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Rolf Lohse (Göttingen)



Die Literatur Québecs auf dem Salon du livre, Paris 1999



Québec war der thematische Schwerpunkt des diesjährigen Salon du livre in Paris (19.-24. März 1999). Ein Überblick über das Gesamtangebot ist angesichts einer mindestens dreistelligen Zahl an Neuerscheinungen im Bereich der frankophonen kanadischen Literatur kaum zu leisten. Allein über sechzig Autoren aus Québec waren anwesend, stellten ihre Werke vor und äußerten sich in Konferenzen und Diskussionsrunden zu Fragen, die die aktuelle Situation der Kultur und der Literatur in Frankokanada betreffen: nach den "identités plurielles", verschiedenen kulturellen und sprachlichen Minderheiten und deren Vermischungen, der Wahrnehmung der Gesellschaft Québecs durch französische Autoren und umgekehrt, der Situation Québecs zwischen "américanité" und "latinité", sowie nach spezifisch frankokanadischen Schreibstilen und Themen.

Es muß darauf hingewiesen werden, daß der Versuch, herausragende Trends einer Literatur, die sehr breit präsentiert wurde, zu benennen, ein subjektives Moment enthält und von persönlichen Vorlieben und der selektiven Wahrnehmung des Beobachters abhängt. Wenn hier dennoch wichtige Texte und Namen der literarischen Szene Québecs genannt werden, handelt es sich um eine Auswahl, die subjektiv bestimmt ist und bei der der Vf. keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Der Salon du livre bot die Gelegenheit, einen breiten Ausschnitt der zeitgenössischen Literatur Québecs kennenzulernen, deren Facettenreichtum hervorzuheben ist, aber auch die überraschende Abwesenheit von Berührungsängsten hinsichtlich von Themen, die sicherlich zu Kontroversen in Québec führen könnten, geführt haben oder auch durch solche Kontroversen angeregt wurden, wie etwa die Minderheitenthematik oder die experimentelle Aneignung neuer Formen der Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur. Verschiedene - auch dissidente - Ansätze fanden ihren selbstverständlichen Platz in der offiziellen Präsentation der frankophonen Literatur Québecs.



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Insbesondere auf dem Gebiet der Erzählliteratur zeichnen sich Tendenzen der aktuellen Literatur Québecs ab, die global auf ein kulturelles Projekt schließen lassen, das offen ist für die verschiedensten sozialen und ästhetischen Anliegen. Der Roman, der sich mit dem Leben und den gesellschaftlichen Perspektiven der amérindiens, der autochtonen indianischen Einwohner, beschäftigt, wird vertreten von Schriftstellern wie Bernard Assiniwi (Windigo et la naissance du monde, 1999), Louis Caron (L'outarde et la colombe, 1999) und Robert Lalonde (Le vacarmeur, 1999). Assiniwi stellt etwa heraus, daß die Mehrheit der Bevölkerung Québecs die Minderheiten ähnlich behandeln, wie sie selbst von den Engländern behandelt wurden. Es ginge darum, sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart im Blick zu behalten, die hinsichtlich des Verhältnisses der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zueinander revisionsbedürftig ist.

Suzanne Jacob, eine auch als Chansoninterpretin bekannte Schriftstellerin, schreibt gesellschaftskritische und tendenziell dissidente Romane (L'obéissance, 1991, La bulle d'encre, 1997), deren zentrale Aussage in der Entlarvung eines "apprentissage de l'obéissance" liegt. Ihr Anliegen ist es, die Welt lesbar und nicht unlesbar zu machen. Die selbstgewählte Einsamkeit der Protagonisten, die in Jacobs Romanen im Alltagsleben ihr Exil finden, ist nach Aussage der Schriftstellerin als Strategie zu verstehen, der Anpassung an die bestehenden Verhältnisse entgegen zu arbeiten und die Frage nach der Identität neu zu stellen.

Québec ist auch heute noch das Ziel von Einwanderern verschiedener Herkunft. In dieser freiwilligen oder aufgezwungenen Exilsituation entsteht eine lebendige, facettenreiche Literatur, die sich unter verschiedenen Perspektiven der Einwandererliteratur und/oder der Exilliteratur zuordnen läßt. Im Rahmen der "littérature québécoise" schreiben einige Autoren die Literatur ihrer frankophonen Heimatländer weiter, so etwa Emile Ollivier (L'enfant aux pieds poudrés, 1999), der seine Heimat Haiti verlassen mußte und sie teils nostalgisch, teils kritisch in seinen Texten evoziert. Diese Autoren bringen die Erfahrung der Fremdheit und der Exilerfahrung in ihre dezidiert frankokanadisch perspektivierten Erzähltexte ein, wie etwa der in Brasilien geborene Sergio Kokis, und die aus China eingewanderte Schriftstellerin Ying Chen. Kokis beschreibt seine Exilerfahrung nicht als Erfahrung der Entwurzelung, sondern als Eintritt in eine universelle Existenzform. Ying Chen ist insbesondere deswegen von besonderem Interesse, weil sie die Exilerfahrung radikal positiv deutet und den mit der Einwanderung verbundenen teils traumatisierenden, teils euphorisierenden Neubeginn treffend auf den von ihr positiv valorisierten Begriff des orphelinage bringt. Sie weist für sich den Begriff der Identität zurück und entscheidet sich für ein Waisenschicksal, das als Ausdruck des Wunsches gedeutet werden könne, wiedergeboren zu werden.

Eingewanderte Autoren mit komplexen Biographien, wie Neil Bissoondath, der auf Trinidad geboren wurde, aber indischer Abstammung ist und sich hin- und hergerissen sieht zwischen der Entwurzelung und dem Wunsch, sich zu entfalten, und Ook Chung, ein in Japan geborener Koreaner, greifen das Exilthema in ihren Novellen auf eine Weise auf, die erkennen läßt, daß sie die verschiedenen kulturellen Hintergründe, denen sie entstammen, einbeziehen. Ook Chung beschreibt eine mit der Exilerfahrung verknüpfte Gedächnislücke, die er durch Reisen etwa nach Tokio, wo er sich noch verwurzelt fühlt, zu füllen sucht. Die literarische Arbeit sieht er als "exercise de style dans le métissage culturel". Auch Naïm Kattan, in Bagdad geboren und seit 1954 in Kanada lebend, beschäftigt sich vor dem Hintergrund seiner Biographie mit Fragen der Exilerfahrung (Partages, 1999).



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Auch frankokanadische Autoren widmen sich diesen Erfahrungen: So verarbeitet Marie-Claire Blais, neben Anne Hébert die grande dame des modernen Schreibens in Québec, unter anderem die Erfahrung von Einsamkeit, Verlassenheit und Fremdheit im eigenen Land in dem mehrbändig angelegten Romanzyklus Soifs. Die Romanschriftsteller Québecs antworten auch auf internationale literarische Strömungen: Lise Bissonnette (Toujours la passion du présent, 1999) etwa orientiert sich an der Tradition des großen nordamerikanischen realistischen Romans. Louise Dupré schreibt mit Tout près (1998) einen Roman in der 2. Person Plural, was an den Roman La Modification von Butor erinnert, in dem es ihr gelingt, bestimmte privilegierte und prekäre - kurz vor der Katastrophe liegende - Momente in den Beziehungen der Protagonisten mit besonderer Hellsicht zu gestalten. Gaétan Soucy rezipiert und verarbeitet mit La petite fille qui aimait trop les allumettes (1998) Anregungen der internationalen und intermedialen Avantgarde der Desillusion (Kaurismäki, Jarmusch). Mit Maxime-Olivier Moutier (Marie-Hélène au mois de mars, 1998) ist ein Nachwuchsautor vertreten, der mit großer Sensibilität die Traditionslinie des psychologischen Romans weiterschreibt und zwar unter der Lacanschen Prämisse, daß es unmöglich sei, die Welt wirklich zu erkennen. Der polar québécois geht eigene Wege, wie etwa in dem Kriminalroman von François Barcelo Cadavres (1998), der nicht nur eine spannende Kriminalhandlung verspricht, sondern auch als Einladung an vor allem europäische frankophone Leser verstanden werden kann, Québec geographisch kennenzulernen.

In der Dichtung wurden eine Reihe von interessanten Texten vorgestellt: etwa von Serge-Patrice Thibodeau, der in Le Quatuor, de l'errance (1995), insofern neue Wege der Dichtung beschreitet, als er seine geographisch weit gespannte Reisedichtung nach Prinzipien arabischer Zahlenmystik strukturiert und damit Elemente der islamischen Kultur an die heutige, abendländische Leserschaft vermittelt. Seine auch spirituelle Reise ist verbunden mit dem Appell gegen Fanatismen jeder Art. François Charron (Éloge de l'inconnu, 1998) beharrt auf der Notwendigkeit der Einsamkeit, die erst so etwas wie Solidarität ermögliche.

Jean Désy vertritt mit Ô Nord, mon amour (1998) die Dichtung der amérindiens.

Der Schriftsteller, Environnement-Künstler und Musiker Robert Racine bewegt sich auf experimentellen Bahnen zwischen Sprache und Musik. Neben einer Reihe von referierten Wörterbuchinstallationen - Racine verteilte etwa eine große Anzahl französischer Wörter auf einem Gartengelände und schuf so einen "parc de la langue française" - faszinierte seine Umsetzung des Petit Robert in eine musikalische Komposition, die auf einer der Buchpublikation beigefügten CD enthalten ist - ein musikalisches Ereignis, das den Vergleich mit Kompositionen von John Cage nicht zu scheuen braucht.

Auch im Bereich des Essay und der Wissenschaften waren anregende Autoren zu entdecken, so etwa Laurent-Michel Vacher, der in seinem Essay Un Canada libre (1991) polemisch herausstellt, daß die konträren Positionen für und gegen die Unabhängigkeit Québecs sich auf der Ebene der verwendeten Argumente soweit angenähert haben, daß sie ununterscheidbar geworden seien, und je nach bezogener Position die eine oder andere Interpretation erlauben. Georges Sioui, Spezialist autochtoner Kulturen, legte Les Wendats: une civilisation méconnue (1994) vor, das mittlerweile zu den einschlägigen Standardwerken zählt.

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