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Franz Fromholzer (London)



Stephen Brockmann (2015): The Writers' State. Constructing East German Literature, 1945-1959. Rochester, New York: Camden House (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture).

Warum sich heute noch mit der Literatur der frühen DDR beschäftigen? So fragt Stephen Brockmann selbstkritisch im Einleitungskapitel seines Buches The Writers' State. Constructing East German Literature, 1945–1959. Brockmanns Ansatz untersucht hierzu Paradigmen einer aus der Perspektive (west-)deutscher Literaturgeschichtsschreibung formulierten Wissenschaft vorab stichprobenhaft. Das Schweigen über den Holocaust lasse sich in der frühen DDR so nicht belegen, wofür Texte von Anna Seghers und Willi Bredel angeführt werden. Auch hätte sich die Literatur der frühen DDR – im Widerspruch zu W.G. Sebald – mit dem Luftkrieg intensiv auseinandergesetzt – wobei Brockmann hier auf die besondere Rolle Dresdens leider kaum eingeht ("East German literature was full of depictions of the air war" [11]). Entscheidender ist für Brockmanns Ansatz, dass in der DDR der Literatur eine gewichtige Rolle für die Gestaltung der Gesellschaft zukam ("to use literature as a means of social engineering" [14]). Ist dieser gesellschaftspolitische Anspruch der Literatur gescheitert? Und wenn ja, welche Schlüsse lassen sich daraus für die Gegenwartsliteratur und ihre gesellschaftspolitische Bedeutung ziehen? Dieser provozierenden Frage geht Brockmann nicht nur anhand kanonischer Autoren wie Brecht und Seghers oder anhand machtpolitisch entscheidender Strategen wie Becher nach, insbesondere "second-rate writers" interessieren Brockmann (vgl. 8f.) In den kunstvollen Perspektivwechseln zwischen Ausnahmekünstlern, Machtpolitikern und der Erschließung zumeist vergessener Autoren abseits der Höhenkamm-Literatur liegt eine große Stärke dieses Buches.




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Das erste Kapitel zur Zeit der sowjetischen Besatzungszone ist dafür exemplarisch. Die Entstehung des Kulturbunds wird im Spannungsfeld von deutscher Schuld und deutscher Scham nachgezeichnet. Auch Johannes R. Bechers an Goethe und Schiller geschulte Ästhetik für das neue Deutschland wird vorgestellt. Es folgt ein close reading des noch im Exil veröffentlichten Seghers-Romans Das siebte Kreuz. Willi Bredels Werken wird die gleiche Aufmerksamkeit zuteil und der Anspruch des neuen Staates, das heilsgeschichtliche Erbe der christlichen Kirchen anzutreten, zeigt sich hier umso deutlicher.

Im "Battle of the Spirits" lässt Brockmann Brecht als Sieger aus der Formalismus-Debatte von 1949 hervorgehen. Seinen Gegnern, etwa Fritz Erpenbeck und Susanne Alterman, sei es angesichts der Bühnenerfolge von Mutter Courage und Herr Puntila nicht gelungen, Brecht als volksfremden Theoretiker zu disqualifizieren. Brechts Sieg und die künstlerische Freiheit, die er sich damit in den Anfängen der jungen DDR sichern konnte, war jedoch nur ein vorübergehender, so Brockmann. Brechts und Thomas Manns selbstbewusstes Auftreten gegenüber den sich neu formierenden deutschen Staaten stellt Brockmann dabei – nicht immer überzeugend – als vergleichbar dar.

Sehr aufschlussreich sind auch die Kapitel zur politischen Funktionalisierung Goethes in der DDR. Basierend auf den berühmten Faust-Versen "Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen" hatte Johannes R. Becher Goethes Erbe mit kulturpolitischem Willen zur Macht für die sozialistische DDR reklamiert. Brockmann stellt Bechers selektive Lektüre und Walter Ulbrichts Wünsche nach einem Faust III. kontrastiv der genauen Textlektüre gegenüber, wie sie etwa Hans Mayer betrieb. Insbesondere die geschichtsphilosophischen Widersprüche dieser Ambitionen auf das Goethe-Erbe werden so offensichtlich.

Brockmanns Analysen der Literaturkritiken zu Otto Gotsches Tiefe Furchen (1949) und Anna Seghers Die Toten bleiben jung (1949) sind faszinierend. Gotsches dem sozialistischen Realismus verpflichteter Landreform-Roman – "political propaganda disguising itself as a work of art" (127) – wird trotz anfänglich vernichtender Kritiken zusehends zur exemplarischen Kunst hochgelobt. Seghers vielschichtiger und pessimistischer Generationenroman verdeutlicht die Unmöglichkeit, nach dem Ende des Nazi-Regimes eine offiziell erwünschte Siegesgeschichte des deutschen Kommunismus vorzulegen bzw. zu erlügen. Brockmann gibt Einblicke in weitere Werke der Zeit (von Franz Fühmann, Wolfgang Joho, Erich Loest und Günter Kunert), ein differenziertes Porträt dieser jungen Generation wird skizziert –




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die damit offen zutage tretenden "deep rifts" (166) zwischen SED und Intellektuellen beschreibt Brockmann als konstitutiv für den gerade entstehenden Staat. Kulturfunktionäre wie Alexander Abusch hatten sich dagegen in einem idealistischen Ansatz gewünscht, die Schriftsteller könnten die Gesellschaft sozialistisch formen.

Die Gegenüberstellung von Anna Seghers Der Mann und sein Name (1952) mit Menschen an unserer Seite (1951) von Eduard Claudius nimmt die Helden des Sozialismus in den Blick. Während der "Held der Arbeit" Hans Aehre bei Claudius die Produktionssteigerung mit dem Gewinn des Krieges vergleicht und so nur indirekt auf den deutschen Makel hinweist, findet bei Seghers der frühere SS-Mann Walter Retzlow und nun aktive SED-Parteigenosse Heinz Brenner mühsam zum öffentlichen Geständnis seiner weggelogenen Nazi-Vergangenheit. Dieser Schlüsseltext zum Verständnis der neuen deutschen sozialistischen Gesellschaft schien kurz vor den Geschehnissen im Juni 1953 einem "silencing" (197) unterworfen zu sein. Brockmann liest die Erzählung explizit als Beitrag zu einer Debatte innerhalb der DDR und klammert das von Seghers gezeichnete Bild Westdeutschlands dabei überwiegend aus. Doch gelingt es Brockmann auch, in dieser Verengung der Perspektive auf den Seghers-Text, das Dilemma der Nazi-Verlierer als nun vermeintliche sozialistische Sieger scharfsinnig darzustellen. Am Beispiel der Biographie Erich Loests, der als Jugendlicher ein begeisterter Anhänger des Führers war, und der paradoxerweise 1961 als politisch Inhaftierter im Gefängnis von Bautzen – nun sozialistisch bekehrt – den Bau der Mauer als antifaschistischen Schutzwall begrüßt, macht Brockmann ferner luzide deutlich: Die bekehrten Nazis suchten mit ihrer gebrochenen Biographie auch Schutz vor dem "inner Nazi" (269).

Multiperspektivisch schildert Brockmann ebenfalls die Geschehnisse des 17. Juni 1953. Walter Ulbricht festigt durch machtstrategisches Taktieren und den Sturz Berias in Moskau seine Position. Der um die Freiheit der Künste fürchtende Brecht erreicht trotz dieser Umstände sein Hauptziel: Das Theater am Schiffbauerdamm wird seinem Ensemble zugesprochen. Doch in den Anmerkungen zu Turandot fordert Brecht im neuen Staat "Kontrolle von unten" (vgl. 237f.). Erich Loests Roman Die Westmark fällt weiter (1952) imaginiert dagegen die Niederschlagung eines sozialistischen Aufstands in West-Berlin und eine kommende westdeutsche Wirtschaftskrise – der Autor muss allerdings nach Erscheinen seines Werks zusehen, wie sowjetische Panzer Ost-Berlin besetzen.




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Johannes R. Bechers Tod, der entgegen dem Wunsch des Dichters als Staatsbegräbnis und machtpolitische Vereinnahmung begangen wird, geht die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956 voraus, die auch für Becher in seinen unveröffentlichten Texten eine Distanznahme zum Staatsapparat bedeutet. Becher verfolgt Pläne zu einem Roman, der sowohl die Perspektive eines Schriftstellers als Spitzel als auch als Opfer des Schriftsteller-Spitzels aufzeigen will. Veranschaulicht werden sollte: "victims and perpetrators can easily change places for structural reasons and not just because of individual human failings" (253). Ausgeführt wurden diese Romanpläne freilich nicht.

Das programmatische Kapitel "Literature for Adults" zeigt zunächst die zahlreichen Auseinandersetzungen der DDR-Intellektuellen mit dem Staat auf. Brockmann setzt höchst originell Brechts Übersetzung von Adam Ważyks Gedicht für Erwachsene ins Zentrum seiner Darstellung der Zeit bis 1959, als dann schließlich der Bitterfelder Weg beschritten wurde. Die Entmündigung der Bevölkerung und der gesamten Autorenschaft kann Brockmann mit Ważyk und Brecht generell als "infantilization" (303) beschreiben. Auch die Versuche von Lukács und Mayer, die sozialistische Literatur mit der literarischen Moderne und der westlichen Kultur ins Gespräch zu bringen, nimmt die Darstellung in den Blick. Eine produktive Folge jener Bemühungen, Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob, rekurriere explizit auf Faulkner und hinterfrage in seiner vielstimmigen Darstellungsmethode die einfache offizielle Wahrheit der DDR-Führung.

Das Schlusskapitel geht von der paradoxen Situation in der DDR aus, die zum einen Schriftstellerinnen und Schriftsteller förderte und eine Literaturgesellschaft zu etablieren hoffte. Zum anderen war es aber auch jene Kulturpolitik, die unerwünschte Literatur unterdrückte und verfolgte. Brockmann erkennt im rein ästhetischen Vergnügen einer am Kommerz orientierten Literatur, die nicht auf ihr politisches und soziales Kritikpotential setze, in der Gegenwart ebenfalls Infantilisierungs- und Entmündigungstendenzen am Werk, demgegenüber allein mit Zynismus zu reagieren nicht genügen könne (vgl. 341–343). Hier sieht Brockmann Parallelen zur Gegenwart: Umfassende Kontrolle und Massenmanipulation seien heute wieder erschreckend reale Bedrohungen. Brockmann plädiert angesichts solcher Entwicklungen für eine genaue Beobachtung von Tendenzen in der Gegenwartskultur, bei denen "the individual and society come into contact with each other and clash, sometimes irreconcilably" (342).




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Sicher hätte man sich gewünscht, angesichts der angekündigten DDR-Literatur zum Holocaust mehr über die Prozesse gegen Paul Merker in Berlin, Rudolf Slánský in Prag und Noel Field in Budapest zu erfahren, die Brecht und natürlich Anna Seghers genau verfolgten. Paul Merker gehörte zu den wenigen offiziellen Kulturfunktionären der DDR, die sich für eine Entschädigung der Holocaust-Opfer einsetzten, und wird von Brockmann leider nicht einmal erwähnt. Auch wäre eine kurze Darstellung des jüdischen Lebens in der DDR und des Verhältnisses der DDR zum Staat Israel hier hilfreich gewesen.

Insgesamt zeigt sich Brockmanns Studie als beeindruckend vielschichtige und in ihrer multiperspektivischen Methode bestechend aufschlussreiche Darstellung der frühen DDR-Literatur, die sich dezidiert gegen eine leichtfertige Geschichtsvergessenheit der gesamtdeutschen Literaturwissenschaft einsetzt. Sprachliche Virtuosität, die mit Nietzsche-Anspielungen und provozierenden Alliterationen (z.B. "Fascinating Fascists") die Abgründe eines vermeintlichen Neubeginns deutscher Kultur nach 1945 aufzeigen, ist dem Autor ebenfalls nicht abzusprechen.