ROLAND POSNER


Mensch und Computer als Selbstdarsteller: der Reagan-Effekt
*

*Colloquium vom 18. 1. 1996

 Für Sabine Kowal und Thomas Noll


Im Sportteil einer deutschen Tageszeitung lesen wir: "Der Weg ist lang und steinig. Aber Boxweltmeister Henry Maske scheint schon weit gekommen zu sein. Der Champion im Halbschwergewicht sagt jetzt über sich selbst: ‘Ich bin jetzt mehr der Henry Maske, der ich wirklich bin.’" (Der Tagesspiegel, 11. Dezember 1993, S. 12). Worauf er damit hinaus wolle, erläutert der Zeitungsjournalist: "Das gute Image, das er sich in seinen knapp vier Profijahren aufgebaut hat, soll nun bare Münze bringen."

Ein Mode-Ratgeber belehrt uns: "Wenn ich nicht mehr weiß, wo ich stehe und weshalb, muß ich wenigstens gut dastehen" (Sommer und Wind, 1991, S. 213). Theoretisch gerechtfertigt wird das wie folgt: "Die Darstellung des Selbst nach außen bedeutet nicht mehr ‘Ich bin der und der’, sondern ‘Ich könnte der und der sein’. Der Ausdruck wird zum bloßen Eindruck." (ebd.). Als Beispiel muß die Politik herhalten: "Der Politiker simuliert einen für inhaltliche Zwecke kämpfenden Menschen, der ‘Profi’ simuliert den Beruf, den er gerade ausübt." (ebd.). Ob dies wirklich sein Beruf ist, das ist nicht wichtig: "Was zählt, ist die professionelle Ausführung, die effektvolle Darstellung." (ebd.).

Ein Psychoanalytiker schreibt über einen Kollegen: "Mir ist kein anderer Analytiker begegnet, der ... unvermeidlicher er selbst war als Donald W. Winnicott. Dieses unverletzliche Er-selbst-sein ermöglichte es ihm, für die verschiedenartigsten Leute ein je anderer Mensch zu sein. Wer ihm begegnet ist, hatte seinen je eigenen Winnicott, und dieser trat dem Bild, das der andere sich von ihm gemacht hatte, niemals dadurch zu nahe, daß er versuchte, seine eigene Seinsweise durchzusetzen. Und deshalb blieb er immer so unerbittlich er selbst: Winnicott." (Khan, 1977, S. 348)

Vorausgesetzt, Sie lassen sich auf einen derartigen Diskurs ein, so werden Sie mit mir fragen: Was bedeutet es, "unvermeidlich man selbst zu sein" - ist das denn nicht jeder? Doch wie kann das "unverletzliche Er-selbst-sein" einem dazu verhelfen, von andern jeweils verschieden gesehen zu werden? Wie schafft es einer, der andern "seine eigene Seinsweise" nicht aufdrängt, gerade dadurch "unerbittlich er selbst" zu sein?

Diese Fragen stecken das Thema der folgenden Überlegungen ab. Unser Gegenstand ist das Selbst als Realität, und zwar das Selbst des andern ebenso wie das eigene Selbst. Wie Sie sehen werden, geht es bei der Schaffung dieser Realität nicht ohne Selbstdarstellung, Selbstinszenierung, Simulation und Illusion ab. Deshalb werde ich in einem ersten Teil auf die Arten des Selbst eingehen, in einem zweiten auf die Weisen des Darstellens und in einem dritten auf die Typen der Selbstdarstellung. Nach der bewährten Strategie der Künstliche-Intelligenz-Forschung werde ich dabei über Personen sprechen: Menschen wie Sie und ich. Die Ergebnisse werde ich aber so verallgemeinern, daß sie auf alle interaktiven kognitiven Systeme anwendbar sind. Auf diese Art werde ich Mindestanforderungen formulieren können, die ein kognitives System erfüllen muß, wenn es in der Lage sein soll, ein Selbst zu entwickeln.

Der Anschaulichkeit halber empfiehlt es sich, wenn Sie dabei jeweils an einen bestimmten Menschen und ein bestimmtes kognitives System denken. Bei letzterem stellen Sie sich einfach Ihren PC vor und fragen Sie sich, wie Sie diesen aufrüsten müßten, damit Sie ihm jenes unvermeidliche, unverletzliche, unerbittliche Er-selbst-sein zubilligen können, von dem unser Psychoanalytiker spricht.


 

1. Ronald Reagan als Selbstdarsteller

Als exemplarisches menschliches kognitives System habe ich eine Person ausgewählt, die Sie alle aus den Medien kennen - den größten Selbstdarsteller der achtziger Jahre; den Theaterschauspieler, Rundfunksprecher, Football-Reporter, Filmstar, Firmenvertreter, Gewerkschaftsfunktionär; den Politiker in den Rollen des Gouverneur-Machers, des Gouverneurs von Kalifornien (1967-1974), des Präsidenten der USA (1980-1988) und des Elder Statesman: Ronald W. Reagan.
 

Abb. 1 

Abb. 1: Ronald und Nancy Reagan 1984.
(Aus: Public Papers of the Presidents of the United States: Ronald Reagan,
January 1 to June 29, 1984, S. i)

Hat dieser Mensch überhaupt ein Selbst, werden Sie fragen, war er nicht Spielball wechselnder Kontexte? Hat er je eine eigene Persönlichkeit gehabt? Falls er wirklich Selbstdarstellung betrieb: Was hat er eigentlich dargestellt? Seine eigene Persönlichkeit oder diejenige, die ihm seine jeweiligen Rollen verschafften: die Rollen als Schauspieler, als Rundfunk-Reporter, als Funktionär, als Politiker?

Reagan ist als öffentliche Person mit seinem Selbst nicht sorglos umgegangen. Er schrieb (bzw. ließ schreiben) zwei Autobiographien, und er animierte eine Reihe weiterer Autoren dazu, Fremdbiographien zu verfassen. Seine erste Autobiographie hatte den Titel Where's the Rest of Me ? (1965), die zweite An American Life (1990a). Beide Werke versuchten, ein stimmiges Bild seiner Person aufzubauen, ausgehend von den Erfahrungen seiner Jugend und seinen Erlebnissen als Schauspieler.

Bezeichnend war, daß Reagan im Titel seiner ersten Autobiographie den Satz wiederholte, dessen Äußerung ihm die größte Reputation als Schauspieler eingebracht hatte: "Where's the rest of me?" Es handelt sich um den Film King's Row von 1941, in dem Reagan einen lebenslustigen Burschen vom Lande spielte, Drake McHugh. Dieser war in der Wirtschaftsdepression um sein Geld gekommen, mußte einen Beruf als Eisenbahnarbeiter annehmen, hatte einen Unfall und geriet in die Hände des Unfallchirurgen Dr. Gordon. Jener hatte als Vater von einer seiner Freundinnen schon bisher alles unternommen, um den Wunsch seiner Tochter nach einer Heirat mit Drake zu hintertreiben. Obwohl Drake inzwischen eine andere geheiratet hatte, war Gordon immer noch so gegen ihn aufgebracht, daß er ihm nun ohne Not beide Beine bis zum Oberschenkel amputierte. Beim Aufwachen aus der Narkose tastete Drake nach seinen Gliedmaßen, rief seine Frau und schrie: "Randy, where's the rest of me?" Diese Szene gelang dem Drake-Darsteller Reagan damals so überzeugend, daß sie ihm eine Oscar-Nominierung einbrachte.

Abb.  2

Abb. 2: Nach der Operation ruft Drake seine Frau und fragt sie verzweifelt: "Randy, where's the rest of me?"
Ronald Reagan als Drake McHugh in dem Film King's Row
(USA 1941, Regie: Samuel Wood, Foto: Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin).

Die Frage "Where is the rest of me?" betraf sowohl das körperliche wie das geistige Selbst des Fragenden. Sein Körper war verstümmelt und eine Fortsetzung seines bisherigen Lebens dadurch unmöglich geworden. Im ersten Absatz seiner Autobiographie von 1965 teilt Reagan mit, daß seine Mutter beim ersten Blick auf ihr Neugeborenes im Februar 1911 mit erschöpfter Stimme gesagt hatte: "I think he's perfectly wonderful" (Reagan, 1965 = 1981, S. 3). Und noch auf der gleichen Seite schreibt er weiter unten: "It was not until thirty years later that I found part of my existence was missing." Glaubhaft darstellen zu sollen, daß jemand nicht mehr vollständig war, daß ihm ein Teil seines Selbst abhanden gekommen war, stellte Reagan "vor die schwerste Herausforderung seines Schauspielerlebens" (Reagan, 1965 = 1981, S. 4).

Doch was ist dieses Selbst, wenn es einer teilweise verlieren kann, ohne sich selbst zu verlieren? Diese Frage wird etwas später im gleichen Film beantwortet. Drakes Frau Randy und sein Freund Parry hatten ihre Entdeckung, daß er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, sorgfältig vor ihm verheimlicht. Sie hatten gedacht, es würde ihn ganz umbringen. Eines Tages aber, als Drake in Schwermut zu fallen drohte, überlegte Parry, der Psychoanalytiker war, es sich anders. Er glaubte, auf die Dauer könne nur die Aufdeckung der Wahrheit dem Freund helfen. Wenn sein Selbst vollständig geblieben war, werde es auch diese schlimme Realität verkraften.

 

Abb.  3

Abb. 3: Drake: "Where did Gordon think I live, in my legs? Did he think those things were Drake McHugh?" Randy:
"He wanted to destroy the Drake McHugh you were."
Aus dem Film King's Row (USA 1941, Regie: Samuel Wood, Foto: Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin).

Auf Parrys schreckliche Mitteilung hin vollzieht sich in Drake ein erstaunlicher Sinneswandel. Zögernd kommt ein Lächeln auf sein Gesicht, und er sagt verächtlich: "Hat dieser Gordon angenommen, mein Selbst befindet sich in meinen Beinen? Meint er wirklich, ich bin meine Beine?" - Drakes Zustand bessert sich in dem Augenblick, in dem er die Gleichsetzung seines Körpers mit seinem Selbst und eines Körperteils mit einem Teil seines Selbst ablehnt: "I lost my legs, o.k., but now I found myself again", sagt er nachdenklich, "I'm still myself as much as ever". Und dann triumphierend: "The old Drake is there again. Where's the rest of me? There is no rest of me. I'm as perfect as I ever was."

Die Frage nach der Vollständigkeit seines Selbst sollte Ronald Reagan nicht nur in seinem virtuellen, sondern bald auch in seinem sozialen und persönlichen Leben immer wieder beschäftigen. Man wollte ihn, den Schauspieler, als Politiker nicht für voll nehmen. Reagan erläutert: "Ein so großer Teil des Schauspielerlebens ist ausgefüllt mit dem Fingieren anderer, mit dem Proben und Darstellen von Personen, die man selber nicht ist" (Reagan, 1965 = 1981, S. 6). Das führt dazu, daß die anderen von einem sagen: "He is only an actor", d. h. "he is much like I was in King's Row, only half a man" (ebd.). Und er stimmt dem sogar zu, er selbst fühlte zeitweise: "Ich war ein Halbautomat geworden, der einen Charakter einer zweiten Person nachschuf, den ein dritter [der Schriftsteller] erfunden hatte und zu dessen Simulierung ein vierter [der Regisseur] mich unter seine Fuchtel nahm" (ebd.). Als er in die Politik ging, mußte Reagan somit eine Strategie finden, um dem Vorwurf zu begegnen: "Als Schauspieler ... kannst du nichts anderes als schauspielern, ... das ist auch alles, wozu du fähig bist: So tun, als ob" (Reagan, 1990b, S. 148). Er hatte den Verdacht zu entkräften: "Der lernt nur Reden auswendig, die von anderen geschrieben sind, genau wie er als Schauspieler die Dialoge anderer auswendig gelernt hat" (Reagan, 1990b, S. 148f.).

Reagan gelang es, einen Ausweg aus dieser Zwickmühle zu finden, und der war so simpel wie wirkungsvoll: Er versuchte sich selbst zu präsentieren, wie er war. Er beschränkte am Anfang seiner politischen Karriere seine Auftritte auf ein paar einleitende Worte, um dann die direkte Diskussion der politischen Fragen mit dem Publikum zu suchen (Reagan, 1990b, S. 149). Um zu zeigen, wer er war, hatte er reaktionsschnell und schlagfertig zu sein. Er schaffte dies, indem er sich einen Fundus von Witzen aneignete, die flexibel anwendbar waren, und Geschichten aus seinem eigenen Leben zum besten gab. Der Inhalt seiner Botschaften war nicht so wichtig, er brauchte auch nicht besonders differenziert vorgetragen zu werden. Wichtig war, daß der Darsteller dieses Inhalts sich selbst in den wechselnden Kontexten treu zu bleiben schien, d. h. daß der Inhalt seiner Botschaften sich nicht veränderte. Ausschlaggebend für Erfolg oder Mißerfolg war auch in der Politik nie sein eigener Eindruck von seinem Auftritt, sondern der des Publikums. Und dieser bestimmte wiederum, welche Seiten seines Verhaltens Reagan ausbaute. Das Publikum entschied über Reagans Selbst. Diese Lebenserfahrung durchzieht die Autobiographie wie ein roter Faden.

Reagan dokumentiert dankbar anhand von Jugenderlebnissen, wie andere ihn zu dem gemacht haben, der er war. "Meine Mutter", schreibt er, "war der unerschütterlichen Überzeugung, daß alle sie lieb haben mußten, nur weil sie alle lieb hatte" (Reagan, 1965 = 1981, S. 9). Diese Einstellung färbte auf den Jungen ab.
 

Abb.  4

Abb. 4: Reagan, der Schauspieler, mit seinen Eltern (aus: Reagan, 1990b, Abb.4).

Auch den Anstoß und den Durchbruch zur Schauspielerei hatte Reagan andern zu verdanken. Als seine Eltern mit dem neunjährigen Ronnie und seinem älteren Bruder in das Landstädtchen Dixon zogen, organisierte seine Mutter einen Club zur Rezitation von Theaterstücken und anderer Literatur, in dem ihre Freunde und Bekannten als Rezitatoren auftraten. Reagan erinnert sich: "Eines Tages half sie mir, eine kurze Rede auswendig zu lernen, und wollte mich überreden, sie am Abend bei einem ‘Vortrag’ darzubieten, aber ich weigerte mich. Mein Bruder war schon mehrfach aufgetreten, und das mit großem Erfolg; er konnte wirklich singen und tanzen wie kaum ein anderer, und viele in Dixon meinten, er würde sogar einmal im Showbusiness landen. Aber ich war schüchterner als er und sagte meiner Mutter, ich wollte nicht. Dennoch schien in mir ... ein wenig Ehrgeiz zu stecken, jedenfalls genug, daß ich meinem Bruder nicht nachstehen wollte, und so ließ ich mich schließlich überreden. Ich nahm all meinen Mut zusammen und trat an jenem Abend schließlich auf die Bühne, räusperte mich und gab mein Theaterdebüt. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, aber nie werde ich die Reaktion vergessen: Die Leute lachten und applaudierten. Das war eine neue Erfahrung für mich, und sie gefiel mir. Ich mochte den Beifall. Für einen Jungen, der unter Minderwertigkeitskomplexen litt, war der Applaus Musik. Ich wußte es damals nicht, aber als ich an jenem Abend die Bühne verließ, hatte sich mein Leben in gewisser Weise verändert." (Reagan, 1990b, S. 31)

Reagan beschreibt mehrere solche Angelpunkte seines Lebens, und alle zeigen, welchen Einfluß die Meinung anderer darauf hatte, was er von sich selbst hielt. Am College war er Mitglied eines Schülertheaters, und er schildert die Begeisterung, mit der seine Theatertruppe reagierte, als sie bei einem Wettbewerb an einer anderen Universität den zweiten Platz belegte: "Während wir uns im Erfolg sonnten, wurde [...] bekanntgegeben, daß ich einer der drei Darsteller sei, denen noch zusätzlich Preise für die beste schauspielerische Leistung verliehen werden sollten. Danach rief mich der Leiter [...] des Festivals in sein Büro und fragte mich, ob ich schon einmal an eine Laufbahn als Schauspieler gedacht hätte. Ich sagte: ‘Well no’, und er darauf: ‘Well, das sollten Sie aber.’" (Reagan, 1990b, S. 55). Reagan kommentiert: "Wahrscheinlich war das der Tag, an dem mich der Virus der Schauspielerei endgültig packte, wenn ich auch glaube, daß er schon ziemlich lange in mir sein Unwesen getrieben hatte." (ebd.).

Diese Abhängigkeit von den Meinungen anderer hatte allerdings auch ihre Nachteile. Als Rundfunksprecher zum Beispiel stolperte Reagan mehrfach darüber: "Das Geheimnis der Rundfunkansage", schreibt er, "liegt darin, das Lesen so klingen zu lassen, als handelte es sich um unvermitteltes Sprechen. Mir macht es aber bis heute Schwierigkeiten, ein Manuskript auf Anhieb zu lesen. Zu jener Zeit war ich darin ganz schlecht. Ich wußte das, und die Zuhörer wußten es auch. Schlimmer noch: auch die Sponsoren wußten es. So gelang es mir nicht, dem Gesprochenen jenen Gesprächston zu geben, der überzeugend gewesen wäre." (Reagan, 1965 = 1981, S. 56).

Die ständige Brechung der Selbstwahrnehmung durch die Wahrnehmung der anderen wird mein Thema bleiben. Es läßt sich zuspitzen auf die Frage: Inwiefern ist, was einer ist, das, was die anderen von ihm halten?



2. Arten des Selbst

Versuchen wir die Fragen nach dem Selbst und der Selbstdarstellung nun durch Einbettung in die semiotische Theorienbildung zu beantworten. Sie erhalten dann die Form: Wieviel am Selbst beruht auf Selbstdarstellung? Welche Art von Zeichenprozeß ist die Selbstdarstellung?

Um diese Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, zunächst eine Reihe von Selbst-Begriffen zu prüfen. Ich werde sie durch Beispiele aus dem Leben des jungen Reagan exemplifizieren (und mir dabei erlauben, seine Biographie ein wenig zu ergänzen).



2.1. Die Persönlichkeit (das Selbst im engeren Sinn)

Denken wir an die Reagan-Familie: Der ständig auf Jobsuche befindliche Vater mußte wieder einmal umziehen. Der kleine Ronnie kam in die zweite Schulklasse eines fremden Ortes, der Lehrer kannte ihn nicht. Er wollte wissen, wie Ronnie seinen Namen schreiben konnte. Dieser malte nun in Schönschrift "Ronald" an die Tafel. Der Lehrer sah das Ergebnis und sagte vor der ganzen Klasse mit leichter Überraschung: "Du bist ja ein Schönschreiber."

Der Lehrer a wird hier durch eine einzige Handlung f (das Schönschreiben) des Schülers b dazu veranlaßt, b ein permanentes Merkmal F (Schönschreiber) zu attribuieren:

(1a)

T(b,f)
[b vollzieht Schönschreiben]

(1b)

F (b)
[b ist ein Schönschreiber]

Ein Schönschreiber zu sein, wird so zum Persönlichkeitsmerkmal erhoben und Ronnies Selbst wird vom Lehrer als Menge { } solcher Persönlichkeitsmerkmale P konstruiert. Entsprechend wollen wir unter der "Persönlichkeit" eines Menschen b die Menge der permanenten Merkmale von b verstehen:


(S1)

{ P | P(b) }
[die Menge aller P, für die P(b) gilt]

Als Persönlichkeit in diesem Sinne wurde das Selbst bereits in der Psychologie der Aufklärungszeit betrachtet. Autoren wie Friedrich Schiller diente diese Auffassung als theoretische Grundlage für ihr Theaterschaffen. Schiller hat bekanntlich die Kriminalistik seiner Zeit studiert und seine eigenen Stücke nach dem Prinzip geschrieben, der Zuschauer solle aus den Taten des Delinquenten auf dessen Charakter schließen. Im fünften Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen stellt Schiller fest: "In seinen Taten malt sich der Mensch." (Schiller, 1795 = 1962, S. 580) Wir alle versuchen, aufgrund des Verhaltens in Einzelsituationen einander lang anhaltende Charaktereigenschaften als Persönlichkeitsmerkmale zuzuordnen, um angemessen miteinander umgehen zu können.

 


2.1. Das Selbstkonzept (das Eigenkonzept-Selbst)

Für den kleinen Ronnie war der Lehrer eine große Autorität. Durch sein Lob fühlte er sich bestätigt und hielt sich nun selbst für einen Schönschreiber. Jedesmal, wenn er etwas an die Tafel schrieb, schrieb er es so schön, wie er nur konnte:

(2a)

T(b,f)
[b tut f]

weil er glaubte, daß er ein Schönschreiber war:

(2b)

G(b, F(b))
[b glaubt, daß b ein F ist]

Das Schönschreibenkönnen (Schönschreibersein) gehörte nun zu dem Eigenkonzept, das b von sich hatte: zu dem, was b von sich selbst glaubte.

Dementsprechend bezeichnen wir als "Eigenkonzept-Selbst" einer Person b die Menge aller permanenten Merkmale P, von denen b glaubt, daß sie seine Persönlichkeitsmerkmale sind:

(S2)

{ P | G (b, P(b)) }
[die Menge aller P, von denen b glaubt, daß P(b) gilt]

Das "Eigenkonzept-Selbst" wird in der Attributionspsychologie als "Selbstkonzept" bezeichnet und bei der Untersuchung des Selbst zugrunde gelegt (vgl. Gergen, 1971; Epstein, 1979; Mummendey, 1991).

 


2.3. Das Image (das Fremdkonzept-Selbst)

Die Fähigkeit, die der Lehrer bei Ronnie entdeckt hatte, brachte diesem eine Reihe von Vorteilen: Der Lehrer griff gern auf ihn zurück, und die Mitschüler ließen ihm den Vortritt, wenn es darum ging, Sätze an die Tafel zu schreiben, denn sie glaubten, daß er dies am besten konnte. Sie hielten ihn für einen Schönschreiber:

(3)

G(a, F(b))
[a glaubt, daß b ein F ist]

Die Mitschüler hatten ein bestimmtes Bild von Ronnie. Das Schönschreibersein gehörte zu seinem Image bei ihnen.

Im Gegensatz zum Eigenkonzept-Selbst bezeichnen wir dieses Image als "Fremdkonzept-Selbst" von b und definieren es als die Menge der permanenten Merkmale P, von denen die andern a glauben, daß sie b's Persönlichkeitsmerkmale sind:

(S3)

{ P | G(a, P(b)) }
[die Menge aller P, von denen a glaubt, daß P(b) gilt]

Das Fremdkonzept-Selbst einer Person nannte William James 1890 "social self", und als solches analysierte es George Herbert Mead in umfangreichen Abhandlungen (1934 und 1964).

 


2.4. Der Selbstwunsch (das Eigenwunsch-Selbst)

Trotz aller Vorteile empfand Ronnie mit der Zeit seine Rolle als Schönschreiber und Liebling des Lehrers als allzu einseitig. Er wollte sich auch außerhalb des Klassenzimmers bewähren und versuchte deshalb, ein guter Schwimmer zu werden:

(4)

I(b, F(b))
[b will, daß b ein F ist]

Das fiel ihm auch nicht schwer. Er sprang oft in den Fluß und schwamm gegen den Strom. Er schwamm unter Wasser und freute sich, über wie lange Strecken er den Atem anhalten konnte.

Der Wunsch, ein guter Schwimmer zu sein, gehört zu dem, was wir "Eigenwunsch-Selbst" nennen. Im Gegensatz zum "Eigenkonzept-Selbst" definieren wir das "Eigenwunsch-Selbst" einer Person b als die Menge der permanenten Merkmale P, die b als Persönlichkeitsmerkmale haben will:

(S4)

{ P | I (b, P(b)) }
[die Menge aller P, von denen b will, daß P(b) gilt]

Viele der Merkmale, die im Eigenwunsch-Selbst S4 einer Person zusammengefaßt sind, lassen sich durch "Arbeit an sich selbst" zu Bestandteilen der eigenen Persönlichkeit (des Selbst im engeren Sinn S1) machen.


 
2.5. Der Fremdwunsch (das Fremdwunsch-Selbst)

Auch die Mitschüler hatten bestimmte Wünsche an Ronnie. Sie wollten, daß er außerhalb der Schule mit ihnen spielte, ohne böse zu werden, wenn er verlor. Sie wünschten sich, daß ihr Schulkamerad ein fairer Mitspieler war.

(5)

I(a, F(b))
[a will, daß b ein F ist]

Dies fiel Ronnie noch schwer, und so hatte er es nicht leicht in der Klasse.

Der Wunsch der andern, daß eine Person ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal hat, gehört zu dem, was wir das "Fremdwunsch-Selbst" dieser Person nennen. Im Gegensatz zum Eigenwunsch-Selbst definieren wir es als Menge der permanenten Merkmale P, von denen die andern a wollen, daß eine Person b sie als Persönlichkeitsmerkmale hat:

(S5)

{ P | I (a, P(b)) }
[die Menge aller P, von denen a will, daß P(b) gilt]


2.6. Das Imagekonzept (Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst)

Wenn wir das, was Ronnie war (sein Selbst im engeren Sinn S1) mit dem vergleichen, was er zu sein glaubte (sein Eigenkonzept-Selbst S2) und was er sein wollte (sein Eigenwunsch-Selbst S4), sowie mit dem, was die andern von Ronnie glaubten (sein Fremdkonzept-Selbst S3) und von ihm wünschten (sein Fremdwunsch-Selbst S5), so gibt es vielerlei Möglichkeiten der Übereinstimmung und Differenz. Stimmt das, was einer ist, mit dem überein, was die andern von ihm glauben und wollen, so gibt es keine Schwierigkeiten. Dies ist aber selten für alle Persönlichkeitsmerkmale der Fall. Auch Ronnie mußte diese Erfahrung machen. Er hielt sich für einen guten Football-Spieler:

(6a)

G(b, F(b))
[b glaubt, daß b ein F ist]

Die Mitschüler aber zogen andere ihm gegenüber vor, wenn es um die Aufstellung der Klassenmannschaft ging:

(6b)

G(a,¬F(b))
[a glaubt, daß b kein F ist]

So kam Ronnie dazu einzusehen, daß sein Image als Football-Spieler bei den Mitschülern seiner Selbsteinschätzung nicht entsprach:

(6c)

G (b, G(a, ¬F(b)))
[b glaubt, daß a glaubt, daß b kein F ist]

In solchen Situationen bildete Ronnie sich ein Eigenkonzept über das Fremdkonzept von seinem Selbst, d. h. er konstruierte sein Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst. Mit anderen Worten, er machte sich Gedanken um sein Image bei den Mitschülern und entwickelte ein bestimmtes Imagekonzept. "Es hat Jahre gedauert, bis ich mich so sehen lernte, wie die anderen mich sahen", schreibt Reagan später in seiner Autobiographie (1965 = 1981, S. 79).

Das "Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst" einer Person b definieren wir als die Menge der permanenten Merkmale P, von denen b glaubt, daß die andern a glauben, daß sie b's Persönlichkeitsmerkmale sind (d.h. von denen b glaubt, daß sie seinem Fremdkonzept-Selbst angehören):

(S6)

{ P | G(b, G(a, P(b))) }
[die Menge aller P der Art, daß b glaubt, daß a glaubt, daß P(b) gilt]

Das Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst ist das, was der Psychiater Ronald Laing (1960) als "Metabild" einer Person bezeichnet. Das Metabild (Imagekonzept) einer Person kann sowohl von deren Image als auch von deren Selbstbild (Selbstkonzept) als auch von deren Persönlichkeitsmerkmalen (Selbst im engeren Sinn) abweichen. Ronnie war de facto ein mittelmäßiger Football-Spieler, betrachtete sich aber zeitweilig als Genie und dachte öfters, daß die andern ihn für einen Versager hielten, während er ihnen doch nur mittelmäßig schien.

 


2.7. Der Imagewunsch (das Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst)

Was konnte ein Schuljunge wie Ronnie tun, wenn er sein Image als Football-Spieler aufpolieren wollte? Er übte fleißig für sich und nahm jede Gelegenheit wahr, die sich ihm bot, um vor den Augen der andern gut Football zu spielen:

(7a)

T(b, f)
[b vollzieht gutes Football-Spielen]

Das tat er mit der Absicht, Tatsachen zu schaffen, die bewirkten, daß die andern glaubten, er sei ein guter Football-Spieler:

(7b)

I(b, E(f) -> G(a, F(b)))
[b will, daß gutes Football-Spielen bewirkt, daß a glaubt, daß b ein guter Football-Spieler ist]

Wer sich so verhält, versucht sich einen Imagewunsch zu erfüllen. Technisch gesprochen, geht es um einen Eigenwunsch für ein Fremdkonzept von seinem Selbst, d.h. um ein Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst.

Das "Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst" einer Person definieren wir als die Menge der permanenten Merkmale P, von denen b will, daß die andern a glauben, daß sie b's Persönlichkeitsmerkmale sind (d.h. von denen b will, daß sie seinem Fremdkonzept-Selbst angehören):

(S7)

{ P | I(b, G(a, P(b))) }
[die Menge aller P der Art, daß b will, daß a glaubt, daß P(b) gilt]

Allerdings birgt Imagepflege dieser Art die Gefahr, daß die angestrebte Wirkung in ihr Gegenteil umschlägt: Die andern halten einen dann nicht für einen guten Football-Spieler, sondern für einen Angeber.

 

Abb.  5

Abb. 5: Reagan als Modell eines Football-Spielers vor einer Bildhauerklasse der Universität von Südkalifornien
(Foto: Friedman, 1986, S. 37).
Der Filmkonzern Warner Brothers vermarktet Reagan in dieser Weise als
"Adonis des 20. Jahrhunderts mit der der Vollkommenheit am nächsten kommenden männlichen Gestalt in Hollywood".

2.8. Das Imagewunsch-Konzept (das Fremdkonzept-Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst)

In der Tat hat der historische Ronnie seine Imagekorrektur erheblich übertrieben. Er wollte nicht nur ein vorbildlicher Schwimmer, sondern auch ein guter Football-Spieler sein, und daß er dies bei allen Gelegenheiten zeigte, ging seinen Mitschülern auf die Nerven. Sie bildeten sich ein Konzept von seiner Geltungssucht, d. h. ein Fremdkonzept seines Imagewunsches entstand. Sein aufdringlich gutes Football-Spielen bewirkte nicht nur, wie beabsichtigt (vgl. die Formel (7b)), daß die Mitschüler glaubten, daß er ein guter Football-Spieler war:

(8a)

E(f) -> G (a, F(b))
[Gutes Football-Spielen bewirkt, daß a glaubt, daß b ein guter Football-Spieler ist]

sondern auch, daß sie glaubten, daß er wollte, daß sie das glaubten:

(8b)

E(f) -> G (a, I(b, G(a, F(b))))
[Gutes Football-Spielen bewirkt, daß a glaubt, daß b will, daß a glaubt, daß b ein guter Football-Spieler ist]


Ronnie wurde so zum Angeber. Seine tatsächlichen positiven Persönlichkeitsmerkmale verblaßten hinter der Unterstellung, daß er sie nur dazu entwickelt hatte, um sie den andern vorführen zu können. Eine solche Unterstellung ist ein Beispiel für ein Imagewunsch-Konzept. Technisch gesprochen, handelt es sich um ein Fremdkonzept-Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst:

(S8)

{ P | G (a, I(b, G(a, P(b)))) }
[die Menge aller P, von denen a glaubt, daß b will, daß a glaubt, daß P(b) gilt]

Als Angeber zu gelten, ist kein gutes Image, und Ronnie wußte dem zu begegnen. Doch möchte ich es Ihnen überlassen, sich die dafür geeigneten Verhaltensweisen auszumalen, und die Serie der Selbst-Begriffe an dieser Stelle abbrechen, um Bilanz zu ziehen.

Vergleichen wir die Definitionen der bisher eingeführten Selbst-Begriffe:

S1: Selbst im engeren Sinn
S2: Eigenkonzept-Selbst
S3: Fremdkonzept-Selbst
S4: Eigenwunsch-Selbst
S5: Fremdwunsch-Selbst
S6: Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst
S7: Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst
S8: Fremdkonzept-Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst,

so können wir feststellen, daß jedes Selbst eine Menge von Merkmalen P enthält, die einer Person b entweder direkt oder durch Glauben und Intendieren vermittelt zugeschrieben werden. In den Formeln (S1) bis (S8) wurde für "Glauben" G(..., ...) und für "Intendieren" I(..., ...) gesetzt, in den Beispielen wurden statt "Glauben" auch manchmal die Verben annehmen, vermuten, halten für und statt "Intendieren" die Verben wollen, wünschen, beabsichtigen verwendet. Die Tiefe der Einbettung der Merkmalszuschreibung in das Glauben und in das Intendieren läßt sich beliebig steigern. Sie ist, wie die Beispiele zeigen, von der Komplexität der Situationen abhängig, die der betreffende Mensch mit seinen Mitmenschen bewältigen muß. (Eine systematische Auflistung aller beteiligten Selbst-Begriffe findet sich in Posner, 1996.)

 







Abb. 6: Das stratifizierte Gesamt-Selbst mit seinen Teil-Selbsten auf den Reflexionsstufen RS0, RS1, RS2 usw.

Daraus ergibt sich, daß eine offene Menge von beliebig komplexen Selbsten konstruierbar ist. Jeder Mensch hat an mehreren von ihnen teil. Die Menge der Selbste, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelt hat, nenne ich deren "Gesamt-Selbst". Das maximale Gesamt-Selbst der Person b läßt sich kennzeichnen durch die Formel:

(GS)

{ P | ... P(b) }
[die Menge der P, für die gilt, daß ... P(b)]

Die Pünktchen in dieser Formel können durch beliebig viele komplexe Folgen der Prädikatoren G(..., bzw. I(..., ersetzt werden, so daß aus GS die Menge der Teil-Selbste von b S1, S2, ... S8, ... entsteht.

Jedes Gesamt-Selbst läßt sich auf naheliegende Weise gliedern, wenn wir die Struktur der Einbettungen der Merkmalszuschreibungen in das Glauben und Intendieren zum Kriterium nehmen, um die Teil-Selbste verschiedenen Reflexionsstufen zuzuordnen.

Ein Sachverhalt gehört zur Reflexionsstufe RS0, wenn er kein Glauben oder Intendieren enthält. Das Selbst im engeren Sinn S1 ist eine Menge von Merkmalszuschreibungen dieser Art: { P | P(b) }. S1 befindet sich daher auf der Reflexionsstufe RS0.

Ein Sachverhalt gehört zur Reflexionsstufe RS1, wenn er im Glauben oder Intendieren eines Sachverhalts der Reflexionsstufe RS0 besteht. Das Eigenkonzept-Selbst S2 ist eine Menge von Merkmalszuschreibungen nullter Stufe, die von der betreffenden Person geglaubt werden: { P | G(b, P(b)) }; das Fremdkonzept-Selbst S3 ist eine Menge von Merkmalszuschreibungen nullter Stufe, die von anderen geglaubt werden: { P | G(a, P(b)) }; das Eigenwunsch-Selbst S4 ist eine Menge von Merkmalszuschreibungen nullter Stufe, die von der betreffenden Person gewünscht werden: { P | I(b, P(b)) }; das Fremdwunsch-Selbst S5 ist eine Menge von Merkmalszuschreibungen nullter Stufe, die von den anderen gewünscht werden: { P | I(a, P(b)) }. Alle diese Selbste S2 bis S5 befinden sich also auf der Reflexionsstufe RS1.

Ein Sachverhalt gehört zur Reflexionsstufe RS2, wenn er im Glauben oder Intendieren eines Sachverhalts der Reflexionsstufe RS1 besteht. Das Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst S6 ist eine Menge von Merkmalszuschreibungen erster Stufe, die von der betreffenden Person geglaubt werden: { P | G(b, G(a, P(b))) }; das Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst S7 ist eine Menge von Merkmalszuschreibungen erster Stufe, die von der betreffenden Person gewünscht werden: { P | I(b, G(a, P(b))) }. Die Selbste S6 und S7 befinden sich daher auf der Reflexionsstufe RS2. Die weiteren Selbste der Reflexionsstufe RS2 sind in Abbildung 6 zusammengestellt.

Das Fremdkonzept-Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst S8 ist eine Menge von Merkmalszuschreibungen der Reflexionsstufe RS2, die von anderen geglaubt werden: { P | G(a, I(b, G(a, P(b)))) }. Es befindet sich daher auf der Reflexionsstufe RS3.

Ein Gesamt-Selbst, das in dieser Weise in Reflexionsebenen gegliedert ist, nennen wir "stratifiziertes Gesamt-Selbst". Wie die besprochenen Beispiele aus dem Leben des jungen Reagan zeigen, geht es bei der Selbstdarstellung einer Person in jedem Einzelfall weniger um deren Gesamt-Selbst als um ein bestimmtes Teil-Selbst.

Die eingeführten Selbst-Begriffe kennzeichnen, was dargestellt wird, wenn eine Person sich darzustellen versucht. Damit ist unsere erste Frage beantwortet, und wir können uns nun den Weisen des Darstellens zuwenden, um schließlich zu bestimmen, was man unter Selbstdarstellung versteht.



3. Weisen des Darstellens

Zur Beantwortung der Frage nach den Arten des Selbst habe ich Konfigurationen der Begriffe "Merkmal", "Glauben" und "Intendieren" benutzt. Auf derselben Grundlage läßt sich auch die Frage nach dem Vorgang beantworten, den man "Darstellen" nennt. Jede Darstellung ist ein Zeichenprozeß, und wer Zeichen produziert, tut etwas mit der Absicht, daß es bewirkt, daß andere etwas glauben. Selbstdarstellung ist dann gegeben, wenn das, was die andern glauben sollen, ein Persönlichkeitsmerkmal dessen betrifft, der sie dieses glauben machen will.

Durch Verwendung der Begriffe "Glauben" und "Intendieren", ergänzt durch den Begriff der Kausalität ("Bewirken"), erhalten wir also nicht nur Aufschluß über die Arten des Selbst, sondern auch über die Struktur der beteiligten Zeichenprozesse. Auf dieser Grundlage ist es sogar möglich, alle überhaupt denkbaren Typen von Zeichenprozessen systematisch zu ordnen (vgl. Posner, 1993 und 1995).

Im jetzigen Zusammenhang besteht unsere Aufgabe nur darin, die Ordnung der Zeichenprozesse zu skizzieren, soweit sie die verschiedenen Weisen des Darstellens erschließt. Begeben wir uns zu diesem Zweck wieder in das Landstädtchen Dixon, in dem Ronald Reagan einen Teil seiner Jugend verbrachte, und versuchen wir es durch seine Augen zu betrachten.

 

Abb.  7

 Abb. 7: Das Haus der Reagan-Familie in Dixon

3.1. Das Anzeichen

In Dixon gab es eine Gegend mit Wochenendhäusern, die einen großen Teil der Woche unbewohnt waren. Ronnie trieb sich gerne dort herum. Als er eines der Häuser anschaute, merkte er, daß ein Fenster offenstand. Das brachte ihn dazu zu glauben, daß das Haus bewohnt war:

(D1)

E (f) -> G (a, p)
[Das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß p]

Dadurch daß das Offenstehen des Fensters ihn auf die Bewohntheit des Hauses hinwies, wurde es für Ronnie zum Anzeichen. Wir haben also einen Anzeichenprozeß vor uns. Anzeichen sind Sachverhalte, die bewirken, daß jemand etwas Bestimmtes glaubt. Die betreffende Person nennen wir Rezipient, und das Geglaubte ist die "Botschaft". Anzeichen erfordern weder, daß das Geglaubte wahr ist, noch, daß es jemand gibt (einen Sender), der diesen Glauben herbeiführen will.


3.2. Die Anzeichen-Produktion

Als Ronnie wieder einmal in der Gegend war, öffnete sich in einem der besagten Häuser gerade eine Dachluke. Ronnie bemerkte das Aufgehen des Fensters, und das brachte ihn dazu zu glauben, daß das Haus bewohnt war. Hier gab es eine Person b, die einen Sachverhalt herstellte, welcher bei einer anderen Person einen bestimmten Glauben bewirkte:

(D2)

T (b, f) Ù
E (f) -> G (a, p)
[b tut f, und das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß p]

Das Aufgehen des Fensters ist ein Anzeichen im Sinne von (D1). Die Herstellung eines solchen Anzeichens bezeichnen wir als "Anzeichen-Produktion". Dabei brauchte die Person, die das Fenster öffnete, nicht zu wissen, daß jemand dies beobachtete, und auch nicht zu beabsichtigen, daß der Beobachter daraus seine Schlüsse zog. Anzeichen-Produktion kann auch unabsichtlich erfolgen.


3.3. Die Anzeige-Handlung

Ronnie hatte es gern, wenn Klassenkameraden auf einen Sprung bei ihm vorbeischauten, um mit ihm zu spielen. Damit seine Kameraden wußten, woran sie waren, noch bevor sie das Grundstück betraten, öffnete er stets das Fenster, wenn er sich in seinem Zimmer aufhielt. Mit dem Öffnen des Fensters beabsichtigte er zu bewirken, daß seine Kameraden glaubten, daß er in seinem Zimmer war:

(D3)

T (b,f) Ù
I (b, E(f) -> G(a, p))
[b tut f, und b beabsichtigt, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß p]

Das Fensteröffnen ist hier nicht nur unabsichtliche Anzeichen-Produktion, sondern es erfolgt mit der Absicht, daß ein Rezipient eine ganz bestimmte Botschaft daraus erschließt. Einen solchen Zeichenprozeß nennen wir "Anzeige-Handlung". Die Botschaft einer Anzeige-Handlung muß nicht wahr sein: Einerseits gab es Situationen, in denen Ronnie vergaß, das Zimmerfenster zu öffnen; andererseits wurde das Fenster auch in seiner Abwesenheit gelegentlich von seiner Mutter geöffnet.
 

3.4. Der Ausdruck

Nimmt ein Rezipient einen Sachverhalt als Anzeichen dafür, daß sein Produzent sich in einem bestimmten Zustand befindet, so bezeichnen wir den Sachverhalt als "Ausdruck" dieses Zustands. So hatte die Mutter Ronnie ein Blumenbeet im Garten zur Bearbeitung zugeteilt. Die Tatsache, daß die Blumen auf diesem Beet immer gut gegossen waren, nahm sie als Ausdruck von Ronnies Gewissenhaftigkeit:

(D4)

E(f) -> G(a, Z(b))
[Das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß b im Zustand Z ist]

Daß jemand einen Sachverhalt als Ausdruck eines Zustands seines Produzenten ansieht, muß nicht heißen, daß es tatsächlich einen solchen Produzenten gibt und daß dieser sich in diesem Zustand befindet. Ronnies Tante konnte das Beet gegossen haben, um Ronnie die Arbeit abzunehmen.


3.5. Die Ausdrucks-Produktion

Hat Ronnie das Beet tatsächlich regelmäßig gegossen, so muß er es nicht mit der Absicht getan haben, daß seine Mutter ihn für gewissenhaft hielt. Man kann sich gewissenhaft verhalten, ohne selbst daran zu denken und ohne es andern zeigen zu wollen. In einem solchen Fall produziert ein Mensch zwar einen Sachverhalt, den andere zu Recht als Ausdruck seines Zustandes nehmen, er tut dies aber unabsichtlich:

(D5)

T (b, f) Ù
E (f) -> G(a, Z(b))

[b tut f, und das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß b im Zustand Z ist]

Die Herstellung eines Ausdrucks in diesem Sinne bezeichnen wir als "Ausdrucks-Produktion".

 
3.6. Die Ausdrucks-Handlung

Ronnie war es durchaus angenehm, als gewissenhaft zu gelten, denn dies brachte ihm Lob und Anerkennung ein. Daher goß er die Blumen tatsächlich mit der Absicht, daß dies bei seiner Mutter bewirkte, daß sie glaubte, er war gewissenhaft:

(D6)

T (b, f) Ù
I (b, E(f) -> G(a, Z(b)))

[b tut f, und b beabsichtigt, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß b im Zustand Z ist]

Die Produktion eines Sachverhalts mit der Absicht, daß sie einen Rezipienten dazu bringt, einen bestimmten Zustand des Produzenten anzunehmen, nennen wir "Ausdrucks-Handlung", denn durch diese Handlung drückt der Betreffende seinen Zustand aus.


Vergleichen wir diese sechs Arten von Zeichenprozessen D1 bis D6 miteinander, so können wir feststellen, daß es sich um sechs verschiedene Weisen des Darstellens handelt: Im elementaren Anzeichen-Prozeß D1 braucht es niemanden zu geben, der etwas darstellt; daher sagen wir allenfalls: "Das Haus stellt sich dem Rezipienten als bewohnt dar."

Bei der Anzeichen-Produktion D2 gibt es zwar jemanden, der durch sein Tun einen Sachverhalt darstellt: Ein Bewohner stellt dem Rezipienten das Haus als bewohnt dar. Aber dies kann unabsichtlich geschehen.

Erst bei der Anzeige-Handlung D3 kommt es zur Darstellung im engeren Sinn. Ronnie stellt seinen Kameraden mit voller Absicht sein Zimmer als besetzt dar.

Auf alle drei Fälle läßt sich somit das Verb "darstellen" anwenden. Aber von "Darstellung im engeren Sinn" sprechen wir nur in Fällen vom Typ D3, d. h. wenn es jemanden gibt, der einen Sachverhalt herstellt und damit beabsichtigt, daß andere ihn als Anzeichen für das Bestehen eines weiteren Sachverhalts nehmen.

Die Zeichenprozesse des Typs D4 bis D6 sind besondere Fälle des Darstellens, insofern ihre Botschaft einen Zustand eines (angenommenen oder tatsächlichen) Anzeichen-Produzenten betrifft. In solchen Fällen sprechen wir von Ausdruck. Beim elementaren Ausdrucks-Prozeß D4 braucht es wiederum niemanden zu geben, der etwas ausdrückt; wir können sagen: "Im Blumenbeet drückt sich Gewissenhaftigkeit aus", ohne zu wissen, ob es einen ständigen Betreuer hat und ob dieser derartiges ausdrücken wollte.

Bei der Ausdrucks-Produktion D5 gibt es zwar jemanden, der durch sein Tun einen eigenen Zustand ausdrückt: Ronnie drückt durch das regelmäßige Gießen des Blumenbeets seine Gewissenhaftigkeit aus. Aber das kann unabsichtlich geschehen.

Erst bei der Ausdrucks-Handlung D6 haben wir einen Ausdruck im engeren Sinn vor uns: Ronnie gießt regelmäßig die Blumen als Ausdruck seiner Gewissenhaftigkeit. Von "Ausdruck im engeren Sinn" sprechen wir, wenn es jemanden gibt, der etwas tut und damit beabsichtigt, daß andere es als Anzeichen für einen Zustand nehmen, in dem er sich befindet.

 


4. Typen der Selbstdarstellung

Fragen wir uns nun, welche der besprochenen Weisen des Darstellens als Selbstdarstellung anzusehen sind, so liegt es nahe, von der Ausdrucks-Produktion D5 und der Ausdrucks-Handlung D6 auszugehen. In beiden Fällen geht es um Darstellung, und in beiden Fällen ist das Dargestellte ein Zustand des Darstellers. Wenn wir die in Kapitel 2 eingeführten Selbst-Begriffe in die Überlegung hineinnehmen, so fragt sich nur, wie sich der in Ausdrucks-Prozessen geforderte Zustand Z des Anzeichen-Produzenten b zu dem Persönlichkeitsmerkmal P verhält, das wir in der Analyse des Selbst angenommen haben. Die Antwort ist einfach: Zustände einer Person können wechseln, Persönlichkeitsmerkmale werden als dauerhaft angesehen. Der Reiz des Neuen kann Ronnie dazu bewegen, im Blumengießen zwei Wochen lang gewissenhaft zu sein, danach kann er das Interesse verlieren. Als Persönlichkeitsmerkmal von Ronnie wird die Gewissenhaftigkeit erst angesehen, wenn sie über einen längeren Zeitraum andauert (und dann ist außerdem zu erwarten, daß sie sich nicht auf das Blumengießen beschränkt).

Auf diese Weise kommen wir zu der Annahme, daß Selbstdarstellung im engeren Sinn gegeben ist, wenn einer etwas tut und damit beabsichtigt, daß es bewirkt, daß andere glauben, daß er ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal hat:

(SDM)

T (b, f) Ù
I (b, E(f) -> G(a, ... P (b)))

[b tut f, und b beabsichtigt, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß ... b ein P ist]

Selbstdarstellung im engeren Sinn ist also eine Ausdrucks-Handlung, mit der jemand ein Persönlichkeitsmerkmal ausdrückt. Die Formel (SDM) unterscheidet sich somit von der Formel für die Ausdrucks-Handlung D6 abgesehen von den Pünktchen nur dadurch, daß in ihr Z durch P ersetzt ist.

In analoger Weise läßt sich Selbstdarstellung im weiteren Sinn aus der Formel für die Ausdrucks-Produktion D5 gewinnen, indem dort Z durch P ersetzt wird:

(SDM')

T (b, f) Ù
E (f) -> G(a, ... P (b))

[b tut f, und das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß ... b ein P ist]

Während Selbstdarstellung im engeren Sinn andere zur Attribution eines Persönlichkeitsmerkmals veranlassen soll, ist Selbstdarstellung im weiteren Sinn ein Verhalten, das andere zur Attribution eines Persönlichkeitsmerkmals veranlaßt, ohne daß dies durch den Selbstdarsteller beabsichtigt sein muß.

Die beiden Formeln (SDM) und (SDM') lassen einiges offen, weshalb wir jede von ihnen als "Selbstdarstellungsmatrix" bezeichnen. Die Pünktchen in der Matrix sollen Raum schaffen für die Strukturen, die auftreten, wenn wir nun die acht in Kapitel 2 eingeführten Selbstbegriffe S1 bis S8 einbeziehen. Durch die Formeln (S1) bis (S8) ist jedes Selbst als Menge { } von Persönlichkeitsmerkmalen definiert, die einer Person b entweder direkt oder durch Glauben und Intendieren vermittelt zugeschrieben werden. Um zu jeder Art des Selbst den zugehörigen Typ der Selbstdarstellung zu bestimmen, betten wir die prädikatenlogischen Bestandteile (rechts von dem senkrechten Strich) der betreffenden Mengenformel in die Selbstdarstellungsmatrix ein. Dabei ergeben sich die folgenden Formeln:


4.1. Die Selbstdarstellung im engeren Sinn (Persönlichkeits-Darstellung)

Die zugehörige Formel charakterisiert den einfachsten Fall der Selbstdarstellung. Bei ihr steht nur P(b) im Geltungsbereich von G(a, ...); sie entsteht daher aus (SDM) durch das Weglassen der Pünktchen:

(SD1)

(T(b,f) Ù
I(b, E(f) -> G(a, P(b)))

[b tut f, und b will, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß P(b) gilt]

Die Selbstdarstellung im engeren Sinn besteht darin, daß eine Person durch ihr Verhalten für jemanden ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal direkt zum Ausdruck bringt. Der junge Reagan stellte sich nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten den Mitschülern durch gutes Football-Spielen als Football-Crack dar. Tat er dies unabsichtlich, so ist statt (SDM) die Formel (SDM') zu verwenden.

 


4.2. Die Selbstkonzept-Darstellung (Eigenkonzept-Selbst-Darstellung)

In der zugehörigen Formel steht G(b, P(b)) im Geltungsbereich von G(a, ...); sie entsteht daher aus (SDM) durch Einsetzen von G(b, anstelle der Pünktchen:

(SD2)

T(b, f) Ù
I(b, E(f) -> G(a, G(b, P(b))))
[b tut f, und b will, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß b glaubt, daß P(b) gilt]


Die Eigenkonzept-Selbst-Darstellung einer Person besteht darin, daß die Person durch ihr Verhalten jemandem ihre Selbsteinschätzung bezüglich eines möglichen Persönlichkeitsmerkmals zum Ausdruck bringt. Ronnie stellte sich durch robustes Auftreten bei der Aufstellung der Klassenmannschaft als einer dar, der sich für einen Football-Crack hielt. Geschah dies unabsichtlich, ist statt (SDM) die Formel (SDM') als Basis zu verwenden.

 

4.3. Die Image-Darstellung (Fremdkonzept-Selbst-Darstellung)

In der zugehörigen Formel steht G(a, P(b)) im Geltungsbereich von G(a, ...); sie entsteht daher aus (SDM) durch Einsetzen von G(a, anstelle der Pünktchen:

(SD3)

T(b, f) Ù
I(b, E(f) -> G(a, G(a, P(b))))
[b tut f, und b will, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß a glaubt, daß P(b) gilt]

Die Fremdkonzept-Selbst-Darstellung einer Person besteht darin, daß die Person durch ihr Verhalten jemanden auf die Einschätzung ihrer selbst durch ihn hinweist. Indem Ronnie an die Tafel eilte, wenn der Lehrer etwas schön geschrieben haben wollte, stellte er sich den Mitschülern als "Schönschreiber vom Dienst" dar, d. h. als einer, der bei ihnen als Schönschreiber galt. Tat er dies unabsichtlich, so ist statt (SDM) die Formel (SDM') zu verwenden.

 


4.4. Die Selbstwunsch-Darstellung (Eigenwunsch-Selbst-Darstellung)

In der zugehörigen Formel steht I(b, P(b)) im Geltungsbereich von G(a, ...); sie entsteht daher aus (SDM) durch Einsetzen von I(b, anstelle der Pünktchen:

(SD4)

T(b, f) Ù
I(b, E(f) -> G(a, I(b, P(b))))
[b tut f, und b will, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß b will, daß P(b) gilt]

Die Eigenwunsch-Selbst-Darstellung einer Person besteht darin, daß die Person durch ihr Verhalten jemandem ihr Streben nach einem Persönlichkeitsmerkmal zum Ausdruck bringt. Ronnie stellte sich durch fleißiges Üben seinen Eltern als einer dar, der gern ein guter Football-Spieler wäre. Geschah dies unabsichtlich, so ist statt (SDM) die Formel (SDM') als Basis zu verwenden.


 

4.5. Die Fremdwunsch-Darstellung (Fremdwunsch-Selbst-Darstellung)

In der zugehörigen Formel steht I(a, P(b)) im Geltungsbereich von G(a, ...); sie entsteht daher aus (SDM) durch Einsetzen von I(a, anstelle der Pünktchen:

(SD5)

T(b, f) Ù
I(b, E(f) -> G(a, I(a, P(b))))
[b tut f, und b will, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß a will, daß P(b) gilt]

Die Fremdwunsch-Selbst-Darstellung einer Person besteht darin, daß die Person durch ihr Verhalten anderen deren Wunsch deutlich macht, daß diese Person ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal haben möge. Ronnie benahm sich beim Kartenspiel nicht selten daneben und stellte sich den Spielkameraden damit als einer dar, der fair sein sollte, d. h. dem sie Fairness abverlangten. Tat er dies unabsichtlich, so ist statt (SDM) die Formel (SDM') als Basis zu verwenden.


 

4.6. Die Imagekonzept-Darstellung (Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst-Darstellung

In der zugehörigen Formel steht G(b, G(a, P(b))) im Geltungsbereich von G(a, ...); sie entsteht daher aus (SDM) durch Einsetzen von G(b, G(a, anstelle der Pünktchen:

(SD6)

T(b, f) Ù
I(b, E(f) -> G(a, G(b,G(a, P(b)))))
[b tut f, und b will, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß b glaubt, daß a glaubt, daß P(b) gilt]

Die Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst-Darstellung einer Person besteht darin, daß die Person durch ihr Verhalten anderen deutlich macht, daß sie glaubt, daß diese eine bestimmte Einschätzung von ihr haben. Ronnie zierte sich gelegentlich bei der Besetzung einer Starrolle im Theater und stellte sich damit als einer dar, der glaubte, daß die andern ihn für einen Topspieler hielten, und sich deshalb viel herausnahm. Tat er dies unabsichtlich, so ist statt (SDM) die Formel (SDM') als Basis zu verwenden.

 


4.7. Die Imagewunsch-Darstellung (Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst-Darstellung)

In der zugehörigen Formel steht I(b, G(a, P(b))) im Gegenstandsbereich von G(a, ...); sie entsteht daher aus (SDM) durch Einsetzen von I(a, G(a, anstelle der Pünktchen:

(SD7)

T(b, f) Ù
I(b, E(f) -> G(a, I(b, G(a, P(b)))))
[b tut f, und b will, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß b will, daß a glaubt, daß P(b) gilt]

Die Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst-Darstellung einer Person besteht darin, daß die Person durch ihr Verhalten anderen deutlich macht, daß sie es gern hätte, wenn sie eine bestimmte Einschätzung von ihr hätten. Ronnie lud seine Kameraden bei jeder Gelegenheit zu einem selbst zubereiteten Essen ein und stellte sich ihnen damit als einer dar, der gern einen Ruf als guter Koch hatte. Tat er dies unabsichtlich, so ist statt (SDM) die Formel (SDM') als Basis zu verwenden.

 


4.8. Die Imagewunsch-Konzept-Darstellung (Fremdkonzept-Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst-Darstellung)

In der zugehörigen Formel steht G(a, I(b, G(a, P(b)))) im Geltungsbereich von G(a, ...); sie entsteht daher aus (SDM) durch Einsetzen von G(a, I(b, G(a, anstelle der Pünktchen:

(SD8)

T(b, f) Ù
I(b, E(f) -> G(a, G(a, I(b, G(a, P(b))))))
[b tut f, und b will, daß das Auftreten von f bewirkt, daß a glaubt, daß a glaubt, daß b will, daß a glaubt, daß P(b) gilt]

Die Fremdkonzept-Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst-Darstellung einer Person besteht darin, daß die Person durch ihr Verhalten anderen deutlich macht, daß sie sie für jemand halten, der von ihnen für etwas ganz Bestimmtes gehalten werden will. Ronnie übertrieb eine Zeitlang die Zurschaustellung seiner Kochkünste derart, daß die anderen ihn nicht nur für einen hielten, der gern einen Ruf als guter Koch hatte, sondern sich mit der Nase darauf gestoßen fühlten, daß sie ihn dafür hielten. Er stellte sich ihnen damit als "Chefkoch vom Dienst" dar und wurde entsprechend gehänselt. Tat er dies unabsichtlich, so ist statt (SDM) die Formel (SDM') als Basis zu verwenden.


Die Formeln (SD1) bis (SD8) geben häufige Typen der Selbstdarstellung wieder. Weitere lassen sich konstruieren, wenn man andere Arten des Selbst, wie in Abbildung 6 angegeben, zum Gegenstand von Ausdrucks-Handlungen werden läßt.

 


5. Selbstwerdung durch Illusion und Simulation

Wie Kapitel 4 zeigt, können die Strukturen der Selbstdarstellung recht komplex werden. Wichtig ist jedoch die Feststellung, daß sie alle aus den gleichen Bestandteilen aufgebaut sind: Tun, Intendieren, Glauben, Bewirken und Merkmalszuschreibungen. Wie bereits bei der Besprechung des Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst (in Kapitel 2.6) vermerkt, braucht einer Person das Persönlichkeitsmerkmal gar nicht zuzukommen, das sie zu besitzen glaubt (Eigenkonzept-Selbst) oder wünscht (Eigenwunsch-Selbst) bzw. von dem die anderen glauben (Fremdkonzept-Selbst) oder wünschen (Fremdwunsch-Selbst), daß sie es besitzt. In diesem Fall handelt es sich um ein virtuelles Persönlichkeitsmerkmal.

Gleiches gilt für die Annahme und den Wunsch eines virtuellen Persönlichkeitsmerkmals durch andere: Wenn eine Person glaubt (Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst) oder wünscht (Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst), daß die anderen etwas Bestimmtes von ihr glauben, bzw. wenn eine Person glaubt (Eigenkonzept-Fremdwunsch-Selbst) oder wünscht (Eigenwunsch-Fremdwunsch-Selbst), daß die andern etwas Bestimmtes von ihr wünschen, so muß dies nicht zutreffen. In diesem Fall handelt es sich um virtuelle Fremdkonzepte und Fremdwünsche.

Gleiches gilt auch für die Annahme und den Wunsch eines virtuellen Persönlichkeitsmerkmals durch die betreffende Person: Wenn die andern glauben (Fremdkonzept-Eigenkonzept-Selbst) oder wünschen (Fremdwunsch-Eigenkonzept-Selbst), daß eine Person ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal zu haben glaubt, bzw. wenn die andern glauben (Fremdkonzept-Eigenwunsch-Selbst) oder wünschen (Fremdwunsch-Eigenwunsch-Selbst), daß eine Person ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal zu haben wünscht, so muß dies ebenfalls nicht zutreffen. In diesem Fall handelt es sich um virtuelle Eigenkonzepte und Eigenwünsche.

Die Annahme eines virtuellen Persönlichkeitsmerkmals, Eigenkonzepts, Eigenwunsches, Fremdkonzepts oder Fremdwunsches durch eine Person nennen wir "Illusion". Die Selbstdarstellung einer Person als Träger eines virtuellen Persönlichkeitsmerkmals, Eigenkonzepts, Eigenwunsches, Fremdkonzepts oder Fremdwunsches nennen wir "Simulation".

Simulation besteht also hier wie auch sonst in der Erzeugung einer Illusion. Es erhebt sich nun die Frage, welche Rolle virtuelle Persönlichkeitsmerkmale, Eigenkonzepte, Eigenwünsche, Fremdkonzepte und Fremdwünsche in der Selbstdarstellung spielen. Sie läßt sich zuspitzen auf die Frage: Ist Selbstdarstellung ohne Illusion und Simulation möglich?

Diese Frage stellt sich besonders mit Bezug auf den Prozeß, in dem ein Kind wie der junge Reagan sein Selbst ausbildet. Orientieren wir uns an der Struktur des stratifizierten Gesamt-Selbst (siehe Abb. 6), so liegt es nahe anzumerken, daß Ronnie zunächst bestimmte Persönlichkeitsmerkmale entwickelte: P(b), dann das passende Eigenkonzept bildete: G(b, P(b)) und schließlich nach Interaktion mit seinen Mitmenschen das entsprechende Eigenkonzept von deren Fremdkonzept zu seiner Persönlichkeit formte: G(b, G(a, P(b))) usw. Bei einem solchen Verlauf wäre das betreffende Persönlichkeitsmerkmal als erstes gegeben, und es würde mit immer größerer Bewußtheit wahrgenommen. Die Entwicklung nähme ihren Anfang beim Selbst im engeren Sinn auf der Reflexionsstufe RS0 und würde im Einklang mit ihr allmählich zu höheren Reflexionsstufen aufsteigen.

Daß die Entwicklung jedoch nicht immer so verläuft, kann man sich leicht klar machen, wenn man an Eigenwünsche und Fremdwünsche denkt: Sie treten ja bevorzugt dann auf, wenn ein Persönlichkeitsmerkmal (noch) nicht vorhanden ist: Ø P(b). Es muß also Konstellationen geben, in denen das betreffende Persönlichkeitsmerkmal auf der nullten Reflexionsstufe fehlt und gleichwohl auf höheren Reflexionsstufen zugeschrieben wird, z. B. I(b, P(b)) beim Eigenwunsch-Selbst oder I(a, P(b)) beim Fremdwunsch-Selbst. Dies gilt sowohl für körperliche als auch für geistige Persönlichkeitsmerkmale: Einer, der nicht blond und nicht blauäugig ist, wäre gerne blond und blauäugig. Einer, der nicht gut im Rechnen ist, wäre gerne gut im Rechnen.

 

Abb.  8

Abb. 8: Reagan im Alter von 27 Jahren (aus: Friedman, 1986, S. 33).

Nun können fehlende Persönlichkeitsmerkmale wie Blondheit und Blauäugigkeit auch bei Vorliegen entsprechender Eigenwünsche oder Fremdwünsche nicht hergestellt werden. Anders ist das jedoch bei Dispositionen wie der Rechenkompetenz und anderen geistigen Persönlichkeitsmerkmalen. Hier sind Eigenwünsche, Fremdwünsche und Fremdkonzepte ausschlaggebend für die Selbstwerdung.

Die Erfahrungen des jungen Reagan bestätigen das eindrucksvoll:

(10)

I(b, G(a, P(b))) -> P(b)
[Daß b will, daß a glaubt, daß b ein P ist, bewirkt, daß b ein P ist]

(11)

G(b, I(a, P(b))) -> P(b)
[Daß b glaubt, daß a will, daß b ein P ist, bewirkt, daß b ein P ist]

Wir können festhalten: Die manifesten Merkmale des Körpers entstehen weitgehend von selbst, mit ihnen muß jeder sich abfinden. Die dispositionellen geistigen Merkmale aber werden von einer Person entwickelt, nachdem sie auf einer höheren Reflexionsstufe entworfen und gewünscht worden sind. Geistige Persönlichkeitsmerkmale sind weitgehend durch Fremdkonzepte, Eigenwünsche und Fremdwünsche bedingt und somit sozial gesteuert.

Und ein zweites fällt auf, wenn wir die Formeln (9) bis (11) betrachten. Bei der Herausbildung der Fähigkeit zum Schönschreiben, zum Football-Spielen und zum Schauspielern findet ein Übergang von einem Selbst höherer Reflexionsstufe zu einem Selbst niedrigerer Reflexionsstufe statt. Es erfolgt eine Ebenenreduktion um zwei Stufen von RS 2 zu RS 0: Weil Ronnie glaubt, daß der Lehrer glaubt, daß er ein Schönschreiber ist, wird Ronnie ein Schönschreiber. Weil Ronnie will, daß die andern glauben, daß er ein guter Football-Spieler ist, wird er ein guter Football-Spieler. Weil Ronnie glaubt, daß seine Mutter will, daß er ein guter Amateurschauspieler ist, wird Ronnie ein guter Amateurschauspieler.

Die Einführung von Persönlichkeitsmerkmalen durch Ebenenreduktion dient der Beseitigung von Unentschiedenheiten und stufenübergreifenden Widersprüchen im Gesamt-Selbst. Zunächst gilt jeweils Ø P(b) auf der untersten Reflexionsstufe und ...P(b) auf einer höheren Reflexionsstufe (da P(b) dort eingebettet ist in einen der Operatoren G(..., ...) oder I(..., ...)). Durch die Entwicklung des betreffenden Persönlichkeitsmerkmals P(b) stellt die Person in ihrem Gesamt-Selbst stufenübergreifende Konsistenz her.

Ein gutes Beispiel für eine solche Situation und ihre Bewältigung war die in Kapitel 2.6 geschilderte Situation des jungen Reagan: Er war zunächst ein mittelmäßiger Football-Spieler, betrachtete sich selbst als Genie und dachte zugleich, daß die Kameraden ihn für einen Versager hielten, während er ihnen doch nur mittelmäßig schien. Als Ausweg aus dieser schmerzlich empfundenen Lage übte Ronnie so lange, bis er tatsächlich ein guter Football-Spieler war, was den andern Grund gab, ihn für einen solchen zu halten, so daß er nun auch nicht mehr glauben mußte, sie sehen ihn anders. Ronnie war jetzt nicht mehr nur kraft seiner Selbsteinschätzung virtuell ein guter Football-Spieler, sondern er war es auf allen Reflexionsstufen.

Daraus folgt, daß das Selbst einer Person zumindest im Bereich der dispositionellen geistigen Persönlichkeitsmerkmale nichts ein für allemal Vorgegebenes ist. Es wird sozial geformt und entwickelt sich ausgehend von den auf höheren Reflexionsstufen repräsentierten virtuellen Persönlichkeitsmerkmalen, d. h. durch Illusion und Simulation. Als der Lehrer sagte: "Du bist ja ein Schönschreiber", war Ronnie noch kein Schönschreiber: G(a, P(b)) und Ø P(b); aber er wurde es dadurch, siehe Formel (9). Als Ronnie als guter Football-Spieler auftrat und von den Kameraden auch dafür gehalten werden wollte, war er es noch nicht: I(b, G(a, P(b))) und Ø P(b); aber er wurde es aufgrund seines Eigenwunsches, siehe Formel (10). Als die Mutter Ronnie zu seinem Auftritt als Amateurschauspieler ermunterte, war er es noch nicht: I(b, P(b)) und Ø P(b); aber er wurde es aufgrund des Fremdwunsches, siehe Formel (11). Jedesmal war zunächst Illusion und häufig auch Simulation im Spiel. Die virtuellen Persönlichkeitsmerkmale waren da, bevor sie in die Wirklichkeit umgesetzt wurden.

Fragt man sich, wie es geschehen kann, daß aus Simulation Realität entsteht, so muß man die Dialektik von Einzelfall und Permanenz einbeziehen, auf die ich bereits in Kapitel 2.1 hinwies. Überlegen wir uns dies genauer anhand eines Beispiels, das für Reagans Übergang vom Beruf des Schauspielers zu dem des Politikers wesentlich war! Um für einen guten Politiker gehalten zu werden, mußte Reagan den Eindruck vermeiden, er rezitiere nur fremde Reden; er mußte den Bürgern seine Eigenständigkeit beweisen, indem er gleichbleibende Überzeugungen immer wieder spontan formulierte. Wie kann man spontan sein lernen? Man muß versuchen, als spontan zu erscheinen. Reagan legte sich einen Fundus von Geschichten und Witzen zu und gab diese bei allen passenden Gelegenheiten zum besten. Er spielte einen, der gut extemporiert. Jedes gelungene Extemporieren stärkte seinen Ruf als Extemporierer. Da das Spielen eines Extemporierers jedesmal neu im Extemporieren bestand, war es eine so gute Übung im Extemporieren, daß Reagan auf diese Weise wirklich ein guter Extemporierer wurde. Sein Spiel war nicht mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Durch häufiges Simulieren wurde Reagan der, den er simuliert hatte. Sein Selbst war nicht Ausgangspunkt, sondern Resultat der Selbstdarstellung, er entwickelte es durch sie. Nur so werden Äußerungen über Reagan verständlich, wie sie Peggy Noonan, seine langjährige Redenschreiberin, notierte: "Er spielte wirklich immer nur sich selbst .... Er wirkte zugleich unecht und authentisch, weil er beides war. Er schauspielerte wirklich, aber die Rolle, die er spielte, war Ronald Reagan" (Noonan, 1990, S. 163). Unecht wirkte er, weil er Selbstdarstellung betrieb, und authentisch, weil seine Darstellungsmittel Erscheinungsformen des Dargestellten waren. (Zu den Problemen, die entstehen, wenn ein wirklicher Schauspieler mit dem dargestellten Politiker verwechselt wird, vgl. Posner, 1993.)

Um Ihnen zu zeigen, daß diese faszinierende Art der Selbstwerdung sich restlos auf unsere technischen Begriffe zurückführen läßt, sei sie noch einmal anhand der entsprechenden Formeln nachvollzogen:

1. Die Person b will, daß die andern a ihr ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal F zuschreiben:


(i)

I(b, G(a, F(b)))
[b will, daß a glaubt, daß b ein F ist]

2. Nach b's Meinung läßt sich sein Imagewunsch (Eigenwunsch-Fremdkonzept) dadurch verwirklichen, daß b in allen relevanten Situationen t sich wie einer aufführt, der ein F ist, also f tut:

(ii)

G(b, " t Tt(b, f) -> G(a, F(b)))
[b glaubt, wenn für alle t gilt, daß b in t f tut, so bewirkt dies, daß a glaubt, b ist ein F]


3. Der Wunsch b's, als F zu erscheinen (i), und sein Glaube, daß das f-Tun in allen relevanten Situationen t bewirkt, daß er als F erscheint (ii), bringen b dazu, in allen relevanten Situationen f zu tun:

(iii)

" t Tt(b, f)
[Für alle t gilt, daß b in t f tut]

4. Nun ist es ein analytisch wahrer Satz, daß jeder, der in allen relevanten Situationen f tut, ein f-Tuer, d.h. ein F, ist:

(iv)

" x " t (Tt(x, f) É F(x))
[Für alle x und alle t gilt, wenn x in t f tut, dann ist x ein F]

5. Durch Einsetzung von b für x in (iv) und Modus ponens mithilfe von (iii) erhält man aus (iv):

(v)

F(b)
[b
ist ein F]

6. Indem b durch f-Tun versuchte, a zu dem Glauben zu bringen, daß b ein F ist, ist b selbst zum F geworden. Voraussetzung war nur, daß genügend viele relevante Situationen auftraten, in denen b f tun konnte. Die verallgemeinerte Zusammenfassung lautet:

(vi)

" x " t (Tt(x,f) Ù I(x, Tt(x,f) -> G(a, F(x))) -> F(x))
[Für alle x und alle t gilt, wenn x in t f tut, weil er will, daß das f-Tun in t bewirkt, daß a glaubt, daß x ein F ist, so bewirkt dies, daß x ein F ist]

Die Formel (vi) beschreibt, was ich den "Reagan-Effekt" nennen möchte. Sie zeigt, aufgrund welcher logischen Struktur die Ebenenreduktion von ...I(x, ... G(a, F(x))) zu F(x) möglich ist. Gleichgültig, ob Sie

für f bzw. für F einsetzen:

"(schön)schreiben" "(Schön)Schreiber"
"(gut) schwimmen" "(guter) Schwimmer"
"(gut) Football-Spielen" "(guter) Football-Spieler"
"fair verlieren" "faire Person"
"gut kochen" "guter Koch"
"gewissenhaft arbeiten" "gewissenhafte Person"
"(gut) schauspielern" "(guter) Schauspieler"
"(gut) extemporieren" "(guter) Extemporierer"
"sich klug verhalten" "kluge Person"
"präsidieren" "Präsident",

der Schluß vom Einzelfall auf das Persönlichkeitsmerkmal ist unter den angegebenen Umständen immer gerechtfertigt.

Der Reagan-Effekt läuft darauf hinaus, daß jeder durch ständige Darstellung eines Selbst zu diesem Selbst wird. Er ist nur möglich, insofern unser Selbst nicht vorgegeben ist, sondern hergestellt ("angenommen") werden muß.

Der Reagan-Effekt läuft darauf hinaus, daß eine angestrebte Realität durch ihre geistige Vorwegnahme herbeigeführt werden kann. Er ist ein Spezialfall der sich selbst erfüllenden Prophezeiung (vgl. Merton, 1948; Rosenthal, 1968; Ludwig, 1991) und ist damit in die gleiche Kategorie einzuordnen wie der Rosenthal-Effekt (der darin besteht, daß die Erwartung des Forschers das Verhalten seiner Versuchspersonen beeinflußt; vgl. Rosenthal, 1976), der Pygmalion-Effekt (der darin besteht, daß die Erwartung des Lehrers die Leistung seiner Schüler beeinflußt; vgl. Rosenthal und Jacobson, 1968), der Messias-Effekt (der darin besteht, daß das Bekanntwerden einer Vorhersage die Entwicklung in dem betreffenden Bereich beeinflußt; vgl. Eden, 1986), der Galatea-Effekt (der darin besteht, daß eine Befürchtung das Eintreten des Befürchteten begünstigt; vgl. Rosenthal, 1975) und der Placebo-Effekt (der darin besteht, daß ein Glaube an eine Wirkung diese Wirkung herbeiführt; vgl. Kirsch, 1985). Anders als diese Formen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung beruht der Reagan-Effekt aber auf einem logisch transparenten und immer gleich ablaufenden Mechanismus: der Schaffung eines Persönlichkeitsmerkmals durch Zurschaustellung seiner Erscheinungsformen.

Der Reagan-Effekt bewirkt die Entstehung von Persönlichkeitsmerkmalen von der Art der Disposition. Er kann nicht eingesetzt werden, um manifeste Eigenschaften herzustellen; die Ausstattung des Menschen mit zwei Armen und zwei Beinen, zwei Augen, zwei Ohren, einer Nase und einem Mund fällt nicht in seinen Bereich. Doch schon die Bewegungsweisen der Gliedmaßen: ob

und erst recht die komplexeren Verhaltensmuster, ob:

lassen sich durch Zurschaustellung ihrer Erscheinungsformen erwerben. Die Zurschaustellung mag dabei zunächst nur unvollkommen gelingen, auch das Zurschaugestellte ist zu diesem Zeitpunkt ja kaum entwickelt. Die Darstellung findet hier statt, bevor das Dargestellte existiert. Mit jedem Darstellungsakt bekommt der Darsteller aber mehr Übung, bis er nicht nur im Darstellen, sondern auch im Dargestellten Meisterschaft erreicht.

 


6. Der Computer als Selbstdarsteller

Lassen sich die Resultate unserer Untersuchung menschlicher Selbstwerdung auf künstliche kognitive Systeme übertragen? Können Computer auf gleiche Weise ein Selbst entwickeln?

Auch bei Computern haben wir manifeste materielle Merkmale von Verhaltensdispositionen zu unterscheiden. Wie der Mensch mit Armen, Beinen, Augen, Ohren, Nase und Mund ausgestattet ist, gehören zu einem heutigen Computer ein Eingabegerät (Tastatur, Joystick, Maus oder Scanner), ein Ausgabegerät (Monitor, Drucker oder Plotter), ein Speicher (Festplatte und Hauptspeicher) und ein Rechner. Wie die Arme und Beine dünn oder dick, lang oder kurz sein, die Ohren, Nase und Mund klein oder groß, feingliederig oder grob geformt sein können, kann das Computer-Design klobig oder grazil, eckig oder stromlinienförmig ausfallen. Wie beim Menschen die Hautfarbe hell oder dunkel, die Haarfarbe blond, brünett oder schwarz, die Augenfarbe blau, grau oder braun sein kann, so gibt es Computer mit beiger, industriegrauer oder schwarzer Verkleidung, spiegelnder oder entspiegelter Mattscheibe, schwarzweißem oder farbigem Monitor. Derartige Gegebenheiten liegen bereits bei der Geburt bzw. bei der Fabrikation weitgehend fest, sie bleiben danach meist unverändert, es sei denn, es kommt zu Beschädigungen oder zu Verletzungen wie bei Drake McHugh. Über die Verteilung dieser Gegebenheiten auf die Gesamtpopulation entscheidet jeweils das Publikum (der Heiratsmarkt bzw. der Markt der Computerbenutzer).

So wie ein Mensch Verhaltensdispositionen entwickelt und beispielsweise viel oder wenig zu essen, langsam oder schnell zu sprechen, häufig oder selten zu lesen pflegt, so gibt es auch bei Computern entsprechende Verhaltensmuster: Die Tastatur kann leicht- oder schwergängig, gering- oder hochverzögernd, der Rechner langsam oder schnell, der Drucker zuverlässig oder fehlerreich arbeiten.

Interessanter in unserem Zusammenhang sind aber die Dispositionen, welche die Computerbenutzer ihren Geräten attribuieren (vgl. Leu, 1993): Sie halten sie für

Alle diese Einschätzungen sind verhaltensbasiert. Sie beruhen auf der in vielen Einzelfällen gesammelten Erfahrung.

Abb.  9

Abb. 9: Der Benutzer formt sich den PC nach seinem Ebenbild
(Zeichnung von Elwood H. Smith, in Kantrowitz, 1994, S. 51).

Manifeste materielle Merkmale und Verhaltensdispositionen sind beim Computer wie beim Menschen zu dem zu rechnen, was wir das "Selbst im engeren Sinn" genannt haben: { P | P(b) }. Die materiellen Merkmale und ein Teil der elementaren Dispositionen gehören zur fabrikmäßigen Ausstattung des Computers und sind daher kaum veränderbar. Der Benutzer (und der Computer) muß sich mit ihnen abfinden.

Doch wie verhält es sich mit Dispositionen wie Pedanterie versus Flexibilität, Zuverlässigkeit versus Unzuverlässigkeit, zuvorkommendem versus schwerfälligem, freundlichem versus sturem, anspruchsvollem versus leicht zufriedenzustellendem Wesen? Werden sie dem Computer vom Benutzer unterstellt, so gehören sie zum Fremdkonzept-Selbst des Computers: { P | G(a, P(b)) }.

Bei starker Empathie des Benutzers kann es neben diesen Selbsten nullter und erster Reflexionsstufe auch zu solchen dritter Stufe kommen: Ein Benutzer, der trotz größter Bemühungen in seinem Computer eine Datei nicht wiederfindet, unterstellt diesem vielleicht, er wolle sie verstecken. Er flucht und beschimpft das Gerät und wendet sich erst einmal einem anderen Arbeitsfeld zu. Doch dann vergißt er vielleicht einen Text zu speichern, bevor er ihn löscht, und gibt in seinem Jammer nun dem Computer die Schuld am Verlust des Textes, indem er ihm unterstellt, er habe sich damit für die vorhergegangene Beschimpfung gerächt.

Die Computerindustrie versucht solchen benutzerseitigen Störungen der Arbeitsatmosphäre zu begegnen, indem sie Software anbietet, die den Computer auf entspannende menschliche Umgangsformen trimmt: Gleich nach dem Einschalten fühlt sich der Benutzer durch sein Gerät optisch oder akustisch begrüßt: "Hi Joe, how are you today?" Bei Bedienungsfehlern sieht er sich höflich darauf hingewiesen, daß er gegen die Regeln verstoßen hat: "This was a mistake. Please try again." Beim Gelingen schwierigerer Aufgaben sieht er sich belohnt durch einen lobenden Bildschirmkommentar der Art "Well done!"

All diese Verfahrensweisen fördern beim Benutzer eine Einstellung, die den Computer als Kommunikationspartner (bzw. Spielkameraden) erscheinen läßt. Die Fachliteratur unterscheidet denn auch Benutzerverhalten gemäß der Partnermetapher (Maaß, 1984) von solchem gemäß der Instrument- oder Medienmetapher (Andersen, 1990) und wendet sich mehrheitlich gegen die Anthropomorphisierung des Computers mit dem Argument, diese beruhe auf einem Mißverständnis. Face-to-screen-Interaktion mit dem Gerät dürfe nicht interpretiert werden als Face-to-face-Kommunikation mit einem menschlichen Partner. Der Computer sei unfähig zur Kommunikation im strengen Sinne, denn ihm mangle es an Charakteristika wie Normativität, Affektivität, Kontextualität, Historizität, Sozialität, Personalität, Freiheit und Bewußtsein (vgl. Debatin, 1994, S. 14). Dem Computer könne daher allenfalls ein virtuelles Selbst zugeschrieben werden. Mit ihm kommunizieren zu wollen, sei eine Illusion.

Fassen wir daher noch einmal die Fakten zusammen, und überlegen wir im Anschluß daran, unter welchen Bedingungen sich das virtuelle Computer-Selbst zu einem realen Selbst weiterentwickeln könnte.

1. Aufgrund seiner manifesten materiellen Merkmale hat jeder Computer unvermeidlich ein Selbst im engeren Sinn:

(S1)

{ P | P(b) }

Er ist zum Beispiel klobig, stromlinienförmig, industriegrau, entspiegelt, leichtgängig, geringverzögernd, multicolor und superschnell.

2. Durch Attribution erhält der Computer außerdem von seiten der Benutzer ein Fremdkonzept-Selbst:

(S3)

{ P | G(a, P(b)) }

Er gilt ihnen zum Beispiel als pedantisch, zuverlässig, schwerfällig, stur und anspruchsvoll.

3. Auch ein Fremdwunsch-Selbst kommt ihm auf diese Weise zu:

(S5)

{ P | I(a, P(b)) }

Denn die Benutzer sind häufig enttäuscht von ihren Bedienungsresultaten, übertragen diese Enttäuschung auf das Gerät und wünschen sich von diesem, daß es weniger schwerfällig, stur, anspruchsvoll, mehr zuvorkommend und benutzerfreundlich sowie leichter zufriedenzustellen sein möge.

4. Stärker involvierte Computerfreaks schreiben ihrem Gerät schließlich auch ein Eigenkonzept zu, wenn sie ihm unterstellen, er halte sich für den besseren Rechner, Schachspieler, Piloten usw. Der Computer erhält auf diese Weise ein Fremdkonzept-Eigenkonzept-Selbst:

(S9)

{ P | G(a, G(b, P(b))) }

Die Dynamik der Interaktion zwischen Benutzer und Computer bringt es mit sich, daß die betreffenden Merkmalszuschreibungen P(b) meist von denen abweichen, welche dem Computer im Fremdwunsch-Selbst zugewiesen werden.

5. Auch Eigenwünsche unterstellen Computerfreaks ihrem Gerät, was diesem zu einem Fremdkonzept-Eigenwunsch-Selbst verhilft:

(S10)

{ P | G(a, I(b, P(b))) }

So kann ein entsprechend phantasiereicher Benutzer nach dem zehnten Versuch, dem Computer eine bestimmte Datei zu entlocken, kaum umhin zu glauben, dieser verspüre eine gewisse Genugtuung über seinen analen Charakter und werde den Text für immer bei sich behalten.

6. Und schließlich haben wir mit einem Fremdwunsch-Eigenkonzept-Selbst zu rechnen:

(S11)

{ P | I(a, G(b, P(b))) }

Benutzer, die ihrem Gerät bzw. dessen Wettspielprogramm nicht beizukommen verstehen, wünschen sich, es möge sich für weniger perfekt halten und sich ein wenig menschlicher gebärden.

7. Wie in einer menschlichen Partnerbeziehung wird der Computerfreak durch den Umgang mit seinem Gerät häufig dazu motiviert, von diesem zu verlangen, es möge sich bemühen, seinen Bedürfnissen besser zu genügen. Er wünscht sich von seinem Computer, daß er zu Eigenwünschen fähig ist, und glaubt, dies wäre der erste Schritt zu dessen (Ver-) Besserung:

(S12)

{ P | I(a I(b, P(b))) }

8. In verwickelteren Situationen schließlich, wenn der Benutzer den Computer verflucht hat und sich gleich darauf von ihm dafür bestraft vorkommt, wird er denken: "Du wünschst dir wohl, daß ich dich für weniger hinterhältig halte. Dann benimm dich aber auch entsprechend!" Hier haben wir es mit einem Fremdkonzept-Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst zu tun:

(S8)

{ P | G(a, I(b, G(a, P(b)))) }

Diese Liste von Teil-Selbsten bewegt sich auf den Reflexionsstufen RS0 bis RS3 (vgl. Abb. 6). Was in ihr fehlt, damit ein auf jeder der betreffenden Reflexionsstufen vollständiges Gesamt-Selbst entsteht, ist folgendes:

9. Das Eigenkonzept-Selbst des Computers (Reflexionsstufe RS1):

(S2)

{ P | G(b, P(b)) }

Es wäre gegeben, wenn der Computer sich selbst zum Beispiel für pedantisch, zuverlässig, zuvorkommend, freundlich, anspruchsvoll und ehrlich halten könnte (wie manchmal vom Benutzer geglaubt (S9) oder gewünscht (S11)).

10. Das Eigenwunsch-Selbst des Computers (Reflexionsstufe RS1):

(S4)

{ P | I(b, P(b)) }

Es wäre gegeben, wenn der Computer selbst wünschen könnte, zum Beispiel weniger pedantisch, schwerfällig und stur zu sein (wie manchmal vom Benutzer geglaubt (S10) oder gewünscht (S12)).

11. Das Eigenkonzept-Fremdkonzept-Selbst des Computers (Reflexionsstufe RS2):

(S6)

{ P | G(b, G(a, P(b))) }

Es wäre gegeben, wenn der Computer glauben könnte, daß der Benutzer ihn zum Beispiel als schwerfällig, stur und hinterhältig einschätzt oder daß der Benutzer ihn für zuvorkommend, benutzerfreundlich und ehrlich hält.

12. Das Eigenwunsch-Fremdkonzept-Selbst des Computers (Reflexionsstufe RS2):

(S7)

{ P | I(b, G(a, P(b))) }

Es wäre gegeben, wenn der Computer wünschen könnte, daß der Benutzer ihn zum Beispiel als weniger schwerfällig, stur und hinterhältig, d.h. als zuvorkommend, benutzerfreundlich und ehrlich einschätzt (der Benutzer unterstellt ihm derartige Wünsche in S8).

13. Das Eigenkonzept-Fremdwunsch-Selbst des Computers (Reflexionsstufe RS2):

(S13)

{ P | G(b, I(a, P(b))) }

Es wäre gegeben, wenn der Computer sich ein Bild von den Bedürfnissen des Benutzers machen könnte und glauben könnte, daß dieser ihn sich zuvorkommend, freundlich und ehrlich wünscht.

14. Das Eigenwunsch-Fremdwunsch-Selbst des Computers (Reflexionsstufe RS2):

(S14)

{ P | I(b, I(a, P(b))) }

Es wäre gegeben, wenn der Computer sich Benutzerwünsche zu wünschen vermöchte. Zum Beispiel könnte er sich wünschen, daß der Benutzer sich stärkere Flexibilität, schnelleres Operieren und ein größeres Gedächtnis von ihm wünscht.

Auf höheren Reflexionsstufen lassen sich entsprechend der in Abbildung 6 dargestellten Stratifizierung des Gesamt-Selbstes weitere Teil-Selbste des Computers postulieren; ihre Besprechung würde aber unserem gegenwärtigen Gedankengang nichts Neues hinzufügen.

Wenn wir die Teil-Selbste analysieren, die in der heutigen Interaktion mit Computern auf den Reflexionsstufen RS1 und RS2 fehlen, so stellen wir fest, daß sie alle mehr oder weniger komplexe Merkmalszuschreibungen enthalten, die entweder in G(b, ...) oder I(b, ...) eingebettet sind. Wer einem Computer diese Teil-Selbste verschaffen will, muß ihn also in die Lage versetzen, etwas glauben und etwas intendieren zu können.

Wohlgemerkt, es wäre falsch, dem Computer einprogrammieren zu wollen, was er zu glauben oder zu intendieren hat. Eine solche Ingenieurlösung würde ihm die Möglichkeit nehmen, sich auf den jeweiligen Benutzer einzustellen und sich in Abhängigkeit von dessen Bedienungsverhalten ein Konzept von dessen Praktiken, Einschätzungen und Wünschen zu bilden. Nur die Fähigkeit des Glaubens und Intendierens als solche muß dem Computer einprogrammiert werden. Er muß so ausgestattet werden, daß er imstande ist, interne Repräsentationen der virtuellen Merkmale anderer und seiner selbst zu bilden (das heißt "glauben") und die repräsentierten Merkmale im Hinblick auf seine Präferenzen zu bewerten (das heißt "intendieren").

Eine solche Ausstattung wird es dem Computer ermöglichen, die bisher fehlende Hälfte des erforderlichen Gesamt-Selbst auszubilden. Der Selbstwerdungsprozeß wird dann wie beim jungen Reagan erfolgen, ausgehend von den jeweiligen Fremdkonzepten, Eigenwünschen und Fremdwünschen (vgl. die Formeln (9) bis (11) in Kapitel 5). Wäre es nicht hilfreich, einen PC zu besitzen, der nur deshalb, weil er glaubt, daß sein Benutzer a1 ihn für flexibel hält, in allen relevanten Situationen die größtmöglichen Abkürzungen in der Operationenfolge wählt, um diese Einschätzung zu rechtfertigen? Oder einen PC, der nur deshalb, weil er glaubt, daß sein Benutzer a2 will, daß er pedantisch ist, alle Zwischenschritte einer Operationenfolge explizit mit ihm durchgeht? Oder einen PC, der selbständig die unauffindbar scheinende Datei sucht, indem er aufgrund der fehlgeschlagenen Versuche des Benutzers die passenden Kodewörter zu erraten versucht? Oder einen PC, der Orthographie- und Interpunktionsfehler eines Benutzers selbständig korrigiert, weil er sie für Verstöße gegen dessen Schreibabsicht hält? Oder einen PC, der auch unvollständige Befehle seines Benutzers selbständig ergänzt und in der ergänzten Form ausführt? Oder einen PC, der beim n-ten verworfenen Textformulierungsversuch seines Benutzers sein eigenes Formulierungsprogramm ins Spiel bringt und aus den verworfenen Versuchen eine neue Textvariante herstellt, die den angenommenen Absichten des Benutzers besser entspricht?

All diese Möglichkeiten eröffnen sich, wenn man dem Computer die Fähigkeit verschafft, etwas zu glauben und etwas zu intendieren. Den Rest besorgt der Reagan-Effekt.

Ein kognitives System, welches imstande ist, etwas zu glauben und etwas zu intendieren, vermag sich in Auseinandersetzung mit seinen Benutzern eigenständig zu entwickeln und die ihm verfügbaren technischen Möglichkeiten eigenständig (um-) zu organisieren. Es bekommt sein Eigenkonzept-Selbst und sein Eigenwunsch-Selbst nicht mitgegeben, sondern bildet dieses in Abhängigkeit von dem Fremdkonzept-Selbst und dem Fremdwunsch-Selbst, das die Benutzer an es herantragen. Auf diese Weise vermag es auch sein Selbst im engeren Sinn zu erweitern und zu verändern. Dies geschieht durch die Ebenenreduktion der Merkmalszuschreibungen. Fremdattribution veranlaßt Selbstdarstellung, und diese bewirkt Selbstwerdung.

Jeder in Kapitel 3 und 4 besprochene Typ der Selbstdarstellung wird einem derartigen kognitiven System möglich sein, denn dies sind ja alles nur verschiedene Konstellationen des Glaubens, Intendierens und Bewirkens von Merkmalszuschreibungen. Je höher die Reflexionsstufen sind, die das System in Auseinandersetzung mit seinen menschlichen Benutzern erreicht, um so mehr wird es diesen ähneln. Es wird ganz von selbst vom bloßen Instrument zum mitdenkenden Partner, von der anonymen Datenkonstellation zum anpassungsfähigen Mitarbeiter, und Diskussionen über die Metaphorik dieser Beschreibungen werden sich erübrigen.

Ein künstliches kognitives System mit der Fähigkeit, etwas zu glauben und etwas zu intendieren, wird nicht nur jenes unvermeidliche Selbst im engeren Sinn haben, das der Psychoanalytiker Khan seinem Kollegen Winnicott zuschreibt. Es wird auch ein Gesamt-Selbst haben, das unerbittlich ist, insofern es nach innerer Konsistenz der Teil-Selbste auf den höheren Reflexionsstufen mit jenen auf den niedrigeren strebt. Und sein Gesamt-Selbst wird unverletzlich sein in dem Maße, in dem es durch Beschädigungen entstandene Widersprüche mithilfe des Strebens nach Konsistenz zwischen den Teil-Selbsten ausräumt, sei es durch Verzicht auf Persönlichkeitsmerkmale unterster Stufe, sei es durch deren Neubildung mithilfe des Mechanismus der Ebenenreduktion. Jeder Interaktionspartner des kognitiven Systems wird sich ein eigenes Bild von ihm entwickeln können, denn es wird nicht "versuchen, seine eigene Seinsweise durchzusetzen", aber trotzdem immer "unerbittlich es selbst" sein.

Diese vielversprechenden Eigenschaften der betreffenden künstlichen kognitiven Systeme sollten es uns wert sein, daß wir uns ernsthafter als bisher der semantischen und pragmatischen Untersuchung dessen widmen, was sie möglich macht: des Glaubens und des Intendierens.

 


 

Literatur