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Max Diehm (Heidelberg/Yale)



Marc Wurich (2019): Urbanitätserfahrung und Erzählen. Berlin-Romane zwischen 1880 und 1920. Baden-Baden: Ergon (Klassische Moderne, Band 37).

Marc Wurich setzt sich in seiner 2019 bei Ergon erschienenen Abhandlung zum Ziel, "die Geschichte des Genres Berlin-Roman […] für den Zeitraum zwischen 1880 und 1920 eingehender als bisher [zu] beleuchten, um damit zu verdeutlichen, dass zwischen 'Fontanopolis' und Döblins Berlin Alexanderplatz durchaus beachtliche Versuche unternommen wurden, die charakteristischen Moderne-Erfahrungen einer neuen urbanen Realität in ein adäquates Erzählen zu überführen. Damit soll eine nicht länger tolerierbare Lücke in der historischen Entwicklung eines der bedeutendsten und populärsten literarischen Genres des 19., 20. und vermutlich auch des 21. Jahrhunderts geschlossen werden." (19) Die Arbeit hat er im Wintersemester 2016/17 bei der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation eingereicht, wo sie im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs 1767 "Faktuales und fiktionales Erzählen" entstand.

Gleich zu Beginn problematisiert Wurich die bisher eher einseitige Behandlung des Themas Berlinroman, die sich oftmals, wie im Eingangszitat angedeutet, auf die Betrachtung des Berlins der Romane Theodor Fontanes und des bekanntesten Berlinromans von Alfred Döblin beschränke. Damit zeigt der Autor zugleich eine Gefahr des Themas auf: Berlin Alexanderplatz als den Prototyp des Berlinromans zu verstehen und all "die hier untersuchten Texte retrospektiv an diesem zu messen". (20)




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Um zu zeigen, dass das Genre des Berlinromans eines spezifischen narratologischen Zugangs bedarf, widmet sich der Autor im ersten Teil seiner Arbeit methodologischen Grundlagen, die die diskursiven Strukturen der Texte erläutern und hervorheben sollen. Im zweiten Teil des Buchs arbeitet Wurich die zuvor dargelegten narrativen Strategien anhand von fünf Einzelstudien heraus. An ihnen erläutert er die Entwicklung des Berlinromans unter Berücksichtigung der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und der narrativen Gestaltung des Großstadtdiskurses. Die Wahl des Betrachtungszeitraums legt er dabei nachvollziehbar dar: Er beginnt mit dem Aufkommen des Naturalismus um 1880, was oftmals als Beginn der literarischen Moderne angesehen wird, und schließt mit dem Beginn der Weimarer Republik, was durch das Ende des Ersten Weltkriegs als politischer Zäsur und der Tendenz zur Neuen Sachlichkeit in der Literatur als plausibler Schlusspunkt angenommen werden kann. Gerade um den Erfolg der Romane der Weimarer Republik zu verstehen, sei es wichtig, die Vorarbeiten, die ab 1880 auf dem Gebiet geleistet wurden, zu berücksichtigen. (25ff.) Mit Wolfgang Kirchbach, Max Kretzer, Wilhelm Bölsche und Georg Hermann wendet Wurich sich Autoren zu, die weitgehend in Vergessenheit geraten sind, und schließt seine Arbeit mit einem weniger prominenten Text Döblins.

Wurich berücksichtigt sowohl die inhaltliche als auch die formale Modernisierung des Erzählens zwischen 1880 und 1920. Er macht den Berlinroman als spezifisch moderne Problemlösungsstrategie und Realitätsbewältigung der veränderten Wahrnehmung einer sich wandelnden urbanen Umwelt stark. Unter Rückgriff auf die wirkmächtigen Poetiken des 19. Jahrhunderts von Spielhagen und Zola beleuchtet Wurich die Entwicklung des Großstadtromans und die entscheidenden Fragen nach Objektivität und Subjektivität der Darstellung. So zeichnet der Autor die Genesis der Moderne als eine Entwicklung von den mimetischen Verfahren des Naturalismus hin zur wachsenden Subjektivierung und der "ästhetischen Ambiguität der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts" nach. (68) Um diese Entwicklung besser verstehen zu können, beruft sich Wurich auf drei narrative Strategien – Referentialisierung, Perspektivierung und Semantisierung –, die er später in den Einzelanalysen der Texte identifiziert und deren Bedeutung für die Konstitution des Berlinromans der Moderne unterstreicht. Darüber hinaus setzt sich Wurich mit der Frage des fiktionalen und faktualen Erzählens auseinander. Er beschäftigt sich mit verschiedenen Fiktionalitätstheorien (Hamburger, Blume, Bareis, Walton) und damit auch mit der Frage nach produktionsästhetischen wie rezeptionsästhetischen Zugriffen. (85–93)




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Mit der Wahl Wolfgang Kirchbachs setzt Wurich einen überzeugenden Startpunkt seiner Einzelanalysen. Kirchbach sei eher den Realisten zuzuordnen und wird von Wurich klar von den Naturalisten abgegrenzt. In Kirchbachs Roman Reichshauptstadt von 1883 sieht Wurich besonders das Konzept der Perspektivierung verdeutlicht, durch das dem Leser die Errungenschaften der Moderne nähergebracht werden sollen. Mit der Erzählung einer Stadtbahnfahrt wählt er ein treffendes Beispiel, um seine These von der Bedeutung der Perspektivierung und deren narrativem Gehalt für die Moderne in Verbindung mit der Technisierung zu verdeutlichen. Entscheidend für Kirchbachs Erzählen sei die figurale Perspektive, aus der jedoch detaillierte und konkrete Informationen über das Leben in der Großstadt gegeben werden, womit es sich für Wurich bestens eignet, um das Spannungsfeld zwischen Fiktionalität und faktualem Anspruch auszuloten. (119–132)

Von dem noch weitgehend poetisch-realistischen Kirchbach geht Wurich zu einem Autor über, der die Großstadt Berlin mit naturalistischem Zugriff erfasst und vor allem die in der Zeit allgegenwärtigen Themen der sozialen Frage, des Milieus und der Schattenseiten der modernen Großstadt aufgreift: Max Kretzer. Dieser zeichnet sich besonders durch seine Erschließung dieser neuen Themenfelder aus, aber nicht zuletzt auch durch seine programmatische Auseinandersetzung mit dem Berliner Roman sowie die autobiographische Anbindung an seinen Erzählgegenstand. Anhand von Kretzers Roman Die Verkommenen (1883), der vom sozialen Abstieg einer Familie erzählt, die letztlich durch das großstädtische Milieu korrumpiert wird, zeigt Wurich die Bedeutung der drei von ihm identifizierten Erzählstrategien auf, die er bei Kretzer allesamt vereint sieht. (149) Er verweist besonders auf die Steigerung der Authentizität durch die Referenzen zur außerliterarischen Welt, die letztlich den sozialkritischen Gehalt des naturalistischen Erzählens unterstreicht. (160f.)

Im Roman Die Mittagsgöttin (1891) des vielseitigen Theoretikers, Literaten und Sachbuchautors Wilhelm Bölsche sieht Wurich vor allem die Semantisierung des Raumes als entscheidendes strukturgebendes Prinzip. (180)




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In der räumlichen Wahrnehmung unterscheide sich der Text bereits stark von der engagierten Literatur des Naturalismus, wie beispielsweise bei Kretzer, und zeige bereits Elemente impressionistischen, symbolistischen und expressionistischen Erzählens. (174 u. 191) Mit Blick auf Bölsches wissenschaftlichen Anspruch verweist Wurich erneut auf ein Spannungsfeld zwischen Fiktionalität und Faktualität: "Wie auch in seinen späteren populärwissenschaftlichen Arbeiten beabsichtigte Bölsche auch in seinem Gegenwartsroman mit zum Teil genuin literarischen Verfahren eine Anschaulichkeit zeitgenössischer Themen zu vermitteln, die den wissenschaftlichen Diskurs für ein breites Lesepublikum in verständliche Sprache überführen sollte, ohne dabei den Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und Genauigkeit einzubüßen." (193)

Georg Hermann zeichne sich besonders, so Wurich, durch sein spezifisch "berlinisches Erzählen" aus und sein Selbstverständnis als Dilettant, "der sich zeitlebens gegen jeglichen literarischen Formalismus zu bewahren wusste und der stets das Ungezwungene und Unernste eines erzählerischen Plaudertons der strikten Komposition vorzog". (201) Gerade aufgrund der starken autobiographischen Prägung der frühen Romane Hermanns spielen diese für Wurichs Untersuchung des Fiktionalitätsdiskurses eine entscheidende Rolle. Ihm gelingt es, auf relativ kleinem Raum ein rundes Bild des weitgehend vergessenen Autors Georg Hermann zu vermitteln. Wurich zeichnet anhand von Hermanns literarischem Schaffen sehr glaubhaft die Entwicklung vom Naturalismus über den Impressionismus zum Expressionismus als Verschiebung der Wirklichkeitswahrnehmung und deren Darstellung von der angestrebten Objektivität zur Subjektivität nach.

Mit Alfred Döblin hebt sich Wurich den bekanntesten Autor für den Schluss seiner Abhandlung auf. Dankbarerweise widmet er sich in seiner Einzelanalyse nicht dem vielfach erforschten Erfolgsroman Berlin Alexanderplatz, sondern zeigt anhand des unbekannteren Romans Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine (1918) den Einfluss des Futurismus auf Döblins Berlindarstellung auf und erläutert dessen Auseinandersetzung mit dem Werk Filippo Tommaso Marinettis.




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Da die Texte, auf die sich Wurich in seinem Buch bezieht, den meisten Lesern nicht vertraut sein dürften, fasst er diese inhaltlich stets konzise, informativ und übersichtlich zusammen, was den Zugang zu den von ihm behandelten Werken und damit auch seiner Untersuchung deutlich erleichtert. Seine Verwendung der narratologischen Terminologie wirkt jedoch mitunter willkürlich, was seiner Analyse und der damit verbundenen Argumentationsführung teilweise die Klarheit und Wirkkraft nimmt. So vermischt er durchgehend die Terminologien Stanzels und Genettes. Hier hätte ein höheres Maß an Präzision seinen klugen und einleuchtenden Beobachtungen einen stärkeren Ausdruck verliehen. Seine Annäherung an das Thema Berlinroman sowohl aus thematologischer als auch narratologischer Perspektive ist schlüssig und die Identifizierung der drei von ihm etablierten Erzählstrategien überzeugend. So zeichnet sich sein Text vor allem durch die akribischen theoretischen Vorüberlegungen aus, in denen er seine Thesen über Referentialisierung, Perspektivierung und Semantisierung gründlich vorbereitet und schließlich in den Einzelanalysen konsequent anwendet. Er schafft es nicht nur, die Entwicklung des Genres Berlinroman gut nachzuzeichnen, sondern darüber hinaus dessen spezifische erzähltechnische Charakteristika zu verdeutlichen. Gerade mit Blick auf den Entstehungskontext der Arbeit sei zu erwähnen, dass auch das wechselseitige Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität zusätzlich erhellend zur narratologischen Betrachtung beiträgt. Nicht zuletzt gelingt es Wurich, Autoren von Berlinromanen, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind, eine angemessene Anerkennung ihrer Verdienste um die Entwicklung einer bedeutenden Gattung der Moderne zu Teil werden zu lassen.