SYBILLE KRÄMER

Verkörpertes Sprechen: Über die Sprache als Stimme und als Schrift*



1. Die Sprache hinter dem Sprechen oder: Über die latente Wirksamkeit des intellektualistischen Sprachbildes

In einer sowohl die Strukturtheorien (Saussure, Chomsky) wie die Handlungstheorien (Searle, Apel, Habermas) der Sprache einschließenden Tradition einer Purifizierung der Sprache werden Sprache und Kommunikation als universale, wissensfundierte, medienindifferente Regelzusammenhänge entworfen, die dann im Sprechen und Kommunizieren auf - mehr oder weniger - defizitäre Weise realisiert und angewendet werden. In diesem 'Zwei-Welten-Modell' der Sprachlichkeit geht die Sprache dem Sprechen logisch-genealogisch voraus. Implikationen dieses Modells können anhand von zwei Theoremen erläutert werden: Es geht um (1) das Theorem vom Sprechen-als-Regelfolgen und (2) das Theorem von den Medien-als-Realisierungsphänomenen.

 

2. Exkurs: Das Wesentliche ist unsichtbar oder: Über das 'blinde Auge des Geistes'

Im Horizont der Annahme von der 'Logosauszeichnung der Sprache' handeln die Theorien über Sprache und Kommunikation nicht von dem, was sich im Sprechen und Kommunizieren tatsächlich zeigt. Damit partizipiert die Sprachtheorie an einer signifikanten methodischen Einstellung abendländischer Reflexion: Das Wesentliche (Form, System, Essenz) bleibt unsichtbar, da es hinter oder jenseits der Oberfläche raum-zeitlich situierten Geschehens lokalisiert ist.

 

3. Revisionen des Zwei-Welten-Modells: Wittgenstein und Luhmann

Autoren wie Wittgenstein, Austin, Davidson, Lacan, Derrida, Luhmann und Butler teilen - trotz gravierender methodischer und inhaltlicher Differenzen - die Intuitionen des Zwei-Welten-Modells nicht. Was das heißt, sei an Wittgenstein und Luhmann erläutert. Beide brechen mit dem Bild der universalen, zeitindifferenten Form als 'Gegenstand' sprachtheoretischer Bemühung. Wittgenstein, indem er das Allgemeine nicht mehr hinter dem Partikulären ansiedelt, sondern zu einem 'Fall' des Partikulären macht, der genau dann gegeben ist, wenn das Partikuläre als maßstabsetzendes Beispiel dient. Luhmann, indem er im Rahmen seiner Medium-Form-Konzeption das traditionelle Verhältnis von Form und Medium umkehrt und die Form zur operativen, zeitlichen Realisierung von Optionen macht, die Medien bereitstellen.



4. Verkörperte Sprache: Über das Sprechen als Artikulation

Es gibt keine Sprache jenseits des Vollzugs ihrer stimmlichen, schriftlichen, gestischen oder technischen Artikulation. Dabei geht es nicht darum, die Idee der reinen, der unbedingten Sprache als Fiktion oder Mythos 'zu entlarven'. Vielmehr ist zu zeigen, daß das Zwei-Welten-Modell Produkt einer historisch kontingenten Sprachpraxis ist, deren kognitives Potential darin liegt, daß der in der einen Dimension der Zeit fließende Sprechstrom zur Zweidimensionalität geschriebener Texte verräumlicht und stabilisiert wird: Das Schriftbild macht die Form der Sprache nicht nur beobachtbar, sondern konstituiert sie überhaupt erst im Medium dieser Visualisierung.

 

5. Die Stimme: Über die vergessene Spur des Körpers im Sprechen

Die wechselseitige mündliche Rede gilt - zumindest seit Wilhelm von Humboldt - als Keimzelle sprachtheoretischer Reflexion. Doch in der sprachphilosophischen Debatte werden Sprache und Kommunikation weitgehend ohne Stimmlichkeit konzipiert. In der Perspektive der konstitutiven Lautlichkeit des Sprechens können zwei Eigenschaften des universalistischen Sprach- und Kommunikationsmodells fraglich werden. Das ist einmal die Idee des Sprechaktes als intentionales Handeln: Die Stimme ist nicht bloß Vollstreckerin der Rede, sondern die immer auch geschlechtsspezifische Spur des Körpers im Sprechen, welche die Rede kommentiert, nicht selten auch unterminiert. Diese Heterogenität zwischen Rede und Stimme bildet eine Grenze für alle Ansätze, die das Sprechen als intentionales, vom Sprecher völlig kontrollierbares Handeln begreifen. Das ist zum andern die Idee, die dem Sprachgebrauch inhärente Gemeinschaftsstiftung zurückzuführen auf das ihr eigene logisch-dialogische Rationalitätspotential: In der Stimmlichkeit gründet eine Musikalität des Sprechens, die durch 'Rhythmus' oder 'Klang' eine vorprädikative Kraft der Einbindung und Synchronisierung der Sprechenden stiftet, die wirksam wird vor aller rationalisierbaren Verständigungsleistung und jenseits einer Übereinstimmung in mentalen Zuständen oder geteiltem Sinn.

 

6. Die Schrift: Über die Entstehung 'der Sprache' aus der Performanz ihrer schrift- sprachlichen Darstellung

Sprache zu untersuchen heißt, das kontinuierliche Verschwinden des Wortes im Redefluß zu bannen. Aufzeichnungstechniken kommen so unvermeidlich ins Spiel. Die Sprachwissenschaft ist angewiesen auf die Schrift, um ihr Objekt feststellen und darstellen zu können. Durch die alphabetische Schrift wird die Identifizierbarkeit und Reidentifizierbarkeit sprachlicher Einheiten gewährleistet: Das Phonem als abstrakte, unteilbare, sinnlich nicht mehr wahrnehmbare Grundeinheit der Sprache ist ein Epiphänomen des Graphems. Die Schrift liefert eine Planskizze, eine Kartographie, durch welche die sinnliche Fülle klangvoller Sprachvollzüge in diskrete Zeichen ausbuchstabierbar wird. Die Schrift macht die Form der Sprache anschaubar. In ihrem Medium bildet sich das Modell der 'reinen Sprache', verstanden als ein regelhaftes System arbiträrer Zeichen, von dem wir im Sprechen Gebrauch machen, überhaupt erst heraus.

 

7. Computer-Kommunikation: Über die lnteraktivität mit Symbolstrukturen und die Depersonalisierung der Kommunikation

Die Kulturtechniken des Schreibens und der Lektüre beruhen auf der Trennung von 'Kommunikation' und 'Interaktion': Wir können mit den Zeichen gerade nicht interagieren, sondern sie 'nur' identifizieren, manipulieren (schriftliches Rechnen!) und interpretieren. Mit der zeitgenössischen Entwicklung der Computernutzung zeichnet sich eine 'vierte Kulturtechnik' ab, die darauf beruht, daß wir mit symbolischen Ausdrücken in eine Wechselwirkung eintreten - so, wie wir zuvor nur mit Personen oder manchen Dingen interagieren konnten. Was das heißt, kann an zwei Phänomenen erläutert werden: (a) In den sogenannten 'virtuellen Realitäten' wird der mit audiovisuellen Medien vernetzte Computer ein Apparat, der 'Spiegelungen' symbolischer Welten erzeugt, in die wir eintreten und mit denen wir Erfahrung sammeln können. (b) In der 'telematischen Kommunikation' verkehren Chiffrenexistenzen, also künstliche Identitäten, miteinander. Diese 'bindungsfreie', 'nicht-authentische' Kommunikation setzt die performative Dimension im Sprechen außer Kraft, die Dimension also, bei der etwas zu sagen, zugleich etwas zu tun bedeutet.



* Colloquium vom 25. 5. 1999

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