PhiN 9/1999: 1





Anja Dürrmeier (München)



"Torn 'twixt Love and Duty":
Normenkonzepte und -konflikte in Fred Zinnemanns High Noon *



"Torn 'twixt Love and Duty":
Concepts and Conflicts of Norms in Fred Zinnemann's High Noon

Due to its ideological and aesthetic complexity, Fred Zinnemann's High Noon presents an outstanding example of the Western genre in the 1950s. For Zinnemann, 'good' and 'evil' in a social context cannot so easily be separated, indeed, lack of moral consciousness appears to him to be a central aspect of American civil society - a perspective which contrasts sharply with the cultural consensus of the cold war period. However, the sceptical idealism that pervades the movie does not criticize democratic society as such but, rather, its instrumentalisation by specific social and political groups. The central conflict is the clash of two value systems that cannot be reconciled: a democratic-individualistic (presented by Kane), and a pragmatic-materialistic (represented by the townspeople). The discussion that follows focuses both on the thematic and the formal negotiation of the central conflict of norms in the movie.




1 Einleitung

 

The western is a universal frame
within which it is possible to comment on today.
Sam Peckinpah1




Daß der Western unterschiedlichen Themen einen Rahmen bietet, ist angesichts der Vielfalt des Genres offensichtlich. Einige Themen, die für den Western als ur-amerikanisches Genre besonders typisch sind, werden auch in Fred Zinnemanns High Noon (1952) behandelt: Individualismus, Heroismus, law and order, Verteidigung amerikanischer key values2. (Der Landnahmemythos – und mit ihm die Thematik der Native Americans – ist in diesem Film ausgeblendet. Allerdings ist die Bewegung nach Westen mit einer Frauenfigur korreliert: eine interessante Variation. Dazu später mehr).

Der historische Hintergrund der Kommunistenverfolgung während der McCarthy-Ära3, vor dem High Noon entstand, hat seine Spuren im Film hinterlassen: Der Drehbuchautor Carl Foreman stand 1951 selbst auf der schwarzen Liste des HUAC (House Un-American Activities Committee). Die persönliche Erfahrung der Verfolgung und der Bedrohung der demokratischen Bürgergesinnung sind offensichtlich in den Film eingeflossen: Man kann High Noon durchaus als Plädoyer für Zivilcourage "lesen"4. Diese Lesart wäre dann auch Teil dessen, was im folgenden thematisiert werden soll: Das Normenparadigma, das der Film in seiner semantischen Tiefenstruktur aufbaut, immerhin näherungsweise zu beschreiben. Dieses Normenparadigma ist dadurch gekennzeichnet, daß die einzelnen paradigmatischen Alternativen in von einander klar unterschiedenen Normenkonzepten bestehen. Den positiven Endpunkt setzt ein demokratisch-idealistisches Konzept, den negativen Endpunkt ein pragmatisch-materialistisches und zugleich anarchistisch-kriminelles Konzept. Zwischen beiden liegen etliche Varianten, von denen jede, je nach ihrer Lage im Paradigma, mehr Merkmale des positiven oder negativen Normenkonzepts aufweist. Jedes der Normenkonzepte ist dabei von den Figuren des Films oder der von ihm abgebildeten sozialen Gruppen repräsentiert.

Im folgenden soll Fred Zinnemanns Western High Noon deshalb hinsichtlich der in ihm widergespiegelten unterschiedlichen Normenkonzepte untersucht werden. Daß diese Normenkonzepte aufgrund ihrer Differenzen Konflikte hervorbringen, ist unübersehbar. Teilweise können sich Normenkonzepte, die eine Schnittmenge von Merkmalen besitzen, einander annähern (so im Fall von Kanes und Amys Konzepten). Andere wiederum sind unvereinbar und führen zum offenen Konflikt. Wie ich zeigen werde, verdeutlicht sich diese Opposition nicht nur auf der Plot-Ebene: Auch im Ästhetisch-Formalen wird die Unvereinbarkeit der Positionen deutlich.

Zunächst aber sollen die verschiedenen Normenkonzepte und die im Film sie repräsentierenden Figuren und Gruppen im Einzelnen dargestellt werden.





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2 Das demokratisch-idealistische Normenkonzept

2.1 Kane, der marshal

In High Noon wird ein demokratisch-idealistisches Normenkonzept vor allem von der zentralen Figur des marshal Will Kane, gespielt von Gary Cooper, verkörpert. Kane tritt für seine demokratische Gesinnung und Rechtsauffassung ein: Nur unter Achtung der Bürgerrechte, dem Erhalt von Recht und Ordnung, kann eine Gemeinschaft in Frieden leben. Dabei ist die Trennung von Exekutive und Judikative von großer Bedeutung: Während die Justiz für die Rechtsprechung zuständig ist, obliegt Kane die Exekutive. In High Noon erweist sich allerdings die Justiz als dysfunktional: Über Frank Miller, den mehrfachen Killer, wurde nicht nur ein mildes Urteil verhängt (die Todesstrafe in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt), er wird auch bereits nach fünf Jahren in die Freiheit entlassen.

Kane, der die Stadt Hadleyville für "Frauen und Kinder lebenswert" gemacht hat (so die Aussage eines Bürgers während der Auseinandersetzung in der Kirche), kann es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, die Stadt nach seiner Hochzeit ohne Ordnungshüter zu hinterlassen: Der berüchtigte Frank Miller reist mit dem 12-Uhr-Zug an, und der neue Sheriff wird erst am folgenden Tag erwartet. Obwohl seine frischangetraute Ehefrau, die Quäkerin Amy (Grace Kelly) an ihn appelliert, läßt sich Kane nicht von seiner Überzeugung abbringen. Auch Amys Drohung, die Stadt mit eben diesem 12-Uhr-Zug zu verlassen, kann ihn nicht umstimmen.5

Dabei folgt er einem tief empfundenen Pflichtgefühl: "Seems to me I've got to stay". Als Amy ihm entgegenhält: "Don't try to be a hero. You don't have to be a hero. Not for me.", antwortet er ihr: "I'm not trying to be a hero. If you think I like this, you're crazy." Kane kann nicht anders: Seine Entscheidung ist durch die internalisierten Normen der Pflichterfüllung, der Verantwortung für die Gemeinschaft und der persönlichen Ehre determiniert. Ein heroischer Aspekt in Kanes Handeln tritt zwar deutlich hervor, doch liegt ihm nicht daran, sich als Held zu beweisen, weder sich selbst, noch seiner Frau oder auch den Bürgern von Hadleyville gegenüber. Seine Motivation bezieht Kane also nicht daraus, ein Held um des Heldens willen zu sein. Vielmehr wird er dazu gezwungen, da er sein Pflicht-Ethos zu erfüllen hat, das an die Verteidigung des geltenden Rechts, der öffentlichen Sicherheit und das Gemeinwohl gebunden ist. Kanes Heldentum ist also nicht persönlich, sondern sozial motiviert – dies unterscheidet diesen Heldentypus deutlich vom tradierten Westernhelden, der zwar ebenfalls die gefährdete Ordnung verteidigt oder die gebrochene Ordnung wiederherstellt, der aber nicht Held sein muß, sondern Held sein will. Das persönliche Glück muß hinter dem Allgemeinwohl zurücktreten: Da nun High Noon die Motivation seines Helden gerade nicht kritisiert oder ironisiert, sie vielmehr idealisiert, bildet der Film das Ideal einer demokratischen Gesinnung ab.6

Diese Pflicht, für law and order das eigene Leben zu riskieren, empfindet Kane unabhängig von seiner Rolle als Marshall, da er nicht zwischen öffentlicher Rolle und privater Überzeugung unterscheidet: "I'm the same man, with or without this", betont er während der Auseinandersetzung mit Amy, als er sich den kurze Zeit vorher abgelegten Sheriffstern wieder ansteckt.7

Es fällt auf, daß die zentrale Figur ein Normenkonzept vertritt, das ein ziviles ist, kein religiöses – ebenso sind die anderen, davon abweichenden Konzepte durch die Säkularität ihrer Normen und Werte gekennzeichnet. (Nicht zuletzt wird die Kirche ebenfalls als Raum gezeigt, in dem rein säkulare Anliegen verhandelt werden.)

Kanes Normenkonzept beruht auf der Annahme, daß eine Gemeinschaft nur unter Achtung der geltenden Ordnung in Frieden existieren kann. Wird die Gemeinschaft von außen bedroht, in diesem Fall durch einen Gangster, der "up North" begnadigt und auf freien Fuß gesetzt wurde, so muß die geltende Ordnung dem outlaw gegenüber verteidigt werden.

Mut, Tapferkeit, Entschlossenheit und Zivilcourage sind wichtiger als Gesetze, die es möglich machen, daß mehrfache Mörder begnadigt und deren Untaten Vorschub geleistet werden können. "Up North" werden, sei es durch die Regierung, sei es durch die Justiz, destruktive Kräfte freigesetzt. Damit übt High Noon explizit Kritik an der Rechtsprechung. Vor dem Hintergrund der Kommunistenverfolgung, die ab 1950 unter Senator McCarthy noch verstärkt betrieben wurde, wirkt diese Kritik noch schärfer.

Kanes Normenkonzept ist damit sowohl individualistisch, indem er sich über die Entscheidungen der Justiz hinwegsetzt (Kane ist offiziell nicht mehr in charge; Frank Miller ist freigelassen worden), als auch demokratisch-idealistisch: Für seine Überzeugung riskiert Kane nicht nur die gemeinsame Zukunft mit seiner Frau, er setzt sein Leben dafür ein.8

In der bürgerlichen Gemeinschaft findet Kane keine Unterstützung, auch seine Freunde wenden sich von ihm ab. Einzig seine Frau kommt ihm zu Hilfe. Damit ist das Konzept des male bonding im Film stark abgewertet (diese Abwertung wird noch dadurch verstärkt, daß dieses Konzept nur unter den als kriminell charakterisierten Figuren funktioniert). An seine Stelle tritt ein male-female bonding (ein weiteres Beispiel für die emanzipatorischen Aspekte des Films).




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Die Unbehaustheit des Helden in der Gemeinschaft, für die er eintritt, spiegelt die Raumsemantik in High Noon wider: Kane ist kein privater Raum im Film zugeordnet, allein sein office bietet ihm kurzzeitig Schutz. In anderen Räumen, Kirche wie Saloon, bleibt er ein Außenseiter. Selbst das Haus seines Freundes Sam Fuller, der sich von seiner Frau verleugnen läßt, ist ihm nicht zugänglich (Kane verweilt auf der Schwelle). Damit betont High Noon die individualistische Ideologie, ebenso wie seine Skepsis gegenüber der Demokratiefähigkeit der Bürgerschaft Hadleyvilles.


2.2 Amy, die Quäkerin

Auch Kanes Ehefrau folgt einem demokratisch-idealistischen Normenkonzept. Gerade aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Quäker ist sie sowohl demokratisch als auch individualistisch gesinnt und lehnt jegliche Art von Gewalt ab9. Sie versucht, Kane zu überzeugen, daß es besser ist, vor der Auseinandersetzung mit Miller zu fliehen, um in Frieden als ehrbare Kaufleute zu leben. Im Gegensatz zu Kane sieht sie dessen Eintreten für Recht und Ordnung als untrennbar mit seiner Rolle als marshal verbunden: Mit dem Ablegen des Sheriffsterns ist sein Auftrag erfüllt. Als Privatmann ist Kane nun für seine Frau und die gemeinsame Zukunft verantwortlich, nicht mehr für das Wohl Hadleyvilles, das die beiden verlassen, um eine neue Existenz als Kaufleute zu gründen. Dies wird im Dialog mit Kane deutlich, als sie sich nach der überstürzten Rückkehr im ehemaligen Amtszimmer Kanes auseinandersetzen. So sagt Amy über die drohende Konfrontation mit Miller: "But that's no concern of yours. Not anymore." Als Kane antwortet: "I'm the one who sent him up", erwidert sie: "But that was part of your job. That's finished now."

Aus ihrer Unterredung mit Helen Ramirez geht hervor, daß Amy Gewaltlosigkeit nicht nur als Dogma ihres Glaubens vertritt: Amys Vater und ihr neunzehnjähriger Bruder sind bei einer Schießerei ums Leben gekommen. "They were on the right side, but that didn't help them. My brother was only nineteen. I watched him die. That's why I became a Quaker." Erst die persönliche Überzeugung, gewaltlos zu leben, führte also zu einer Hinwendung zum Glauben der Quäker. Damit ist auch ein individualistisches Element im Normenkonzept Amys enthalten.

Diese Ablehnung der Gewalt wird in einer Einstellung des Films besonders deutlich: Als Amy und Helen gemeinsam mit der Kutsche zum Bahnhof fahren, um den 12-Uhr-Zug zu erreichen, und dabei an Kane vorbeifahren, blickt Amy nach einem kurzen Blickwechsel mit Kane nach vorne, während sich Helen Ramirez auf dem Kutschbock umwendet, um ihm mit den Augen zu folgen – Amy hält noch dazu die Zügel in der Hand (!). Diese Einstellung ließe sich als Zurückweisung der gewalttätigen Auseinandersetzung, die unaufhaltbar scheint, durch Amy interpretieren, während Helen Ramirez die Gesetze des Westens akzeptiert (Sie spricht dies Amy gegenüber sogar aus: "If Kane was my man, I'd get a gun. I'd fight") .

Auch Amy ist in Hadleyville kein privater Raum zugeordnet, was sie semantisch der Figur Kanes annähert. Durch ihr persönliches Eingreifen in die gewalttätige Auseinandersetzung der Männer rettet sie Kane das Leben, als sie den zweiten Komplizen Millers erschießt, muß aber ihrer pazifistischen Überzeugung in extremer Weise entgegenhandeln. Diese Handlung könnte als eine Art Initiationshandlung gedeutet werden: Durch sie verliert Amy ihre Distanz zur Realität, die sie von Helen Ramirez unterscheidet10. Auch dieses individualistische Moment nähert ihr Normenkonzept dem Kanes an: Im Notfall muß der eigenen Entscheidung und nicht Dogmen gemäß gehandelt werden, seien diese religiösen oder juristischen Ursprungs – vorausgesetzt, die Handlung ist wiederum moralisch wie rechtlich legitimiert.

Der Film plädiert also keineswegs für ein willkürliches Handeln des Einzelnen. Ganz im Gegenteil: Das eigenmächtige Handeln, wie es Amy und Kane vorführen, bleibt im strengen Rahmen der geltenden christlichen Ethik wie auch der Rechtsordnung. Würde Amy den outlaw nicht töten, gefährdete sie Kanes Leben. Das gleiche gilt im Falle Kanes: Er handelt gegen die Rechtssatzung (da er rechtlich gesehen nicht mehr im Amt des Sheriffs ist, Frank Miller durch Richterspruch auf freiem Fuß), gerade dadurch aber rettet er in der Perspektive des Films das bürgerliche, demokratisch verfaßte Recht, dessen Auslegung durch die Judikative damit als falsch, zumindest als leichtsinnig kritisiert wird. Das bedeutet also: Im Einzelfall darf und muß sogar gegen die normative christliche Ethik und das geltende Recht verstoßen werden, und zwar dann, wenn damit das Prinzip gerettet wird.


3 Das pragmatisch-materialistische Normenkonzept

3.1 Helen Ramirez

Helen Ramirez stellt als Figur in gewisser Weise die "Schnittstelle" der oppositionellen Normenkonzepte dar11. Sie war zunächst Millers Geliebte, dann Kanes, also sowohl mit der kriminellen als auch der ordnungshütenden Instanz verbunden. Sie lehnt, im Gegensatz zu Amy, Gewalt nicht ab. Als erotisch erfahrene Frau bildet sie eine Kontrastfigur zu Amy, was im Film nicht nur durch die dunkle Schönheit von Kathy Jurado, sondern auch durch die Kostüme unterstrichen wird: Amy ist während der gesamten Handlung in ihr hochgeschlossenes Brautkleid in jungfräulichem Weiß gekleidet und hat das blonde, sorgfältig geflochtene Haar sittsam von einem bonnet bedeckt.




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Helen Ramirez trägt teils ein dunkles, tief ausgeschnittenes Kleid, teils einen Morgenmantel (in der Szene mit Harvey, als beide Charaktere eingeführt werden) und offenes, lockiges langes schwarzes Haar, das von geflochtenen Zöpfen umrahmt wird: Der dress code charakterisiert sie damit als Figur, die Elemente der Wildheit und der Zivilisation in sich vereinigt.

Ihre Unabhängigkeit von bürgerlichen Moralvorstellungen, ihr privates wie auch ihr professionelles Leben betreffend, zeigt sie als individualistischen Charakter. Als autonome Persönlichkeit ist sie alleine für ihren Lebensunterhalt zuständig, weswegen sie auch die Stadt verlassen will, für die sie nach Kanes bevorstehendem Tod keine Zukunft mehr sieht. Sie folgt damit einem pragmatischen Sinn.

Obwohl sie mit dem Saloon ein nicht gerade bürgerliches Gewerbe betreibt, führt sie ihre Geschäfte anständig und ordentlich, wie ihr Teilhaber Mr. Weaver bekräftigt, als sie ihm den Saloon zum Kauf anbietet. Sie ist tatkräftig und entschlossen (dies wird nicht zuletzt in der Szene deutlich, als sie dem Hilfssheriff Harvey Pell eine Lektion in Sachen Männlichkeit erteilt und ihm den Laufpaß gibt).

Als Frau und Mexikanerin ist Helen Ramirez in besonderem Maße als Außenseiterin definiert. Umso interessanter erscheint es deshalb, daß gerade dieser Figur die Bewegung nach Westen, ins Unbekannte (gewöhnlich dem männlichen Helden vorbehalten) zugeschrieben ist: Es ist Helen Ramirez, die mit dem Zug gen Westen aufbricht. Damit ist sie diejenige Figur, die den Fortschritt vorantreibt. Darin zeigt sich, daß High Noon ein deutlich positiv konnotiertes Frauenbild zeichnet, gerade im Vergleich zum konventionellen Western Frauenfiguren außerordentlich aufwertet und damit eine emanzipatorische Ideologie zu erkennen gibt, die dem demokratisch-idealistischen Normenkonzept entspricht.

In ihrem Appell an Amy, ihrem Mann zur Seite zu stehen, offenbart sie Loyalität ebenso wie Zivilcourage und Mut. Daran zeigt sich, daß dieser Figur neben einer pragmatisch-materiellen Orientierung auch idealistische Normen zugeschrieben sind. Helen Ramirez vereint damit Elemente beider Normenkonzepte.


3.2 Die Bürger von Hadleyville12

Es ist signifikant, daß in High Noon der überwiegende Teil der Bürger als moralisch wie auch staatsbürgerlich fragwürdig charakterisiert wird. Ob es sich um Mr. Weaver handelt, den Teilhaber an Ramirez' Saloon, der im Kirchenchor singt, aber durch die Hintertür ins Hotel kommt, um mit Helen Ramirez zu verhandeln: Die Hintertür als Metapher für die Doppelmoral wertet diese Figur deutlich ab. Oder auch Harvey Pell, der Hilfssheriff, der Kane seine Unterstützung als Geschäft anbietet: Wenn dieser ein Wort für ihn als zukünftigen Sheriff einlegen wolle, werde er ihm helfen (auf diese Erpressung geht Kane nicht ein – gerade die charakterliche Integrität ist für Kane Voraussetzung für die Betrauung mit dem wichtigen Amt des Ordnungshüters). In der Figur des Harvey, der unter einer starken Profilneurose leidet – sowohl im Hinblick auf seine öffentliche Rolle als auch auf seine private als Liebhaber Helens – spiegelt sich die korrupte Bürgerseele.

Dies hat er mit Kanes Freund gemeinsam, der erst an dessen Hochzeit teilnimmt, dann aber Kane während der Auseinandersetzung in der Kirche in den Rücken fällt (die Kirche wird damit als Raum gekennzeichnet, in dem säkulare Anliegen verhandelt werden, und wo christliche Ethik nur noch vom Pastor vertreten wird): "Up North" ist die Rede von Investitionen für Hadleyville, also würde eine Schießerei mit Blutvergießen nur ein negatives Licht auf die Stadt werfen. Wichtig ist, den Schein einer geordneten Stadt zu wahren: Es ist der Eindruck, der zählt, nicht der tatsächliche Zustand. Der materielle Erfolg steht über der staatsbürgerlichen Moral. Persönlicher Vorteil ist wichtiger als Freundschaft und Loyalität.

Der Skeptizismus des Films beruht also darauf, daß er die Mehrheit, die bürgerliche Gesellschaft, repräsentiert in der Bürgerschaft von Hadleyville, für nicht staats- und moralfähig hält. Die Prinzipien selbst, auf denen diese Gesellschaft ruht, die christliche Ethik und die demokratische Verfassung, sind richtig – nur ihre Auslegung und Handhabung durch die Gesellschaft sind falsch, denn die Bürgerschaft handhabt sie rein ihren finanziellen Interessen gemäß, wie auch ein moralisch fragwürdiger Hedonismus die Haltung bestimmter Gruppen beeinflußt.


3.3 Die outlaws

Den Extremfall dieses stark kritisierten Hedonismus und Materialismus führt der Film in der Gruppe der outlaws vor. Frank Miller und seine Bande sind von zwei Begierden motiviert: Geld und Frauen. Deren Befriedigung im Rahmen des Gesetzes ist bereits fragwürdig, wie der Film an den Bürgern Hadleyvilles zeigt. Daß die Miller-Bande dafür das Gesetz zu brechen bereit ist, macht sie zu den moralisch am tiefsten abgewerteten Figuren des Films, eben zu Repräsentanten des negativen Extrems im beschriebenen Normenparadigma. Da Kane sie an der Befriedigung ihres Begehrens hindert, kommt zu ihrem Handeln ein drittes Motiv hinzu: das der Rache. Das Rachebedürfnis ist allein durch das Verlangen nach Geld und Vergnügen motiviert, repräsentiert daher auch einen ethischen Tiefpunkt (es ließe sich ja auch ein Outlaw denken, der aus "höheren", idealistischen Motiven Rache übt – das wäre dann der Typus des guten Kriminellen).




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Dies zeigt High Noon an etlichen Attributen, die er Frank Miller und seiner Bande zuschreibt. Da ist zuerst der dress code zu nennen: Millers Komplizen sind unrasiert, dunkle Farben herrschen vor, ihre Kleidung ist eher nachlässig, was genau dem Umgang der Bande mit den bürgerlichen Normen entspricht. Signifikant ist z.B., daß Frank Miller, der eben aus dem Zug gestiegen ist und sich nun anschickt, den Revolvergurt umzulegen, sein Jackett ablegt, das seine äußere Erscheinung der des Bürgers annäherte.

Darüber hinaus kennzeichnet der Film die Outlaws als Waffenfetischisten. Signifikant ist, wie der Film die Revolver der Miller-Bande in Nahaufnahme ins Bild rückt: Man sieht, wie einer der Vier seine Waffe lädt, wie die drei wartenden Verbrecher mit ihren Revolvern jonglieren. Hier wird also ein geradezu intimes Verhältnis der Figuren zu ihren Waffen dargestellt: Ein Verhältnis, das in traditionellen Western häufig gezeigt wird (z.B. in Winchester 73). High Noon besetzt diese Fetischisierung der Waffen eindeutig abwertend, indem er sie nur im Zusammenhang mit den Outlaws vorführt.

Ein ganz anderes, nämlich rein pragmatisches Verhältnis zur Waffe ist im Falle Kanes realisiert: Die Kamera rückt dessen Waffe nie in den Mittelpunkt bzw. in den Vordergrund, oder zeigt sie aus einer Perspektive, die sie mythologisieren würde. So läßt sich feststellen: Während bei Kane ein funktionalistisches Verhältnis zur Waffe gezeigt wird (d.h. die Waffe steht streng im Dienst seines Handels für das Gesetz und der Verteidigung der demokratischen Normen), lassen die Outlaws ein quasi-erotisches Verhältnis zur Waffe erkennen. Dies entspricht genau ihrer hedonistisch-unmoralischen Begierde.

Genau dies zeigt der Film auch in der scheinbar nebensächlichen Sequenz zu Beginn des shootout, als Ben Miller die Scheibe eines Ladens einschlägt, um einen Damenhut aus der Auslage zu stehlen. Den Hut heftet er sich an seinen Revolvergurt (wie einen Skalp!): ein vorausweisendes Indiz für Ben Millers Begierde nach Kanes Frau, die bereits in der Szene am Bahnhof (als Amy das Zugticket kaufte) durch den Blick Millers auf Amy als Motiv eingeführt wurde. Diese negativ beurteilte Begierde nach der Frau des marshal liefert Kane eine weitere moralische Legitimation, die Outlaws auf eigene Faust zu bekämpfen: Es ist kein Zufall, daß Ben Miller als erster von Kane erschossen wird (Das Splittern der Scheibe dient darüber hinaus als akustisches Warnsignal für Kane, der den Verbrechern entgegengeht).

Die normative moralische und juristische Ordnung, die der Film aufbaut, wird auch in solchen Details zum Ausdruck gebracht oder umgekehrt: Solche Details sind als funktionale Elemente zum Aufbau dieser Ordnung eingesetzt.


4 Die formal-ästhetische Gestaltung des Films

Mit dieser Determiniertheit der Handlungen und Abläufe hängt die formal-ästhetische Gestaltung von High Noon eng zusammen: Die "Durchformung" auf der Handlungsebene setzt sich auch auf der formal-ästhetischen Ebene des Films fort. Mit dieser Feststellung, aus der sich lediglich ableiten läßt, der Film sei künstlerisch "dicht" und vermittle eine intensive Atmosphäre, ist es allerdings noch nicht getan. Denn sie sagt noch nichts über die semantische Funktion aus, die die ästhetischen Elemente haben, die im Film eingesetzt sind.

Um sich einer Lösung dieser Frage, die hier nicht erschöpfend zu beantworten ist, immerhin anzunähern, muß noch einmal auf das oben beschriebene Normenparadigma hingewiesen werden.


4.1 Normenkonflikt und Sinndefizit

Dieses Paradigma verweist auf einen Normenkonflikt, der die spezifische kritische Position des Films ausmacht und High Noon vom konventionellen Western deutlich unterscheidet. Zwar existiert auch hier der übliche Konflikt zwischen Sheriff und Outlaws, Gesetz und Gesetzesbruch. Doch dieser Konflikt erweist sich mit Hilfe des aufgestellten Normenparadigmas als Oberflächenkonflikt, als nahezu auf formaljuristische Gegebenheiten abzielender Konflikt. Der eigentliche Konflikt besteht in der Opposition Kane und Amy vs. Bürgerwelt und Outlaws. Die beiden Teilgruppen letzterer Gruppe sind semantisch eng einander angenähert. Sowohl die Bürger als auch die Outlaws charakterisiert der Film als hedonistisch und materialistisch – sie sind also Elemente derselben ideologischen Kategorien. Freilich unterscheiden sie sich: Während die Bürger zögerlich, feige und vorsichtig sind, treten die Gesetzlosen entschlossen und großspurig auf. Doch die Unterschiede sind graduell, nicht prinzipiell: Was die Outlaws in radikaler Weise tun, das tun die Bürger auf eine gemäßigte und im Rahmen des Gesetzes bleibende Weise. Die Mentalität aber, stellt der Film durch die semantische Annäherung beider Gruppen fest, ist sehr ähnlich.




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Dabei bleibt allerdings noch die aufgrund des Gesetzes bestehende Opposition zwischen beiden Gruppen – die Bürger stehen diesseits, die Outlaws jenseits der geltenden Rechtsordnung. Daß aber diese Grenze fließend und mehr von formalem Charakter als in der Mentalität der Bürger verankert, daß sie also höchst brüchig und gefährdet ist, das zeigt der Film mit Hilfe eines dramaturgischen Kunstgriffs, der nur scheinbar nebensächlich ist: Während der erzählten Zeit des Films, also während des geschilderten Realitätsablaufs, sind die Outlaws juristisch gesehen eben keine Gesetzlosen: Sie kommen als freie Bürger nach Hadleyville. Ein rechtskräftiges Urteil und die moderne, von bürgerlichen Ingenieuren erschaffene Verkehrstechnik der Eisenbahn ermöglichen Frank Miller die Reise dorthin. Es ist sehr signifikant, daß die Miller-Bande nicht durch Ausbruch aus dem Gefängnis und auf nächtlichem Schleichweg an ihr Ziel gelangt – was ein denkbares, häufig im Westernfilm verwendetes Motiv wäre.

Hervorzuheben ist: Bürger und Outlaws sind semantisch nicht identisch, aber sie sind einander stark angenähert und Elemente derselben Kategorie. Bezeichnend ist, daß Ben Miller, als er im Saloon erscheint, mit großem Hallo begrüßt wird und der Barmann unverhohlen zugibt, wenn die Miller-Bande wieder in der Stadt sei, käme das Geschäft endlich wieder in Schwung13.

Wenn auch die Figuren unterschiedlich gezeichnet werden, so genügt es für eine erste grundlegende Analyse in diesem Rahmen, festzustellen, daß die eigentliche, scharfe Trennlinie nicht zwischen Bürgerschaft und Outlaws, sondern zwischen Bürgerschaft und Kane sowie Amy verläuft14. Somit gilt folgender fundamentaler Konflikt: Kane vereint mit Amy gegen die Bürgerschaft, angenähert an die Outlaws.

Der Konflikt, der mit der Nachricht von der bevorstehenden Ankunft der Miller-Bande aufbricht, verschärft sich mit dem Ablauf der Handlung und ist am Ende definitiv, als Kane sich radikal von den Bürgern abwendet und mit Amy die Stadt verläßt. Auch an dieser Stelle macht High Noon dies mit einer signifikanten Einstellung deutlich: Als Frank Miller erschossen auf der Straße liegt, scharen sich die zusammenlaufenden Bürger interessiert um dessen Leiche. Kane steht abseits – weder wenden sich die Bürger ihm zu, noch wirft er einen Blick zurück, als er nun endgültig aus der Stadt fährt.

Das heißt also: Der Film verschärft den zentralen Konflikt, anstatt ihn zum Schluß in einer glücklich wiederhergestellten Ordnung aufzuheben. Die Unvereinbarkeit der Normenkonzepte erweist sich am Ende als definitv. Auch Helen Ramirez, die als Integrationsfigur hätte fungieren können, verläßt die Stadt. Am Schluß des Films sind zwar die Outlaws aus der dargestellten Welt geschafft, doch zugleich verschwinden auch alle positiv gezeigten Protagonisten aus dem sozialen Raum, der im Fokus der Erzählung liegt: Hadleyville. Die Stadt bleibt einer Bürgerschaft überlassen, deren moralische Fragwürdigkeit und staatsbürgerliche Unreife der Film immer schärfer herausstellt. Auch der optimistische Pathos der Landnahme, im konventionellen Western ein zentraler Topos, ist hier negiert. Genauer gesagt: Sie ist als kollektive Hoffnung negiert und, wie oben erwähnt, eingeschränkt auf ein individuelles Existenz- (und nicht einmal Glücks-)Versprechen für Helen Ramirez – immerhin ein optimistisches Element.

Im Gesamten aber ist die dargestellte Welt am Ende durch ein Defizit an Sinn gekennzeichnet: Kane rettet zwar mit seinem Handeln seine von den Outlaws bedrohte Existenz und seine Ehe, was von außen betrachtet nicht wenig sein mag. Aus der idealistischen Perspektive Kanes und erst recht des Films selbst aber ist damit der Sinn von Kanes Handeln nur auf einer individuellen Ebene gerettet. Kane handelt aber nicht für sich alleine, er handelt vor allem im Sinne des Kollektivs, aus dem er sich nur aus Enttäuschung, nicht aus grundsätzlich elitärem Bewußtsein zurückzieht. Und für diese kollektive Ebene ist, aus der Perspektive des Films, der Sinn verloren.

So ist die dargestellte Welt am Ende zwar nicht sinnlos, doch deutlich sinnreduziert und sogar von Sinnverlust bedroht. Dennoch vermittelt der Film am Schluß nicht das Gefühl von Resignation oder fundamentalem Pessimismus. Das liegt nicht nur daran, daß Kanes Leben und seine Ehe gerettet sind. Das hat auch subtilere Gründe, die in den formal-ästhetischen Gestaltungsmitteln zu suchen sind.


4.2 Ästhetik und Sinnstiftung

Diese Mittel lassen sich in zwei Kategorien einteilen: distinktive und integrative. In die erste Kategorie fallen vor allem die harten Schnitte, die im Verlauf des Films an Schärfe und Tempo zunehmen (nicht zufällig bekam High Noon einen seiner vier Academy Awards für den besten Schnitt). Die Steigerung dient hier dem (oft im Zusammenhang mit High Noon erwähnten) spannungserzeugenden dramaturgischen Effekt. Darüber hinaus nehmen die harten Schnitte, die nicht durch Überblendungen "abgemildert" werden, eine semantische Funktion wahr: Sie vermitteln erstens den Konflikt zwischen Kane/Amy auf der einen und den Bürgern und der Miller-Bande auf der anderen Seite, wie auch zweitens die Steigerung dieses Konflikts bis zu seinem Höhepunkt im shootout. Das ungemilderte, unmittelbare Aufeinanderprallen der durch die Schnitte getrennten Sequenzen, durch den Schwarz-Weiß-Kontrast, die flache Beleuchtung und die körnige optische Qualität des Films noch verstärkt, die abwechselnd Kane (und Amy) und die Outlaws zeigen, bezeichnen die Unlösbarkeit des Konflikts bzw. die Unvereinbarkeit der oppositionellen Normenkonzepte, die somit nicht durch einen Ausgleich, eine Synthese, aufzuheben sind: Die Lösung, besagt dieses ästhetische Element der harten Schnitte, kann nur in der Eliminierung einer der beiden Gruppen oder Figuren liegen.




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So entspricht die Schnittechnik auf formaler Ebene dem, was auf der Handlungsebene faktisch dargestellt ist: Dem Film liegt kein dialektisches, sondern ein dichotomisches Denkmodell zugrunde. Es markiert ohne Frage eine Abkehr vom dialektischen Fortschrittsoptimismus klassischer Geschichtsphilosophie (zumal ja die Dichotomie auch für die Gruppen Kane/Amy und die Bürgerschaft gilt, welche dadurch gelöst wird, daß Kane sich sozusagen selbst aus dem zentralen Raum eliminiert, indem er ihn angewidert verläßt).

Fundamental pessimistisch oder gar nihilistisch ist der Film keineswegs. Wo aber Gefahr des Sinnverlusts droht, wächst die "rettende" Ästhetik auch: Nun wird zwar auf der Handlungsebene der gefährdete Sinn dadurch gerettet, daß Kane nicht nur überlebt und über das negative Normenkonzept siegt, sondern auch seine Frau wiedergewinnt und mit ihr einer zwar ungewissen, doch jedenfalls gemeinsamen Zukunft entgegenfährt – dies ist, wie auch im Falle von Helen Ramirez, eine immerhin individuell-private Existenzverheißung für die Zukunft.

Darüber hinaus aber scheint der Film tatsächlich eine Art von überindividuellem, globalem und gleichsam "ewigem" Sinngefüge bereitzustellen, in dem nun das ganze Geschehen und die einzelnen Figuren "aufgehoben" sind (ähnlich wie bis zur Mitte des 19. Jhds. in westlichen Kulturen das christliche Sinngefüge einem Großteil der Menschen das Gefühl gab, in einem übergeordneten Ganzen aufgehoben zu sein).

Diese Instanz ist nun das, was mit dem Begriff "Schicksal" gemeint ist, der als Ordnungskategorie für "düster" gestimmte Filme, wie es neben Beispielen aus dem Genre des Film Noir auch Western sein konnten, häufig verwandt wird15. Auch High Noon scheint nicht zu definieren, aus welchen Elementen sein Schicksal besteht und ob es natürlich oder metaphysisch begründet ist16. Das Schicksal jedenfalls ist eine im Film ständig präsente Macht, der offenkundig alle Figuren unterworfen sind. Und in diesem Zusammenhang nun werden jene ästhetischen Mittel und Leitmotive relevant, die oben als integrative kategorisiert wurden.

Das Leitmotiv der Gleise, die von einem Fluchtpunkt in der Ferne bis in den Bildvordergrund reichen, dient dazu, die Unausweichlichkeit der kommenden Ereignisse sichtbar zu machen. Darüber hinaus steht der Bahnhof als Ort der Ankunft wie auch des Abschieds als Metapher für Anfang und Ende. Dies hat er mit dem Motiv der Uhr wie auch des schlagenden Pendels gemein, die sowohl visuell als auch akustisch (hierbei teilweise in das musikalische Thema eingebunden) wiederholt und mit Ablauf der Erzählzeit zunehmend dynamischer (durch kurze Schnitte und schnelle Rhythmen) eingesetzt werden.

Sie illustrieren den Ablauf der (Lebens-)Zeit, der für die zentralen Figuren einem unausweichlichen Ende oder einem neuen Anfang entgegenläuft. (Die Nähe von Leben und Tod wird zusätzlich durch die extreme zeitliche wie räumliche Nähe von Hochzeit – Verheißung des Ursprungs neuen Lebens – und tödlichem Duell verdeutlicht).

Die Geschlossenheit der Topographie, die sich in High Noon im Gegensatz zu konventionelleren Western fast ausschließlich auf die Stadtlandschaft konzentriert17, verstärkt den Eindruck der Unausweichlichkeit des Konflikts, und verweist darauf, daß es sich um einen gesellschaftlichen Konflikt innerhalb der Bürgerschaft handelt. Zu seiner Wirkung der Dichte, wie auch dem (häufig genannten) Aufbau der konstant ansteigenden Spannungskurve, tragen sowohl seine Wahrung der aristotelischen Einheit von Zeit, Ort und Handlung, als auch die fast eingehaltene Einheit von Erzählzeit und erzählter Zeit bei (letztere wird im Zusammenhang mit dem Film mehr als häufig genannt).

So schafft der Film also im Zusammenwirken dieser ästhetischen und formalen Elemente einen die Handlung überwölbenden, gleichsam metaphysischen Überbau, der die Ereignisse als unausweichlich und notwendig, damit aber auch logisch und sinnvoll bezeichnet. Der Ästhetik als visuellem Ausdruck der Ordnungsmacht dürfte damit eine Funktion zufallen, die in der antiken Tragödie die Götter hatten: Sie wirkt sinnstiftend.




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5 Resümee

Macht man sich das komplexe ideologische Konzept des Films bewußt, dem die differenziert gestaltete Ästhetik entspricht, in der kein Detail willkürlich oder überflüssig ist – sei es die Haartracht der Helen Ramirez oder Ben Millers Inbesitznahme des Damenhutes, Details übrigens, die für einen hohen Grad an "Dichte", also an semantischer Kohärenz sorgen – macht man sich dies bewußt, so offenbart sich auch die Komplexität und Differenziertheit, die ideologische und intellektuelle Raffinesse, die High Noon deutlich vom Gros konventioneller Western schlichterer Machart abhebt, in denen Gut und Böse, Bürger und Outlaw, eindeutig getrennt und voneinander geschieden sind. Bei High Noon hingegen liegt das Böse auch in der Mitte der bürgerlichen, scheinbar 'anständigen' Gesellschaft – ideologisch ein wesentlicher Unterschied zum konventionellen Western, dessen Optimismus, wenn er auch in Filmen wie John Fords The Searchers bisweilen etwas gebrochen ist, gegenüber Zinnemanns differenzierendem Skeptizismus fast naiv erscheint. (Darüber hinaus dient vielen Western die Zuschreibung der negativen Normenkonzepte auf die Gruppe der Indianer als Legitimation der Landnahme – ein überaus bedenkliches ideologisches Konstrukt, dem in High Noon eine deutliche Aufwertung häufig marginalisierter Gruppen – seien es Frauen, ethnische oder religiöse Minderheiten – entgegengesetzt wird, wie oben gezeigt).

Nicht zufällig hat High Noon immer wieder zu Kontroversen geführt und Howard Hawks dazu veranlaßt, mit Rio Bravo einen Gegenentwurf zu drehen, der eindeutige und ungebrochene Helden präsentiert: "High Noon hat mir dermaßen mißfallen, daß ich die Gegenposition eingenommen habe."18

Die Komplexität des Films spiegelt sich auch in den Urteilen wider, die über den Film gefällt wurden, und die nicht selten eine schlüssige und befriedigende Analyse der ideologischen und ästhetischen Strukturen des Films vermissen lassen19. Die daraus resultierenden Fehlurteile sind verwunderlich und zeugen von einer oberflächlichen Beschäftigung mit dem Film. Denn wie die intensive Beschäftigung mit High Noon zeigt, lohnt dieser Film in seiner differenzierten Gestaltung eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner ideologischen und ästhetischen Struktur: In seinem skeptischen Idealismus kritisiert der Film, um dies abschließend noch einmal zu betonen, nicht das demokratische System selbst, sondern übt Kritik am Umgang bestimmter staatlicher Instanzen und gesellschaftlicher Gruppen mit dem System.



Bibliographie

Cawelti, John G. (1970): The Six-gun Mystique. Bowling Green, Ohio.

Diggins, John Patrick (1989): The Proud Decades. America in War and Peace, 1941-1960. New York.

Heideking, Jürgen (1996): Geschichte der USA. Tübingen.

Hembus, Joe (1995): Das Western-Lexikon. Erweiterte Neuausgabe von Benjamin Hembus. München.

Monaco, James (1995): Film verstehen. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Reinbek.

Pumphrey, Martin (1996): "Why do cowboys wear their hats in the bath? Style politics for the older man", in: Cameron, Ian u. Douglas Pye (Hg.), The Movie Book of the Western. London, 50-62.

Seeßlen, Georg (1995): Western: Geschichte und Mythologie des Westernfilms. Grundlagen des populären Films. Marburg.

Tuska, Jon (1990): "The American Western Cinema: 1903-Present", in: ders., A Variable Harvest: Essays and Reviews of Film and Literature. Jefferson, N.C., 59-86.

Anmerkungen

* Der Essay wurde mit dem Münchener-Amerikanisten-Preis 1999 in der Kategorie "beste Seminararbeit" ausgezeichnet.

1 Zit. nach Jon Tuska 1990: 76.

2 Auf die kulturelle Funktion des Westerns weist Martin Pumphrey hin: "Film critics who have followed John Cawelti have argued that the cultural function of the genre has been, like myth, to resolve and mask conflicts between 'key American values' – conflicts, that is, between individualism and social order, freedom and law, progress and past ideas (Cawelti 1970)." (Pumphrey 1996: 52)

3 Insbesondere nach 1947, als eine Gruppe prominenter Regisseure und Drehbuchautoren sich weigerte, mit dem Komitee zusammenzuarbeiten, verstärkte sich der Druck auf die Filmindustrie (und führte schließlich zur Erstellung einer unofficial blacklist, die die Beschäftigung aller verhinderte, die auch nur der Hauch einer fragwürdigen Vergangenheit umgab). Pikanterweise gehörte Gary Cooper, der in High Noon den integren Helden Kane verkörpert, zur Gruppe der friendly witnesses (ein geradezu zynisch anmutender Euphemismus, bedenkt man die Folgen, die ihre Aussagen über Kollegen haben konnten), die mit HUAC kooperierten. (Siehe hierzu auch Diggins 1989: 162f.)




PhiN 9/1999: 9


4 Diese Lesart erscheint auch wesentlich plausibler als jene einer Mobilmachung für den Koreakrieg: Letztendlich scheitert Kane in seinem Bemühen, couragierte Mitstreiter zu gewinnen. In seiner pessimistisch anmutenden Sicht auf die Gesellschaft kann der Film nicht gerade begeisternd auf ein jugendliches Massenpublikum gewirkt haben – der Geist des male bonding wird in diesem Film alles andere als gefeiert (s. dazu auch 2.1). Ein überzeugenderes Beispiel für einen Film, der zum Zwecke der Mobilmachung diente, ist Laurence Oliviers Henry V, der 1944 entstand (und explizit den britischen Fliegern der Royal Air Force gewidmet ist).

5 Der Konflikt zwischen Eheversprechen und Eintreten für den Schutz der Gemeinschaft ist einer der zentralen Konflikte im Film und klingt immer wieder im Leitmotiv des Titelsongs an: "Torn 'twixt love and duty".

6 Dies allerdings vor dem Hintergrund einer zerfallenden öffentlichen Moral: Kane wird nicht von der Gemeinschaft unterstützt; er steht alleine. Ein Demokrat ohne tragfähige Gemeinschaft: Das ließe sich als Kommentar zur McCarthy-Zeit lesen.

7 Ein wenig von der – für den Westernheld typischen – markant-männlichen Gesinnung "A man's got to do what a man's got to do" klingt hier natürlich an. Signifikant ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß Kane den Sheriffstern bis zur letzten Szene des Films trägt: ein Zeichen dafür, daß er im öffentlichen Interesse handelt, nicht als Privatmann, der eine persönliche Fehde ausfechten muß.

8 Dabei darf man nicht vergessen, daß Kanes Auseinandersetzung mit Miller auch einen persönlichen Aspekt aufweist: Kane war es, der Miller fünf Jahre zuvor verhaftet hatte. Dieses Motiv der persönlichen Rache dient später, während des Disputs der Bürger Hadleyvilles und Kanes, der in der Kirche stattfindet, einigen Bürgern zur Rechtfertigung, nicht in den Konflikt einzugreifen.

9 Denn gerade die Quäker vertraten eine radikal individualistische, pazifistische und demokratische Haltung: "Sie praktizierten eine ganz auf das Individuum und seine innere "Erleuchtung" ausgerichtete Religion, die weder kirchliche Institutionen noch einen Klerus und feste Rituale benötigte. Als Pazifisten und Gegner weltlicher Autorität verweigerten sie jeglichen Loyalitätseid, bestanden auf der absoluten Gewissensfreiheit und forderten soziale Reformen zugunsten der Unterschichten." (Heideking 1996: 15). Darüber hinaus waren es auch Quäkerinnen wie z.B. Lucretia Mott, die sich in der amerikanischen Frauenrechtsbewegung engagierten (Heideking 1996: 129).

10 Als Amy nach dem ersten Schuß den Zug verläßt und in die Stadt zurückläuft, trägt sie ihren Hut nicht mehr – sie hatte ihn bereits im Hotelzimmer von Helen Ramirez abgelegt. Damit gibt der Film ein visuelles Indiz für eine Veränderung dieser Figur: etwas von der Strenge der Quäkerin hat Amy bereits verloren.

11 Durch ihren Namen erklingt ein leises Echo der antiken griechischen Mythologie: Auch die schöne Helena wurde von zwei Männern begehrt, deren Rivalität schließlich in einen Krieg mündete – spielt High Noon damit möglicherweise auf eine weitere Motivation Millers an, sich an Kane zu rächen?

12 Da der Film die Bürger vorwiegend als Kollektiv behandelt, sollen sie auch hier im Kollektiv untersucht werden.

13 Freilich stellt der Film die Bürgerschaft nicht als homogene Gruppe dar, sondern differenziert zwischen den Figuren – gemeinsam ist allen jedoch eine Zuschreibung von Elementen des pragmatisch-materialistischen Normenkonzepts. So zieht der Friedensrichter die Flucht vor der möglichen Auseinandersetzung mit Frank Miller dem mutigen Eintreten für genau jene Rechtsordnung vor, die er nach eigener Aussage sehr wohl in der nächsten Stadt wieder vertreten will. Der Hilfssheriff bietet sein Eintreten für Recht und Ordnung gegen seinen persönlichen beruflichen Aufstieg. Der Barmann macht keinen Hehl aus seinem rein geschäftlichen Interesse an den Mitbürgern (in diesem Zusammenhang ist auch die signifikante Abwertung des Konsums von Alkohol zu nennen: Sowohl die Outlaws als auch weitere eher zweifelhaft gezeichnete Bürger werden als Alkoholkonsumenten gezeigt, Kane hingegen trinkt während der gezeigten Handlung keinen Tropfen).

14 Wie oben ausgeführt, sind beide zwar anfangs durch einen in ihren ein wenig unterschiedlichen Normenkonzepten angelegten Konflikt getrennt, doch hebt sich dieser Konflikt im Verlauf der Handlung auf, da beider Normenkonzepte grundsätzlich vereinbar sind: Beide beruhen auf denselben ideologischen Grundsätzen, sind idealistisch-humanistisch und basieren auf der definitiven Gültigkeit christlicher Ethik und demokratischer Rechtssatzung. So bildet sich im Laufe des Films aus dem Konflikt zwischen Kane und Amy eine semantisch-ideologische Einheit.

15 So schreibt auch James Monaco: "Zwei andere populäre Genres der fünfziger Jahre, der Western und der Science-Fiction-Film, spiegelten die düstere Stimmung des Film Noir wider, jeder auf seine Art. Der Western begann, ernstere und pessimistische Themen zu behandeln; der Science-Fiction-Film entwickelte eine Anzahl objektiver Entsprechungen zur kulturellen Paranoia des Jahrzehnts." (Monaco 1995: 314)

16 Hier wäre ein Anknüpfungspunkt für weitere Untersuchungen, denn eindeutig ist das Schicksal, die Unausweichlichkeit des Ablaufs der Ereignisse, eine zentrale Kategorie im Film.

17 Selbst die erste Szene des Films, die das Treffen der Miller-Komplizen in der Landschaft zeigt, wirkt durch die Aufteilung des Bildraumes (Figuren in der Mitte, rechts und links je ein Baum) wie gerahmt: Die Landschaft öffnet sich nicht wirklich.




PhiN 9/1999: 10


18 So Howard Hawks in den Cahiers du Cinéma (zit. nach Hembus 1995: 516). Diese Gegenposition füllt Hawks, unbestritten, glänzend aus.

19 Selbst ein so renommierter und zur Analyse neigender Autor wie Georg Seeßlen schreibt: "Kane ist weder McCarthyist noch Anti-McCarthyist, er ist ein Westerner, der vorübergehend an seinem Wesen irre geworden ist, weil Feigheit und Ignoranz allzu deutlich geworden sind, und der sich der Sinnlosigkeit seiner stellvertretend für die Bürger geführten Kämpfe bewußt wird und sich dennoch stellt. Doch was hier noch melodramatisch verklärt ist, das wird im Genre in den nächsten beiden Jahrzehnten immer deutlicher werden: daß nämlich diese Stellvertretung immer bloß als Legitimation für Gewalt gedient hat." (1995: 101) Diese These, Kane sei "vorübergehend an seinem Wesen irre geworden", die Seeßlen hier eher unvermittelt aufwirft, ohne sie dabei am Filmtext festzumachen, ist so nicht haltbar. Kane ist, wie oben gezeigt, sehr wohl während der gesamten Handlung des Films bei klarem Verstand und tritt bewußt für seine Überzeugung ein – was auch die Tatsache zeigt, daß er sehr wohl die Auseinandersetzung mit dem gesetzlosen Miller und dessen Komplizen fürchtet und deshalb (zusätzlich zur Mittagshitze) in Schweiß ausbricht, eine Auseinandersetzung, die mit "vernünftigen" Argumenten nicht zu führen ist, da der mehr als einsilbig gezeigte Miller sich nur mit der Waffe ausdrückt, nicht mit Worten (s. auch 3.3 zur Fetischisierung der Waffe durch die Outlaws). Daß High Noon in der Figur von Kane die Gewalt gerade nicht verherrlicht, sollte klar geworden sein. Ein Sheriff, der gewaltbereit handelt, läuft nicht zunehmend verzweifelt durch seine Stadt, um Unterstützung bei den Bürgern zu suchen (was Seeßlen als die "Tragik" und die "Thesenhaftigkeit" des Films bezeichnet – so auf S. 100 – aber offensichtlich nicht weiter hinterfragt).