JENS BROCKMEIER

Die Welt als Bibliothek*

 

Noch ist es nicht ausgemacht, ob und in welchem Sinn die Revolution der elektronischen Kommunikations- und Speichermedien tatsächlich das Ende der Schriftkultur bedeutet. Es werden nicht nur Jahr für Jahr mehr Computer gebaut, Internet-Anschlüsse registriert und Fernsehkanäle empfangen als je zuvor. Es werden auch immer mehr Bücher gedruckt und Zeitschriften abonniert. Keine Bibliothek, die nicht über Platzmangel klagt. Sogar der Absatz von hochwertigen Füllfederhaltern und büttengeschöpftem Briefpapier hat in den letzten Jahren zugenommen. So unklar die Lage ist, die damit wohl noch für geraume Zeit Anlaß für medien- und kulturtheoretische Debatten sein wird, eines hat die verbreitete Rede vom Ende der traditionellen Schriftkultur jedoch bereits bewirkt: Das Nachdenken darüber hat begonnen, was es heißt, daß wir überhaupt in einer Schriftkultur leben oder zumindest bislang in einer solchen Kultur gelebt haben. Kultur meint dabei auch, es ist nicht die natürliche oder naturgegebene Form, in der Sprache in unserer Gesellschaft Gebrauch findet. Indem sich der epistemische Status der Schrift zu wandeln scheint – und damit meine ich ihre Bedeutung für die Organisation des Wissens und seiner Vermittlung - zeigt sich nicht zuletzt, wie hochgradig Sprache generell als eine kulturelle Ordnung fungiert: als ein im Wittgensteinschen Sinne verstandener Diskurszusammenhang von Sprachspielen, die nur dann zu verstehen sind, wenn sie als Bestandteil eines historischen Systems von Lebensformen begriffen werden.



Das Transkriptionsparadigma


Wie ungewöhnlich diese Vorstellung ist, läßt sich am besten ermessen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß seit Aristoteles fast alle Sprachwissenschaftler und Sprachphilosophen der Überzeugung sind, daß alphabetische Schrift nichts anderes ist als transkribierte Rede. Demnach besteht die Natur schriftlicher Sprache in der Verschriftung der "natürlichen" mündlichen Sprache. Diese Auffassung - in etwas technischer Sprache könnte man sie das Transkriptionsparadigma nennen - hängt eng zusammen mit einem Verständnis der mündlichen Sprache, das dieser, also der "Stimme", ein Bedeutungs- und Dignitätsprimat zuschreibt. Dieser Phonozentrismus geht in den Kontexten der Philosophie, der Theologie und anderer Humanwissenschaften wiederum einher mit einem Logozentrismus: Die reine Stimme gehört zum reinen Geist (oder zum reinen Denken) wie das Wort Gottes zu Gott. In dem Maße, in dem in dieser nicht allein theologisch-religiösen Vorstellung einzig und allein die mündliche Sprache dem Geist und seinem ätherischen Wesen angemessen erscheint, hat die orale Sprache Teil am Anspruch des Geistes, das ontologisch und epistemologisch Begründende, also das Zugrundeliegende zu sein. Das Wort Gottes wird Fleisch, der Gedanke wird Sprache, die Stimme wird Schrift. In Hegels umfassender Synthese der abendländischen Metaphysik in einer Theorie des "reinen Denkens" hat dieser Gedanke seine wohl detaillierteste Ausformulierung gefunden (Brockmeier, 1992).

Seitdem Jacques Derrida in den sechziger Jahren auf die weitreichenden philosophischen Implikationen des Zusammenhangs von Phonozentrismus und Logozentrismus aufmerksam gemacht hat, ist das Transkriptionsparadigma auch in anderen sprach-, schrift- und kulturtheoretischen Zusammenhängen in Frage gestellt worden (Brockmeier, 1998; Gauer, 1984; Olson, 1997). Doch haben dazu nicht allein philosophische Überlegungen beigetragen. Offensichtlich war es nicht zuletzt die Erfindung des Mikrochips und damit die neue elektronische Medienerfahrung, die es ermöglicht hat, Schriftlichkeit nicht mehr als eine Naturform, sondern als eine Kulturform unseres Denkens zu begreifen.

Zumindest aus dieser medienhistorischen Perspektive wird es verständlich, warum die Vorherrschaft der Schrift lange Zeit so unumschränkt war, daß sie nicht einmal mehr als kulturelle Hegemonie eines Mediums, sondern als ein natürlicher Modus erschien. Fällt die Schrift als ein nachgeordnetes Abbild der mündlichen Sprache mit Sprache überhaupt zusammen, so kommt es in einer Art Nebeneffekt des Phonozentrismus zu einer überraschenden Vorstellung: Um die Welt zu verstehen, muß man ihre Sprache verstehen, und das heißt, man muß sie lesen wie einen Text. In der Tat haben sich nicht nur Historiker und Philologen, Philosophen und andere Literaten, sondern auch Naturkundler und Naturwissenschaftler an dem Gedanken orientiert, die Welt als ein Buch zu begreifen. In ihm zu blättern und sich hier und da zu vertiefen heißt, die unterschiedlichsten Geschichten Gestalt gewinnen zu lassen.


Der Menschheit

Die Adern aufgeschlagen wie ein Buch

Im Blutstrom blättern


lautet etwa das Motto, das Heiner Müller seinem Stück Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar voransetzt, einem Stück, das von der Lektüre der menschlichen Ungeheuerlichkeiten handelt.

Selbst die Frage, ob die Rede von den Lesarten der Geschichte eine metaphorische Beschreibung der Tätigkeit von Historikern oder Dichtern meint, oder ob Geschichte, im Sinne Nietzsches, selbst eine Abfolge von Metaphern verkörpert - nämlich unserer Versuche, disparaten Ereignissen narrative Kohärenz und Sinn zu verleihen -, läßt sich, wie der Historiker Hayden White (1990) argumentiert, als rhetorische, also sprachlich Konstruktion einholen: Wer könnte sich außerhalb der Kultur und ihrer Sprache bewegen? Wo ist die Instanz, die außerhalb unserer Diskurse, außerhalb unserer so signifikant mehrdeutigen "Geschichte" der Geschichte, für diese Unterscheidung einstehen könnte?

Die sich hier festmachende Diskussion der Historiker ist jedoch nur eine Variante. Sie beschreibt eine Figur der Moderne-Postmoderne-Debatten, der eine lang zurückreichende und bei weitem einflußreichere Vorstellung eher konservativer Provenienz vorangeht, und diese erscheint ebenso wie die Idee der Welt als Text als problemlos mit den Prämissen des Phonozentrismus vereinbar. Für diese Vorstellung ist die Schrift in ihrer Eigenschaft als direktes Abbild der Sprache und damit des Geistes bis in die Gegenwart hinein der zentrale Stützpfeiler des Gewölbes aller Kultur. Kultur, das heißt in diesem Fall vor allem literale Bildung und Erziehung, Idealität und Moralität. Kurz, Kultur heißt Geist, Abendland, Humanität. Heißt, die Welt als homme de lettres sehen. So wie Galilei das Buch der Natur als in mathematischen Symbolen geschrieben begriff, so schien es lange Zeit, als sei nicht allein der Diskurs der Geschichts- und Menschenwissenschaften, sondern die Natur des menschlichen Geistes (beziehungsweise des absoluten Geistes) selbst in den Buchstaben des Alphabets geschrieben.



Literale Allmachtsphantasien

Eine suggestive Allegorie für diesen umfassenden Natur- und Kulturanspruch des literalen Mediums hat Jorge Luis Borges (1986) in seiner Erzählung Die Bibliothek von Babel verfaßt. Borges, der erblindete Direktor der argentinischen Nationalbibliothek, schon zu Lebzeiten ein beinahe mythischer Bibliothekar, vor allem aber Schriftsteller, Essayist und leidenschaftlicher Schrift-Denker, schildert in dieser Erzählung die Welt als totale Bibliothek. Eine philosophische und anthropologische Kulturvision, entfaltet aus einer literalen Allmachtsphantasie: Alle Menschen werden zu Bewohnern einer ungeheuren labyrinthischen Bibliothek, einer Sammlung aller nur denkbaren Bücher, aller tatsächlich geschriebenen wie auch der nur möglichen, imaginierten und vergessenen. Da die Bibliothek so unvorstellbar weiträumig ist - sie ist der Inbegriff alles literalen Wissens -, ist die Unterscheidung zwischen wirklichen oder möglichen, schon geschriebenen oder noch nicht oder niemals zu schreibenden Schriften weder genau zu treffen, noch fällt sie ins Gewicht.

In den riesigen, sechseckigen Gebäudetrakten regiert das absolute Gesetz der Schrift, ein Gesetz, erlassen nach Maßgabe der Logik des Alphabets. Diese Logik hat die Grenzen zum Mythos längst wieder überschritten. Das geschriebene Wissen herrscht wie der allwissende Laplacesche Dämon: Alle Beschränkungen von Zeit und Raum, die für das gesprochene Wort unüberwindlich erscheinen, sind aufgehoben. Nichts ist geschehen und nichts wird geschehen, das nicht in dem Universum der Bibliothek schriftliche Gestalt annimmt, sei es in ausgeführter Weise, sei es in Form von Kombinationen und noch zu ziehenden Schlußfolgerungen aus verschiedenen Büchern, Sprachen, Buchstaben oder bereits geschlußfolgerten Kombinationen, sei es in Form der Allegorese, jener deutenden Auslegung von Texten, die hinter dem Wortlaut einen verborgenen Sinn zu erfassen sucht.

So leben die Menschen und kontrollieren ihr Leben je nach ihrem Verhältnis zur Schrift: allesamt Bibliothekare zu- und abnehmender Unvollkommenheit. Wenn in bestimmten schwierigen Fällen die differenziertesten Sprachen der Philosophie, der Wissenschaften und der Kunst, der Religion und der Geheimlehren nicht ausreichen, um Klarheit zu verschaffen, so besteht kein Zweifel, daß die Bibliothek die bislang unerhörte, doch dazu notwendige Sprache hervorbringen wird, mitsamt aller Wörterbücher und Grammatiken dieser Sprache.

Obwohl die Bibliothek allen historischen Zeiten gleichermaßen enthoben scheint, entzieht sich der Leser von Borges Erzählung nur schwer dem Gefühl, daß in ihr der gleiche Wind weht, dem sich Ideen wie "Fortschritt", "Aufklärung" und der unbegrenzte Erkenntnis- und Wissensanspruch der Moderne verdanken. Als strahle die Sammlung der hier gelagerten Schriften den gleichen Geist aus, in dem auch Diderots Held Jacques le Fataliste immer wieder "die große Rolle, auf der alles aufgeschrieben ist", beschwört. Auch wenn hier nicht der Ort ist, diesem durchaus zwiespältigen diderotschen Geist der Aufklärung und seiner Sprache nachzugehen (Brockmeier, 1992) so doch, um eine Frage aufzuwerfen, die ebenfalls in dieser Dialektik der Aufklärung gründet. Dies ist die Frage, wie sehr dieser "Geist" nicht nur die Schrift als gleichsam säkularisiertes Medium des grenzenlosen Wissens proklamiert, sondern seine Konstruktion und Hypostase selbst erst auf der kulturhistorischen Grundlage der Literalität möglich werden.

Es gibt in dieser Geschichte einen genialen Bibliothekar. Er hat die in dieser Welt herrschende Gleichung von Universum und Schrift erkannt. Er hat begriffen, was es heißt, daß die Bibliothek total ist, er durchschaut, "daß ihre Regale alle irgend möglichen Kombinationen der zwanzig und soviel orthographischen Zeichen (deren Zahl, wenn auch außerordentlich groß, nicht unendlich ist) verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken läßt: in sämtlichen Sprachen. Alles: die bis ins einzelne gehende Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolationen jeden Buches in allen Büchern, der Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb), über die Mythologie der Sachsen, die verlorenen Bücher des Tacitus" (Borges, 1986, S.58).

Borges Erzählung ist für die Frage nach dem historischen Rahmen der Episteme der Schrift so bemerkenswert, weil sie gewissermaßen die Phantasien der Aufklärer bis an ihr Ende denkt. Sichtbar wird eine alptraumhafte Vision der Buchkultur: die Ausdehnung der literalen Semiose auf die gesamte Welt. Und vor allem: diese Ausdehnung ist restlos, sie reicht bis zur Identität und damit bis zur Auflösung jener beiden ontologischen Sphären des Seins und des menschlichen Wissens über das Sein, über deren Verhältnis die europäische Philosophie seit je - genauer: seit der Einführung der Schrift in die intellektuellen Diskurse des antiken Griechenlands - nachgedacht hat.


 


Vor Babel

Damit entwirft Borges eine Welt-Bibliothek, in der dem Begriff des Mediums - in diesem Fall des literalen Mediums - letztlich die Grundlage entzogen ist. Das Medium vermittelt nicht mehr Wahrnehmen und Denken, es hat sie gleichsam in sich aufgesogen. Die Vermittlung des psychischen Lebens durch die Zeichen der Schrift hat das psychische Leben selbst überflüssig gemacht. Was sollen die Menschen erleben, was denken und sagen, wenn alles, was möglich ist, bereits geschrieben ist? Erleben und sprechen heißt: in Tautologien verfallen.

Borges schildert einen Zustand, in dem die babylonische Katastrophe - der Sturz in die Zeichenvielfalt - rückgängig gemacht ist. Dies aber nicht, indem unter Umgehung der Medialität aller sozialen Kommunikation und kognitiven Repräsentation eine Art unmittelbarer Zugang zu den Dingen und den Menschen imaginiert wird. Diese Utopie einer semiotischen Unmittelbarkeit, das romantische Ideal nicht erst seit Rousseau, hat zwar wie von einer leisen, aber beständigen Sirenenstimme getragen in fast allen intellektuellen Diskursen bis zum heutigen Tage ihren Widerklang gefunden. Aber diese Utopie ist es gerade nicht, die Borges schildert; man könnte glauben, daß er den Felsen kennt, an dem schon viele Schiffe zerschellt sind. Versehen mit einigen der Listen des Odysseus, geht es ihm um das Erforschen des genauen Gegenteils: In der Welt als Bibliothek ist die unmittelbare Erfahrung einer Welt außerhalb der Bibliothek nicht nur unmöglich, sondern auch überflüssig geworden. Hier sind die Sirenen nicht mehr zu vernehmen. Gedächtnis ist nur noch Erinnerung an Zitate. Eine Situation also, wie Borges einmal mit einem Satz von Emerson erläutert hat, in der das Leben selbst zu einem Zitat wird (Borges & Ferrari, 1990, S. 163).

Die Zeichen haben das, was zu vermitteln wäre, zu einer vernachlässigenswerten Marginalie werden lassen. Das einzige, worauf sich Buchstaben, Worte und Bücher beziehen, sind - sie selbst. Ihnen dabei zu helfen, sie in Umkehrung des traditionellen semiotischen Denkens, gleichsam zu "vermitteln", das ist Aufgabe der Menschen: Sie werden zu Bibliothekaren - zu Zeichenbedienern, zu Zeichendienern.

Wahrnehmen und Erfahren ist eins geworden mit Lesen. Zwar weitet Borges den Begriff literaler Erfahrung aus, bereichert ihn bis an den Rand des Vorstellbaren - und darüber hinaus: "Lesen ist denken mit fremdem Gehirn". Die Grunderfahrung jedoch bleibt die gleiche. Um es aus einer leicht versetzten Perspektive zu formulieren: gegenüber dem in der Sprache geronnenen und im Medium der Schrift tradierbar und akkumulierbar gewordenen Wissen, jener in der Tat unermeßlichen Größe namens "Gattungserfahrung", erscheinen die Individuen wie Mikroben. Es ist dieser Schein, in dessen Licht sich die Bewohner der Bibliothek zu Babel bewegen, beiläufig, flüchtig, vorübergehend: Gäste in einer fremden Welt, und doch der einzigen, die ihnen gegeben ist.

Das Gefühl, das sich einstellt, wenn man eine große Bibliothek nach den Öffnungszeiten durchstreift, wenn man sie vielleicht noch beleuchtet, aber ohne ihre Benutzer sieht, die ermüdet und mit anderem beschäftigt ihrer Wege gegangen sind, und die, seltsam genug, irgendwie nicht zu fehlen scheinen - Borges fügt es ein in seinen Kosmos. Er spricht auch diese, die äußerste literale Phantasie aus: die verselbständigte, sich selbst genügsame Semiose: "…ich vermute, daß die Gattung Mensch - die einzige, die es gibt - im Aussterben begriffen ist, und daß die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim" (Borges, 1986, S. 63)

Wie alle Eroberungskulturen hat die literale Kultur ihre Tempel nicht nur auf den Trümmern, sondern auch auf den Grundrissen der unterworfenen Kulturen errichtet. Das Modell des zentralen Kuppelbaus der British Library ist die Kuppel der St. Paul’s Cathedral, die wiederum, wie alle sakralen Kuppelbauten seit der Renaissance, ihr Vorbild im Pantheon der römischen Antike findet, dessen Säulenvorbau seinerseits auf die griechische Antike verweist. Wie alle Sieger schreibt die literale Kultur, gleich ob mit oder ohne Absicht und Bewußtsein, den Text fort, an dem bereits die vorgängigen Sieger und jetzt besiegt Geglaubten geschrieben haben. In Borges Traum enthüllen sich die Grundrisse des neuen Tempels. Durch das Palimpsest scheint ein Urtext hindurch: Die unendliche Bibliothek ist die göttliche Bibliothek.

Was die literalen Allmachtsphantasien offensichtlich einzuholen suchen, ist die Transzendenz unter Bedingungen der Schriftlichkeit, das Sakrale in der Form der geschriebenen Aufklärung. Mit umgekehrten Vorzeichen gesagt: die vollkommene Bibliothek, die sich selbst vollendende Schriftkultur hat jene Stelle besetzt, von der sie den oralen Mythos, den religiösen Kultus und das Schweigen der Mystik vertrieben zu haben glaubt. "Der Mensch," bemerkt Borges, "der unvollkommene Bibliothekar, mag ein Werk des Zufalls oder böswilliger Demiurgen sein; das Universum, so elegant ausgestattet mit Regalen, mit rätselhaften Bänden, mit unerschöpflichen Treppen für den wandernden und mit Latrinen für den seßhaften Bibliothekar, kann nur ein Werk Gottes sein. Um die Kluft, die zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen liegt, so recht zu ermessen, braucht man nur die zittrigen Zeichen, die meine hinfällige Hand auf den Einband eines Buches krakelt, mit den organischen Lettern im Inneren vergleichen: gestochen, feingeschwungen, tiefschwarz, unnachahmlich symmetrisch" (Borges, 1986, S. 56).

Gewiß, Borges Visionen sind literarische Extrapolationen. Sie imaginieren die Konsequenz aus einem Befund, den sie selbst fiktiv totalisieren: Die Gewißheit, daß alles geschrieben, daß alles gewußt ist, mehr noch, daß eine Unterscheidung zwischen dem, was gewußt und was nicht gewußt wird, unmöglich geworden ist, diese Gewißheit macht uns zunichte oder zu Phantasmen. Vor diese Wahl gestellt, wählt Borges, wie viele Schriftsteller und Künstler der Moderne, das Phantasma. Er macht das Medium - das Medium der Literatur - zu seiner Seinsweise.

Allerdings sind Borges ironisch-kritische Anspielungen auf das Absonderliche dieser Seinsweise nicht zu übersehen. Insbesondere ist es der Wahrheits- und Absolutheitsanspruch der literalen Kultur, den Borges mit seinen Mitteln in Frage stellt und dem er die profane Einsicht entgegenhält, daß das Leben durch die Schrift nicht zu ersetzen ist. Das Wissen um diese Vergeblichkeit ist das einzig sichere, das in der Bibliothek zu Babel zu erlangen ist. So erscheint dieser maßlose Bau der Schriftkultur letztlich wie ein Piranesihafter Kerker des Geistes. "Schon vier Jahrhunderte lang durchstöbern die Menschen vergeblich die Sechsecke (…). Es gibt amtliche Sucher, Inquisitoren. Ich habe sie in Ausübung ihres Amtes gesehen: sie sind immer erschöpft; sie sprechen von einer Treppe ohne Stufen, die sie um ein Haar getötet hätte; sie sprechen mit dem Bibliothekar von Galerien und Treppen; manchmal greifen sie nach dem nächstliegenden Buch und blättern darin, auf der Suche nach ruchlosen Wörtern. Offensichtlich glaubt niemand, irgend etwas entdecken zu können" (Borges, 1986, S.59f.).

Doch diese Phantasmen sind nicht eigentlich Erfindungen. Wie alle Literatur benennen sie menschliche Erfahrungen; sie zeigen menschliche Wirklichkeiten auf, formen sie um, spitzen sie zu, erweitern und relativieren sie. Borges Vision überhöht ein spezifisches, aber zutiefst charakteristisches Moment der literalen Kulturen des Westens, den Allmachtsglauben der bookishness, die literale Obsession der Aufklärung, und treiben es in sein Extrem. Dieses Extrem ist der Sarkasmus. Gleichwohl, die Überhöhung ist phantastisch, nicht das Moment. Und ebenfalls nicht der enorme Kulturanspruch, die messianische Programmatik, mit der dieses Moment trotz seiner Infragestellung durch die elektronische Medienrevolution bis heute aufgeladen ist.

Schriftlichkeit, das ist nicht einfach nur der Primus inter pares gegenüber den anderen Medien, Wissens- und Kulturformen. Die Schrift ist der offene oder insgeheime Standard, an dem alle anderen Medien bemessen werden, und an dem sich auch die Theoretiker der komputationalen Kommunikation und Repräsentation des Wissens nach wie vor zu messen scheinen.



 * Colloquium vom 15. 7. 1999


 

Literatur

Borges, J. L. (1986). Die Bibliothek von Babel. In ders., Die zwei Labyrinthe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Borges, J. L. & Ferrari, O. (1990). Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn. Gespräche über Bücher & Borges. Zürich: Arche

Brockmeier, J. (1992). "Reines Denken". Zur Kritik der teleologischen Denkform. Amsterdam &Philadelphia: Grüner

Brockmeier, J. (1992). Brecht, Diderot und die Sprache der Moderne. In Nach Brecht (S. 119-134). Hrsg. vom Brecht Zentrum Berlin. Berlin: Argon Verlag.

Brockmeier, J. (1998). Literales Bewußtsein. Schriftlichkeit und das Verhältnis von Sprache und Kultur. München: Fink

Gaur, A. (1984). A History of Writing. London: The British Library

Harris, R. (1986). The Origin of Writing. London: Duckworth

Olson, D. R. (1994). The World on Paper: The Conceptual and Cognitive Implications of Writing and Reading. Cambridge: Cambridge University Press

Olson, D. R. (1997). On the relations between speech and writing. In C. Pontecorvo (ed.), Writing Development: An Interdisciplinary View (pp. 3-20). Amsterdam & Philadelphia: Benjamins

White, H. V. (1990). Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (engl. 1987).

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