Eva-Maria Konrad (Frankfurt) Franzen, Johannes / Galke-Janzen, Patrick / Janzen, Frauke / Wurich, Marc (Hg.) (2018): Geschichte der Fiktionalität. Diachrone Perspektiven auf ein kulturelles Konzept. Baden-Baden: Ergon.Die von
Johannes Franzen, Patrick Galke-Janzen, Frauke Janzen und Marc Wurich
herausgegebene Sammelschrift Geschichte
der Fiktionalität. Diachrone Perspektiven auf ein kulturelles Konzept geht
auf eine Tagung am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) im November
2014 zurück und gehört zur Schriftenreihe des Graduiertenkollegs "Faktuales
und fiktionales Erzählen". Mit der Geschichte des Fiktionalität wendet
sich der Band einem wichtigen, wenngleich häufig vernachlässigten Thema zu:
Obwohl die deutschsprachigen Veröffentlichungen zum Thema "Fiktionalität"
in den letzten beiden Jahrzehnten sprunghaft angestiegen sind (von den
Publikationen im englischsprachigen Raum ganz zu schweigen), handelt es sich
dabei doch in erster Linie um systematische Analysen des Begriffes oder – wenn
denn eine historische Perspektive eingenommen wurde – um synchrone Untersuchungen
bestimmter Zeiträume oder Genres. Das Phänomen der Fiktionalität diachron in den Blick zu nehmen, wie es
der vorliegende Band verspricht, ist dagegen nur selten versucht worden (etwa
in Teilen des von Klauk/Köppe herausgegebenen Handbuchs Fiktionalität, aus dem fast alle Beiträge der Sammelschrift
zitieren). Dass die
Untersuchung einer Geschichte der Fiktionalität ein Forschungsdesiderat
darstellt, heben auch die Herausgeber in ihrer gelungenen Einleitung hervor. Gleich
zu Beginn benennen sie auch die Ursache für die Zurückhaltung der Forschung,
indem sie darauf hinweisen, dass der "umfassende interdisziplinäre
Anspruch" (9) dieses Unternehmens, das eine "Expertise in allen
historischen und philologischen Disziplinen" (9) voraussetze, schwer einzulösen
sei. Auch der vorliegende Band verstehe sich deshalb in erster Linie als
Ideengeber, der "methodologische und theoretische Vorarbeiten" (9)
und damit einen Anstoß für eine breitere Debatte über die Geschichte der
Fiktionalität liefern möchte. In diesem Zusammenhang formulieren die
Herausgeber sechs zentrale Aufgaben und Herausforderungen, zu denen erstens der
"Entwurf einer tragfähigen Definition des Gegenstandes" (10) zähle.
Als Grundlage für eine diachrone Perspektive kommt für die Herausgeber dabei nur
eine "institutionelle" Fiktionalitätstheorie in Frage, mit anderen
Worten also eine Auffassung von Fiktionalität, die darunter eine durch
Konventionen geregelte Praxis begreift. Die Herausgeber stützen sich damit auf
eine in der Forschung mittlerweile wohl etablierte Theorie. Dass die besagten
Konventionen die Fiktionalität eines Textes an "die Fiktivität einiger
Elemente innerhalb der Erzählung" (10) binden, ist dagegen eine durchaus
streitbare These, der zwar die meisten Beiträge folgen, die von manchen aber
auch differenzierter beurteilt wird (vgl. z.B. den Aufsatz von Manuwald).
Problematisch an dieser Setzung ist jedoch weniger, dass sie mitunter
angezweifelt wird, sondern vielmehr, dass sie zu einer Gleichsetzung von
Fiktionalität und Fiktivität verleitet, wie sie in der Einleitung bisweilen
anklingt (vgl. z.B. 9, 13) und von mehreren Beiträgen wiederholt wird. Als
zweite Herausforderung benennen die Herausgeber methodische Probleme, die mit
der "Rekonstruktion der historischen Kommunikationssituation" (11)
verbunden sind und zu denen sie neben der Quellenlage vor allem die mögliche
Diskrepanz zwischen theoretischer Auseinandersetzung und literarischer Praxis
zählen. Drittens halten die Herausgeber es für notwendig, das "jeweilige
Wirklichkeitsmodell einer historischen Gesellschaft" (12) zu
rekonstruieren, um beurteilen zu können, was als fiktiv und was als Teil der
Alltagswirklichkeit begriffen wurde. Als vierte Aufgabe führen die Herausgeber
eine "Integration [der Geschichte der Fiktionalität] in die Literatur- und
Mediengeschichte" (12) an. Geklärt werden müsse nicht nur der Einfluss von
bestimmten "gattungsgeschichtlichen Entwicklungen oder poetologischen
Revolutionen" (12) auf die Entwicklung und Verbreitung des
Fiktionalitätskonzeptes, sondern ebenso derjenige des "mediale[n]
Wandel[s]" (13). Fünftens sprechen die Herausgeber das Verhältnis von
Fiktionalität und Fiktionskritik und damit die Frage an, inwiefern die "Geschichte
der Fiktionalität als Geschichte ihrer Bewertung" (13) verstanden werden
kann. Zuletzt wollen die Herausgeber auch den "möglichen historischen
Wandel des Fiktionalitäts- oder Faktualitätsstatus eines Textes" (14)
berücksichtigt wissen. Die folgenden Beiträge versprechen nun diese
unterschiedlichen "Probleme einer Historisierung von Fiktionalität aus
einer größtmöglichen Vielfalt disziplinärer und geschichtlicher Perspektiven zu
beleuchten" (14), und zwar von der Antike bis in die Gegenwart. Dieser
hilfreichen und strukturierten Hinführung zum Thema und den damit verbundenen
Schwierigkeiten folgt eine knappe und präzise Zusammenfassung der zwölf im Band
enthaltenen Beiträge, die den chronologischen Aufbau des Bandes erkennen lässt:
Nach einem gattungstheoretischen Aufsatz (Gittel) folgt ein Beitrag über
Fiktionalität in der Antike (Rösler), an den sich drei Aufsätze zur
Fiktionalität im Mittelalter anschließen (Manuwald, Kleinschmidt/Spohn,
Toral-Niehoff). Danach erfolgt ein Sprung ins 18. Jahrhundert, das erneut von
drei Beiträgen näher beleuchtet wird (Kuhn, Meid, Zipfel). Nach zwei Aufsätzen zur
Fiktionalität am Ende des 19. Jahrhunderts bzw. um 1900 (Lessau, Wurich) und
einem Beitrag, der sich mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
auseinandersetzt (Lavocat), folgt schließlich ein Aufsatz, der Fiktionskritik
diachron erfasst (Franzen). Da es sich dabei insgesamt um überdurchschnittlich
gute Beiträge handelt, lohnt es sich, auf jeden einzelnen von ihnen zu sprechen
zu kommen. PhiN 88/2007: 73 Benjamin
Gittel nimmt in seinem Aufsatz Probleme ins Visier, "die ein
Zusammendenken von Fiktionalitätstheorie und Genretheorie aufwirft" (20).
Dabei geht es Gittel insbesondere darum zu zeigen, dass bestimmte literarische
Genres "eine Herausforderung für geläufige, systematisch ausgerichtete
Fiktionalitätstheorien darstellen" (44). Zwei dieser Genres unterzieht
Gittel einer genaueren Untersuchung, und zwar zum einen "fiktionale,
konstitutiv wirklichkeitsbezogene Genres" (vgl. 22-33) wie historische
oder Schlüsselromane und zum anderen "skalar fiktionale Genres" (vgl.
33-39), wie sie vor allem die (germanistische) Mediävistik postuliert. Erstere
offenbaren laut Gittel "ein Differenzierungsdefizit existierender
Fiktionalitätstheorien" (44), da diese den elementaren Wirklichkeitsbezug
dieser Genres entweder als theoretisch nachgeordnetes Problem oder als
Sonderfall bzw. Devianzphänomen behandelten. Dass das Postulat skalar
fiktionaler Genres, d.h. die Behauptung, manche Genres seien fiktionaler als
andere, sogar noch tiefgreifendere Probleme offenbart und mehrere "Grundannahmen
vieler systematisch ausgerichteter Fiktionalitätstheorien infrage" (44)
stellt, verdeutlicht Gittel in einer differenzierten Auseinandersetzung mit den
Arbeiten von Sonja Glauch und Jan-Dirk Müller. Abschließend schränkt er jedoch
aufschlussreich ein, dass die Auseinandersetzung mit den beiden problematischen
Genres nur für "Theorien mit primär beschreibendem Charakter [...] unausweichlich
ist" (42). Begreife man Fiktionalität und Genre dagegen als soziale
Praktiken, die zueinander in einem Verhältnis stehen, biete dies
Beschreibungsmöglichkeiten, die "das Spektrum einer noch häufig statisch
gedachten Abfolge epochenspezifischer Formen der Fiktionalität [erweitern
können], indem sie [...] einer möglichen Heterogenität der Fiktionalitätspraxis
Raum geben." (45) Insgesamt beschäftigt sich Gittels Beitrag somit weniger
mit einer Geschichte der Fiktionalität im engeren Sinne als vielmehr mit dem
Zusammenhang von Fiktionalität(stheorie) und Literaturgeschichte bzw.
Genre(theorie). Dennoch war es sicher eine gute Entscheidung, den Band mit
diesem Aufsatz zu eröffnen, gerade weil er viele der Fiktionalitätstheorien,
die auch in späteren Beiträgen eine Rolle spielen, informiert erläutert,
kategorisiert und bewertet. Wolfgang
Röslers bereichernder Aufsatz verfolgt die zentrale These, dass sich zwischen
der ersten Hälfte des 7. und der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. im antiken
Griechenland ein "Wandel in der Auffassung über den Status von Dichtung
vollzogen [habe], der sich zugleich als manifeste Entdeckung der Fiktionalität
mit [...] erstaunlicher Nähe zu moderner Fiktionstheorie darstellt" (51f.).
Am Beginn dieses Zeitraums stünden die Homerischen Epen, denen die Auffassung
zugrunde liege, "dass der Dichter gleichsam als Medium göttlichen Wissens
wirke" (52), wodurch seine Dichtung legitimiert und beglaubigt sei. In
Aristoteles' Poetik – und damit am
Ende des Zeitraums – seien es dagegen die Menschen selbst, "die kraft
eigener Entscheidung und eigener Kompetenz poetische oder aber (wie Herodot) auch
historische Texte verfassen" (53). Diese neue dichterische Schaffenskraft ermögliche
eine Neuauffassung der Dichtung, die sich nicht mehr über das formale Kriterium
des Versgebrauchs, sondern über ihren Gegenstand und damit über ein
inhaltliches bzw. textimmanentes Kriterium definiere: Dichtung gebe wieder, wie
etwas geschehen sein könnte, womit die mímesis,
also eine Form "literarischen Fingierens" (54), ins Zentrum rücke. Diese
"Entdeckung der Fiktionalität" (54) stellt Rösler in dreierlei
Hinsicht elaboriert in einen größeren Zusammenhang: Erstens zieht Rösler eine Verbindung
zu dem kulturgeschichtlichen Prozess, "der im selben Zeitraum zur
Hervorbringung einer hochentwickelten Schriftkultur führte" (54), und damit
vor allem zu einer unterschiedlichen Art der Rezeption von Dichtung. Zweitens
fragt Rösler, "ob die neue [...] Konzeption von Dichtung darauf beschränkt
blieb, Fiktionalität lediglich als ein immanentes Merkmal von Texten zu sehen"
(56). Eine Antwort findet Rösler bei Gorgias vorgezeichnet, der Fiktionalität "erstmalig
theoretisch [so] erfasst" (61) habe, wie sie die moderne "institutionelle"
Theorie begreife: Schon vor Aristoteles habe dieser erkannt, dass der kundige Zuschauer
einer Tragödienaufführung sich bereitwillig auf die durch den Dichter
absichtsvoll erzeugte Täuschung einlasse, womit Gorgias also "nicht nur den
Rezipienten, sondern auch den Autor und seine Rolle explizit in den
modellhaften Prozess poetischer Kommunikation einbezieht und würdigt."
(57) Drittens stellt Rösler den "spezifischen Beitrag [...] gerade
dramatischer Dichtung für die Profilierung von Fiktionalität" (56) heraus:
Im Verlust des Erzählers – und damit genau der Instanz, über die die göttliche
Inspiration ihren Weg in das Werk nahm – erkennt er den "eigentliche[n]
Anstoß [...], der die neue Einstellung zur Dichtung als Fiktion letztlich mit
hervorbrachte" (60), der Gorgias und Aristoteles Ausdruck verleihen. PhiN 88/2019: 74 Im
folgenden Beitrag erörtert Henrike Manuwald am Beispiel des Drachen drei
zentrale Fragen, die sowohl das Wirklichkeitsverständnis als auch die
Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten im Mittelalter
betreffen: Wurde an die Existenz von Drachen geglaubt? "Würde eine
Fiktivität von Drachen auch bei mittelalterlichen Texten gegen die Faktualität
dieser Texte sprechen? Und ist es überhaupt angemessen, mittelalterliche Texte
der binären Einteilung faktual/fiktional unterziehen zu wollen?" (66)
Insbesondere letzteres sei in jüngster Zeit bezweifelt worden – etwa von Sonja
Glauch, die bei mittelalterlichen Erzählungen einen "Kollaps der
Faktual/Fiktional-Unterscheidung" (68) behaupte. Im Hintergrund von
Manuwalds eigener Untersuchung steht die Auffassung, dass fiktionale Texte "davon
entbunden sind, auf ihrer propositionalen Ebene Aussagen über die Wirklichkeit
zu machen, die Geltung beanspruchen" (67), wobei sie es nicht versäumt,
gleich zu Beginn differenziert auf mehrere Schwierigkeiten hinzuweisen, die
sich aus einem solchen "kommunikationspragmatischen Ansatz" (68) für
die Mediävistik ergeben. In Bezug auf die ersten beiden Fragen, die sie an
diversen Beispielen erörtert, kommt Manuwald zu dem Ergebnis, dass man einen
mittelalterlichen Glauben an die Existenz von Drachen zumindest "nicht von
vornherein ausschließen kann, dass für den Status von Drachen aber letztlich
die Inszenierungen der Drachenfiguren in den jeweiligen Texten entscheidend
sind" (78). Darüber hinaus sieht sie in den untersuchten Textbeispielen "ein
Nebeneinander unterschiedlicher Wahrheitsansprüche" (79), die "nicht
primär an Faktizität gebunden" (79) seien. Manuwald spricht sich deshalb
gegen den von Glauch postulierten Kollaps der Unterscheidung von Fiktionalität
und Faktualiät aus und plädiert stattdessen für einen "erweiterten Faktualitätsbegriff"
(79), der es ermögliche, "viele der von Glauch als neutral
charakterisierten Beispiele doch als faktual oder fiktional ein[zu]ordnen"
(79). Manuwald weist in ihrem elaborierten Aufsatz damit völlig zurecht darauf
hin, dass für eine Geschichte der Fiktionalität ebenso die Frage der
Historisierung ihres Gegenstückes, der Faktualität, relevant ist. Problematisch
an ihrer Analyse erscheint lediglich, dass sie ihre Antwort auf die dritte
Frage unter anderem an der Offenbarung
des Johannes erarbeitet, die ihr zufolge "gewiss zu der Klasse von
Texten [gehört], von denen Glauch sagen würde, dass die Unterscheidung von
Faktualität und Fiktionalität 'kollabiere'" (72). Glauchs Äußerungen
beziehen sich jedoch explizit auf die "früh- und hochmittelalterliche Heldenepik
[...], die religiöse Dichtung, Legenden, Mirakelerzählungen und Sagen" (Glauch
2014: 390), weshalb unklar ist, ob sie Manuwald in ihren Aussagen über die Offenbarung überhaupt widersprechen
würde. Sebastian
Kleinschmidt und Verena Spohn widmen sich in ihrem Beitrag der
mittelalterlichen Visionsliteratur und damit der von der Forschung bislang
wenig beleuchteten "Vereinbarkeit von religiösem Diskurs und dessen
(teils) fiktionaler Ausgestaltung" (89). Gleich zu Beginn weisen die
Autoren auf zwei Schwierigkeiten dieses Unternehmens hin: Zum einen sei "Fiktionalität"
ein "anachronistischer Begriff, für den das Mittelalter keine direkte
Entsprechung kennt" (89). Sie selbst gehen deshalb von einem "pragmatischen
Fiktionalitätsverständnis" (90) aus, demzufolge Fiktionalität "nicht [...]
an textinternen Signalen abgelesen werden kann" (90), sondern als eine
konventionalisierte kulturelle Praxis aufzufassen sei. Unmittelbar im Anschluss
verweisen sie dann aber darauf, dass sowohl die Intention des Autors als auch
die Rezeptionshaltung der Leser damaliger Texte kaum durch textexterne Quellen
belegbar ist, was Kleinschmidt und Spohn letztlich doch wieder auf die
Interpretation textinterner Fiktionalitätssignale zurückwirft. Zum anderen sei
aber auch der Inhalt der religiösen Texte problematisch, da in ihm –
signalisiert durch eine entsprechende Rahmung des Visionsgeschehens –
Realweltliches mit Phantastischem vereint würde: "Obgleich der faktuale
Geltungsanspruch dieser Textgattung [...] keinem Zweifel unterliegt"
(91f.), würde im Visionsgeschehen "Fiktionalität erprobt" (92). In
ihrer detaillierten Analyse zweier Visionstexte aus dem 13. und 15. Jahrhundert
versuchen die Autoren im Folgenden, unterschiedliche Beglaubigungs- sowie
Fiktionalisierungsstrategien in der Rahmung wie in den in sie eingebetteten
Visionen aufzuzeigen. Wiederholt weisen sie dabei gerade der Vision of Tundale einen "ambigen
Status" (z.B. S. 96) zu, wobei sich wohl nicht abschließend klären lassen
wird, ob der Text tatsächlich so wahrgenommen wurde oder nur aus der heutigen
Perspektive so erscheint. Nicht ganz unproblematisch ist darüber hinaus, dass
die Autoren in Bezug auf die "fiktionale[n] Elemente" (92) in erster
Linie auf die narrative Ausgestaltung der Texte rekurrieren. Dass narrative
Strategien aber nicht notwendig Formen der Fiktionalisierung sind, betonen die
Autoren selbst an einer Stelle ganz explizit (vgl. 100). Aus narratologischer
Perspektive wäre darüber hinaus an manchen Stellen eine größere Präzision
wünschenswert gewesen (etwa wenn Achronien mit Anachronien verwechselt werden). PhiN 88/2019: 75 Isabel
Toral-Niehoffs Aufsatz befasst sich mit der mittelalterlichen hochsprachlichen
arabischen Literatur des 8. bis 10. Jahrhunderts und sprengt damit die
Chronologie des Bandes. Dennoch wirkt er nicht deplatziert, ist er thematisch doch
eng mit dem Aufsatz von Kleinschmidt und Spohn verwandt: Auch Toral-Niehoff
geht es um "hybride[...] Textformen" (117) und dabei besonders um die
Frage einer "'Einbettung' fiktionaler Erzählelemente in einem faktualen
Kontext" (118). Wie aus ihren Textbeispielen hervorgeht, sind die
Verwendung historischer Persönlichkeiten sowie vor allem die Authentifizierung
durch den isnād, d.h. das explizite Aufführen einer Autoritäten- bzw.
Überlieferungskette, recht eindeutige Faktualitätssignale. Die Beurteilung der
Fiktionalitätssignale, bei denen Toral-Niehoff bestimmte Formen der
narratologischen Gestaltung, des rhetorischen Stils und der Literarisierung des
Stoffes aufführt, fällt dagegen schwerer, was zum Teil auch daran liegt, dass
Toral-Niehoff in ihrer Beurteilung der besagten Phänomene selbst etwas
uneinheitlich von deren Einfluss auf den "fiktionalen Status" (122),
auf den "narratologische[n]" bzw. "narrative[n] Status"
(124/129) und auf die mit den Texten verfolgten "literarischen Ziele"
(125) spricht. Dass es sich um Formen der Literarisierung und Narrativierung
des Erzählstoffes handelt, ist überzeugend herausgearbeitet, inwieweit damit
aber tatsächlich auch eine Fiktionalisierung verbunden ist, bleibt weitgehend offen.
Dennoch ist der Aufsatz eine Bereicherung für den Band, stellt er doch einen seltenen
Ausblick auf Texte jenseits der westeuropäischen Nationalliteraturen dar. Roman Kuhn
spricht sich in seinem differenzierten Beitrag zunächst gegen die wiederholt
proklamierte "Entdeckung" der Fiktionalität in unterschiedlichen
Jahrhunderten aus und hält es stattdessen für angemessener, historische
Veränderungen des Fiktionsbegriffs und der "jeweils spezifischen
Ausdruckformen von Fiktion" (133) zu untersuchen. Im Zentrum seiner
Analyse steht deshalb die Frage, "wie den jeweils zeitgenössischen Lesern
signalisiert wird, dass Fiktion vorliegt" (133). Kuhn folgt dazu zunächst
Klaus W. Hempfers Unterscheidung zwischen "Fiktionsmerkmalen" und "Fiktionssignalen"
(vgl. Hempfer 1990), also dem Aspekt, "was Fiktion ihren Bedingungen nach
ist" (134), und der Frage, "wie sich ein Einzeltext als Fiktion
erkennen lässt" (134). Zurecht weist Kuhn darauf hin, dass die Trennung
dieser beiden Fragen bei der Rekonstruktion historischer Fiktionalitätsbegriffe
und -praktiken problematisch sein kann, da die Antworten darauf "oftmals
aus ein und demselben Material erschlossen werden: den Auskünften von Texten
über sich selbst, beziehungsweise den Auskünften von Peritexten über die Texte,
die sie begleiten" (134) – ein Problem, mit dem sich auch schon die drei
vorhergehenden Beiträge konfrontiert sahen. Kuhn selbst erweitert die
Hempfersche Terminologie um einen weiteren Begriff, und zwar um denjenigen der "Fiktionsmarkierung"
(bzw. genauer: der "Fiktionalitäts- und Fiktivitätsmarkierung", 135),
unter dem er im Peritext vorgenommene, "explizite Statusbehauptungen
bezüglich des von ihm begleiteten Textes" (134) versteht. Noch stärkeres
Gewicht gewinnen in Kuhns Beitrag allerdings die korrespondierenden
Gegenbegriffe der "'Faktualitäts-' und 'Faktizitätsmarkierung'"
(136). In einem aufschlussreichen close
reading der Vorworte der drei Teile von The
Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, die laut Kuhn
zwischen Authentisierungs- und Legitimationsstrategien einerseits und der
spielerischen Unterminierung dieser Zuschreibungen changieren, kehrt er vor
allem zwei spezifische Leistungen der angedeuteten Herausgeberfiktion hervor:
Zum einen gelinge es durch sie, das Urteil über den Status des Textes in der
Schwebe zu halten und damit bewusst "dem (kritischen) Leser [zu]
überlassen" (141). Zum anderen seien diese "Duplizierung oder
Potenzierung der Kommunikationsstruktur des fiktionalen Textes [...] vor dem
spezifisch zeitgenössischen Legitimationsproblem des Romans zu sehen als ein Versuch,
den 'Lügenvorwurf' vom Autor abzuwenden" (146). Laut Kuhn zeigt sich in
den drei unterschiedlich gestalteten Vorworten somit Defoes Bemühen, "diverse
Legitimationsstrategien in Abwesenheit einer 'gesicherten', moralisch-religiös
legitimen und theoretisch fassbaren Fiktionskonvention gleichsam 'durchzutesten'."
(146) PhiN 88/2019: 76 Der Beitrag
von Christopher Meid schließt sowohl zeitlich als auch inhaltlich an denjenigen
von Kuhn an: Auch Meid geht es um die Romantheorie im 18. Jahrhundert und damit
vor allem um eine Analyse von Vorworten und den darin enthaltenen
Herausgeberfiktionen. Meid hält dazu bereits einleitend fest, dass für die "Romantheorie
des 17. und 18. Jahrhunderts [...] der Bezug zur Geschichte konstitutiv"
(151) sei, und zwar vor allem, weil die historischen Stoffe der "Nobilitierung
des Romans und [der] Steigerung des didaktischen Effekts" (152) dienten.
Vor dem Hintergrund eines derartigen "rhetorischen Literaturverständnisses"
(152) vertritt Meid im Folgenden die These, dass sich "im Jahrhundert der
Aufklärung ein Transformationsprozess [abspielt], der ausgehend von der Frage
nach dem Nutzen der Romane allmählich auch die Wahrnehmung des Faktenbezugs
insgesamt relativiert bzw. umdeutet." (153) Genau diesen "allmähliche[n]
Wandel des Fiktionalitätsverständnisses" (153), wie er sich an den
unterschiedlichen Bewertungen des Verhältnisses von Roman und Geschichte zeigt,
vollzieht Meid in seinem Beitrag nach: Zunächst widmet er sich dem galanten
Schlüsselroman und zeigt daran "divergierende Wertungen fiktionalen
Erzählens" (155) auf. Diese Differenzen, die vor allem aus einer
unterschiedlichen Beurteilung der Freiheiten bei der Gestaltung der
Wirklichkeitsreferenz – und damit des Verhältnisses von Wahrheit und Erfindung
– entstünden, werfen für Meid "ein bezeichnendes Licht auf die allmähliche
Ausmittelung eines Konzepts von Fiktionalität." (158) Während der galante
Schlüsselroman seine Nützlichkeit jedoch vor allem in der Schulung "klugen
und gewandten Verhaltens" (159) beweise, diene die im 'hohen' Roman
enthaltene historische Wahrheit in der Folge vielmehr "der Authentisierung
und Exemplifizierung von Morallehren" (159), was Meid erneut an zwei
divergierenden Beispielen erörtert. Zuletzt wendet sich Meid dem
metafiktionalen Diskurs in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon zu und interpretiert diesen "sowohl als
Spiel mit Gattungstraditionen als auch als ironische Distanzierung von
tradierten Modellen des 'hohen' Romans" (153). Meids Aufsatz ist damit
insgesamt sehr informativ, auch wenn die Begriffe "Fiktionalität" und
"Fiktivität" wiederholt vermengt werden. Positiv fällt insbesondere auf,
dass Meid anhand "einschlägige[r] Äußerungen über das Verhältnis von
Geschichtsschreibung und Roman" (153) selbst eine "kleine Geschichte
der Fiktionalität" nachvollzieht und damit als einer der wenigen Beiträger
diachron arbeitet. Frank
Zipfel widmet sich in seinem Beitrag Madame de Staëls Essai sur les fictions und damit einem für das Thema des Bandes hochinteressanten
Text. Seinen Ausführungen legt Zipfel eine institutionelle Fiktion(alitäts)theorie
zugrunde, deren relevante Konventionen er einleitend auf vier verschiedenen
Ebenen verortet: "der Ebene der Geschichte, der Erzählung, der
Textproduktion und der Textrezeption" (178). In Bezug auf Staëls Essay kommt
Zipfel im Folgenden vor allem deshalb zu sehr differenzierten Ergebnissen, weil
er ihren Text in Bezug auf genau diese vier Ebenen analysiert. Dabei verwundert
es angesichts der zwei vorhergehenden Beiträge zur Fiktionalität im 18.
Jahrhundert kaum, dass sich auch Staël großteils auf die Ebene der Geschichte bezieht
und vor allem die Fiktivität der Ereignisse in den Blick nimmt: Wie Zipfel
herausarbeitet, propagiert Staël nicht nur "eine klare Trennung von
fiktionalen [...] und faktualen Erzählungen im Hinblick auf das Dargestellte"
(188), sondern insbesondere auch die "Akzeptanz von Fiktional-Wahrscheinlichem
an Stelle von Faktual-Wahrem als Gegenstand von Erzählungen" (190). Überlegungen
Staëls zur Ebene der Erzählung und damit zur narrativen Darstellung (etwas
irritierend überschrieben mit "Staëls
Aussagen zur Fiktionalität des Erzählens", 191) sind laut Zipfel dagegen
kaum zu finden und konzentrieren sich im Wesentlichen auf die Frage nach einer "die
Wirklichkeitsillusion befördernde[n] Darstellung" (192). In Bezug auf die
Produktionsebene beschäftigt sich Zipfel vor allem mit Staëls Ausführungen zur
Imagination, die sie durch die Betonung von deren zentraler Rolle im "Bereich
der Emotionen und der Ethik [...] gegen ihre vernunftgeleiteten Verächter zu
verteidigen" (195) suche. Staëls Überlegungen zu Leser und Rezeption
leiteten schließlich "die klassischen Wirkungsziele prodesse et delectare" (197), wobei der Nutzen der Fiktion für
Staël insbesondere in der "Vermittlung von emotionalem Wissen und von
moralischen Grundsätzen" (197f.) bestehe. Durch den wiederholten Vergleich
mit den "zeitgenössischen Poetiken und Ästhetiken" (177) von u.a.
Diderot, Goethe, Marmontel und Huet (wobei man sich fragt, warum nur bei Staël
neben dem französischen Original auch eine Übersetzung ins Deutsche angeboten wurde),
gelingt es Zipfel, Staëls Ausführungen als exemplarisch für den "Fiktionalitätsgeist"
der Zeit zu präsentieren, der abschließend gekonnt in ein Verhältnis zu
aktuellen Fiktion(alität)skonventionen gesetzt wird. PhiN 88/2019: 77 Mathis
Lessaus Beitrag zu Wilhelm Diltheys Die
Einbildungskraft des Dichters schließt trotz der großen zeitlichen Differenz
in manchen Punkten überraschend eng an Staël an. Lessau setzt sich mit Diltheys
Überlegungen zum Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit auseinander und stellt
dabei die These auf, dass "für Dilthey gerade in den Mechanismen der
Hervorbringung von fiktiven Welten durch die Phantasie der Grund für das
kognitive Potential der Literatur als Organ des Lebensverständnisses"
(210) liegt. Im Zentrum von Diltheys Abhandlung verortet Lessau dabei "[n]icht
so sehr die ästhetische Wirkung [...], sondern [...] die psychologischen
Mechanismen des poetischen Schaffens und die physiologischen Besonderheiten des
dichterischen Genies" (212). Entsprechend kommt Lessau zu dem Ergebnis, "dass
eine produktionsbezogene Fiktionalitätstheorie aus Diltheys Poetik
rekonstruiert werden kann, die Fiktionalität als eine, [sic] durch den
erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens bewirkte Transformation von tatsächlich
gegebenen Erfahrungsinhalten begreift, kraft derer eine poetische Welt
geschaffen wird, die über die Wirklichkeit hinaus geht." (214f.) Dies ermöglichten
vor allem drei Vermögen der dichterischen Phantasie, und zwar "die
Mechanismen der Steigerung, Ausschaltung und positiver [sic] Ergänzung"
(224) des durch die Erfahrung Gegebenen. Die Fähigkeit, Erkenntnisse über die
Wirklichkeit zu vermitteln, komme der Dichtung laut Dilthey aber nicht nur
durch die "Darstellung des Typischen" (217) zu, durch die "ein
auf die Lebenserfahrung gegründetes Wahrscheinlichkeitswissen über Allgemeinmenschliches"
(216) vermittelt werde, sondern insbesondere auch durch die "Möglichkeit
des emotionalen Nachvollzugs verschiedener Erlebnisqualitäten durch ein
bewusstes Simulationsverhalten" (217). Die Frage der Emotionsinduktion
stellt Lessau im Anschluss daran in den Kontext der Debatte um das sogenannte "Paradox
of Fiction", wobei sich vor allem der wiederholte Versuch einer Abgrenzung
Diltheys von der modernen Theorie Kendall L. Waltons nicht vollständig
erschließt, da sich beide Ansätze doch offenkundig sehr ähnlich sind (vgl.Walton 1990). Darüber hinaus erscheint Diltheys Unternehmen an dieser Stelle weniger
produktionsbezogen, als vielmehr in ein wirkungs- bzw. rezeptionsästhetisches
Programm übergegangen zu sein, dem sich auch die restlichen Ausführungen
Lessaus zur Einfühlungstheorie Diltheys widmen. Marc
Wurich geht in seinem aufschlussreichen Beitrag von der These aus, dass für eine
diachrone Untersuchung des Fiktionalitätskonzeptes "vor allem solche
zeitlichen Abschnitte und literarischen Genres [von Interesse sind], in denen
sich fiktionale und faktuale Erzählungen inhaltlich und formal annähern oder
gar miteinander vermischen und somit etablierte Rezeptionskompetenzen
herausfordern" (227) – womit Wurich gleichzeitig eine Antwort darauf gibt,
warum sich so viele Beiträge des Bandes mit hybriden Textformen beschäftigen. Eine
solche "Hybridisierung der Diskurse" (227) sieht Wurich verstärkt im
Naturalismus am Werk, wo eine "'Verwissenschaftlichung' der Literatur"
(228) zu beobachten sei, während sich Feuilleton und Reportage zeitgleich "literarische[r]
Darstellungsverfahren" (228) bedienten. Anhand von Max Kretzers Berliner Romanen und Hans Ostwalds
Sozialreportagen aus der Reihe Großstadt-Dokumente
zeichnet Wurich im Folgenden detailliert nach, wie beide Texte auch an der
jeweils anderen Diskursform teilhaben: So würden in der Reportage "zweckgerichtet
auch fiktionalisierende Elemente [wie] [...] die Gedanken Dritter" (244)
eingesetzt, um die sozialen Verhältnisse auch emotional für den Leser erfahrbar
zu machen. Die Partizipation der Berliner
Romane am faktualen Diskurs geschehe dagegen vornehmlich über "das
Verfahren der Referenzialisierung" (238), das die Glaubwürdigkeit und
Authentizität des Dargestellten erhöhe. Wie Wurich nachweist, verfolgen beide
Genres dabei das Ziel einer Wissensvermittlung, und zwar zum einen "zum
Zweck politischer Meinungsbildung" (238) – etwa wenn in den Roman
Sozialkritik miteinfließe, die ansonsten durch Zensur und Gesetz verboten wäre
– und zum anderen durch die "narrativen Erkundungen exklusiver Räume"
(233), also durch eine "Erweiterung des empirischen Wirklichkeitsfeldes um
eben jene [okkulte] Bereiche, die bislang übersehen wurden – oder übersehen
werden wollten" (234). Wurich sieht deshalb nicht nur im "gemeinsamen
Gegenstand des Berliner Halbweltmilieus" (250) Ähnlichkeiten zwischen den
beiden Genres, sondern ebenso in der Funktion des (Autor-)Erzählers sowie auf kompositorischer
und sprachstilistischer Ebene. PhiN 88/2019: 78 Françoise
Lavocat verfolgt in ihrem Aufsatz die These, "dass es keinen einheitlichen
Status der Fiktion gibt" (255), und stellt die Frage, "warum die
Fiktion bezogen auf ihren ontologischen Status grundlegend heterogen ist und ob
dies auf die Referenz oder die Struktur der logischen Modalitäten (insbesondere
der epistemischen und axiologischen) zurückzuführen ist." (255) Lavocat
widmet sich dazu einem Vergleich kontrafaktischer Szenarien aus der
Geschichtsschreibung und der Literatur, die einen alternativen Ausgang des 2.
Weltkriegs imaginieren. Lavocat betont dabei, dass beiden Formen des
Kontrafaktischen ein "Erkenntniszweck" (260) gemeinsam sei, dass
dieser aber unterschiedlich gerichtet sei: "Während die mögliche Welt der
Historiker wünschenswert war, trifft dies nie auf diejenige der Romanciers [...]
zu" (260). Literarische kontrafaktische Welten seien vielmehr "so
konstruiert, dass sie sich selbst zerstören müssen, so dass die reale Welt
eindeutig zur überlegenen gekürt wird" (260). Ihr Wert liege entsprechend
vor allem in einer "moralischen Wiederversicherung." (262) Weitere Differenzen
sieht Lavocat unter anderem darin, dass sich kontrafaktische Szenarien in der
Geschichtswissenschaft "häufig damit begnügen, die auslösenden Momente in
der Abweichung eines historischen Abschnitts anzugeben und zu analysieren"
(264), während die Deviationspunkte in kontrafaktischen Romanen "lediglich
vorausgesetzt oder nur kurz erwähnt werden." (265) Darüber hinaus "neigen
die reale und die fiktionale Welt dazu, am Ende des Romans wieder zusammenzulaufen,
was in den Geschichtsentwürfen der Historiker nicht der Fall ist." (265)
Diese Urteile entstehen allerdings auf einer recht beschränkten Textbasis,
weshalb ihre Verallgemeinerbarkeit und Reichweite fraglich sind. Darüber hinaus
bleibt letztlich unklar, welche Rückschlüsse sich aus den Differenzen zwischen
kontrafaktischen Szenarien in der Geschichtswissenschaft und der Literatur für
eine Geschichte der Fiktionalität konkret ergeben. Im letzten
Beitrag des Bandes betrachtet Johannes Franzen die Praxis der Fiktionalität aus
einem neuen Blickwinkel, nämlich aus demjenigen ihrer Bewertung. Franzen
begreift Fiktionalität dabei einleitend als Form der "Freiheit: Indem ein
Autor einen Text als 'fiktional' markiert, erwirbt er sich das Recht, bestimmte
Lizenzen in der Darstellung wahrzunehmen." (269) Im Folgenden beschäftigt
er sich vor allem mit den potentiellen Gefahren der fiktionalen Freiheit, wobei
es sein Ziel ist, "einige grundlegende argumentative Muster der
Fiktionskritik darzustellen und auf die Kontinuitäten hinzuweisen, die sich
durch die Bewertungsgeschichte des literarischen Erfindens ziehen" (271).
Franzen benennt dabei zwei Gefahren des literarischen Erfindens, nach denen
sich die Fiktionskritik klassifizieren lasse, nämlich "(1) die Dinge
falsch darzustellen und (2) die falschen Dinge darzustellen." (271f.)
Während sich im ersten Einwand vor allem "die Angst vor den
Rezeptionsfolgen, vor der gefährlichen Wirkung erfundener Geschichten"
(276) artikuliere, beziehe sich der zweite Vorwurf "auf die Gegenstände,
die in fiktionalen Texten vorkommen dürfen" (274). Kundig veranschaulicht Franzen
an diversen historischen und modernen Beispielen Formen der politischen,
moralischen und ästhetischen Fiktionskritik. Aufschlussreich ist schließlich, dass
er aktuell eine
ästhetische
Abwertung des literarischen Erfindens [feststellt], das – [...] aufgrund der
Nicht-Existenz seiner Gegenstände – an emotionaler Effektivität verliert. [...]
Insofern kann man feststellen, dass Fiktionalität nach wie vor unter Druck
steht, und dass ihre Zukunft als überlegener Status literarischer Erzählungen
ungewisser erscheint, als man angesichts der Omnipräsenz narrativer Fiktionen
glauben möchte. Eine Zukunft, in der das literarische Erfinden als gefährlich
oder nutzlos verabschiedet wird, ist durchaus vorstellbar. (282) Auch wenn Franzen
damit, wie er selbst bekennt, vor allem einen "Beitrag zur Schärfung des
Konzepts 'Fiktionskritik'" (271) – und damit nur indirekt desjenigen der "Fiktionalität"
– leistet, stellt sein Aufsatz doch einen gelungenen Abschluss des Bandes dar:
Zum einen beschäftigt sich Franzen in einer diachronen Perspektive mit den
Grenzen der Fiktionalität, zum anderen wagt er mit der Ausrufung eines möglichen
"Endes der Fiktionalität" den Blick nach vorne in eine Geschichte,
die erst noch geschrieben wird. In ihrer
anregenden Vielfalt entwerfen die Beiträge des vorliegenden Bandes ein
umfangreiches und gleichzeitig sehr differenziertes Bild von der Geschichte der
Fiktionalität. Diachron wird in den Aufsätzen dabei zwar nur vereinzelt
gearbeitet, dies tut der großen Informativität des Bandes aber keinen Abbruch,
da die Summe der Beiträge den Leser selbst zum Einnehmen der beabsichtigten
diachronen Perspektive befähigt. In diesem Sinne wäre mitunter eine engere
Verzahnung der Aufsätze wünschenswert gewesen, die wechselseitig von ihren
Erkenntnissen hätten profitieren können. Schade ist zudem, dass die Beiträger
und ihre fachliche Zugehörigkeit an keiner Stelle vorgestellt werden, was
gerade bei einem interdisziplinär angelegten Band aufschlussreich gewesen wäre.
Auffällig und störend ist zuletzt das schlechte Endlektorat, das sich nicht nur
an den gehäuft auftretenden Verstößen gegen Sprachregeln, sondern auch an
mitunter gravierenden Formatierungsproblemen zeigt (etwa im mit Boxen
durchsetzten Griechisch im Beitrag von Kuhn). Dies alles schmälert allerdings
nicht die ohne jeden Zweifel gewinnbringende Lektüre des Bandes, der ein klares
Beispiel dafür ist, dass sich das vielgeschmähte Format des Tagungsbandes doch
zu beträchtlicher Höhe aufschwingen kann. Bibliographie Glauch, Sonja (2014): "Fiktionalität im
Mittelalter", in: Klauk, Tobias/Köppe, Tilmann (Hg.): Fiktionalität.
Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston: de Gruyter, 385-418. Hempfer,
Klaus W. (1990): "Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie", in: Zeitschrift für französische Sprache und
Literatur 100, 109-137. Klauk, Tobias/Köppe, Tilmann (Hg.) (2014): Fiktionalität.
Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston: de Gruyter. Walton, Kendall L. (1990): Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational
Arts. Cambridge: Harvard University Press. |