Denken eines Selbst als Identität als - allerdings verbreitete - reaktive Abwehr. Die dort tendenziell noch beibehaltenen Substanzannahmen vom gesellschaftlichen Subjekt werden von Narrativen (auch: Diskursiven) Psychologen (u.a. Shotter & Gergen 1989, Edwards & Potter 1992, Vaassen 1996) aufgelöst. Sie analysieren, 'dekonstruieren' Texte, in denen Verweisungen, Brüche, Ungleichzeitigkeiten aufgespürt, Differentes und Nicht-Präsentes zur Sprache gebracht werden können. Subjektivität wird als narrativ konstruiert, als rhetorisch performativ und als intertextuell relationiert angesehen. Hier trifft sich postmoderne Psychologie mit dem 'linguistic turn' in den Geistes- und Kulturwissenschaften sowie in der Kognitiven Psychologie (Harré & Gillett 1994). Einen Mittelweg zwischen Lebenswelt- und Textanalyse sucht dagegen die Reflexive Sozialpsychologie. In der Untersuchung lebensweltlicher Zusammenhänge stellt sie die Frage: 'Wer erzählt mir wer ich bin?' (Keupp 1996).



Literatur:

Deleuze, G. & Guattari, F. (1977). Rhizom. Berlin

Edwards, D. & Potter, J. (1992). Discursive Psychology. London

Feyerabend, P. (1980). Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt/M

Gergen, K.J. (1991). The saturated self. Dilemmas of identity in contemporary life. New York

Harré, R. & Gillett, G. (1994). The discursive mind. Thousand Oaks.

Kvale, S. (1992). Postmodern psychology: a contradiction in terms? In: Kvale, S. (Hg.). Psychology and postmodernism. London

Keupp, H. (1996), Wer erzählt mir wer ich bin? Identitätsofferten auf dem Markt der Narrationen. Psychologie & Gesellschaftskritik 20, H. 4, 39-64

Koch, S. (1959). Epilogue. In: Koch, S. (Hg.). Psychology: a study of a science. New York. 729-788

Lyotard, J.-F. (1993). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien

Mattes, P. (1994). Kritische Psychologie am Grabmal des Intellektuellen - 'Handlungsfähigkeit' in postmoderner Sicht. Journal für Psychologie 2, H.2, 29-36

Shotter, J. & Gergen, K.J. (Hg.). Texts of identity. London

Sichler, R. (1994). Pluralisierung und Perspektivität. Überlegungen zu einer postmodernen Version interpretativer Forschung. Journal für Psychologie 2, H.4, 5-15

Toulmin, S. (1991). Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt/M

Vaassen, B. (1996). Die narrative Gestalt(ung) der Wirklichkeit. Grundlinien einer postmodern orientierten Epistemologie der Sozialwissenschaften. Braunschweig

Westmeyer, H. (1994). Psychologie - eine Wissenschaft in der Krise? In: Schorr, A. (Hg.). Die Psychologie und die Methodenfrage. Reflexionen zu einem zeitlosen Thema. Göttingen. 37-53

Wittgenstein, L. (1984). Das Blaue Buch. Frankfurt/M. Werkausgabe Band 5