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Johannes Waßmer (Osaka)



Robert Herrmann (2019): Präsenztheorie. Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf). Würzburg: Ergon 2019.



Was heißt 'Präsenz'? Wann ereignet sich 'Präsenz' und wie kann sie erfasst werden? Seit einigen Jahrzehnten etabliert sich allmählich eine Denkrichtung, der zufolge das sinnproduzierende Differenzdenken um eine 'Präsenz' zu ergänzen ist, die sich dekonstruktiven Verfahren widersetzt. Ein Problem bisheriger Arbeiten zur Präsenz besteht darin, dass in ihnen zwar prägnante Begriffe entwickelt werden, diese oftmals aber vergleichsweise 'dunkel' bleiben und für die literaturwissenschaftliche Arbeit am Text nicht problemlos verwendet werden können. Für eine analytische Literaturwissenschaft gilt das zumal, da sich viele der verwendeten Begriffe als kaum operationalisierbar erwiesen.

Diesem Problem des Diskurses über Präsenz begegnet Robert Hermann in seiner Dissertation Präsenztheorie. Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf) (Würzburg: Ergon 2019). Hermann tritt an, eine Präsenztheorie zu entwickeln, die einerseits bestehende Konzeptualisierungen von Präsenz aufgreift und andererseits ein Begriffsinstrumentarium entwickelt, das den Anforderungen einer analytischen Literaturwissenschaft entspricht.




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Seine Arbeit stellt Hermann zunächst ein in die Debatte um die Selbstdiagnose der Geisteswissenschaften, nach dem 'langen Sommer der Theorie' (Philipp Felsch) durchlebe die Theoriebildung zunehmend kältere und kürzere Monate: Wirkmächtige 'Turns' scheint es nicht mehr zu geben, Terry Eagleton lebt im Zeitalter der After Theory, während Mario Grizelj und Oliver Jahraus feststellen, die Geisteswissenschaften erholten sich von den Spätfolgen der langen theoretischen Sommernacht: es herrsche "Theoriemüdigkeit". Hermann spricht bisherigen Ansätzen im Präsenzdenken ein theoretisches Potential zu, theoretische Debatten zu erwecken. Weil das Präsenzdenken jedoch maßgeblich in der Phänomenologie wurzele und Introspektionen vornehme, stelle sich die methodologische Frage nach der literaturwissenschaftlichen Operationalisierbarkeit eines Paradigmas – das der Präsenz –, das Begriffe 'mystisch auflade': Kann Präsenz dennoch als "analytischer Begriff" gebraucht werden?

Die Schwerpunktsetzungen der Arbeit erscheint zunächst ungewöhnlich: Mit den praedecessoren Wittgenstein und Heidegger sowie den einschlägigen zeitgenössischen Präsenzdenkern – George Steiner, Jean-Luc Nancy, Karl Heinz Bohrer, Hans Ulrich Gumbrecht, Martin Seel und Dieter Mersch – stehen insgesamt acht Autoren im theoretischen Zentrum von Hermanns Arbeit. Zunächst bemüht sich Hermann nicht um eine eigene präsenztheoretische Position, sondern referiert ausführlich diese sechs Forschungspositionen, deren Bezüge untereinander er herausstellt und die er kritisch reflektiert. Auf Grundlage dieser ausführlichen Darstellungen zielt Hermann darauf ab, eine Präsenztheorie zu entwickeln, die sich für die analytische Praxis die Geistes- und Kunstwissenschaften als tauglich erweist. Daher schreibt Hermann keine rein theoretische Arbeit: Im zweiten Teil der Arbeit nimmt er drei "Präsenzanalysen" vor und untersucht Rainald Goetz’ Rave (1998), Helmut Kraussers UC (2003) und Wolfgang Herrndorfs Tschick (2010). Dieser zweite Teil bildet ein zweites, etwas schmaleres und folglich in der reinen Masse schwächeres Gravitationszentrum des Buches. Grundsätzlich gelingt die Bezugnahme von Theorie und Anwendung. Beide Teile driften nicht auseinander und sie kollidieren auch nicht, sondern umkreisen und erhellen einander. Im Kernteil der Arbeit definiert Hermann seinen Leitbegriff 'Präsenztheorie' als "Metabegriff" (221).




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Im Unterschied zu einigen der von ihm vorgestellten Präsenzdenker interessiert er sich nicht einzig für literarische Präsenzphänomene, sondern für den Übergang zwischen Präsenz und Sinn: "Präsenztheorie beinhaltet stets beides: die Präsenz-Dimension und die Sinn-Dimension ästhetischer Wahrnehmung." (221) Diesen argumentativen Dreh benötigt Hermann, um sein Programm – die Operationalisierbarkeit der Präsenztheorie für eine analytische Literaturwissenschaft – durchführen zu können. Eine analytische Theorie von Präsenzereignissen ist aufgrund ihrer fehlenden (Sinn-)Stabilität nur schwer zu formulieren. Hermann löst das, indem er definiert: "'Präsenztheorie' bezeichnet eine Theorie zur Analyse artistischer Phänomene, die sowohl die sinnhaft-semiotische als auch die präsentisch-rezeptionsästhetische Dimension von Kunstwerken berücksichtigt und dabei von einer phänomenologischen Einheit der Differenz beider Dimensionen ausgeht." (222)

Nach der Entwicklung eines begrifflichen Analyseinstrumentariums appliziert Hermann seine Präsenztheorie auf die ausgewählten Romane von Goetz, Krausser und Herrndorf. Die Operationalisierbarkeit der Präsenztheorie evaluiert er zuletzt in einem kurzen Fazit. Weil Hermann seine analytischen Begriffe von den von ihm vorgestellten Präsenzdenkern bezieht, werden Hermanns Ausführungen zu den sechs bzw. acht präsenztheoretischen Vordenkern im Folgenden ausführlicher vorgestellt.

Hermann rekonstruiert die verschiedenen Facetten der Präsenztheorie anhand ihrer Autoren. Zur Darstellung der historischen Genese verzichtet Hermann mit Edmund Husserl auf den Gründervater der Phänomenologie, die das Präsenzdenken maßgeblich beeinflusst hat. Stattdessen stellt er Positionen Ludwig Wittgensteins und Martin Heideggers kurz vor und begründet deren Auswahl mit den intertextuellen Bezugnahmen in den Texten der Präsenztheoretiker. Die Gemeinsamkeit in den unterschiedlichen Denkansätzen Wittgensteins und Heideggers verortet Hermann in der "scharfe[n] Kritik beider Autoren am cartesianischen Leib-Seele-Dualismus, dessen sprachliche Manifestation beide im unreflektierten Subjekt-Objekt-Paradigma [...] der abendländischen Philosophie sehen." (31). Heidegger wird von Hermann ausführlich diskutiert. Das beginnt bei seinen – präsenztheoretisch relevanten – Beobachtungen, dass Heideggers Begriff des 'Seins' immer auch mit Ereignissen verbunden sei und dass "Heidegger die menschliche Existenz zunächst nur durch die schiere Tatsache ihrer phänomenologischen Präsenz" (54) charakterisiere.




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Subjektzentrierte Hierarchien lösten sich in der Folge auf, vielmehr bestehe eine Gleichursprünglichkeit: Da-Sein, In-der-Welt-Sein und In-Sein gehörten einander phänomenologisch an. Im Sinne solcher Gleichursprünglichkeit verschmelzen in Augenblickserfahrungen Zeithorizonte und habe Rede und Verstehen Anteil aneinander. Abschließend zeigt Hermann die Konsequenz auf, mit der Heidegger im Sinne seines Konzept des Unterschieds, mit dem er "nach der Vereinigung bestimmter Differenzen [...] zum Zwecke der phänomenalen Differenzüberwindung" (66f.) strebt, sich in "exzentrische Nähe zur literarischen Sprache" (73) begebe. Hierin begründet sich Hermann zufolge auch die große Resonanz, die Heideggers Denken in der Literaturwissenschaft und im Besonderen in der Präsenztheorie erfährt.

Wittgenstein hingegen interessiert Hermann in erster Linie aufgrund seines Tractatus. Er führt kurz dessen Überlegungen zur logischen Form ein, die z.B. eine Grundlage für Dieter Merschs negative Medientheorie bilden. Vor allem nimmt er Bezug auf Wittgensteins Konzepte von 'Sagen' und 'Zeigen' – hier verweist Hermann auf die Nähe zu Heideggers Begriffsdifferenz von 'Seiendem' und 'Sein' (vgl. 52) –, auf die mystische Dimension seines Denkens sowie auf den Solipsismus des Subjekts, der "streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt und einen Zustand erreicht, der einer 'Präsenz' nahekommt. Als entscheidend für die Präsenztheorie erweise sich Wittgensteins Postulat, dass die "Grenze zwischen Subjekt und Objekt in der Sprache selbst nicht überwunden werden kann" (48). In der Auseinandersetzung mit Wittgensteins Metapher der 'Leiter' – sie muss nach dem Ersteigen weggeworfen werden wie sprachliche Sätze zugunsten einer 'mystischen Idealsprache' überwunden werden müssen – entwickelt Hermann die These, "dass im Rahmen der Präsenztheorie genau diese unsinnigen und sinnlosen Sätze die ästhetische Idealsprache der Kunst darstellen." (48)

Auf Grundlage dieser beiden Vordenker verfolgt Hermann anschließend die Präsenztheorie und ihre zunehmende Aufmerksamkeit, die sie von verschiedenen Theoretikern und Philosophen gegen Ende des 20. Jahrhunderts erfährt. So selektiv Hermann seine Vordenker Wittgenstein und Heidegger ausgewählt hat, so oft zeigt er Bezugnahmen aller von ihm vorgestellten Präsenztheoretiker auf diese beiden auf.




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Seine Überblicksdarstellung setzt ein mit George Steiners Buch Real Presences, das er als "erste zentrale Monografie im Rahmen der Präsenztheorie" (80) begreift, weil sie – hier ist Steiner durchaus streitbar und hegt einen theoriekritischem Impetus – der vermeintlichen 'Leere' anderer Ansätze eine eigene, theologisch begründete 'Fülle' gegenüberstelle (vgl. 80). Steiner rücke "den individuellen Schöpfungsprozess des Künstlers wieder stärker in den Vordergrund" (85) und erhebe solcherart die "Produktion von Kunst [...] normativ zu einem moralischen und spirituellen Akt" (87). Dieser Akt der künstlerischen Produktion weise auf die Alterität von Kunst und offenbare damit das "Mysterium" des menschlichen Seins selbst, was Steiner am Beispiel der Musik verdeutliche: "In unserer Fähigkeit", so Steiner, "in Musik Form und Sinn zu komponieren, liegt das Mysterium der Conditio humana begriffen." (88, Steiner: Von realer Gegenwart, 16) Dem entspricht, wie Hermann betont, Steiners Gottesbegriff, demzufolge Gott "nicht als eine reale Entität zu verstehen, sondern vielmehr als ein semantischer Platzhalter für eine unsagbare Prozessualität" (93) steht, die allerdings – was Hermann kritisiert – unvermittelt erlebt werde.

Auch in Jean-Luc Nancy The Birth to Presence von 1993 erweist sich Präsenz als ein 'Geburts'-Phänomen, also als ein Prozess, der sich "als ein ephemeres Phänomen [...] konsequent der Repräsentation" (99) entzieht. Hierin begründe sich ein "Staunen über die Existenz der Welt" (100). Im Unterschied zu Steiners theologischen Reflexionen dürfe Nancys Präsenzbegriff jedoch keinesfalls metaphysisch verstanden werden: "Präsenz ist für Nancy also die phänomenologische Verschmelzung von Immanenz und Transzendenz zu einer säkularen Mystik." (101) Diese These bezieht bereits Nancy selbst auf Kunstwerke und liefert wertvolle Hinweise für eine Methodologie: "Jedes Kunstwerk ist einzigartig und alle Kunstwerke sind gleich. Jedes Kunstwerk ist einzigartig, weil es bestimmte mediale, materielle und motivische Spezifika besitzt [...] und alle Kunstwerke sind gleich, weil die Präsenzeffekte, die sie erzeugen, stets ein Staunen über das Phänomen der Existenz selbst darstellen." (114)




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Den Präsenzeffekten von Kunstwerken im Allgemeinen und Literatur im Besonderen widmet sich auch Karl Heinz Bohrer. Hermann greift insbesondere Bohrers Begriffe der 'Plötzlichkeit', des epiphanen 'Augenblicks' als Ereignis eines 'absoluten Präsens' auf; vor allem Letzterer adressiere den (un)zeitlichen Charakter von Präsenz als reine Gegenwärtigkeit – womit Bohrer zwischen zeitlichem Präsens und räumlicher Präsenz unterscheide (vgl. 119). Ästhetische Augenblicke zeichneten sich durch ihre Intensität aus: "'Ekstasen', 'Epiphanien' oder schlicht 'Augenblicke' seien bei Bohrer also immer als eine Intensitätserfahrung zu verstehen, unabhängig davon, ob diese deutliche Anteile von Glück, Trauer, Melancholie oder Schrecken aufweisen" (124). Hermann weist darauf hin, dass Bohrer seine Thesen zu Präsens und Präsenz an literarischen Texten entfalte, an denen sich ein "Vorrang der ästhetischen Selbstreferenz und einer damit einhergehenden Autonomie der Kunst" (129) begründen lasse. Diese Prämisse führe Bohrer zurück zu den Frühromantikern, bei denen er "zwischen den Geschichtsphilosophen des Deutschen Idealismus und 'wahren' ästhetischen Theoretikern" (130) unterscheide, um alle teleologische Indienstnahme der Kunst zu vermeiden. Abschließend weist Hermann darauf hin, dass Bohrer, obgleich Literaturwissenschaftler, seine Arbeiten zu 'Plötzlichkeit', 'Augenblick' und 'absolutem Präsens' nicht mit einem entsprechenden Analyseinstrumentarium fundiere: "[E]ine ausführliche Schilderung der sprachlich-formalen Mittel, die ein absolutes Präsens erzeugen könnten, sucht man bei ihm vergebens." (134)

Das gelte nicht für Martin Seel: Ihm gehe es in seinen Arbeiten zum 'Erscheinen' darum, eine phänomenologisch inspirierte und an Heidegger geschulte Theorie ästhetischer Ereignisse zu schreiben. Dazu differenziere Seel zwischen bloßem, ästhetischem und artistischem Erscheinen, das sich je in 'Augenblicken' ereignet, in dem "die Grenze zwischen Subjekt und Objekt phänomenologisch" (142) aufgehoben wird. Das führe zur vermeintlichen contradictio in adjecto 'aktiver Passivität', die Seel in drei aktive und passive Phasen unterteile, die gegeneinander vertauscht werden können: 'Sicheinlassen', 'Erleben' und 'Reflektieren' (vgl. 144). Im Moment des Erscheinens erlange die Kunst mystische Qualität, die gleichwohl "kein rein geistiges Phänomen" darstelle, "sondern ebenso ein intensives körperliches und emotionales Erlebnis" (147) und also gänzlich säkular zu verstehen sei. Abschließend stellt Hermann Seels Begriff des 'Rauschens' vor: "Objekte ästhetischer Anschauung [besitzen] das Potential [...], durch ihr performatives Rauschen einen subjektiven Rausch zu bewirken" (149). Hermann argumentiert, dass Seel in verschiedenen Analysen literarischer Texte über "stilistische, sprachlich-konzeptionelle und erzähltheoretische" Analysen die Texte im Sinne seines Verständnisses von 'Erscheinen' und 'Rauschen' lese und damit Theorie der Präsenz ein erstes Mal mit einem analytischen Instrumentarium verbinde (155).




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Dieter Mersch hingegen widmet sich in seinen Arbeiten stärker den medien- und zeichentheoretischen Grundlagen von Präsenz. Hermann gibt einen Überblick über die wesentlichen Begriffe in Merschs Publikationen zum Thema (vgl. 158) und stellt dann anhand der materialen und (a)medialen Aspekte von Zeichen Merschs Medienverständnis vor:

"Merschs Amedialität zeichnet sich [...] durch eine Unsagbarkeit aus, die eine präsentische Realität besitzt [...]. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass 'Materialität' und 'Amedialität' zwei Begriffe darstellen, die vor allem auf das Unsagbare, aber intensive körperliche Erlebnis einer medial evozierten negativen Metaphysik rekurrieren, wobei Merschs Medienbegriff [...] streng technisch zu verstehen ist." (163)

Ausgehend von diesem Medienbegriff stellt Hermann die Begriffe der 'Alterität' – als "jede Form von wahrgenommener Fremdheit" (165) – und der 'Responsivität' – als Offenheit für das Angesprochenwerden – sowie der 'Störung' genauer vor: "In einem artistischen Kontext besitzen mediale Störungen also die Fähigkeit, einen phänomenologischen Zwischen-Raum aufzureißen, der von unsagbarer Amedialität und wirkungsmächtiger Materialität geprägt ist." (171) Gerade hier kann der Wechsel von 'Leere' zur 'Fülle' sich ereignen, genau dann, wenn der Wechsel "semiotische[r] und semiologische[r] Unbestimmbarkeiten" als "ein 'Sein', ein 'Ereignis' oder als eine 'Fülle' erfahren" wird. (173)

Eine Abwendung von der klassischen Analyse semantischer Strukturen und von Interpretamenten vollziehe auch Hans Ulrich Gumbrecht, der 'Präsenz' und 'Sinn' als Gegensatzpaar begreift, zwischen dessen Polen das "menschliche Bewusstsein [...] oszillieren" (183) könne. Hermann merkt an, dass Gumbrecht diese Kippbewegung nur selten als Bewegung reflektiere und er "statt der graduellen Schwankung zweier Zustandsgrößen eher das Bild einer Kippfigur heraufbe[schwört], die keine Vermengungen, keinen Austausch und kein Zusammenwirken beider Phänomene gestattet" (183). Zur Fundierung seines Präsenzbegriffs führe Gumbrecht v.a. im Anschluss an Heidegger die Begriffe 'Substanz' und 'Epiphanie' ein. Diese Heidegger-Rekurse stellten, so Hermann, allerdings "klare Fehllektüren" (189) dar, die Gumbrecht womöglich von Bohrer beziehe. Wie Bohrer stütze Gumbrecht seine Argumentation auf die 'Intensität' menschlicher Erfahrungen, durch die erst 'Substanzialität' erreicht werde: "'Substanz' meint das Potenzial ästhetischer Objekte oder Ereignisse, intensive Emotionen auszulösen." (192)




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Ähnlich wie Seel mit seinem Begriff des 'Rauschens' schreibe Gumbrecht Texten das Potenzial zu, 'Stimmungen' zu erzeugen, für das "nicht nur explizite Beschreibungen auf der Erzählebene oder auffällige Geschehnisse auf der Handlungsebene Stimmungen kreieren können, sondern auch subtilere Phänomene wie Rhythmus, Syntax oder Metaphern" (195). Vor diesem Hintergrund stelle Gumbrecht drei Grundregeln für literaturwissenschaftliche Stimmungsanalysen auf (vgl. 196), die er – wie Hermann auffächert – an verschiedenen Autoren der Literaturgeschichte von Walther von der Vogelweide bis Shakespeare durchführt.

Im Anschluss an diese sehr ausführlichen Vorstellungen bisheriger Beiträge zum Präsenzdenken stellt Hermann äquivalente oder ähnliche Begriffe zusammen wie Bohrers 'Augenblick', Seels 'Rausch' und Gumbrechts 'Epiphanie' und beschreibt – übersichtlich in Tabellen geordnet – deren Analogie und Differenz. Seine Begriffe bildet Hermann also nicht selbst, sondern bezieht sie von den referierten Präsenzdenkern; gleichwohl strukturiert er sie und setzt sie in Beziehung zueinander. Auf diese Weise entwickelt Hermann das Begriffsinstrumentarium für die Anwendung einer solcherart methodologisch aufbereiteten Präsenztheorie aus. Daher ist die recht knappe 'vergleichende Zusammenfassung der Ansätze' (207-222) das eigentliche Scharnier der Arbeit. Dieses Scharnier wird geölt durch die Reflexion über 'problematische Begriffe' (222-230) wie Metaphysik, Mystik, Esoterik und Spiritualismus, die im Kontext der Präsenztheorie auftauchen. Eine Auffächerung der 'Unterschiede zu anderen Denktraditionen beschließt den Mittelteil der Arbeit (231-259). In diesem Kapitel setzt Hermann seine Präsenztheorie ins Verhältnis zu anderen Theoriekonzepten: zu den Differenztheorien im Gesamten, zur Rezeptionsästhetik, Emotionsforschung, Phänomenologie und Anthropologie im Besonderen. Über die Länge der gesamten Arbeit spart Hermann Kritikpunkte an der Präsenztheorie nicht aus. So hebt er beispielsweise die im Kontext des Diskurses über Präsenz autoantonymische Begriffsverwendung von 'Metaphysik' hervor (vgl. 77).

In seinen drei Primärtextanalysen wendet Hermann die von ihm von den Präsenzdenkern übernommenen und operationalisierten Begriffe an. Die Primärtextanalysen von Rainald Goetz’ Rave, Helmut Kraussers UC und Wolfgang Herrndorfs Tschick sind – so scheint dem Verfasser – präsenztheoretische Exempel




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und verfolgen kein weitergreifendes Argumentationsziel, was aber die Ausrichtung der Arbeit womöglich auch verunklaren würde. Hermann zufolge zeigen seine Präsenzanalysen, dass die von ihm als Exempel ausgewählten Texte zugänglich für präsenztheoretisch fundierte Analysen sind. Hermann geht es um "den Nachweis und die Explikation von Präsenzpotentialen" (392). Daher hält er bzgl. Herrndorfs Tschick fest: Die "präsenztheoretische Betrachtung von Tschick" habe "gezeigt, dass auch ein Text mit populärer bzw. populärrealistischer Ausrichtung mit dem Instrumentarium der Präsenztheorie auf fruchtbare und interessante Weise analysiert werden kann" (388). Die präsenztheoretisch fundierten Beispielanalysen gelingen; daher passt Hermann seine Präsenztheorie nicht abschließend an: Sie habe "sich im Verlauf der Applikationen bewährt" (393) und ihren Mehrwert unter Beweis gestellt, der "in der mehrdimensionalen Ausrichtung der Theorie besteht, die neben Aspekten der Semiosis und der Sinnbildung auch den Rezipienten und seine körperlich-emotionalen Erlebnisse theoretisch miteinbezieht" (395).

Hermanns Entwicklung einer Präsenztheorie leistet zunächst einmal Grundlagenarbeit: Sie gibt einen Überblick über die Argumentationen und Begriffe einzelner Präsenzdenker sowie über unterschiedliche Begriffsverwendungen. Hermann integriert zahlreiche Schaubilder und Tabellen in die Darstellungen der jeweiligen theoretischen Positionen. Zugleich bemüht er sich mit seiner Darstellung der vorgestellten Präsenztheorien– bei aller Knappheit des Textraumes – um Umfänglichkeit. Dabei wird, das bringt die Anlage der Arbeit mit sich, die Notwendigkeit der erarbeiteten Theorieaspekte für das später verwendete präsenztheoretische Begriffsinstrumentarium nicht immer direkt sichtbar. Zugleich wahrt Hermann Distanz zu den vorgestellten Theorien und kritisiert verschiedene Argumente, etwa die Heidegger-Rezeption Gumbrechts und Bohrers.

Eine grundsätzliche Frage der Humanities beantwortet die vorliegende Arbeit indes nicht: Indem in ihr das Paradigma eines Präsenzdenkens für eine analytische Begriffsbildung geöffnet wird, fragt sie nicht umgekehrt nach der kritischen Überprüfungsbedürftigkeit der zunehmend analytischen Programmen verpflichteten Geisteswissenschaft – und beansprucht das auch gar nicht. Hermann selbst bezeichnet im Anschluss an den auf Thomas S. Kuhn zurückgehenden Begriff "Paradigmenwechsel" Präsenz als "neues Paradigma", das "eine neue Begriffsbildung und eine neue Art der Beobachtung" erfordere. (24)




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Damit steht aber auch seine Einordbarkeit in die gegenwärtig gängigen epistemologischen Verfahren der Geisteswissenschaften infrage. Womöglich gilt es, nicht nur aber auch aufgrund der seit drei Jahrzehnten schwelenden und zuletzt wieder aufflammenden Präsenzdebatte – zu der auch diese Monografie Robert Hermanns zählt – auch umgekehrt nach den nichtanalytischen epistemologischen Potentialen eines nicht nur neuen, sondern auch 'anderen' Paradigmas zu fragen.

Unabhängig von dieser grundsätzlichen Frage ab öffnet Robert Hermann in Präsenztheorie. Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf) die Präsenztheorie für eine analytisch operierende Literaturwissenschaft und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer notwendigen und im Hinblick auf Präsenzphänomene noch nicht zu Ende geführten Debatte über die theoretischen, methodischen und epistemischen Grundlagen literaturwissenschaftlicher Arbeit.