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Susanne Mühleisen (Frankfurt)



Dirk Naguschewski und Jürgen Trabant (Hgg.) (1997): Was heißt hier "fremd"? Studien zu Sprache und Fremdheit. Berlin: Akademie Verlag.



Spätestens seit der bundesdeutschen Debatte um das Staatsbürgerschaftsrecht ist die Problematik, wer oder was denn als "fremd" zu bezeichnen ist, wieder verstärkt ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Ein Blick in die neueren Ergebnisse akademischer Forschung hätte der Diskussion womöglich eine wohltuende Komplexität verliehen. Als Untersuchungsgegenstand hat die Xenologie oder Fremdheitsforschung inzwischen in einer Vielzahl von geisteswissenschaftlichen Disziplinen Einzug gehalten. Was heißt hier "fremd"? – für die im Titel des vorliegenden Werkes bewußt umgangssprachlich formulierte Frage werden in einer Reihe von sprach- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven Antworten gesucht und diskutiert. Der im Akademie-Verlag erschienene Sammelband stellt das Ergebnis einer Tagung der Arbeitsgruppe "Die Herausforderung durch das Fremde" dar, die von 1994-1997 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bestand und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Politologie, Soziologie, Ethnologie, Germanistik, Romanistik und Japanologie vereinigte. Daß auch dieses bewußt interdisziplinäre Herangehen an die Fragestellung eine Herausforderung darstellt, die sowohl sprachlich als auch methodisch ein Über-Setzen notwendig macht, wird von den Herausgebern Dirk Naguschewski und Jürgen Trabant in der Einleitung deutlich gemacht. Das Resultat dieser Aufgabe ist ein wichtiger und interessanter Beitrag zur Fremdheitsforschung, der durch seine Vielseitigkeit beeindruckt. Diese Diversität spiegelt sich in den von den Herausgebern vorgenommenen Unterteilungen zu "Fremdheit und Sprache", "Sprache und Nation", "Fremdes Deutsch", "Französisch in Afrika" und "Japanischer Okzidentalismus" wider, unter denen die insgesamt dreizehn Artikel des Bandes eingeordnet sind.

Der erste Beitrag zu "Fremdheit und Sprache" von Brigitte Jostes ("Was heißt hier fremd? Eine kleine semantische Studie") ist nicht nur titelgebend für den gesamten Band, sondern stellt auch eine bescheidene Untertreibung dar: Mit 66 Seiten Länge ist diese semasiologische Studie, die das Lexem "fremd" als Ausgangspunkt nimmt, mit Abstand der umfangreichste Artikel im Band. Jostes untersucht zum einen die Bedeutungsvielfalt, die sowohl räumliche als auch psychologische Aspekte einschließt, zum anderen thematisiert sie auch das "hier", indem sie der detailreichen Abhandlung über den deutschen Fremdheitsbegriff mit Exkurs auf die klassischen Sprachen auch einen kontrastiven Vergleich für das Englische und Französische folgen läßt. Interessant ist nicht nur die spezifische Relativität von "fremd", die eine deiktische Komponente mit einschließen kann, sondern auch die Ambivalenz des Fremdheitsbegriffes, die sich im griechischen xenos (= "der Fremde" und "der Gastfreund") ausdrückt.




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Ist das Fremde nun dennoch etwas ureigen deutsches? Jedenfalls, so die Autorin, ist es nicht aus den Wortfeldern der klassischen Sprachen hergeleitet, sondern stammt aus dem Althochdeuschen framadi ("fremdes Land"). Es ist somit nicht verwunderlich, daß keines der englischen Wörter foreign (v. lat. "foras"), strange (v. lat. "extraneus") oder alien (v. lat. "alienus") den gesamten Bedeutungsboden des deutschen "fremd" abdecken kann. Gleichwohl gibt es auch im englischen akademischen Diskurs eine Fremdheitsforschung, die sich dann mit dem Begriff "Otherness" behilft. Um ein Postulat aus Jürgen Trabants Beitrag "Fremdheit der Sprache" schon vorwegzunehmen: Ein fehlendes lexiko-semantisches Äquivalent in einer Sprache heißt nicht, daß das Konzept nicht darstellbar ist, d.h.: "Jede Sprache macht es anders, aber jede Sprache macht es" (Trabant 1997: 96). Den Übergang von der semasiologischen Ebene der Wortbedeutungen zur onomasiologischen Gegenstandsebene, die sich im alltagssprachlichen Gebrauch erschließt, bildet Bernd Ladwigs "'Das Fremde' und die Philosophie der normalen Sprache". Hier ist gerade nicht die Etymologie des untersuchten Lexems wichtig, sondern allein die Bedeutungskonstitution und -interpretation durch den aktuellen Sprachgebrauch der Sprachgemeinschaft, d.h., nicht das Wort "an sich" steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern was Menschen mit Wörtern tun. Ladwig teilt den Gebrauch von "fremd" in zwei Bedeutungsdimensionen ein, die soziale und die lebensweltliche Fremdheit und veranschaulicht, wie Mißverständnisse – z.B. im politischen Diskurs – durch eine Vermischung dieser Kategorien enstehen können. Der bereits erwähnte Beitrag von Jürgen Trabant mit dem Titel "Fremdheit der Sprache" hat tatsächlich gerade die Verschiedenheit von Sprachen (und auch Diskursgemeinschaften) zum Gegenstand. Die Begegnung mit einer anderen Sprache ist ja zunächst eine radikale Fremdheitserfahrung – auf der lautlichen, lexikalischen und pragmatisch-dialogischen Ebene – mit der man auf unterschiedliche Weise umgehen kann. Die Bandbreite der Diskussion, wie verschieden Sprachen nun eigentlich sind, reicht von einem kaum überwindlichen linguistischen Relativismus, der Sprache und Denken eng miteinander verknüpft, bis hin zu einem Universalismus, der (aus gut gemeinten Gründen) die Unterschiede schlicht wegwischt und negiert. Trabants Forderung, sprachliche Unterschiede als grundlegend für die Überwindung von Fremdheit zu begreifen, ist ein wunderbares Plädoyer für ein bewußtes Einlassen auf eben diese Fremdheit der Sprache.

Die in der zweiten Sektion unter "Sprache und Nation" gefaßten Artikel richten einen historischen Blick auf das Verhältnis von Sprache und Fremdheit in bezug auf die Konstruktion nationaler Identitäten in Europa. Herfried Münkler beschreibt in "Sprache als konstitutives Element nationaler Identität im Europa des späten Mittelalters" die Komplexität von institutionellen Organisationen wie Ritterorden, Universitäten, etc. im Spiegel der zunehmenden Nationalisierung. Sprache kann hier als ein Bestandteil kollektiv-identitätsbildender Selbstwahrnehmung dienen, allerdings können Zugehörigkeiten auch durch andere Faktoren etabliert werden. "Die questione della lingua. Auf der Suche nach der einen Sprache für die Nation" von Kathrin Mayer beschäftigt sich mit dem Diskurs über die sprachliche Identität im Italien des frühen 14. bis Mitte des 16. Jahrhunderts. Die Konkurrenz zwischen dem Volgare mit der Prestigesprache Latein wird schließlich auch im Zuge ihrer funktionalen Elaboration für die Volkssprache entschieden.




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Bodo Guthmüllers Beitrag zur italienischen Übersetzung in der Renaissance thematisiert die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten der literarischen Übersetzung im Umgang mit dem Fremden: Soll das Fremde des Originals in der Übersetzung deutlich gemacht werden oder soll es so unsichtbar gemacht werden, daß es uns gar nicht mehr als Übersetzung erscheint? Die Entwicklung, so Guthmüllers Analyse, verläuft von einem größtmöglichen Erhalt des Originals in den "volgarizzamenti dai classici" im 14. Jahrhundert zu einer stärkeren Domestizierung der Übersetzung im 16. Jahrhundert, in der auch das wachsende Selbstbewußtsein der Volkssprache zum Ausdruck kommt.

In der Sektion "Fremdes Deutsch" wird die Konstruktion von Fremdheit und die Erfahrung von Entfremdung innerhalb einer Sprachgemeinschaft verhandelt. Robert Charliers "Der Jargon des Fremdlings. Fiktive Sprechweisen als Mittel der Gesellschaftskritik im 18. Jahrhundert" zeigt anhand von deutschen Briefromanen des 18. Jahrhunderts, wie die pseudo-exotische Verfremdung als Strategie benutzt wird, um eine fiktive Außenansicht des Eigenen herzustellen und somit auch eine Kritik am Eigenen zu ermöglichen. Mit der Wahrnehmung von Fremdheit im Verhältnis im deutschen Ost-West Kontext der Gegenwart beschäftigen sich sowohl Horst Stengers Beitrag "Gleiche Sprache, fremder Sinn. Zum Konzept kultureller Fremdheit im Ost-West-Kontext", als auch Horst Dieter Schlossers "Fremdheit in einer scheinbar vertrauten Sprache. Sprachliche Folgen der Teilung Deutschlands". In beiden Aufsätzen wird deutlich, daß die Fremdheitserfahrung, die durch eine Studie mit ostdeutschen Wissenschaftlern belegt wird, weniger auf oberflächlichen lexikalischen Unterschieden (Broiler, Plaste oder Datsche) beruht, sondern vielmehr das Wegbrechen der bisherigen Lebenswelt und ihrer sprachlichen Symbolisierung zu einer tiefen Unvertrautheit bei den Ostdeutschen geführt hat. Beide Autoren betonen so die Existenz zweier unterschiedlicher Kommunikationsgemeinschaften – Ost und West –, die wohl auch noch eine Weile erhalten bleiben werden.

"Französisch in Afrika" heißt die vierte Sparte des Bandes, in dem koloniale und postkoloniale Einstellungen zu Fremdheit und Sprache untersucht werden. In János Riesz' "'Le français sans danger'" ist dies die Verfremdung der französischen Sprache durch ihre koloniale Verbreitung bzw. die Befürchtung der Kolonialisten, daß das Französische durch diesen Sprachkontakt korrumpiert werden könnte. Dieser Topos der kolonialen Sprachpolitik Frankreichs – die Sprache als notwendiges Instrument der Kolonialisierung, das aber auch nicht aus der Hand gegeben werden darf – wird anhand einer Reihe von Texten des 19. und frühen 20. Jahrhundert anschaulich belegt. Dirk Naguschewskis Artikel "Von der fremden Sprache zur eigenen? Einstellungen zum Französischen in Kamerun" schließt sich mit der Fragestellung an, wie verschiedene Varietäten, die aus dieser kolonialen Sprachkontaktsituation resultieren, heute in dem afrikanischen Land bewertet werden. Afrikanisierte Versionen des Französischen wie das "Français du Cameroun" sowie kreative Mischformen ("Camfranglais") und vereinfachte Varietäten ("Pidgin français camerounais") lassen darauf schließen, daß das ehemals Fremde längst auch zum Eigenen geworden ist. Dennoch, so Naguschewski, scheint die affektive Aneignung des Französischen dem kommunikativen Nutzen hinterherzuhinken.




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Wiederum mit dem Verhältnis Ost und West beschäftigt sich der letzte Teil des Buches ("Japanischer Okzidentalismus"), diesmal jedoch nicht in bezug auf den deutschen Kontext. Gibt es einen japanischen essentialistischen Blick auf den Westen? Der Beitrag von Irmela Hijiya-Kirschnereit beleuchtet und problematisiert den Begriff "Okzidentalismus", der erst in jüngster Zeit als Wissenschaftsgegenstand analog (oder komplementär) zu Edward Saids Orientalism entstanden ist. Den Einfluß der europäischen Sprachwissenschaft auf die moderne japanische Linguistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedenfalls wird in Viktoria Eschbach-Szabos Artikel über den japanischen Sprachwissenschaftler Ueda Kazutoshi deutlich. Die Verhandlung von Fremdem und Eigenem in Denksystemen, Begriffen und Kategorien kommt somit wieder auf den Ausgangspunkt, auf die Betrachtung von Sprache zurück.

Es ist ein weiter Weg von der semantischen Studie des Lexems "fremd" bis zur Begründung der modernen japanischen Sprachwissenschaft im frühen 20. Jahrhundert. Manchem mag die zu Beginn gepriesene Vielseitigkeit nun doch zu divers erscheinen und vermutlich nur wenige werden den Band von Seite 1 bis Seite 265 durchlesen. Dies liegt zum einen in der Natur von Sammelbänden, zum anderen bleiben doch die meisten Leserinnen und Leser ihrem wissenschaftlichen Interessensgebiet treu. Umsomehr kann dieser wichtige Beitrag zur Fremdheitsforschung auch als eine Einladung verstanden werden, den Blick über die eigene Disziplin hinaus zu wagen und die Begegnung mit dem Fremden so als konstitutiv für die eigene Interessenserweiterung zu begreifen.

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