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Zouheir Soukah (Düsseldorf)



Al-Maaly, Khalid (Hg.) (2017): Die Flügel meines schweren Herzens. Lyrik arabischer Dichterinnen vom 5. Jahrhundert bis heute. Zürich: Manesse Verlag.

Zweifelsohne genießt die arabische Lyrik eine ganz besondere Stellung nicht nur in der Geschichte der arabischen Literatur, sondern selbst im arabischen kulturellen Gedächtnis. Darin wurde und wird diese literarische Gattung als die wichtigste, wenn nicht sogar die beliebteste unter allen literarischen Gattungen betrachtet. Zudem gilt sie als die älteste literarische Gattung, die die Araber schon in der vorislamischen Zeit so hochgeschätzt haben, dass sie sie in Anthologien schriftlich fixiert haben. Zu den wichtigsten dieser Anthologien zählen die sieben Mu'allakat, die die Gedichte der wichtigsten arabischen Dichter der vorislamischen Zeit darstellen. Dennoch war die Dichtung keine reine Männersache. Schon in der vorislamischen Zeit gab es zahlreiche arabische Dichterinnen, die jedoch wenige Gedichte und viele Gedichtfragmente hinterlassen haben, die erst später in verschiedenen und verstreuten Anthologien gesammelt wurden. Dabei handelt es sich meistens um "Gedichte, die […] über Generationen und Jahrhunderte hinweg nur mündlich überliefert wurden, sodass ihre Authentizität nicht immer verbürgt ist" (173). Aus all diesen Gründen ist es nicht verwunderlich, dass arabische sowie internationale Anthologien über die arabischen Dichterinnen und ihre Lyrik, vor allem vor dem Zweiten Weltkrieg, Raritäten sind. Dazu gehören unter anderem Classical Poems by Arab Women (1999), Diván de poetisas árabes contemporáneas (2016) sowie auch die zweisprachige Anthologie Die Flügel meines schweren Herzens, die ausgewählte lyrische Texte einiger arabischen Dichterinnen vom 5. Jahrhundert bis in die Gegenwart und deren deutsche Übersetzung enthält.




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Sie erschien zunächst 2008 und wurde 2017 in einer neuen Ausgabe mit weiteren Gedichten zeitgenössischer jüngerer Dichterinnen aus dem arabischen Raum erweitert, da sie "das Geschehen der letzten Jahre im Nahen Osten und in Nordafrika poetisch widerspiegeln und sich vor allem mit den Themen Krieg, Flucht und Zerstörung auseinandersetzen" (178), so Khalid Al-Maaly, der die Texte dieser Anthologie zusammen mit Heribert Becker herausgegeben und übersetzt hat.

Die Anthologie ist chronologisch strukturiert, deshalb beginnt sie mit Gedichten einiger arabischer Dichterinnen aus der vorislamischen Epoche, also bis zum 7. Jahrhundert, wie beispielsweise Laiyla Al-Afifa (gest. 438), dann Ashraka Al-Muharibiya und Al-Khansa (gest. 646), die berühmteste Dichterin in der arabischen Literatur. Dabei handelt es sich um einfache und direkte Gedichte, deren Thema vor allem "Trauer und Totenklage" (173) sowie auch Liebe ist. "Eine schriftliche Fixierung" dieser Gedichte "erfolgte erst in der Mitte des 9. Jahrhunderts" (ebd.), jedoch "verstreut in Literaturenzyklopädien" (174).

Besser dokumentiert sind die in der frühislamischen und umayyadischen Epoche entstandenen Gedichte von beispielsweise Laila Al Amiriyya, der Geliebten des berühmten Dichters Qais bin Muad (Madschnun Laila), sowie Layla al-Akhyaliyya (gest. 709) und Rabia al-Adawiyya (gest. 801). Es folgen weitere Texte aus der Abbasidenzeit wie die von Arib Al-Mamunia (gest. 890-91), Aa'isha bint al-Mu'tasim, und Safiyya al-Baghdadiyya sowie auch Texte einiger berühmter andalusischer Dichterinnen wie Aisha al-Qurtubiyya, Hafsa bint Hamdun, Wallada bint al-Mustakfi (gest. 1091) und Hafsa Al-Rukuniyya (gest. 1190/91). Dabei handelt es sich inhaltlich nicht mehr um die alten Themen aus der früheren Epoche der arabischen weiblichen Dichtung wie Trauer und Totenklage und Lobgesänge an den Stamm, sondern um verschiedene Themen wie Liebesklagen und Texte, die "Aufstachlung zum militärischen Kampf" beinhalten, sowie "Wiegenlieder" und "Preisgedichte auf bekannte Herrschergestalten" (176), Liebesgedichte und sogar Spott- und Schmähverse "gegen den Mann, gegen Neider und Verleumder" (ebd.). Dies spiegelt die bedeutende Lage der arabischen Frau zu jenen Zeiten ganz genau wider. In dieser Hinsicht dichtete beispielsweise die abbasinische Dichterin Arib Al-Mamunia:

Und ihr seid Menschen, Betrug ist eine feste Eigenschaft
Von euch, ihr habt viele Gesichter und zehn Zungen. (49)




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Zudem sehnten sich die arabischen Dichterinnen zu jener Zeit nach ihren Heimatorten und ihrem ursprünglichen Leben auf dem Land. Dazu dichtete Maisun Bint Bahdal Al-Kalbia, die Ehefrau des Muawiya I., des Begründers der Ummayden-Dynastie:

Die Härte meines Daseins als Beduinin
ist mir lieber als das bequeme Leben –
ich will nirgendwo als zu Hause sein,
das genügt mir als edle Heimstatt. (29).

Auch hat sich der Kreis der Liebeslyrik thematisch weiter entfaltet. Es entstanden Texte, die platonische, körperliche sowie mystische Liebe widerspiegeln (176) wie das Gedicht von der berühmten Laila Al-'Amariya, der Geliebten des Al-Majnun:

Der Madjnun war in keinem Zustand,
in welchem nicht auch ich selbst mich befand,
doch er deckte das Geheimnis seiner Leidenschaft auf,
während ich vor lauter Verbergen dahinschmolz. (27)




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Die andalusische Zeit war auch unter anderem die Blütezeit der arabischen Literatur und insbesondere der weiblichen Lyrik. Damals wurden sogar Ghasel-Dichtungen von andalusischen Dichterinnen geschrieben, eine Gattung, die derzeit üblicherweise von männlichen Dichtern an weibliche Geliebte gerichtet war. Dieser Umstand allein kann vieles über die bedeutende gesellschaftliche Stellung der arabischen Dichterin aus jener Zeit sagen – sie "nahm am intellektuellen und künstlerischen Leben teil" (175). Das folgende Gedichtfragment von der andalusischen Dichterin Hafsa Al-Rukunia (gest. 1191) zeigt deutlich, inwieweit die arabische Dichterin frei in ihrer poetischen Auseinandersetzung war:

Ich bin eifersüchtig auf die Augen meines Wächters,
auf dich, auf deine Zeit und den Ort, an dem du bist,
und selbst wenn ich dich bis zum Jüngsten Tage,
in meinen Augen verstecke,
so kann mir das nicht genügen. (77)

Die andalusische Dichterin verfügte auch – so Al-Maaly – über "ein entsprechendes gesteigertes Selbstgefühl" angesichts ihrer hohen Stellung und die gesellschaftliche Freiheit, die sie besaß. In diesem Sinne dichtete Aisha Al-Qurtubia:

Ich bin eine Löwin, doch geb' ich mich nicht zufrieden
damit, mein Leben lang jemandes Ruhelager zu sein.
Und sollt' ich einmal für einen mich entscheiden, werde ich
keinen Hund auswählen, nachdem ich nicht einmal Löwen erhörte. (59)

Außer einem kleinen Fragment von Shamsa Al-Moselia, einer Dichterin aus dem 13. Jahrhundert, findet man in dieser Anthologie keinen weiteren Text, vor allem nach der Eroberung Bagdads durch die Mongolen (1258). Diese Lücke, die bis zum 20. Jahrhundert dauert, rechtfertigt Al-Maaly mit dem Hinweis, dass "[d]ie literarische Qualität der in dieser langen Zeitspanne von Frauen verfassten, lyrischen Dichtung […] sehr unterschiedlich [ist]" (176). Die Auswahl dieser Anthologie setzt sich fort mit den zwei bedeutenden Vertreterinnen der modernen arabischen Lyrik: Fadwa Tuqan (1917–2003) und Nazik Al-Mala'ika (1923–2007). Die Texte der beiden Dichterinnen explizieren die neue Lage der Frauen in den arabischen Ländern während und nach dem westeuropäischen Kolonialismus des arabischen Raumes. Die Irakerin Nazik Al-Mala'ika beschreibt die Problematik der weiblichen Identität in den arabischen Gesellschaften folgendermaßen:




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Und das Selbst fragt, wer ich sei,
Ich bin ratlos wie es und starre ins Dunkel,
nichts schenkt mir Frieden.
Ich stelle unaufhörlich Fragen, und stets
verbirgt ein Trugbild die Antwort. (87)

Auch die palästinensische Dichterin Fadwa Tuqan behandelt die zerrissene "Ratlosigkeit" der arabischen Frau gegenüber der Tradition und Modernität der arabischen Welt:

Ich bin ratlos! Mich lieben zwei,
beide wie Blumen des Aprils,
beide süße als Zucker. Wenn liebe ich mehr?
O meine Palme, wer von ihnen ist schöner?
Sag's meinem Herzen, ich weiß nicht weiter. (83).

Die beiden Dichterinnen gehören zu den Pionieren der freien arabischen Lyrik und hatten einen enormen Einfluss auf zahlreiche arabische Dichterinnen, deren Zahl nach der Dekolonisation der meisten arabischen Länder deutlich anstieg, vor allem aufgrund des leichteren Zugangs zur Bildung. Dazu gehören unter anderen Saniya Salih und Aisha Arna'ut (Syrien), Sabah Al-Kharrat-Zwein (Libanon), Wafa' Al-Amrani (Marokko), Sa'adiya Mufarrih (Kuwait) und Hamda Khamis (Bahrain) sowie Huda Ablan (Yemen).

Die Anthologie enthält in ihrer zweiten Auflage zudem zehn weitere Texte von jüngeren arabischen Dichterinnen wie beispielsweise Kholoud Elfallah (Lybien), Rana Al-Tonsi (Ägypten), Widad Nabi und Bassma Shikho (Syrien) sowie Mona Karim und Mariam Al-Attar (Irak).

In den meisten Texten der jüngeren arabischen Dichterinnen spiegelt sich der arabische Frühling samt seinen Widersprüchen wider. Hier herrschen Themen wie Bürgerkrieg, Flucht, aber auch Freiheit und Demokratie, die nun im Gedächtnis der arabischen Lyrik fixiert wurden, wenn Khaloud Elfallah beispielsweise über die aktuelle Lage in ihrem Land, Lybien, schreibt:

Der Tag beginnt
Mit ganz normalen Dingen
Die Fensterscheiben erzittern von den detonierenden
Bomben
Einen Augenblick lang hört das Herz auf zu schlagen
dann pocht es weiter
Und das Weinen bleibt in den Kehlen der Frauen
stecken. (141)




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Währenddessen behandelt Mariam Al-Attar aus dem Irak das Thema Flucht in ihrem Land wie folgt:

Ich bin die Tochter jenes Schädels
Der an der Grenze gefunden wurde
Ich bin die Mutter jenes kleinen Mädchens
Das seinen Körper in den Flüchtlingscamps verkaufen muss. (165)

Und nicht zuletzt beschreibt die syrische Dichterin Bassma Shaikho ihre Stadt Damaskus angesichts des jetzigen syrischen Bürgerkriegs:

Was tu' ich noch hier?
Allein in dieser Stadt
Ich läute sonntags die Glocken ihrer Kirchen
Und rufe von jedem Minarett herab zum Gebet
Ich rufe nach den Verschollenen
Und bete für alle, die fortgegangen sind
Ich gehe auf den Märkten umher
Käufer und Verkäufer bin ich (155).

Trotz der Wichtigkeit dieser Themen wurden hier dennoch zahlreiche aktuelle Tendenzen in der modernen arabischen Lyrik sowie auch andere jüngere Lyrikerinnen außer Acht gelassen. Dies kann jedoch damit gerechtfertigt werden, dass der begrenzte Umfang der Anthologie ihre Berücksichtigung nicht ermöglicht. Auf diese Rechtfertigung stützt sich Al-Maalyi auch für seine Entscheidung, keine Texte bzw. Textfragmente aus der Zeit zwischen dem 13. und dem 20. Jahrhundert zu liefern. Aus diesem Grund plädiere ich dafür, dass in der kommenden dritten Auflage noch weitere lyrische Texte enthalten sein sollten, die diese riesige zeitliche Kluft schließen. Selbst Al-Maaliy gesteht, dass es in jener Zeitspanne "durchaus nennenswerte Dichterinnen gegeben [hat]". (176) Verbesserungsbedürftig wäre hier auch die deutsche Übersetzung, die vor allem stilistisch gegenüber den Originaltexten sehr bescheiden wirkt. Ein deutscher Leser, der über keine Arabisch-Kenntnisse verfügt, kann anhand der einheitlichen Übersetzung kaum die hier bestehenden stilistischen und poetischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten der arabischen Lyrik erkennen, wie etwa die vorislamische, klassische oder moderne freie Lyrik, um nur einige Beispiele zu erwähnen. Dennoch scheint das prioritäre Ziel dieser Art der vereinfachten Übersetzung darin zu bestehen, dem deutschen Leser einen guten Überblick über die arabische weibliche Lyrik zu vermitteln und deren sprachlich-stilistische und poetische Entwicklung durch aufwendige Übersetzung genauer widerzugeben. Bemerkenswert ist, dass die zweisprachige Anthologie selbst eine poetische Würdigung dieser fast vergessenen arabischen Gattung, der weiblichen Lyrik, nicht nur im arabischen, sondern auch im westlichen Kulturraum darstellt. Dies bestätigt die wichtige Rolle, die die literarische Übersetzung als Medium des transkulturellen Gedächtnisses spielen kann.