WOLFGANG HEGENER


KZ - System - Normalität.
Moderne als/im Ausnahmezustand*



I.

Ein Überlebender der Konzentrationslager berichtet folgende Szene aus Auschwitz, die den Akt der Selektion beschreibt:

Der einfache und knappe Fingerzeig "Rechts" oder "Links" hatte in jedem Fall schwerwiegende Folgen, er bedeutete entweder Vernichtung in Form einer industriellen Massentötung oder Eintritt in ein "universe concentrationaire", den "psychotischen Kosmos" (Grubrich-Simitis,1979) des Konzentrationslagers. Das Lager Auschwitz verbindet in singulärer Weise beides, es ist bis 1944, neben den relativ kurzlebigen Lagern, die im Zusammenhang mit der "Aktion Reinhard" entstanden (Sobibor, Belzec, Kulmhof und Treblinka), zugleich ein großes Vernichtungslager und ein in seinem Umfang gewaltiges Konzentrationslager gewesen. Vernichtung und Konzentration sind jedoch, wiewohl sie in Auschwitz also gleichsam organisatorisch zusammenlaufen, getrennt zu untersuchen. Sie beschreiben unterschiedliche Prozesse und gehorchen unterschiedlichen Mechanismen. Bei all der zu konstatierenden Unterschiedlichkeit kommen Vernichtung und Konzentration jedoch an einem zentralen Punkt überein, sie verdanken sich, allgemein gesprochen, einer spezifischen Logik der Moderne, den Mechanismen moderner Vergesellschaftung. Sofsky erklärt in seiner umfassenden Studie über das Konzentrationslager bündig: "Das Konzentrationslager gehört in die Geschichte der modernen Gesellschaft. Auf den Schlachtfeldern der Massenkriege wurde die Vernichtungskraft moderner Technik erprobt, in den Schlachthäusern der Konzentrationslager die Zerstörungsmacht moderner Organisationen." (Sofsky, 1993, S. 315) Und auch Bauman hält fest, daß die systematische Vernichtung der europäischen Juden gleichsam als ein Experiment, als ein soziologischer "Versuchsaufbau" zu gelten habe: "Er hat Merkmale unserer Gesellschaft freigelegt, die sich unter 'nicht experimentellen' Bedingungen nicht hätten beobachten und empirisch nachweisen lassen, um den Holocaust als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten" (Bauman,1992a, S. 25) [1].

Wenn Vernichtung und Konzentration die Signatur des Fortschritts tragen und somit nicht als ein "Zivilisationsbruch" (Diner), sondern als der eigentliche "Test der Moderne" zu gelten hat, wenn also die moderne Zivilisation, wie hier behauptet werden soll, den Holocaust [2] und das Konzentrationslager nicht nur nicht verhindert, sondern geradezu hervorgebracht haben, so stellt sich die brennende Frage, ob die "Variablen" der Moderne, die dies möglich gemacht haben, noch immer wirken und unsere Form der Vergesellschaftung weiterhin dominant bestimmen. In diesem Sinne, so meine ich, muß die Frage nach der Postmoderne gestellt werden. Will sie über ein beliebiges und harmloses Szenario des "Anything goes" hinauskommen, so muß der Ausgangspunkt jeder soziologischen und auch philosophischen Debatte um die Postmoderne in der Ungeheuerlichkeit "industrieller Massentötung" (Arendt), die prinzipiell wiederholbar ist, gefunden werden.


 

II.

Ein übliches Deutungsmuster des Holocaust besteht darin, ihn bruchlos in die Geschichte antisemitischer Ausschreitungen und Pogrome einzureihen. Wenn es um historische Erklärungen geht, fehlen nur selten die Hinweise auf die bis ins frühe Mittelalter zurückreichende Verfolgungsgeschichte der Juden innerhalb und außerhalb Europas [3] und den ebenfalls jahrhundertealten Antisemitismus. Die so behauptete Kontinuität verdeckt jedoch, bei aller Berechtigung, einen fundamentalen historischen Bruch. So sind die Pogrome der sog. Reichskristallnacht vom 9. November 1938, für die sich diese Kontinuität noch behaupten läßt, von den nur wenige Jahre später stattfindenden industriellen Massentötungen in den Vernichtungslagern gewissermaßen durch eine ganze Epoche getrennt.

Die Pogrome, auch die des November 1938, sind durch einen unkontrollierten Ausbruch von Haß und Ressentiment gekennzeichnet und für die Organisation einer Massenvernichtung ungeahnten Ausmaßes in höchstem Maße ungeeignet und dysfunktional. Nicht zufällig wohl wehrte sich gerade Himmler, Chef von SS und Polizei und später einer der Hauptorganisatoren des Vernichtungsprozesses, gegen die von Goebbels und Parteifunktionären der NSDAP angezettelten Ausschreitungen (vgl. Hilberg 1990, S.44f.). Sie richteten nicht nur großen außenpolitischen Schaden an, sondern störten den reibungslosen, glatten und rationalen Vollzug der anlaufenden Vernichtungsmaschinerie. Im Gegensatz zu den Ausschreitungen fehlte im übrigen jetzt auch fast jegliche ideologische Rechtfertigung; weder der Holocaust noch das Konzentrationslager sind darauf angewiesen. Die Beamten des Apparates zogen aus den Pogromen, wie später auch aus den öffentlich ruchbar gewordenen Euthanasieaktionen, ihre eigenen Lehren. Die Massentötungen der Juden mußten entschieden anders, stiller und effizienter organisiert werden. Insgesamt gilt: "Der moderne Massenmord ist charakterisiert durch den vollkommenen Mangel an Spontaneität einerseits und das Vorherrschen rationaler, kalt berechnender Planung andererseits. Wenig blieb dem Zufall überlassen, gesellschafltiche Animositäten und persönliche Motive wurden nicht operationalisiert." (Bauman,1992a, S. 105f.) Die Vernichtung, die während des Krieges eine in ihrem Umfang nie dagewesene Größenordnung erreichte, ist mithin in ein anderes und neues historisches Register einzutragen, sie verdankt sich einer spezifisch modernen Staatsorganisation.

Der moderne Genozid wäre nicht möglich gewesen ohne den neuzeitlichen, stark zentralisierten Nationalstaat, dem eine gewaltige und effiziente Bürokratie zu Diensten ist und der sich über gesellschaftliche und lokale Prozesse dominanzhaft erhebt. Er wäre auch nicht möglich gewesen ohne die damit zusammenhängende Idee von Veränderung und Ordnung. Die Moderne, so Bauman, stellt sich Ordnung als Aufgabe, als eine nie zu erfüllende Aufgabe, um es genauer zu sagen. Ihr Ziel ist es, möglichst jegliche Form von Uneindeutigkeit, Ambivalenz und Fremdheit zu tilgen und die Homogenität des Gesellschaftskörpers herzustellen. Der moderne Staat betätigt sich gewissermaßen als ein "Gärtner" (Bauman,1992b, S. 43ff.), der mit wissenschaftlichen Mitteln den anfallenden Unrat und Abfall (gängig war die Rede von den "Balastexistenzen") zu beseitigen sowie für Reinheit und Kultiviertheit zu sorgen hat. Der "Ausschuß", der immer entsteht, wenn Ordnung geschaffen werden soll, muß geregelt entsorgt werden. Die hier vorherrschende und noch einigermaßen harmlos klingende anale Metaphorik setzt sich in den Ausspruch eines SS-Wachoffiziers fort und entstellt sich dort bis zur Kenntlichkeit: Erwähnter Offizier bezeichnete Auschwitz als den "anus mundi" (Kielar ,1979).

Eine Machtakkumulation erfährt in diesem Prozeß die Figur des Experten, des Sozialtechnologen. Besonders die Medizin übernimmt dabei eine entscheidende und führende Funktion, sie verfügt über die zentrale Definitionsmacht, Norm und Abweichung zu unterscheiden und bestimmt damit in letzter Konsequenz, wann ein Leben als lebenswert oder -unwert zu gelten hat und damit zur Vernichtung freigegeben ist.

Foucault (1977) hat diese Entwicklungen mit dem Überschreiten der "biologischen Modernitätsschwelle" im ausgehenden 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Damit ist gemeint, daß sich jetzt erstmalig im Politischen das Biologische zu spiegeln beginnt, mit naturwissenschaftlich-medizinischen Kategorien Politik betrieben wird. Die entstehende neue Machtform nennt Foucault entsprechend "Bio-Macht" bzw. "Bio-Politik der Bevölkerung" [4]. Die Konzepte der Rassen- und Sozialhygiene sowie der Eugenik stehen in einem direkten Zusammenhang mit dem Staatsrassismus des Nationalsozialismus (Foucault ,1993). Auffällig ist etwa, daß die Tötungsmaschinerie mit Beginn des Krieges zuerst an psychisch Kranken erprobt wurde (sog. T4-Aktion). Bezeichnend ist weiterhin, daß die dort eingesetzten Einheiten nach Abschluß der Aktionen im Osten in den neu errichteten Vernichtungslagern ihr weiteres Tätigkeitsfeld fanden. Bekanntestes Beispiel ist der Kommandant von Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, der zuerst in österreichischen Euthanasiezentren tätig war. Lange nach dem Krieg wurde er wegen 900 000fachen Mordes angeklagt und verurteilt (vgl. dazu die Studie von Sereny, 1995).

Die Juden verkörpern in ausgeprägter Weise den "Abfall der Moderne", sie gelten, so weitreichend auch ihre Assimilationsanstrengungen sein mögen, als letztlich nicht integrierbarer Rest. Dies hat einen bestimmten Grund. Politisch wird die Praxis der Moderne durch den Nationalstaat repräsentiert, der sich zur Aufgabe gemacht hat, sich als Einheit zu organisieren. Der dafür spezifische Vergesellschaftungsmodus ist die Einordnung in Freund und Feind, also die Bildung eines streng binären Schemas von Innen und Außen, das strikt zwischen gut und böse, richtig und falsch unterscheiden zu können verspricht (vgl. Bauman, 1992b, S.73ff.). Ein Freund oder ein Feind zu sein bedingen Formen der Anerkennung als Subjekte. Hingegen sind die Fremden diejenigen, die diese bequeme Unterscheidung durchkreuzen. Die Fremden sitzen gleichsam "rittlings auf der Barrikade" (Bauman), sie sind weder ganz Freund, noch ganz Feind. Sie sind, noch anders formuliert, Prototypen des Unentscheidbaren, des Weder-Noch. In der nationalstaatlich verfaßten Moderne verkörpern die Juden dieses ausgeschlossene Dritte, das Fremde und Ambivalente, den Aus- und Überschuß der Ordnung. Die Juden werden somit zu den prototypisch bzw. konzeptionell Fremden.

Als solche stecken sie gewissermaßen in einer unentrinnbaren "Falle der Assimilation": Ihre Geschichte im 19. Jahrhundert zeigt, daß all ihre Bemühungen, sich zu assimilieren und in den deutschen Staat einzupassen scheitern mußten, da ihnen gerade dieser Anpassungswille als etwas spezifisch Jüdisches vorgehalten wurde. Aus dieser Zwischenstellung resultiert wohl, selbstverständlich neben anderen sozialen Faktoren, die auffällige Häufung von jüdischen Intellektuellen um die Jahrhundertwende, die der Erfahrung von Fremdheit und Ambivalenz in ihren Schriften exemplarisch Raum geben (erinnert sei stellvertretend an Freud, Kafka und Simmel). Doch dieser Umstand disponiert die Juden auch für die Vernichtung. Als Abfall der Ordnung müssen sie möglichst spurlos und rückstandslos beseitigt werden. All dies geschieht mit spezifisch modernen, nämlich technologischen und bürokratischen Mitteln, mithin im Zusammenwirken "normaler" Faktoren.

Bekanntlich existiert in der Holocaust-Forschung ein Streit zwischen Intentionalisten und Funktionalisten. Unterstellen die Intentionalisten eine bewußte Absicht und frühe Planung des Prozesses, so betonen die Funktionalisten das letztlich Eigenlogische der Abläufe. Es soll hier entschieden für die funktionalistische Theorie votiert werden. Ich möchte mich der Position von Hilberg anschließen, der nach gründlichen Forschungen zu folgender These über die Struktur des Vernichtungsprozesses kommt:

In gewissem Sinne, so Hilberg weiter, war das Schicksal der europäischen Juden in dem Moment besiegelt, als der erste Richtlinienerlaß von einem deutschen Beamten formuliert wurde. Für die Bürokraten war der Holocaust nur ein beliebiges Problem, eine rationale Aufgabe, die in aller Sachlichkeit und Gründlichkeit zu erledigen war. Die Organisation der Transporte aus ganz Europa unter schwierigsten Kriegsbedingungen etwa gestaltete sich als ein großes logistisches Problem, das mit der gleichen Sachkompetenz angegangen werden mußte, wie eine jede andere schwierige Fahrplangestaltung auch. Wichtig ist weiterhin, daß ausnahmslos alle staatlichen Apparate arbeitsteilig mit in den Prozeß der Vernichtung einbezogen wurden. Dazu gehörten die Ministerialbürokratien, die Wehrmacht, die Wirtschaft, die nationalsozialistische Partei und schließlich die unterschiedlichen Regionalapparate.

Man fühlt sich unwillkürlich bei all diesen Überlegungen an die Ausführungen von Max Weber zur moderne Gesellschaften prägenden bürokratischen Herrschaft und ihre Prinzipien (Rationalisierung, funktionale Arbeitsteilung, Trennung von Zweck und Moral etc.) erinnert. Weber schreibt in Wirtschaft und Gesellschaft: "Diese Ordnung (die der bürokratischen Herrschaft - W.H.) ist im Prinzip in erwerbswirtschaftlichen oder karitativen oder beliebigen anderen private, ideelle oder materielle Zwecke verfolgenden Betrieben ... gleich anwendbar ..." (Weber 1964, S. 163). Erschreckender noch als diese allgemeine Vergleichbarkeit und Ver-gleich-gültigung von Zwecken ist die totale Verkehrung von Mittel und Zweck im Prozeß der Vernichtung. Die bürokratische Organisation des Holocaust entfaltete unübersehbar eine Eigendynamik und wurde zum Selbstzweck. Da der Apparat nun einmal aufgebaut war und die Mittel bereitstanden, durfte es keinen Stop der Vernichtung geben. So wurden noch im Jahre 1944, als der Krieg für die Deutschen längst verloren war, nahe der voranrückenden Front über 400 000 ungarische Juden in den Gaskammern von Auschwitz/Birkenau getötet. Trotz Nachschubmangel und Materialknappheit bei der Wehrmacht besaßen die Deportationen absolute Priorität, es wurden riesige Transportkapazitäten bereit gestellt, die dringend für die Versorgung der Front benötigt wurden. Der Holocaust mußte, da er begonnen worden war, bis zum Ende durchgeführt werden, weitgehend unabhängig von militärischen und ökonomischen Überlegungen.

Hier sind wir mit einem zentralen Merkmal totalitärer Herrschaft und absoluter Macht konfrontiert (vgl. Sofsky, 1993), sie neigt zu ihrer eigenen Selbstaufhebung, sie frißt sich gleichsam selber auf. Für ihr Funktionieren bedarf sie der Abweichungen. Das Töten der produzierten Abweichungen ist ihre Nahrung. Sie muß zum Zwecke ihres eigenen Überlebens ständig neue Opfer suchen, definieren und um jeden Preis vernichten. Schon deshalb kann sie recht eigentlich auch keine Überlebenden dulden. Dazu paßt, daß es Planungen gab, das Lagersystem auf das gesamte Reichsgebiet auszudehnen. Der "Opferwille" des nationalsozialistischen Systems kannte buchstäblich keine Grenzen.

Wie Bataille (1978, S.7-43) in seiner Analyse des Faschismus hervorgehoben hat, schlägt hier das System totaler Homogenität, das auf reine Funktionalität, Produktivität, rationale Ökonomie und Disziplin aufgebaut ist, in sein Gegenteil, in totale Heteronomie, in unbegrenzte Gewalt und Verausgabung um. Besser wohl müßte man sagen, daß die homogene Welt mit dem Holocaust aufklafft. Er reißt eine Wunde in die Zivilisation, die sich nie mehr schließen wird (vgl. dazu auch Meschnig ,1994).

Ein besonders erschreckendes weiteres Merkmal des Vernichtungsprozesses liegt in der erzwungenen Beteiligung und Kooperation der Opfer sowie in der Veränderung des Opferstatus selbst. Schon H. Arendt (1986b) verwies in ihren Berichten zum Eichmann-Prozeß Anfang der 60er Jahre auf die Bedeutung der Judenräte für den "Erfolg" des Holocaust und erntete deswegen massive Proteste. Wiewohl ihr Urteil damals zu hart und einseitig ausfiel und es keinesfalls um eine Anklage der Opfer geht, so berührt ihre These doch einen zentralen Mechanismus. Die Architekten der Massenvernichtung nutzten gleichsam die "Rationalität der Opfer" für ihre Pläne systematisch aus, um bei möglichst geringen Kosten einen möglichst hohen Nutzen zu erzielen. Sie erzeugten bei den in Ghettos konzentrierten und von der Außenwelt abgeschnittenen Juden (die Ghettoisierung stellt Hilberg [1990, 56ff.] zufolge nach Definition und Enteignung den letzten Zwischenschritt in der logischen Abfolge vor der Vernichtung dar) den Eindruck, als wäre ein selektives Überleben möglich. Es wurde die "Rationalität der Selbsterhaltung" (Bauman ,1992a, S. 157), der Wille zum Überleben auf Seiten der Opfer aktiviert und ausgenutzt.

Wahrscheinlich konnte der Holocaust nur deshalb mit relativ wenig personellem Aufwand auf der Täterseite umgesetzt werden, da sowohl im Vernichtungsprozeß als auch im Konzentrationslager man nur auf Kosten anderer überleben konnte. Die Judenräte, denen weitgehende Selbstverwaltungskompetenzen eingeräumt wurden, was gleichzeitig einen Anschein von Normalität schaffte, kalkulierten mit der Aussicht, daß durch ihre Bereitschaft, die Befehle der Machthaber zu befolgen ein Teil der ihnen Anbefohlenen und vor allem sie selbst gerettet werden könnten. Das nationalsozialistische System korrumpierte die Opfer damit moralisch in schrecklicher Weise. Die Überlebenden sind nicht nur subjektiv mit dem Gefühl der Überlebensschuld geschlagen, sondern ihnen wurde gleichsam objektiv eine schwere Schuld aufgezwungen. Analoges gilt auch für das Leben in den Lagern. Hier hatten nur die Wachmannschaften das Privileg, sich moralisch zu verhalten. Die "Konzentrationäre" hingegen, wollten sie nicht sterben, mußten unmoralisch handeln. Die wenigen "Geretteten", so Primo Levi (1990), überlebten, da die vielen "Untergegangenen", die in den tiefsten Abgrund gestürzt wurden und die kein Zeugnis mehr ablegen können, für sie starben.

Es ist evident, daß es in einem solchen System, das die Unterschiede zwischen Opfer und Täter, zwischen schuldig und unschuldig zu löschen versucht, keine Märtyrer geben kann (vgl. Anmerkung 2). Noch aus einem weiteren Grund ist das Martyrium im System der Vernichtung eine essentielle Unmöglichkeit. Es setzt Erinnerung und Trauer voraus. Die industrielle Massentötung hingegen zerstört diese Möglichkeit zum historisch erkennbar ersten Mal systematisch und vollständig. Wer in Auschwitz und Birkenau war, weiß, daß dieser größte "Friedhof" der Welt kein Ort des Trauerns ist, die Vernichtung wurde fast spurlos ins Werk gesetzt, die Opfer sollten restlos in Rauch aufgelöst werden. Ja mehr noch, das System der Vernichtung rührt an die bis dahin unveräußerliche Grenze zwischen Leben und Tod. Nicht nur, daß in den Gaskammern Tote am Fließband und in den Konzentrationslagern lebende Leichname produziert wurden, der Tod selbst wird in gewisser Weise überflüssig, weil jegliche Möglichkeit der Erinnerung an ihn zerstört wird. H. Arendt schreibt dazu:

III.

Der Begriff Konzentrationslager wird häufig synonym für sämtliche nationalsozialistische Lager gebraucht. Doch neben den sogenannten KZs gab es weiterhin erwähnte Vernichtungslager und eine enorme Anzahl von Arbeits- und Kriegsgefangenenlager. Thema der nun folgenden Betrachtungen soll ausschließlich das Konzentrationslager in seiner eigenen Struktur sein, deren Geschichte sich für den Zeitraum von 1933 bis 1945 grob in 3 Perioden unterteilen läßt (ich orientiere mich in meiner Darstellung vor allem an den entsprechenden Artikeln der Enzyklopädie des Holocaust [o.Jg.]).

In der ersten Phase, die von 1933 bis 1936 reicht und als Aufbau- und Konsolidierungsphase bezeichnet werden kann, dienten die KZs vor allem dazu, die inneren, politischen Gegner auszuschalten. Sie entstanden nicht aufgrund übergeordneter Planungen, sondern spontan und provisorisch, sie entfalteten einen "improvisierten Terror". Lange Zeit verhinderte die Konkurrenz verschiedender beteiligter Instanzen und die ungeklärte Zuständigkeit eine einheitliche Planung des Lagersystems.

Erst mit der Übernahme der Lager durch die SS im Jahre 1934 wandelte sich ihre Funktion grundlegend. Aus einem befristeten Repressionsinstrument zur Etablierung eines neuen Systems wurde eine zentral gelenkte Dauereinrichtung zur präventiven Inhaftierung all derer, die das System in Zukunft als Gegner definieren sollte. Der ernannte Inspekteur der KZs, Theodor Eicke, vormals Kommandant von Dachau, das als Muster-KZ galt, reorganisierte das Lagersystem grundlegend, er formalisierte die Lagerverwaltung und standardisierte Haftvollzug und Lagerbetrieb nach vier zentralen Dimensionen. Dazu gehörten 1. die Klassifizierung der Gefangenen, 2. die Einführung von Arbeit als Mittel des terroristischen Haftvollzuges, 3. ein abgestuftes System von Strafen und schließlich 4. das Standrecht für schwerwiegende Vergehen.

Die zweite Periode (1936 - 1942) ist durch eine erhebliche Expansion des Lagersystems gekennzeichnet. Sie steht im Zusammenhang mit der Vorbereitung und dem Beginn des Krieges. Seit 1936 begann die SS mit der Planung und Errichtung neuer KZs: Im selben Jahr entstand Sachsenhausen, ein Jahr später Buchenwald, 1938 Flossenbürg, nach dem Einmarsch in Österreich Mauthausen und 1939 das Frauenlager Ravensbrück. Mit der Gründung dieser neuen Lager kam eine Entwicklung in Gang, die den Terror auf andere Gruppen, nämlich auf "Zigeuner", "Arbeitsscheue", "Berufsverbrecher", "Asoziale" und "Homosexuelle" ausdehnte. Die neuen Häftlingsgruppen wurden vor allem in der expandierenden Kriegsindustrie eingesetzt, da der Vierjahresplan der Wehrmacht zu einem großen Arbeitskräftemangel führte.

Der Kriegsbeginn selbst bedeutete dann eine radikale Zäsur. Er veränderte zwar nicht die beschriebenen Organisationsprinzipien, verschob jedoch die Funktionen der Lager und die Struktur der Häftlingsgesellschaft. Die KZs füllten sich zunehmend mit ausländischen Gefangenen, besonders mit Polen und Bürgern der Sowjetunion. Mehr und mehr bestimmend wurden in dieser Zeit die Maßgaben einer rassistischen Bevölkerungspolitik. Ab 1941 traten im Rahmen der "Aktion Reinhard" die großen Vernichtungslager im Osten Polens in Aktion. Auch die anderen Lager wurden durch die anlaufende Vernichtungspraxis geprägt. Besonders die Massentötung von Kriegsgefangenen (an sowjetischen Soldaten wurden erstmalig Genickschußanlagen und auch Zyklon B ausprobiert) bedeutete dabei eine neue Machtstufe in der Lagergeschichte. Auch der Charakter der Arbeit änderte sich, Arbeit diente nun ausgesprochen der Vernichtung. Es kam ein Kreislauf der "indirekten Massenvernichtung" in Gang, der durch die zunehmende "Vermassung" der Lager zusätzlich verstärkt wurde.

Die dritte Phase der Konzentrationslagergeschichte schließlich, die sich auf den Zeitraum von 1942 bis 1944/45 datieren läßt, ist durch verschiedene parallele Entwicklungen charakterisiert, durch die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerungen Europas, durch den systematischen Einsatz der Häftlinge in der Rüstungsindustrie und die Gründung hunderter von Außenlager und den damit zusammenhängenden raschen Anstieg der Häftlingszahlen.

Ab 1942 (genauer ab Winter 1941/42) wurden vor allem die Lager Auschwitz und Majdanek in die Maschinerie der systematischen Ermordung der Juden Europas einbezogen. Hier überkreuzten sich, wie bereits hervorgehoben, die Politik des Völkermordes mit dem Programm des Arbeitseinsatzes. Brennpunkt war die Rampe von Auschwitz/Birkenau, wo die Transporte einer Selektion unterzogen und nach Bedarfslage jüdische Arbeitskräfte aussortiert wurden. Wichtig bleibt jedoch festzuhalten, daß trotz des akuten Arbeitskräftemangels dem Völkermord absolute Priorität eingeräumt wurde.

Die zweite Entwicklung, der systematische Einsatz von Häftlingen in der Rüstungsindustrie, wurde maßgeblich von dem 1942 neu gegründeten SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) betrieben. Rüstungsminister Speer und die SS schafften mit dieser Institution staatlichen und privaten Firmen die Möglichkeit, sich der Häftlingsarbeitskraft zu bedienen. Neben dem unbestreitbaren ökonomischen Kalkül bestimmte ein weiteres, eher strategisches Interesse diese Entwicklungen. Mit der Gründung des WVHA sollte der Einfluß der SS erhalten und der direkte Zugriff des Rüstungsministeriums beschränkt werden. Hier ist etwas zu beobachten, was für die gesamte Organisationsstruktur des Konzentrationslagersystems kennzeichnend ist. Die Leitungen wurden doppelt unterstellt, nämlich gleichzeitig der SS und staatlichen Institutionen (Ministerien, Geheime Staatspolizei). Die "duale Unterstellung" schwächte die Effektivität der Lager keineswegs, wie man vielleicht auf den ersten Blick annehmen möchte, sondern verstärkte sie. Die Kommandanten konnten geschickt die Rivalität der Dienststellen zu ihren Gunsten ausnutzen. Arendt (1986a) hat in diesem Organisationsprinzip sogar ein zentrales Merkmal totalitärer Herrschaft überhaupt ausmachen können.

Die Politik des Arbeitseinsatzes, mit der die Lager, allerdings nicht ohne Vorbehalte der SS, in die totale Kriegswirtschaft eingegliedert wurden, führte zu einer dramatischen Expansion des Systems. Während die 82 Stammlager 1942 über lediglich 82 Außenkommandos verfügten, war ihre Zahl bis Anfang 1945 auf ganz 622 gestiegen. Den weitaus größten Teil der neu eingelieferten Häftlinge stellten nun polnische, jüdische und sowjetische Gefangene dar. Letztere waren als "Fremdarbeiter" zwangsrekrutiert worden und wurden aufgrund von Verstößen gegen äußerst rigide Vorschriften in die KZs verbracht. Mit dem Näherrücken der Fronten lösten sich die Lager ab Herbst 1944 nach und nach auf, die Häftlinge wurden auf Todesmärsche von einem Lager ins andere geschickt. Tendenziell sollte kein Häftling in die Hände der Befreier gelangen. Die Zahlen der insgesamt Getöteten ist unklar, man geht jedoch davon aus, daß mindestens 2/3 die Haft im Lager nicht überlebten.

Die Geschichte des Konzentrationslagersystems läßt ein spezifisches Merkmal seiner Organisationsstruktur deutlich werden. Schon bald nach 1933 wird der spontane und willkürliche Sadismus der frühen, improvisierten Haftlokale durch ein strikt geregeltes System der Quälerei abgelöst. Man könnte gar sagen, daß erst nach Abschluß der ersten Phase, nämlich nach der Vernichtung der politischen Opposition, der totale Terror in den Lagern losgelassen werden konnte. Erst jetzt wird es möglich, "den Menschen ... methodisch zugrunde zu richten" (Sofsky, 1993, S. 315 - Hervorheb. W.H.). Alles in diesen Lagern ist gleichsam auf diese Ziel hin ausgerichtet. Sie dienen nicht nur der systematischen Ausrottung und Erniedrigung der Menschen, "sondern auch dem ungeheuerlichen Experiment, unter wissenschaftlich exakten Bedingungen Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird ..." (Arendt, 1986a, S. 676f.) In diesem Sinne ist vielleicht auch die ungeheure Expansion des Lagersystems zu verstehen.

Das Lager beschreibt das eigentliche Gesellschaftsmodell totalitärer Herrschaft, als Mikrokosmos verkörpert es den wissenschaftlichen und legislativen Traum absoluter Beherrschbarkeit und Berechenbarkeit, der tendenziell und perspektivisch für die gesamte Gesellschaft zu gelten hat. Man könnte somit formulieren, daß das Konzentrationslager nicht die Fortsetzung der totalitären Herrschaft mit spezifischen Mitteln, sondern umgekehrt die totalitäre Macht die Fortsetzung des Konzentrationslagers, besser vielleicht seines Modells ist. Schon im Zusammenhang mit dem Holocaust wurde darauf hingewiesen, daß dieses System, wenn es absolut wird, in totale Selbstzerstörung umschlägt. Seine Zielsetzung ist letztlich absurd, es könnte sich nur dann vollenden, wenn, einschließlich der Machthaber selbst, alles und alle zerstört würden.

Im folgenden möchte ich an einigen Dimensionen des Lagerlebens aufzuzeigen versuchen, wie das Konzentrationslagersystem bestimmte Merkmale moderner bürokratischer und totaler Disziplinarinstitutionen übernimmt und aufgreift, sie dann allerdings im Sinne einer "absoluten Macht" (Sofsky) transformiert. Die Instrumente der modernen Institutionen wandeln sich im KZ in sinnlose Mittel des reinen und totalen Terrors.

In besonderer Weise prägt sich der Terror der Raum- und Zeitstruktur des Lagers auf. Es ist für alle Disziplinarinstitutionen typisch, daß sie räumlich und zeitlich möglichst strikt durchorganisiert werden, Foucault (1976) hat das eindringlich für das Gefängnis aufgezeigt. Doch im Konzentrationslager dient dies nicht bloß der Dressur und Erziehung, sondern wird in den Dienst der sozialen Diskrimination und der Vernichtung gestellt (vgl. Sofsky ,1993, S.61-114). So diente die Zonierung der Lager dem Auseinanderhalten von Aufsehern und Häftlingen, sie half zudem die verschiedenen Häftlingsgruppen zu kategorisieren und bestimmte soziale Ränge festzulegen. Nicht zuletzt wurde räumlich zwischen den Regionen der Arbeit und des Todes bzw. der Vernichtung unterschieden. "Absolute Macht zerteilt den sozialen Raum in Zonen des Überlebens, Sterbens und Tötens." (ebd., S. 69)

Doch auch noch in einer weiteren Hinsicht prägte die Raumorganisation das Leben in den Lagern. Besonders in den letzten Jahren des Krieges waren sie durch starke Überfüllung und "Vermassung" gekennzeichnet. Das führte dazu, daß für den einzelnen immer weniger persönlicher Raum zur Verfügung stand. Die entstehende übergroße physische Nähe in den Baracken zeitigte einen scheinbar paradoxen Effekt, sie schaffte und vertiefte die Distanz und Entfremdung zwischen den Häftlingen. Gerade die Zonen des Rückzugs wurden zu einem Feld erbitterter Kämpfe. Letztlich bedeutete der Tod eines Mithäftlings mehr eigenen Raum. "Je dichter Menschen zusammengepreßt sind, desto stärker der Kampf um Abstand und die gegenseitige Aggressivität." (ebd., 86)

Vielleicht mehr noch als die Raumorganisation, war die Regelung der Zeit in den Lagern dazu angetan, die psychische und moralische Integrität der Insassen zu zerstören. "Die Lagermacht durchdrang das innere Zeitbewußtsein und zerriß das innere Band von Erinnerung, Erwartung und Hoffnung." (ebd., 88) Die Zeiterfahrung wurde gleichsam zu einer ewigen Gegenwart "verknappt". Auch an dieser Stelle gilt es die Gemeinsamkeit und den Unterschied zu der Zeitorganisation in den traditionellen Disziplinarinstitutionen hervorzuheben. So geht es auch im KZ um die möglichst intensive Nutzung der Zeit, allerdings wäre für die Struktur des Terrors eine strikte Zeitplanung kontraproduktiv und würde tendenziell ihre Selbstaufhebung bedeuten. Im KZ wechseln sich für die Häftlinge auf oft unvorhersehbare Weise Planung und Unordnung, Regulierung und Überfall schlagartig ab. So war etwa der Appell zu einem festen täglichen Termin angesetzt, doch konnte er sich bis zu über 20 Stunden hinziehen und wurde durch gewaltsame Eingriffe unterbrochen. Die Häftlinge konnten, da Willkür zum Teil des Plans wurde, ihre Zeit nicht in die Zukunft hinein entwerfen. Von Vergangenheit und Zukunft abgeschnitten wurden sie auf die grausige und ständig unberechenbare und unsichere Gegenwart des Lagerlebens festgelegt [5].

Ein ähnlicher Zusammenhang läßt sich auch für das Verhältnis von Normativität und Regellosigkeit im KZ festhalten: Einerseits gab es strikte Regeln, die jedoch andererseits so konzipiert waren, daß man, egal was man tat, dagegen verstieß. War ein Häftling vorschriftsmäßig gekleidet, galt er als arbeitsfaul, war er es nicht, galt er als unordentlich. Beides konnte der willkürliche Anlaß für drakonische Strafen sein, die in keinem Sinnzusammenhang mit den Vergehen mehr standen und nur mit Glück zu vermeiden waren. "An diesem Ort ist alles verboten; nicht aus irgendwelchen Gründen, sondern weil das Lager zu diesem Zweck geschaffen wurde." (Levi ,1992, S. 31)

Was für die Zeit- und Raumstrukturen der Lager gesagt wurde, gilt ebenfalls für den Charakter der Arbeit, auch sie wurde grundlegend transformiert. Sie war im Lager nicht mehr dem Kalkül von Nützlichkeit, Effektivität und Profit unterstellt, sondern entwickelte sich zu einem Mittel von Terror, Gewalt und Tod. "Die Gewalt ist kein Mittel zur Arbeit, die Arbeit ist ein Mittel der Gewalt." (Sofsky ,1993, S.199) Gerade in den letzten Jahren des Bestehens der Konzentrationslager diente Arbeit mehr und mehr der Vernichtung. Da die Arbeitszeiten ausgedehnt wurden und die Ernährungssituation katastrophal war, betrug die durchschnittliche Überlebensdauer nur etwa drei Monate. Inmitten von großem Elend und ständigem Mangel herrschte eine massive Verschwendung von Arbeitskraft. Wie wir bereits mit Bataille (1979) hervorgehoben haben, schlägt im KZ ökonomische Rationalität in ihr glattes Gegenteil um, besser noch: es kommt gleichsam ihre Kehrseite grausig zum Vorschein: Verschwendung, Verlust und Tod.

Der eigentliche Terror des Lagersystems bestand zusammengefaßt in dem Versuch, die psychische und moralische Integrität der Menschen radikal zu brechen. Dies konnte wohl auch deshalb so gut gelingen, weil es sich bei den Inhaftierten um Unschuldige handelte, die zumeist nicht wußten, warum sie inhaftiert worden waren und keine irgendwie juristisch codifizierbare Schuld abzutragen hatten. Die Mehrheit der Häftlinge waren einfach nur: Juden, Polen, Sowjets etc., zu keiner Handlung mehr fähig (vgl. Arendt, 1986a, S. 687).

Das ganze System des Terrors und der absoluten Gewalt gipfelte darin, daß mit all diesen Maßnahmen die unveräußerliche Grenze zwischen Tod und Leben getilgt werden sollte. Die Häftlinge waren schon vor ihrer Fabrikation zu Leichen als "lebende Leichname" präpariert und in einem Zwischenbereich von Leben und Tod angesiedelt worden. Da in einem solchen System alles auf den Tod hin abgestellt ist, wird der Tod paradoxerweise überflüssig. Er soll nicht mehr zwei radikal unterschiedene Zustände trennen, sondern wird auf Dauer gestellt. Inbegriff dieses Zustandes war in den Lagern der sogenannte Muselmann. "Er steht für die anthropologische Transformation des Menschen, wie sie in den Lagern geschehen ist. Der Muselmann war nurmehr zu mechanischen Reaktionen fähig, war gefangen in einem Zustand geistiger Agonie und sozialer Verlassenheit. Die leibliche Einheit der Person löste sich auf, Geist und Bewußtsein unterlagen einer Art innerer Verödung, die Seele zerstörte sich selbst und zerfiel in vollkommene Apathie." (Sofsky, 1993, S. 38) Doch gleichzeitig markiert der Tod auch die Grenze des Systems "absoluter Macht". Da es den Tod, die antisoziale Tatsache schlechthin, niemals vollständig aufheben kann, muß sie immer neue Opfergruppen definieren und zerstört sich darüber selbst.


 

IV.

Wenn nun die historische Wirklichkeit und prinzipielle Möglichkeit von Vernichtung und Konzentration in den grundlegenden Bedingungen der Moderne wurzelt, so stellt sich die Frage, wie es sich mit ihrem Vergesellschaftungsmodus aktuell verhält. Gibt es vielleicht gar Anzeichen, daß dieser Modus relativiert ist? Und: Gibt es theoretische Ansätze, die den Holocaust ins Verhältnis zu einer veränderten gesellschaftlichen Lage zu setzen versuchen, die man postmodern nennen könnte? Auch hier stoßen wir auf den Soziologen und Sozialphilosophen Z. Bauman, der die Postmoderne vom Holocaust aus als ein ethisches Konzept entwickelt und sie darüber jeglicher Harmlosigkeit beraubt hat. Der Holocaust ist deshalb sein Ausgangspunkt, weil die Moderne in ihm seinen Höhe- und Umschlagspunkt erreicht [6]. Einerseits kulminiert in der industriellen Massentötung der europäischen Juden der mit den modernsten Mitteln geführte "Krieg gegen die Ambivalenz" und der Versuch Ordnung zu schaffen. Andererseits jedoch ist der Holocaust Aufweis des prinzipiellen Scheiterns dieses Versuches. Totale Ordnung erweist sich als eine grausige Fiktion, sie mündet, radikal bis an ihr Ende vorangetrieben, in totale Selbstzerstörung. Es gibt keine Ordnung ohne Ambivalenz, Uneindeutigkeit und Fremdheit - so der Schluß Baumans. Am Ende des 20. Jahrhunderts erweist sich, daß die Ausrottung des Ambivalenten mißlingen und immer unvollendet bleiben muß. Die so über sich selbst aufgeklärte Moderne gesteht sich ihre eigene Unmöglichkeit ein und begibt sich im besten Falle auf die Suche nach einer anderen Form der Vergesellschaftung.

In den gesellschaftlichen Konditionen der Postmoderne deutet sich, so Bauman, eine andere Möglichkeit des Umgangs mit der letztlich nicht reduzierbaren Uneindeutigkeit und Unsicherheit an. Sie läge in der strikten Anerkennung von Ambivalenz und Fremdheit, in der Einsicht in ihre Unhintergehbarkeit begründet. Wir könnten, wie es uns Agnes Heller anempfohlen hat, unsere Kontingenz in unser Geschick verwandeln. Ein zumal sehr aktueller Angelpunkt für diese "Geisteshaltung" ist der Umgang mit dem/den Fremden. Mehr noch: Das/der Fremde erweist sich als zentrale Kategorie einer Soziologie der Postmoderne. War, wie dargestellt, in der Idee und in der Wirklichkeit des modernen Nationalstaates, in seiner brisanten Mischung aus demos und ethnos, das Fremde prinzipiell störend, nicht zu verorten im Freund-Feind-Schema des entweder-oder und deswegen so ausgesprochen zur Vernichtung prädestiniert, verliefen also die Vergesellschaftungsprozeduren über das binäre System von Innen und Außen, Freund und Feind, so deutet sich nunmehr eine Veränderung von Typus und Status der Fremdheit an, eine Verschiebung hin zur Verallgemeinerung des Fremden (siehe auch Kristeva,1990), die sich geradezu zur Vergesellschaftungsform der Postmoderne auswächst und die es als Chance aufzunehmen gilt.

Doch wie genauer läßt sich die behauptete gewandelte Fremdheitserfahrung begründen? Wurden in der nationalstaatlichen Moderne die Gegensätze zwanghaft vereinheitlicht und wegrationalisiert, so verdampfen nunmehr im Zeitalter weltumgreifender Telekommunikation und Kapitalflüsse, durch weltweite Mobilität und Handelsbeziehungen nationale Grenzen. Darüber wird das "Fremde" unscharf, es enttraditionalisiert sich [7]. Die Wurzellosigkeit wird zugleich universalisiert und privatisiert, jeden einzelnen ereilt das "Schicksal" von Fremdheitserleben in seiner persönlichen Existenz. Wenn dem so ist, dann genügen auch nur territoriale und ortsgebundene Charakterisierungen des Fremden nicht mehr, der noch, einer klassischen Definition gemäß, als jemand beschrieben wurde, "der heute kommt und morgen bleibt" (Simmel). Bei zunehmender funktionaler Ausdifferenzierung der Gesellschaft, so auch Luhmann, der allerdings die Differenzierung von Subsystemen noch ganz modern in binären Codes denkt, werden alle Individuen als ortlos (und gleichsam als transzendental und empirisch obdachlos) vorausgesetzt, genauer: sie nehmen viele Orte und Identitäten ein. Identität wird vervielfältigt und verzeitlicht. Bauman schreibt:

Vom gesellschaftlichen Rand in die Mitte verrückt, erscheint die zentrale Figur des Fremden und der Fremdheit erneut, das Verdrängte kehrt (verändert) wieder. Das weist auf eine immanente Logik des Kulturwandels hin, die schon Freud in Totem und Tabu (1912/13) in Analogie zur Zwangserkrankung festgehalten hat. Er bemerkt für die neurotische Erkrankung, daß die ihr eigenen "Zwangshandlungen immer mehr in den Dienst des Triebes treten und immer näher an die ursprünglich verbotene Handlung herankommen" (ebd., S.41) und überträgt diese Tendenz auf den Bereich der Kultur. Das Verdrängte erscheint wieder in der Gestalt des Verdrängenden, der Versuch Ambivalenz und Fremdheit über die modernen Zwangshandlungen zu beseitigen, läßt Fremdheit letztlich im Zentrum der sich selbst reflektierenden Moderne erscheinen.

Es würde allerdings den aktuellen Erfahrungen Hohn sprechen, wenn man behaupten wollte, daß die Universalisierung von Fremdheitserfahrungen zwangsläufig zu einer Anerkennung des und der Fremden führt, einer Anerkennung nämlich, die sich nicht in bloßer Toleranz erschöpft, sondern sich zur Gemeinsamkeit des Geschicks entwickelt. Erst dann nämlich setzte sich mein Recht aus dem Recht des anderen zusammen. Die Andersheit des anderen wäre dann soweit gesteigert, daß sie wirklich zur Fremdheit geworden wäre, die sich nicht auf meine Eigenheit und Selbigkeit reduzieren und mit ihr verrechnen ließe. Eher verbreitet sind wohl zwei andere Reaktionen. Entweder haben wir es mit einer neutralen Indifferenz und Eingemeindung des Fremden in die Buntheit der Warenwelt zu tun, etwa in Form fremdländischer Restaurants und Dienstleistungsangebote. Hierunter fallen bestimmte Varianten des Konzepts einer mulitkulturellen Gesellschaft, wenn nicht diese selbst; nach dem Motto: Femdes und Fremde ja, aber bitte gepflegt und konsumierbar. Oder aber wir erleben den militanten Ausbruch von Fremdenhaß. Mit dem Wegfall nationaler Grenzen wächst speziell den Modernisierungsverlierern das Bedürfnis nach neuen/alten Sicherheiten zu. Nation und Nationalität fungieren dann als, psychoanalytisch gesprochen, regressives und "präambivalentes Phantasma" (Bohleber,1992), das die entstandenen radikalen Unsicherheiten zu lösen helfen verspricht.

Für Bauman ist die Entwicklung unentschieden, beides ist möglich, dies macht die Ambivalenz der Postmoderne aus: Es können sowohl in der Tradition der Moderne die Versuche der Herstellung von Eindeutigkeit und Homogenität weitergehen oder gar gesteigert werden (das technologische Potential dafür ist allemal vorhanden) als auch (vor allem politisch-ethische) Anstrengungen unternommen werden, eine neue Form der Anerkennung und Solidarität zu praktizieren und ein "postmoderne Ethik" (Bauman, 1995) zu entwickeln.



* Colloquium vom 05.12.1996

 


Anmerkungen

[1] Schon Hannah Arendt hat in ihrer wegweisenden Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1986a) den experimentellen Charakter der Lager hervorgehoben. Sie schreibt: "Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. Hier handelt es sich darum, festzustellen, was überhaupt möglich ist, und den Beweis dafür zu erbringen, daß schlechthin alles möglich ist." (ebd., 676)

[2] Der Begriff Holocaust wird auch hier gebraucht, er hat sich allgemein durchgesetzt. Dies soll jedoch nicht geschehen, ohne wenigstens auf die grundsätzliche Problematik seiner Verwendung hingewiesen zu haben. "Holocaust" entstammt der Hebräischen Bibel. Dort meint es ein "rituelles Brandofper" bzw. das "rituelle Martyrium" der Juden, die sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwören. Wie sich zeigen wird, ist der Prozeß der Vernichtung und der Konzentrationslager jedoch gerade dadurch gekennzeichnet, daß es prinzipiell keine Märtyrer geben kann. "Holocaust" verleiht darüber hinaus der Vernichtung der europäischen Juden eine geradezu heilsgeschichtliche Dimension. So gilt er gleichsam als das Gründungsopfer, das für die Entstehung des Staates Israel dargebracht werden mußte. Den Prozeß der Instrumentalisierung des "Holocaust" hat Segev (1995) für die israelische Geschichte minutiös nachgezeichnet. Eine vergleichbare Studie steht für Deutschland noch aus.

[3] Bauman wendet sich entschieden gegen die Behauptung, der Holocaust sei eine spezifisch jüdische Angelegenheit und erkläre sich aus einem uralten Antisemitismus. Der Antisemitismus ist eine notwendige aber längst nicht hinreichende Erklärung. Dies schon deshalb, weil er Jahrhunderte alt und weltweit anzutreffen ist. Der Holocaust hingegen ist historisch ohne jedes Vorbild und Beispiel. Die Juden sind in besonderer Weise durch den Vernichtungswillen betroffen, was mit den erwähnten Gründen zusammenhängt, die aus den Konstitutionsbedingungen der Moderne und nicht wesentlich aus einem archetypischen, überhistorischen Antisemitismus erwachsen. Auch H. Arendt hat in ihren Analysen die Bedeutung des Antisemitismus für den Genozid eingeschränkt. Sie erklärt, "daß nur die Wahl der Opfer, nicht aber die Natur des Verbrechens aus der langen Geschichte von Judenhaß und Antisemitismus abgeleitet werden" (Arendt, 1986b, S. 318) kann.

[5] Bei Primo Levi (1992, S.160) heißt es: "Das Gedächtnis ist schon ein komisches Ding. Seitdem ich im Lager bin, gehen mir dauernd zwei Verse im Kopf herum, die ein Freund vor langer Zeit einmal geschrieben hat: ...bis eines Tages es keinen Sinn mehr haben wird zu sagen: morgen. Hier ist das so. Wißt ihr, was im Lagerjargon 'nie' heißt? 'Morgen früh'."

[6] Bauman greift damit einen Grundgedanken der vor 50 Jahren von Horkheimer und Adorno (1969) verfaßten Dialektik der Aufklärung auf und wendet ihn zugleich weniger pessimistisch. Bekanntlich haben Horkheimer und Adorno im Angesicht der Barbarei von Faschismus und Kulturindustrie den Umschlag von Aufklärung in Selbstzerstörung und Mythos (der sich jedoch als selbst schon aufklärerisches Unternehmen erwies) behauptet. Wiewohl die Autoren weiterhin auf Aufklärung setzten, so war ihnen doch die Möglichkeit einer Entwicklung, die mit der katastrophischen Zwangsläufigkeit der Moderne und neuzeitlicher Vergesellschaftung bricht, weit entrückt. Bauman will hingegen die stillgestellte Dialektik der Aufklärung wieder in Bewegung setzen.

[7] Auch Beck (1993) zeigt, wie mit der Enttraditionalisierung des Fremden - "Heute kann jeder und keiner Jude sein" (Derrida) - der Konstruktionscharakter des Fremden wie des Eigenen offen und frei gelegt wird und daß kulturell geprägte Fremdheitsbeziehungen durch soziale Konkurrenz und politische Strategie ersetzt werden. Fremdes wird wechselhaft, fluide und durch zufällig strategische Interessen konstruiert, geleitet nach Maßgabe der Konkurrenz um Vorteile.


 


Literatur

Arendt, Hannah (1986a). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München, Zürich: Piper.

Arendt, Hannah (1986b). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München, Zürich: Piper.

Bataille, Georges (1978). Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität. München: Matthes & Seitz.

Bauman, Zygmunt (1992a). Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: eva.

Bauman, Zygmunt (1992b). Ambivalenz und Moderne. Vom Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius.

Bauman, Zygmunt (1994). Postmoderne Ethik. Hamburg: Junius.

Beck, Ulrich (1993). Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Bohleber, Werner (1992). Nationalismus, Fremdenhaß und Antisemitismus. Psychoanalytische Überlegungen. Psyche 46, 689-709.

Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. 3 Bände. Hauptherausgeber Israel Gutman, o. Jg.

Foucault, Michel (1976). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Foucault, Michel (1977). Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Foucault, Michel (1993). Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus. In Sebastian Reinfeldt, Richard Schwarz & Michel Foucault, Bio-Macht. DISS Texte, Nr. 25.

Freud, Sigmund (1912/13). Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. (GW, Bd. IX)

Grubrich-Simitis, Ilse (1979): Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma. Psychoanalytische Studien über seelische Nachwirkungen der Konzentrationslagerhaft bei Überlebenden und ihren Kindern. Psyche 33, 991-1023.

Hilberg, Raul (1990). Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bände. Frankfurt/M: Fischer.

Max Horkheimer & Theodor W. Adorno (1969). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M: Fischer.

Kristeva, Julia (1990). Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Levi, Primo (1990). Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Wien: Hanser.

Levi, Primo (1992). Ist das ein Mensch? München: dtv.

Kielar, Wieslaw (1979). Anus Mundi. Fünf Jahre Auschwitz. Frankfurt/M: Fischer.

Mannheimer, M. (1985). "Theresienstadt - Auschwitz - Warschau - Dachau. Erinnerungen". In: Dachauer Hefte 1, 88-128.

Meschnig, Alexander (1994). Vom Verschwinden des Todes im Schatten der Vernichtung. Ästhetik und Kommunikation 87, 61-66.

Segev, Tom (1995). Die siebte Millionen. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Reinbek: Rowohlt

Sereny, Gitta (1995). Am Abgrund. Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka. München, Zürich: Piper.

Sofsky, Wolfgang (1993). Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager. Frankfurt/M: Fischer.

Weber, Max (1964). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Köln, Berlin.

zurück