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Vanessa Kayling (Potsdam)



Metapoesie bei Paul Valéry unter besonderer Berücksichtigung seines Gedichtes Palme (1917)



The following essay deals with the phenomenon of meta-poetry in Paul Valéry's works, especially in his poem Palme. Respecting related poems, like Narcisse or La jeune Parque, the theme of self-reflection as well reflection about the criteria of good poetry and a poem's creation, is examined in order to reveal this as a central, complex subject in Valéry's poetry. In fact, the concept of self-referentiality has been treated first in art history and been transferred literary studies later. The examples of some famous pictures, e. g. by Velázquez, serve to illustrate the process of a picture's genesis, as it was the genesis of a painting within the picture.
By the detailed analysis, respecting Valéry's biography and his spiritual development, it comes to light that Palme represents a remarkable self-portrait of the poet. He is convinced that the origin of any poetry is hidden in the dark of unconscious, but this treasure within our soul requires purification by rational force.
Valéry succeeds in creating a perfectly elaborated analogy between the palm tree's and the poet's nature: Any creative process needs patience, like the fruit of the date palm the poem has to grow and mature for achieving its special, unique quality and dignity. The date palm symbolizes in any detail the silent activity of creation which needs time and diligence and which can never be forced.


In der vorliegenden Untersuchung werde ich das Gedicht Palme als bemerkenswertes Exemplum für das literarische Phänomen der Metapoesie bei Paul Valéry vorstellen. Da sie sich prägend auf seine literarischen Werke auswirkten, sollten autobiographische Aspekte wie auch seine geistige und psychische Entwicklung nicht unerwähnt bleiben.

Der Begriff der Metapoesie umfasst sowohl die Reflexion der Dichtung über sich selbst als auch die Reflexion über ihre Entstehung und Kompositionsweise, was zugleich auf dichtungstheoretische Dialoge oder Aussagen innerhalb eines Gedichts zutrifft und auf so genannte programmatische Gedichte. In diesen gibt ein Dichter seine Auffassung von Poesie und die von ihm bevorzugten Themen oder Gattungen zu erkennen, nicht zuletzt, von welchen Formen der Poesie er sich abgrenzt. Zur Verdeutlichung des Begriffes der Metapoesie erscheint es unumgänglich, vor der Interpretation metapoetischer Gedichte bei Valéry ein paralleles Phänomen in der Kunst, nämlich die Metamalerei, anhand einiger Beispiele aus der Malerei im ersten Abschnitt vorzustellen. Unschwer wird zu beobachten sein, dass die Kunstwissenschaft in Bezug auf Forschung und Literatur zum selbstreflexiven Charakter der Kunst zeitlich der Literaturwissenschaft vorausging.




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1. Forschungsüberblick

Erwähnenswert scheint mir, wie sich das Thema der Metapoesie auch auf antike Autoren, z.B. die hellenistischen Dichter Kallimachos und Theokrit bezüglich der Selbstreflexion über ihre Kunst übertragen lässt.1 Zudem sei bemerkt, dass es sich auch bei der Ars Poetica des Horaz um ein metapoetisches Werk handelt, denn der Autor formuliert in dichterischer Form Empfehlungen und Anweisungen (praecepta) für gelungene dichterische Kompositionen.

Was die Dichtung Paul Valérys betrifft, so verdienen die Aufsätze von Cornelia Klettke und von Erich Köhler, erschienen in der Festschrift für Jürgen Schmidt-Radefeldt mit dem Titel Ästhetik der Texte - Varietät von Sprache (2000) sowie die von Schmidt-Radefeldt herausgegebene Aufsatzsammlung Philosophie der Politik, Wissenschaft und Kultur (1999) größere Beachtung. Außerdem die unter dem Namen von Judith Robinson-Valéry erschienene Sammlung Funktionen des Geistes - Paul Valéry und die Wissenschaften (1993), deren Beiträge die Vielseitigkeit und Interdisziplinarität Paul Valérys verdeutlichen. Die detaillierte Biographie von Denis Bertholet aus dem Jahre 1995 (erst 2011 in deutscher Übersetzung erschienen) enthält wertvolle Hinweise zu Valérys geistiger, dichterischer und psychischer Entwicklung. Im vorliegenden Aufsatz werde ich mich auf die genannte Literatur so weit beziehen, wie sie sich mit dem Thema der Metapoesie zielführend verknüpfen lässt.

Einige der lyrischen Gedichte Valérys, die in dem bekannten Werkband Charmes von 1921 zusammengefasst sind, wurden bereits unter metapoetischem Aspekt untersucht. Die metapoetische Deutung des Gedichtes La Fileuse geht auf Leo Spitzer (1959) zurück. Das Thema des Gedichts, das Mädchen am Spinnrad, das umgeben von Natureindrücken - Rosenduft, Blätterrauschen, Abendrot - mit dem Einbruch der Dämmerung einschläft, verweist nach Spitzer auf die Dichtung als Gewebe, als Prozess des Verwebens von Empfindungen und Gedanken, der sich in der Zeit vollzieht.2 Der gesponnene Faden und der Prozess des Webens symbolisieren seit der griechischen Antike den Lebensverlauf und die Lebenszeit des Menschen. Bereits anhand der Fileuse nähert sich der Leser dem Thema der Selbstreflexivität von Kunst und Dichtung, da dem Gedicht von der Spinnerin tatsächlich ein Gemälde von Gustave Courbet, La Fileuse endormie aus dem Jahre 1853, vorausging. Franz Rauhut ventilierte schon 1930, dass Valéry in einigen seiner Gedichte, z. B. Aurore und Eupalinos die Entstehung und Komposition dichterischer Werke thematisiert. Allerdings verwendet Rauhut noch nicht den Begriff metapoetisch bzw. Metapoesie.3 De facto spricht Valéry in zahlreichen seiner Werke dichtungstheoretische und dichtungskritische Überlegungen aus, desgleichen finden sich vielfach Reflexionen über die Entstehungsbedingungen angemessener, kunstvoller Dichtung. So verweist auch Bertholet in seiner umfassenden Biographie auf Valérys Vorträge und Vorlesungen zur Dichtkunst.4



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Im Anschluss an den Exkurs über die Metamalerei werde ich anhand der Beispiele Narcisse, La Jeune Parque, Aurore, Eupalinos und L' âme et la danse zeigen, welche Kriterien Valéry zum Maßstab der Dichtung erhebt, wie diese sich im Sinne einer Selbstbetrachtung in den genannten Beispielen manifestieren, und er sich selbst seiner eigenen dichterischen Tätigkeit in ihnen bewusst ist. Dies tritt besonders im Gedicht Palme hervor, welches bisher in der mir zugänglichen Literatur nicht unter metapoetischem Aspekt interpretiert wurde. Notwendig erscheint mir daher, die Interpretation des Gedichts Palme im letzten Teil meines Aufsatzes anzuschließen. Auf biographische Ereignisse werde ich auf den folgenden Seiten hinweisen, sofern sie die geistige und dichterische Entwicklung Valérys bezeugen.


2. Einige Beispiele für die Erscheinungsformen der Metamalerei

Die folgenden Bildbeispiele dienen dazu, einerseits die Beziehung zwischen Malerei und Dichtung als poíēsis, als gestaltenden, schöpferischen Prozess, zu veranschaulichen, andererseits die Selbstreflexivität des Bildes bzw. Gedichtes sowie die Selbstdarstellung des Künstlers innerhalb seines Werkes zu verdeutlichen. Victor Stoichita macht mit seiner Untersuchung auf die selbstreflexive Technik des "Bildes im Bild" in ihren Variationen aufmerksam: Entweder befindet sich innerhalb des Gemäldes wiederum ein Bild sowie mehrere Bilder im gemalten Raum oder es wird ein Fenster bzw. eine Türöffnung gezeigt, die den Blick des Betrachters in einen anderen Raum mit weiteren Personen, Möbeln etc. lenkt.5 Das Experimentieren mit dem gemalten Fenster ergibt sich, so Stoichita, aus der Doppelbedeutung des Begriffs tableau, denn als tableau gilt sowohl ein Malwerk auf Leinwand, Holz oder Metall, als auch ein Fenster- oder Türrahmen.

Ein gemaltes Fenster verdoppelt die Bildebene. Der Betrachter sieht z. B. im Vordergrund eines Bildes von Maerten van Heemskerck den Heiligen Lukas, der die Muttergottes malt, zugleich gibt das Fenster im Hintergrund den Blick frei auf eine Landschaft, die wiederum von zwei Personen betrachtet wird, die mit dem Rücken zu den Hauptfiguren und zum Betrachter stehen.6 Eine ähnliche Funktion wie die Fenster übernehmen auch Spiegel im Bild: Ein gemalter oder unterbrochener Rahmen durchbricht die Grenze zwischen Bild und Betrachter, entsprechend zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Im Selbstporträt des Bartholome Esteban Murillo ruht die Hand auf dem Rahmen; sie tritt gleichsam aus dem Bild heraus.7

Van Dyck hat den Maler Andreas van Ertfeld malend porträtiert, m.a.W. hat er den Künstler bei der Ausübung seiner Kunst verewigt. Der Betrachter wird Zeuge der Entstehung eines Gemäldes. Gegenstand des Bildes, das van Ertfeld gerade malt, ist ein Unwetter, das dem links im Fenster erkennbaren Unwetter entspricht.8 Hieronymus und Frans Francken, Willem van Haecht u.a. stellten Gemäldesammlungen bekannter Persönlichkeiten dar. Stoichita spricht bezüglich derartiger gemalter Dokumentationen von einer "Kontextualisierung" von Bildern.9




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Johannes Gumpp bildet sich bei der Anfertigung seines Selbstporträts ab, während er sein Spiegelbild betrachtet. Der Spiegel bewirkt, ähnlich wie das eingangs erwähnte Fenster im Bild, eine Verdopplung der Bildebene. Der Künstler sitzt mit dem Rücken zum Betrachter, der sowohl das Spiegelbild sehen kann als auch das Porträt. Das auf diese Weise entstehende Selbstbildnis wird dem Betrachter quasi in statu nascendi gezeigt. Demgemäß wird eine Selbstreflexion auf verschiedenen Ebenen vorgeführt. Der seinerseits nur gemalte Künstler schafft in Orientierung am Spiegelbild sein Abbild. Stoichita stellt selbst die Parallele zwischen Malerei und Dichtung her, indem er beides als erschaffenden, schöpferischen Vorgang (poíēsis) versteht.10

Velázquez präsentiert in Las Meniñas (1657) zwei Hauptthemen: die Familie des Königs Felipe IV. und zugleich die Genese eines Bildes.11 Carl Justi vertritt die These, dass Velázquez im Begriff sei, das Königspaar zu porträtieren: Während der Sitzung habe man zur Milderung königlicher Langeweile die Infantin hereingebeten, woraufhin dem König aufgefallen sei, dass sich durch die neue Konstellation ein Bild zusammengefügt habe. Justis Interpretation zufolge nimmt der Betrachter den Standpunkt des Königs und der Königin ein, die im Hintergrund in einem Spiegel an der Wand sichtbar sind.12 Der Interpretation Reinhard Brandts gemäß ist das Königspaar gar nicht anwesend. Die Infantin betrachtet sich in einem Spiegel, der sich an der Stelle des Betrachters befindet und in den auch der hinter der Staffelei stehende Künstler blickt. Das Bild auf der Staffelei ist für den Betrachter nicht sichtbar, denn man schaut auf die Rückseite der Staffelei, was Rätsel aufgibt. Der Haupteinwand von Brandt gegen Justi besteht darin, dass das eindeutig unvollständige Bild des Königspaares, das in dem besagten Spiegel im Hintergrund zu erkennen ist, kein Spiegelbild der Anwesenden sein könne, sondern ein von Velázquez begonnenes Bild.13 Brandt kommt zu der Lösung, dass das rätselhafte Bild im Hintergrund das Spiegelbild dessen ist, woran Velázquez gerade gearbeitet hat. Das begonnene Bild von dem Königspaar befinde sich auf der für den Betrachter unsichtbaren Vorderseite der Leinwand, sichtbar gemacht in dem Spiegel, der an der Rückwand des Ateliers hängt.

Die Pose der Infantin legt nahe, dass sie es ist, die aktuell porträtiert werden soll. Velázquez hat den Moment zwischen einer beendeten Porträtsitzung, nämlich der des Königspaares, und der anschließenden Porträtsitzung der Prinzessin, festgehalten. Das gesamte Gemälde sei, so Brandt weiter, ein Spiegelbild, denn alle Anwesenden sehen in den Spiegel, der an der Position des Betrachters angebracht sei. Die Infantin sieht sich und den Raum hinter und neben sich im Spiegel. Velázquez malt das, was die Prinzessin im Spiegel sieht, aus ihrer Perspektive. Brandt bezeichnet diese Konstellation als "Selbstthematisierung des Bildes in seiner Entstehung."14 Im Hintergrund ist die bildliche Darstellung des Arachne-Themas aus Ovids Metamorphosen zu sehen. Zweifellos liegt hier ein intertextueller Bezug zur Bildentstehung vor, denn Arachne war für ihre Webkunst derartig berühmt, dass die Menschen herbeiströmten, um ihr beim Weben zuzusehen, m.a.W. um die Kunstwerke schon während ihrer Anfertigung zu bewundern. Die Entstehung des Gewebes entspricht dem Bild in statu nascendi bei Velázquez.15



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3. Der Versuch einer Übertragung der Erscheinungsformen der Metamalerei auf die Metapoesie

Karlheinz Stierle thematisiert das Phänomen der Selbstreflexion eines Werkes, doch ohne die besagten Termini zu verwenden. Im Kunstwerk wie auch im literarischen Werk komme die Progression der Strukturen zu einem Stillstand. Im Fall des literarischen Werkes durch schriftliche Fixierung und zu einer Rückwendung auf sich selbst.16 Die Grenzen eines Werkes, Anfang und Ende, seien bedingt gültig, es gebe immer ein Imaginäres jenseits der Grenzen bzw. potentielle Fortsetzbarkeiten. Dieser Ansatz entspricht der Auffassung Valérys bezüglich des "offenen Kunstwerkes". Auch ein Gedicht, ein literarisches Opus, ist potentiell fortsetzbar und vervollständigungsfähig. Die Unzulänglichkeit der Sprache bewirkt, dass dem Werk stets der Charakter des Unvollständigen, Provisorischen anhaftet, wenn es sprachlich und schriftlich fixiert, d. h. eingegrenzt wurde. Da sich diese Gedanken bezüglich der Sprache bei Valéry tatsächlich finden, werde ich an geeigneter Stelle darauf eingehen. Am deutlichsten wird dies im Fall des Fragments eines Werkes. Die Fragments de Narcisse wurden von Valéry nicht fortgesetzt. Die schriftliche Fixierung eines Textes, oder auch einer Partitur, stellt nichtsdestoweniger die Bedingung für die Werkhaftigkeit und die ästhetische Erfahrbarkeit dar, denn nur so kann ein Text immer wieder gelesen oder ein Musikstück gespielt werden.17 Doch gilt für die Interpretation eines Werkes, nie abgeschlossen zu sein, weil das Verstandene nie endgültig und zureichend ist. Die Interpretation unter bestimmten Aspekten führt zu einer Eingrenzung des Werkes, zur Reduktion seiner Polysemie. Die Interpretation definiert Stierle als "werkerfassendes Verstehen", für das es einer komplexen Aufmerksamkeit bedarf und eines ebenso komplexen Wahrnehmungsvermögens.18 Rezeptionsgeschichte und Rezeptionsweise sind bedingt durch den subjektiven Bildungs- und Erfahrungshorizont der Rezipienten.19 Die Rezeption wird von Stierle als eine eigene produktive Leistung des Lesers begriffen, die bei fremdsprachlichen Texten bereits mit der Übersetzung beginnt: "Der Leser konstituiert selbst den Sinn des Gedichtes. Das Verstehen, die Aneignung des Werkes durch die Rezipienten, ist ein ständiger Prozess: Man kann das Werk immer nur verstehen, aber nie es verstanden haben."20

Das Werk entzieht sich gewissermaßen dem vollständigen Zugriff, ist nie endgültig erschließbar, denn jeder Interpret projiziert andere Erwartungen in ein Werk und konstituiert aufgrund seines Erfahrungs- und Vorstellungshorizontes einen jeweils anderen Sinngehalt. Da letztlich alle Kunstwerke der menschlichen Seele entspringen und darüber hinaus zweifellos von der Biographie des Individuums geprägt sind, darf man sich fragen, ob wir einen Menschen, selbst einen uns Vertrauten, jemals in seiner Individualität "verstehen", bzw. die Facetten seiner Seele hinreichend ausloten können. Stierle spricht von den "Latenzen", also Verborgenheiten, des Werkes. Eine Interpretation setzt ein zumindest partielles Eindringen in das Latente, z. B. das Erkennen verborgener Beziehungsgeflechte, voraus. Das Werk wird im Akt des Verstehens aus der Latenz gehoben. Dabei kann selbst die abwegigste Interpretation dazu dienen, das uneinholbare Ganze des Werkes bewusst zu machen. Die Aufgabe des Künstlers sieht bereits Baudelaire in der Verewigung und Verdichtung des Flüchtigen.21



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4.1 Paul Valérys Selbstsuche oder die Selbstbetrachtung des Denkers

In den hier berücksichtigten Werken Paul Valérys wird eine intensive Autoreflexion und Selbstbeobachtung erkennbar. Sie legt nahe, in der Figur des Narziss auch eine Facette des Dichters zu entdecken. Der Narcisse zählt zu den bekanntesten Jugendwerken Valérys und eignet sich, als autoreflexives Werk betrachtet zu werden. Die Figur des Narziss wurde bereits von Rauhut als "Maske des jungen Dichters" erkannt. Er beschreibt das Streben des Geistes nach völliger Konzentration auf sich selbst ohne störende äußere Einflüsse, was durch die Klarheit der Wasseroberfläche ausgedrückt wird. Dieser Zustand des gänzlichen Bei-Sich-Seins des Geistes hält nur so lange an, wie das Wasser völlig unbewegt bleibt. Die Irritation und Trübung durch die Sinne vertreibt das Spiegelbild, das dem Ideal entspricht. Eine Vereinigung mit dem geliebten Ideal, der Loslösung des Geistes vom Seelischen und Körperlichen ist nur im Tod möglich. Die Philosophen der Stoa verwendeten das Sinnbild des unbewegten Wassers bzw. der Meeresstille (galḗnē) für die Seelenruhe, die sie in der Affektlosigkeit sahen. Das bewegte, aufgewühlte Wasser symbolisiert die durch die Affekte beunruhigte Seele. Valérys früh einsetzende, durch den von ihm bewunderten Mallarmé, die Romantik wie den Symbolismus geprägte, lyrische Phase wurde durch ein erschütterndes Erlebnis unterbrochen.22 Zunächst war es die Begegnung mit einer Baronin katalanischer Abstammung, Madame de Rovira, die eine verzehrende Leidenschaft in ihm auslöste. Ihr Anblick wurde zu einer Obsession, die ihn jahrelang begleitete, ohne dass er ihr jemals seine Empfindungen gestanden hatte.23 Im Jahre 1892 erlitt Valéry während einer Gewitternacht in Genua eine Krise sowohl auf intellektueller als auch emotionaler Ebene, die zugleich eine Offenbarung für ihn darstellte. Dieses Ereignis brachte ihn zu einer völligen Abkehr von seinem bisherigen dichterischen Schaffen, der Ästhetik wie auch von jeglichen Leidenschaften, die ihn maßlos verwirrten. Er zog sich auf seinen analytischen Verstand zurück, auf rein intellektuelle Tätigkeiten, die den Charakter einer cartesischen Selbstanalyse besitzen.24 Wie Descartes bestimmt auch Valéry sich selbst als Instanz für die Gültigkeit seines Denkens.25 Seine Skepsis äußert sich in der Auffassung, dass wir uns zwar nicht darüber täuschen können zu existieren, es jedoch keine Gewissheit darüber gibt, ob die uns umgebenden Dinge so sind, wie sie uns erscheinen. Die Suche nach dem Göttlichen wird bei ihm immanentisiert, d. h. Gott und Teufel finden sich in uns selbst, und es liegt an uns, das Göttliche in uns zu suchen und zu entfalten: "Der Gott geschuldete Kult ist die Achtung vor uns selbst, die Suche nach einem besseren Ich, aus eigener Kraft, unseren Fähigkeiten entsprechend."26

Das "bessere Ich" findet er im reinen Geist, abgezogen von dem confusum, allen störenden äußeren, körperlichen Einflüssen, in der völligen Konzentration des Geistes auf sich selbst, was bereits das Thema des Narcisse war. Das völlige Bei-Sich-Sein thematisiert Platon als erstrebenswerten Zustand im Dialog Phaidon, wo das "Sich-Sammeln" der Seele als größtmögliche Distanzierung von den




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Ablenkungen, Bedürfnissen und Zerstreuungen durch den Körper beschrieben wird.27 Dies geschieht allein bei der philosophischen, kontemplativen Tätigkeit. Der emotionale und begehrende Teil der Seele ist nach Platon beim Philosophieren nicht ausgeschaltet, vielmehr charakterisiert er in den Dialogen Phaidros und Symposion das Streben nach dem Wesentlichen, der Erkenntnis des wahrhaft Seienden, als "philosophischen Eros", dessen Ausgangspunkt jedoch immer die sinnlich wahrnehmbaren Einzeldinge bleiben.28 Philosophieren bedeutet das Streben nach der Erkenntnis des unsterblichen, unvermischten, wahrhaft Seienden, der Ideen. Als Ziel des Philosophen erscheint die Befreiung der Seele vom Sinnlich-Körperlichen, das sie vom Göttlichen trennt. Man kann im Falle Valérys nur von einem sehr eklektischen, punktuellen Platonismus sprechen, der mit cartesischen Gedanken verknüpft wird. Das Individuum erfährt im reinen Denken sich selbst als seiend, da es nur dann völlig bei sich und mit sich eins ist. Der Rigorismus, mit dem sich Valéry von der Dichtung abgewendet hat, um für zwanzig Jahre ausschließlich als Denker tätig zu sein, erinnert eher sogar an die affektfeindliche Haltung eines Stoikers. In seinen Cahiers widmet sich Valéry ausschließlich der Erforschung des Verhältnisses von Körper und Geist sowie der intellektuellen Übung, die er als "entraînement" bezeichnet, mit dem Ziel der völligen Kontrolle über seine Gedanken. 1896 entsteht die Soirée avec Monsieur Teste, ein Zwiegespräch zwischen dem Denker und seinem personifizierten Intellekt.29 Selbst dieses rein intellektuelle Produkt besitzt metapoetische Qualität, wenn man Dichtung im Sinne des Aristoteles als Mímēsis, als Darstellung handelnder Menschen auffasst. Der Autor tritt in diesem Fall in einen fingierten Dialog mit Monsieur Teste, der gleichsam ein alter ego ist, um über seine eigenen Denkprozesse Rechenschaft abzulegen und zu reflektieren.30 Sehr viel später tritt zu der Gestalt des Edouard Teste Madame Emilie Teste hinzu; sie repräsentiert die Seele, anima, das Empfindungsvermögen und die Emotionalität. Sie gehört der Phase an, in welcher der Denker wieder zum Dichter geworden ist, in welcher gleichsam der Geist der so lange bekämpften und verfolgten empfindenden anima, der Gefühlswelt, endlich den verdienten Raum gab. Dieses Eingeständnis seiner Gefühlswelt musste vorausgehen, um zur Poesie zurückzufinden. Aus dem reinen Intellekt, aus der Konzentration auf das reine Denken, entsteht keine Poesie, da der gesamte körperlich bedingte Bereich der Wahrnehmungen, Empfindungen und Vorstellungen die materielle conditio sine qua non für dichterische Komposition darstellt.31

Die exzessive Selbstdisziplinierung und -kontrolle durch den Intellekt schließt offensichtlich eine dichterische Produktivität aus, denn innerhalb von 22 Jahren verfasste Valéry nachweislich kein Gedicht. Aus psychologischer und psychoanalytischer Sicht ist dies in der Tat nicht verwunderlich: Seit Freud wie der modernen Psychologie zufolge erschafft der Dichter wie der bildende Künstler und der Musiker neue Wirklichkeiten aus seinem Unbewussten. Das Unbewusste als Ort und Quelle aller Phantasien, Empfindungen, verdrängter Wünsche wirkt zugleich mit dem Eros, den schon Platon als schöpferisches Prinzip erkannt hat, wesentlich an der Gestaltung des Kunstwerks mit.32




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4.2 Paul Valérys Rückkehr zur Lyrik

Im Jahre 1913 wendet sich Valéry endlich wieder der Lyrik zu.33 Zu Recht betont Bertholet den stark autobiographischen Aspekt in den Gedichten Aurore und Palme, die zwischen März und Mai des Jahre 1917 entstehen.34 Auf das Letztere soll in Abschnitt 5 ausführlich eingegangen werden. In der Fortsetzung des Narziss-Themas von 1891 in den drei Fragments de Narcisse, die zwischen 1921 und 1926 entstehen, findet sich ein Selbstporträt, das zugleich als metapoetisch zu deuten ist: Das sich selbst beobachtende reine Denken entspricht dem Spiegelbild des Narziss, das nur bei völliger Regungslosigkeit des Wassers, also ohne den irritierenden Einfluss der Sinne, sichtbar wird. Narziss erscheint als Allegorie des denkenden Geistes, der sein ideales Selbst erblickt.35 Eine Annäherung des an Körper, Raum und Zeit gebundenen, empirischen Ich mit dem absoluten, idealen Ich ist nur für kurze Momente möglich, eine völlige Vereinigung gibt es nur im Tod. Narziss ist von einer tragischen, unerfüllbaren Liebe, einem "insaisissable amour", ergriffen, er verstrickt sich umso mehr in ein emotionales, leidenschaftliches Streben, je mehr er sich eigentlich den verwirrenden Leidenschaften entziehen möchte, was einem circulus vitiosus gleichkommt, dem er allein durch seinen Tod entrinnen kann. Valéry hat eine Selbst-Erfahrung in Dichtung umgesetzt. Dichtung erscheint in Narcisse als Selbstanalyse und Instrument der Selbsterkenntnis.36 Die Einsicht in die eigene Sinnlichkeit und Körpergebundenheit, in die condition humaine, die als schmerzliches Erwachen beschrieben wird, findet sich im lyrischen Gedicht La jeune Parque aus dem Jahre 1913. La jeune Parque steht also am Beginn von Valérys Rückkehr zur Lyrik und erweist sich unter autobiographischem wie auch metapoetischem Aspekt als höchst aufschlussreich. Eine hinreichende Interpretation kann hier nicht geleistet werden, zumal das Augenmerk im letzten Teil auf das Gedicht Palme gerichtet werden soll. Ich werde jedoch kurz auf den Aufsatz von Klettke zu La Jeune Parque eingehen.37 Hier inszeniert Valéry eine Traumsituation, um mit Hilfe der Poesie sein Unbewusstes, einen dunklen Fleck ("une tache obscure") auszuleuchten. Das Unbewusste, das Valéry an anderer Stelle treffend als "trésor ténébreux" bezeichnet, wird im Folgenden anhand weiterer Beispiele als konstitutiv, als conditio sine qua non, für die dichterische Tätigkeit erwiesen. Von der jungen Parze, der weiblichen Hauptfigur, zu begreifen als personifizierte anima (âme), als empfindende Seele, als Teil seines Selbst, hatte sich der Autor 20 Jahre lang abgewendet, um nur noch Intellekt, sc. Monsieur Teste, zu sein. Die Abkehr von der âme, zu verstehen als Negation des Unbewussten, entspricht der Abkehr von der Dichtung. Der geschilderte Übergang von der Traumsituation zum Erwachen symbolisiert den Übergang vom Unbewussten zum Bewussten, die von Klettke als komplementäre Operationen bezeichnet werden, welche nach Valérys Auffassung von einem vollkommenen Menschen mühelos ausgeführt werden können.38

Die genannten Symbole, die Büchse der Pandora, dionysische Motive und Symbole wie der Thyrsosstab und die Schlange, sowie die Figur der Parze repräsentieren die labyrinthische, rätselhafte, unergründliche Dimension der menschlichen Seele, das Unbewusste, aus dem der Dichter schöpft.39 Zugleich verbirgt sich der Autor hinter der Fülle der evozierten Trugbilder oder Phantasmen. Die Schrift selbst besitzt den Charakter eines Trugbildes (phantasma, simulacrum), da sie "das Unsagbare unter einer strahlenden Oberfläche (der Form) verhüllt."40 Der Biss der Schlange in die




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Hand des lyrischen Ichs bezeichnet nach Klettke den Impuls zur Erschaffung oder Zeugung eines Gedichts.41 Der Text von La jeune Parque simuliert den Akt des Schreibens (bzw. die Hervorbringung des Gedichtes) als körperliches Ereignis, als Transformation von Körperlichkeit und Phantasma in Sprache. Hierin liegt der metapoetische Aspekt dieses Gedichts.

In der Meditation Le Cimetière Marin von 1920, dem wohl bekanntesten und meistinterpretierten Gedicht Valérys, wird der Triumph des Lebens über den statisch-lebensabgewandten reinen Geist geschildert. Der Friedhof am Meer ist Ausdruck eines inneren Wandels, der sich in dem Schlüsselvers manifestiert: "Le vent se lève - il faut tenter de vivre." Die Rückkehr ins Leben, die Bejahung der Welt des Sinnlich-Körperlichen in seiner vergänglichen Schönheit, die konstitutiv ist für dichterisches Schaffen, entspricht, im Sinne eines poetischen Selbstporträts, der Hinwendung Valérys zur Dichtung.42 Das an den Beginn der 1921 publizierten Charmes platzierte Gedicht Aurore erweist sich als Inbegriff der Dichtungstheorie Valérys. Die Morgenröte symbolisiert das Erwachen des Geistes aus dem Chaos des Unbewussten, der die in der Nacht gesponnenen Gewebe der Träume und Empfindungen, das Werk der Phantasie, der Intuition, der irrationalen Seelenkräfte, einer genauen Prüfung und Beurteilung, dem jugement, unterzieht.43 Ebenfalls in Charmes befindet sich das Gedicht Les pas: Die leisen Schritte bezeichnen das schrittweise Nahen der poetischen Gedanken, die sich nicht erzwingen lassen


4.3 Paul Valérys Kriterien für gelungene Dichtung: Abwägen, Prüfen, Durchdringung und Beherrschung der Sprache und der Symbole durch den Intellekt

Valéry lässt sich insofern als moderner Klassizist bezeichnen, als er unmissverständlich die Dichtungskonzeption der Romantiker kritisiert: Er distanziert sich von der Auffassung, der zufolge Dichtung in einem Schaffen aus dem bloßen Gefühl, dem Unbewussten, entstehe. Die dunklen, wirren Vorstellungen - das confusum bei Descartes - müssen vielmehr überprüft, beurteilt und vom Licht des ordnungs- und schönheitsstiftenden Verstandes durchdrungen werden. Unreflektiertes Schreiben und Schaffen aus dem bloßen Unbewussten, wie etwa das automatische Schreiben, ist nach Valérys Urteil zwar möglich, jedoch verdienen es die Produkte, die auf diese Weise entstehen, nicht, als Kunst bezeichnet zu werden.44 Außerdem wendet sich Valéry gegen moderne Autoren und Künstler, die mit wenig Aufwand viel Skandal bewirken, die also ohne den nötigen Aufwand, ohne Reifungsprozess künstlerisch fragwürdige Dinge produzieren, deren Zweck allein in der Schockwirkung auf das Publikum besteht. Als klassisch gilt ihm ein Autor unter der Bedingung, dass er jederzeit zur Selbstkritik fähig ist: "Classique est un écrivain qui porte un critique en soi-même, et qui l'associe intimement à ses travaux."45




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Die Ablehnung des Enthusiasmus als geeignetem Zustand des Dichters manifestiert sich vor allem in dem Gedicht Pythia. Die aus der griechischen Mythologie bekannte Priesterin des Delphischen Apollon leidet selbst unendlich an dem sie durchfahrenden Wahnsinn, sie erträgt kaum ihre Gotterfülltheit, bittet Apollon um Befreiung von dieser furchtbaren Gabe. Ein fast satirischer Zug liegt in der bitteren Feststellung der Pythia, ein Werkzeug des Gottes zu sein, der von ihrem Körper und ihrem Geist Besitz ergreift, während sie dabei immer Jungfrau bleibt.46 Ironischerweise enthält die Offenbarung des göttlichen Willens durch die Rasende in der letzten Strophe exakt die Konzeption klassischer Literatur, die Valéry vertritt. Der Enthusiasmus wird als irrationaler, ekstatischer, dionysischer Zustand dem apollinisch-klaren Geisteszustand entgegengestellt. Die Liebe, die vor allem den romantischen Vorgängern als Inspirationsquell oder sogar Voraussetzung zur Dichtung erschienen war, wird von Valéry als eher hinderlicher, den Geist und das Urteilsvermögen trübender Zustand gesehen.47 Göttliche, übernatürliche Hilfe und Inspiration wird nicht völlig ausgeschlossen, doch bestreitet Valéry, dass der furor poeticus, die Beseligung durch Gott oder die Musen, ausreiche, um wertvolle, akzeptable Werke hervorzubringen. Kunst ist kein Zufallsprodukt, vielmehr entsteht künstlerisch Wertvolles durch Urteilsvermögen, Reflexion, Konstruktion.

Valéry räumt jedoch Folgendes ein: Die Götter schenken uns manchmal, wenn es ihnen beliebt - d.h. ohne, dass der Mensch dies erzwingen oder durch Bitten Einfluss darauf nehmen könnte - Eingebungen, geniale Sujets oder gelungene Eingangsverse für ein Gedicht. Sie werden jedoch als unzureichend erachtet, da sie nur den Anfang eines durch eigene Anstrengung zu leistenden Werkes bedeuten. Der erste Vers könne uns durch göttliche Gnade in den Schoß fallen, die folgenden gelte es eigenmächtig zu erschaffen, damit sie des ersten würdig seien.48 Valéry fordert völlige geistige Präsenz, Klarheit, Bewusstheit und Selbstbeobachtung beim Schreiben, das Durchschauen der Vorgänge im eigenen Innern und der eigenen Tätigkeit. Es gilt, eine Läuterung des konfusen, chaotischen Unbewussten, des Traumes, der Phantasie, des Stromes der Empfindungen zu erreichen, was speziell im Gedicht Aurore thematisiert wird.49 Eingebungen, Empfindungen und Vorstellungen sollen gesiebt, geläutert, gewogen und so stark wie möglich verdichtet werden. Aufgrund dessen lässt sich Valéry als Klassiker und Verfechter der poésie pure begreifen.50 Er betont zugleich ausdrücklich den Zusammenhang zwischen Sprache und Musik sowie den Vorrang der klanglichen, lautmalenden Mittel vor dem Sinn.51 Zu Recht weist Hans Holzkamp auf die unbestreitbare Bedeutung des Traumes, der Nacht, des Unbewussten für die Lyrik Valérys hin. Phantasie, Traum, Empfindung ist die conditio sine qua non, die matière, die Nahrung, aus welcher die Dichtung, die Musik wie auch die bildende Kunst entstehen: "Les plus profonds humains, incompris de soi-même, / d'une certaine nuit tirent des biens suprêmes / et les très purs objets de leurs nobles amours. / Un trésor ténébreux fait l'éclat de Vos jours: / un silence est la source étrange des poèmes."52

Diesen Schatz, der in der Finsternis ruht, das Unbewusste als Gesamtheit der Phantasien, Gefühle, Träume und Wünsche, gilt es jedoch aus den Tiefen in das Licht des klar denkenden Geistes und des Urteilsvermögens zu überführen. Das Unbewusste gilt tatsächlich nicht nur bei Freud als Quelle des künstlerischen




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Schaffens, das durch den Eros im Sinne des Zeugungsprinzips und des Strebens nach Unsterblichkeit motiviert wird. In der zuvor angesprochenen Lebensphase, in der Valéry sich von seinem Unbewussten abwendete und seine Gefühlswelt als Teil seines Selbst ignorierte, entstanden bezeichnenderweise keine Gedichte.53

Indem Valéry die Wichtigkeit des "jugement" hervorhebt, stellt er sich in die Tradition der Dichtungstheorien der Renaissance, die wiederum auf die Poetiken von Aristoteles und Horaz zurückgreifen. Die Anweisung des Horaz "saepe stilum vertas" besagt exakt: Nur durch ständiges kritisches Beurteilen, Korrigieren, Ausfeilen (sc. Vervollkommnung) entsteht ein wertvolles Werk.54 Insofern lässt sich Valéry durchaus als Klassiker bezeichnen.


4.4 Metapoesie in Valérys Dialogen Eupalinos und L'âme et la danse

In ihrer umfassenden Untersuchung Paul Valéry et la Grèce zeigt Suzanne Larnaudie den Einfluss der griechischen Kultur, Literatur und Kunst in den Werken Paul Valérys auf, welcher in der bisherigen Valéry-Forschung unterschätzt wurde. Bei genauer Untersuchung aller Bereiche in Valérys Werk ergibt sich tatsächlich, dass er durch die Antike stärker beeinflusst wurde als bislang angenommen. Es lassen sich Bezüge zu allen Bereichen; Musik, Architektur, Schönheitsideal, Bukolik (Hirtendichtung), Mythologie, Philosophie erkennen. Für Valéry gilt Hellas unbestritten als Wiege und Fundament der europäischen Kultur: "Tout Européen est un Grec qui s'ignore."55

Daneben faszinierten ihn Platons Dialoge aufgrund des aus ihnen hervorscheinenden Schönheitsempfindens der Griechen, ihrer Begeisterung für das Schöne, ihrer Fähigkeit zur Verknüpfung von "sensualité" und "spiritualité".56 Aus der Bewunderung des Logos der Griechen ergibt sich Valérys großes Interesse an der antiken Architektur und Musik. Er stellt z.B. im Gedicht Cantique des Colonnes eine Parallele her zwischen Architektur und Musik, die beide auf Proportionsverhältnissen beruhen, deren Schönheit und Wohlgeordnetheit also das Ergebnis von Ebenmaß und Symmetrie sind. Im Dialog Eupalinos von 1921 wird eine Entsprechung zwischen Dichtung und Architektur hergestellt. Bezüglich der apollinischen Klarheit soll die dichterische Konstruktion der architektonischen entsprechen. Ebenso wie einem Bauwerk Proportionsverhältnisse, mathematische Formeln, zugrunde liegen, soll wertvolle Dichtung das Ergebnis einer methodischen Konstruktion sein.

Im Dialog Die Seele und der Tanz stellt Valéry verbindende Elemente zwischen Dichtung und Musik her: Die Musik versetzt die Seele in Bewegungen und weckt Emotionen, die sich im Tanz ausdrücken. Die Tanzbewegungen sind durchdrungen von einem ordnenden Prinzip, das sich im Rhythmus, in der regelmäßigen Abfolge der Bewegungen, Schritte und Figuren manifestiert, die Tanzbewegungen werden




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aufgrund ihrer Wohlgeordnetheit und Regelmäßigkeit als schön oder als ästhetisches Erlebnis empfunden. Im Tanz offenbart sich nach Valéry die im menschlichen Sein angelegte Poesie.57 Die Tänzerin wird zum Sinnbild der Seele, die Tanzbewegung stellt einen schöpferischen, poetischen Akt dar, Valéry selbst vergleicht die Tanzfiguren, die Abfolge der Schritte, mit ungeschriebenen Gedichten.58


4.5 Das Gedicht als offenes Kunstwerk: Eine Anleihe bei Platon

Für den Perfektionisten und Skeptiker Paul Valéry birgt das Gedicht bzw. das literarische Werk allgemein in sich stets den Charakter des Unvollendeten, Unvollständigen, Provisorischen, was er nicht zuletzt auf die Unzulänglichkeit und Vieldeutigkeit der Sprache zurückführt: Es gebe weder ein vollkommenes Gedicht noch eine vollständige oder abgeschlossene Interpretation.59 Es gleicht einem offenen Kunstwerk, in welchem jeder einzelne Betrachter oder Leser immer neue Aspekte, Bezüge und Deutungsmöglichkeiten entdeckt, was zuvor im Hinblick auf die Malerei verdeutlicht wurde. Jacques Bouveresse zitiert eine aufschlussreiche Passage aus dem Werk Valérys:

[...] Die wahre Bedeutung eines Wortes ist das, was es als Wirkung sofort und unwiederbringlich hervorbringt - so, daß diese Wirkung ihre transitive Rolle erfüllt hat und vom Ausdruck nicht mehr die Rede ist. Damit ist klar, daß es ebenso viele wahre Bedeutungen gibt wie die festgestellte Anzahl solcher Lösungen. Gerade das Fehlen eines Stillstands und des Zögerns definiert die wahre Bedeutung. Der Rest ist Machwerk von Lexikographen.60

Die jeweilige Bedeutung eines Begriffs müsse jedes Mal durch die momentane Verwendung des Wortes expliziert werden. Valéry veranschaulicht außerdem den provisorischen und unabgeschlossenen Charakter der Wörter, indem er sie mit dünnen Brettern oder Verbindungsstegen, vergleicht, die nur tragen, wenn man sie ohne anzuhalten überquert.61 Nach Valéry lässt sich im Prinzip nicht restlos rekonstruieren, was der Dichter ausdrücken bzw. mitteilen wollte, welche Empfindungen und Gedanken ihn bewegten, als er das Gedicht verfasste.62 Der dem Medium Schrift und dem Papier, einem materiellen Träger, anvertraute, gleichsam inkarnierte Text ist bereits ein Abbild des ursprünglichen, gedanklich entworfenen Werkes, was auch für Gemälde, Werke der bildenden Kunst, gilt. Stierle spricht vom "arretierten", in seinem Fluss fixierten Werk, verweist aber in diesem Kontext von Urbild und Abbild nicht auf Platon, der bereits in seiner Schriftkritik im Dialog Phaidros den lebendigen Logos, die gesprochene Rede, von der unwiderruflich fixierten, vergänglichem Material anvertrauten, Rede unterscheidet.63 Dem Subjekt der Rede ist es möglich, diese unmittelbar zu verantworten, denn die Stimme bildet die Nabelschnur, mit der die Rede an den Urheber gebunden bleibt. Ebenso spricht Platon von geistigen Produkten, die, abgenabelt und räumlich wie zeitlich getrennt von ihrem Erzeuger, sich nicht selbst erklären und verteidigen können und daher




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Missverständnissen ausgeliefert sind (s. Anm. 62). Das poetische Werk zu enträtseln bleibt der Interpretation überlassen, die jeweils von der Kultur, vom Wissen, Empfinden und Assoziationsvermögen des rezipierenden Individuums abhängt. Aus den unzähligen Aufzeichnungen in den Cahiers tritt folgende Vorstellung bei Valéry hervor: Der Dichter lässt die Leser oder Rezipienten selbst kreativ werden, er versetzt mit seiner ausgefeilten, symbol- und klangreichen Sprache, die sich gänzlich von der alltäglichen, funktionalen Kommunikationssprache unterscheidet, den Leser selbst in einen poetischen Zustand. Valéry überträgt den poetischen Zustand auf die Rezipienten: Nicht der Dichter ist in einem inspirierten Zustand, sondern vielmehr die Leser oder Hörer.64 Sie sollen "verzaubert" werden und selbst den Gehalt oder die Bedeutung der hermetischen, verrätselten Gedichte erschließen, um ihren Sinn zu konstituieren. Bereits Platon thematisiert in den Dialogen Phaidros und Gorgias die psychagogische Macht speziell der Rhetorik.


5. Interpretation des Gedichtes Palme (1917)

Das Gedicht Palme entstand im gleichen Jahr wie Aurore, zwischen März und Mai 1917, und wurde von Valéry im Jahre 1922 in dem Lyrikband Charmes, publiziert.65 Rilke, der Valéry sehr zugetan war und ihn bewunderte, übersetzte es 1923 erstmalig ins Deutsche. 1925 erschien eine Übersetzung von Ernst Robert Curtius, 1998 eine weitere von Wolfgang Brunsch.66 Valéry hat es seiner Frau Jeannie gewidmet. Das Gedicht trägt deutliche Merkmale des Symbolismus, der bereits Valérys Jugendwerke geprägt hat. Mallarmé, einer der Hauptvertreter des Symbolismus, war das große Vorbild Valérys bezüglich der symbolreichen, verrätselten und klangvollen Sprache. Wie sich in der detaillierten Interpretation des Gedichts zeigen wird, enthält es eine Fülle von teilweise sehr verschlüsselten und kryptisch anmutenden Symbolen, Metaphern, Synästhesien. Die klangvolle Sprache entspricht der von den symbolistischen Dichtern aufgezeigten Verwandtschaft zwischen poetischer Sprache und Musik. Vor dem Hintergrund der zuvor betrachteten Gedichte werden auch hier speziell metapoetische Aspekte herausgearbeitet.


5.1 Inhaltsparaphrase

Dem Dichter oder lyrischen Ich erscheint ein strahlender Engel, der ihm Nahrung, Milch und Brot, darbringt und ihm ein Zeichen gibt. Der Engel mahnt, Gelassenheit zu bewahren, was sich auf das dichterische Schaffen bezieht. Als Beispiel führt der Engel dem Dichter vor Augen, wie die Palme ebenso geduldig und gelassen ihre Früchte reifen lässt (Str.1). Dieser Reifungsprozess wird in den nachfolgenden Strophen bis zum Schluss (Str. 2-9) detailliert beschrieben.




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Es handelt sich um ein Gleichnis, bei dem ein Bezug, eine Verwandtschaft, zwischen Mensch und Baum, genauer: zwischen dem Dichter und der Palme, hergestellt wird. Auf der Bildebene befindet sich die Dattelpalme, die sich aus den Tiefen der Erde sowie durch das Sonnenlicht nährt, um ihre Früchte in einem langsamen, gründlichen Prozess reifen zu lassen. Der Zeitpunkt ihrer Reife wird als ein zutiefst natürlicher Prozess vorgestellt, in den niemand einzugreifen imstande ist. In aller Stille, in scheinbarer Unbeweglichkeit und Untätigkeit, bringt die Palme, trotz einer eher lebensfeindlichen, trockenen Umgebung, ihre Früchte hervor, die sich durch ihre Süße und Köstlichkeit, nicht zuletzt durch wertvolle, nahrhafte Inhaltsstoffe, auszeichnen. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, wirft sie ihre Früchte zur Freude der Menschen ab. Der Baum lässt seine Früchte reifen, da dies in seiner Natur liegt, er verfolgt nicht den Zweck, die Menschen zu ernähren oder Ruhm zu ernten. Auf der Sachebene befindet sich der Dichter oder Literat, dessen Werke einen Reifungsprozess durchlaufen müssen, wenn er Respekt erlangen will und seine Werke entsprechende Würde erhalten sollen. Er nährt seine schöpferische Fähigkeit durch eine unablässige Suche, ständiges Streben und Bemühen, durch innere Entwicklung und Entfaltung, auch unvorteilhaften und sogar bedrohlichen Bedingungen zum Trotz. Seine geistigen Erzeugnisse reifen ohne Zwang, und er erwartet gelassen den richtigen Zeitpunkt. Der Lohn oder die Entschädigung großer Mühen und langen Wartens tritt in der Anerkennung, der Bewunderung und Dankbarkeit seitens derer hervor, welche die Früchte zu goutieren vermögen.

Das tertium comparationis besteht in dem Reifungsprozess wertvoller, anerkennenswerter Ergebnisse, der sich für Außenstehende unmerklich vollzieht. Nur scheinbar passiv verhalten sich der Dichter bzw. der Denker, der Literat und der Baum, denn sie assimilieren unermüdlich Nährstoffe, welche die conditio sine qua non für ihre Erzeugnisse bilden.

Da die Palme selbst als beseeltes, empfindendes Wesen erscheint, handelt es sich über das Gleichnis hinaus um eine Personifikation: Der Dichter wird selbst zu dem erhabenen, ständig in die Höhe strebenden, wachsenden und früchtetragenden Baum.67 Für Valéry bedeuten Bäume beseelte Wesen, Persönlichkeiten, zu denen er eine innige Verwandtschaft empfindet. In diesem Kontext sei daher auch auf die Interpretation des Valéryschen Werkes Dialog über den Baum von Brunsch verwiesen.


5.2 Besonderheiten im formalen Aufbau

Das Gedicht besteht aus 9 Strophen von jeweils 10 Versen zu 7 Silben (Heptasyllaben). Das Reimschema ist regelmäßig: die Verse 1-4 jeder Strophe enthalten rimes alternées (a b a b), die Verse 5-6 einen Paarreim (c c), die Verse 7-10 wieder rimes alternées (d e d e). Es ergibt sich also eine Symmetrie, bei der die Verse 5-6 (c c) die Achse bilden. Was die Reimfülle betrifft, stehen die weiblichen und männlichen Reime im Verhältnis 4:6 zueinander, in jeder Strophe lassen sich



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entweder 4 männliche und 6 weibliche oder 6 männliche und 4 weibliche finden, wobei die Reihenfolge wechselt.

Die Klangfülle der Sprache ergibt sich aus der auffallend großen Anzahl von rimes riches und stimmhaften Konsonanten (l, m, d) sowie vokalischer Alliterationen.

Strophe 1: redoutable - table; calme - palme; vision - profusion, die Assonanz wird hier verstärkt durch die Tmesis oder Dihärese (vi-si-on). Str. 2:  moment - firmament. Str.3: tendre - attendre, Str. 4: impérissable - sable, oracle - miracle, Str. 6 : solennelle - eternelle, Str. 9 enthält Binnenreime: patience - silence - chance (v. 1-4), auch Str. 9 (v. 5-6): perdu ces heures - tu demeures; ein Binnenreim bezüglich gleicher Vokale, abandons - dont - dons (v. 7, 9-10). Der Beginn der letzten Strophe erhält seinen beschwörenden Klang durch die dreimalige Wiederholung und die Dihärese oder Tmesis (in: pa-ti-ence), wodurch die drei Wörter anderthalb Verse ausfüllen. 


5. 3. Die rhetorischen Mittel

Alliterationen: Str. 1 (v. 1-2): a-Alliteration, die p-Alliteration fällt auf (besonders in v. 9-10), l-Alliteration (v. 2-4: l'éclat - lait plat), auch deutlich in Str. 3 (v. 1-3) und Str. 4, v. 1: "l'or léger qu'elle murmure", die p-Alliteration in Str.1 fällt auf (besonders in v. 9-10).

Str. 3: Die Verse 4-6 enthalten mehrere m-Alliterationen, ebenso Str. 5 (v. 8-10: dissimule, accumule, arôme, amours), Str. 4: s-Alliterationen (v. 2-5), d-Alliteration in der letzten Strophe (v. 3, 5, 6-10).

Anaphern: Die Wiederholung (Geminatio/Anapher) in den Worten des Engels in der Eingangsstrophe ("Calme, calme, reste calme") verstärkt den Ernst und den mahnenden und beschwörenden Charakter der Forderung. Diese Beschwörungsformel kehrt wieder in Str. 8 als nochmalige Aufforderung zur Geduld: "Patience, patience, patience dans l'azur". Zugleich handelt es sich um eine Apostrophḗ (Anrede). Eine Apostrophḗ an die Palme findet sich in der letzten Strophe ("Palme! tu n'as pas..., tu demeures..." v. 2, 5, 6). Die Schlüsselwörter in Palme sind "patience" und "silence". Die Wiederholung von: perdus/perdu (Str. 8, v. 1-2 - Str. 9, v. 5) bewirkt eine Hervorhebung des Gedankens, dass die Stunden und Tage nur scheinbar verloren waren, was sich am Schluss bestätigt. Eine betonende Anapher liegt dem Ausruf: "Qu'elle est tendre, quelle est digne" (Str. 3, v. 8-9). Ein Oxymoron findet sich in den Eingangsworten "sa grâce redoutable"; eine Anmut, die zugleich unheimlich oder erschreckend ist, da es sich um das Erscheinen eines übernatürlichen Wesens handelt. Auch kann die Junktur vent - arroser (Str. 4, v. 6-7) als Oxymoron gelten: während mit "arroser" gewöhnlich Wasser bzw. Regen assoziiert wird, ist es hier der Wind, der den aufgewirbelten Sand zu dem Baum hintreibt.




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Asyndeton (Aufzählung ohne Bindewörter): Was die "heureuse surprise", den Fall der reifen Früchte schließlich auslöst (Str. 9), wird asyndetisch mit einer inhaltlichen Steigerung (Klimax) aufgezählt: 1. une colombe, 2. la brise, 3. l'ébranlement le plus doux, 3. une femme qui s'appuie.

Enjambements lassen sich zahlreich feststellen, z. B. in den Eingangsversen (Str. 1, v. 1-4), die Verse 5-7 der 2. Strophe bilden einen Satz, (verteilt auf fünf Verse), ebenso in Str. 4 (v. 6-10: "une voix... qui... se flatte"), Str. 9, v. 6-10. Als Synästhesie kann "l'or qu'elle murmure" betrachtet werden. Der optische Eindruck des Goldes wird verbunden mit dem Höreindruck der leisen Stimme, d.h. des Rauschens der Blätter im Wind. Das Gold hebt den besonderen Gehalt oder Wert der Worte hervor, die die Palme erklingen lässt.

Personifikationen: Die Palme wird als menschliches Wesen, als edles, strebendes, im Verborgenen schaffendes, auch leidendes Wesen präsentiert und am Schluss des Gedichts direkt angeredet (Str. 9). Die einzelnen Teile der Palme, die Blätter, die Wurzeln, die Früchte, sowie die Elemente, die sie umgeben, die Luft, der Wind, der Sand, werden ebenfalls personifiziert.


5. 4 Detaillierte Analyse

In der Eingangsstrophe wird zunächst eine Epiphanie, die Erscheinung eines übernatürlichen, göttlichen Wesens, beschrieben. Dem Dichter bzw. dem lyrischen Ich erscheint ein Engel, dessen Anwesenheit trotz der Anmut, die er ausstrahlt, erschreckend wirkt. Bei der Furcht, die beim plötzlichen Anblick übernatürlicher Dinge und Wesen empfunden wird, handelt es sich um einen verbreiteten literarischen Topos.68 Das engelhafte Wesen erscheint anmutig, lieblich, und zugleich unheimlich. Es kann sich um eine geliebte Person handeln, etwa um Jeannie, die Frau Valérys, der das Gedicht gewidmet ist, oder eine idealisierte Frau, deren Anwesenheit den Dichter tröstet und inspiriert, deren Schönheit aber zugleich irritiert.69 Der Engel lässt sich auch als das höhere Selbst des Dichters auffassen, mit dem er in ein Zwiegespräch tritt.

Die Gaben des Engels, Milch und Brot, lassen sich wie folgt deuten: Die Milch symbolisiert unter anderem geistige Nahrung, das Trinken von Milch steht für die Aneignung von Wissen.70 Die Farbe der Milch sowie ihre glatte Oberfläche verweisen auf Reinheit und Klarheit, Unvermischtheit, was der Dichtungskonzeption Valérys entspricht. Das Brot repräsentiert den Körper und Körperlich-Materielles, nach Freud versinnbildlicht es auch sinnlich-sexuelle Bedürfnisse.71 Milch und Brot lassen sich als Metaphern für Geist und Materie auffassen, als Grundkomponenten, aus denen Dichtung als schöpferische Tätigkeit bestehen muss, rationales Urteil und Gestaltungsprinzip einerseits, das "Irrationale", d. h. die Sinneseindrücke, Vorstellungen und Empfindungen andererseits.




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Die Präsenz des Engels als Medium zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre deutet auf ein gleichsam überrationales Prinzip hin, auf eine göttliche Eingebung.72 Der Engel fordert eindringlich zur Gelassenheit auf; die Mahnung wird intensiviert durch die Wiederholung (Anapher), die einer Beschwörungsformel gleichkommt und überdies an eine Bibelstelle erinnert.73 Das lyrische Ich soll sich an dem bewundernswerten Baum ein Beispiel nehmen. Die letzten Verse (9-10) bilden die Überleitung zu dem ab der nächsten Strophe entfalteten Thema, zum Wesen der Palme. Auch in den nachfolgenden Strophen ist es der Engel, der spricht.

Die Palme erhält erst ihre eigentümliche Form, wenn sie sich unter der Last ihrer Früchte biegt, erst dann ist ihr Wesen vollendet (Str. 2, v. 1-4). Der Adressat, das zuhörende lyrische Ich, wird aufgefordert, zu betrachten, wie die Palme unter der Spannung vibriert, die durch das Gewicht erzeugt wird. Zugleich wird der Leser in das poetologische Zwiegespräch einbezogen. Dank ihrem elastischen Stamm gelingt es ihr, der Schwerkraft nachzugeben, ohne zu brechen. Die Faser, die den Moment oder Zeitpunkt bestimmt ("qui divise le moment") scheint zugleich schon den Zeitpunkt der Reife zu antizipieren.74

Die Palme gleicht einem Schiedsrichter ("arbitre") zwischen Schatten und Sonne, d. h. die Stelle, auf die ihr Schatten fällt, ist geschützt vor der Sonne (Str. 3, v. 1-2). Auf der Sachebene kann dies auf die Fähigkeit des Dichters und Denkers hinweisen, klare und dunkle Vorstellungen, Wachen und Schlafen zu unterscheiden. Die Palme erscheint dabei so geheimnisvoll, weise und ehrwürdig wie eine Sibylle.75 Im Kontrast zu dem vermeintlichen Schlaf ist sie höchst wach; der Dichter ist ebenso nur scheinbar untätig, während er nicht müde wird, Gedanken und Vorstellungen zu "rufen" und sie wieder zu "verabschieden" (v. 6-7), sofern sie unwichtig oder nicht verwertbar sind. Es folgt ein emphatischer Ausruf (v. 8-10, Anapher), der die Würde der Palme hervorhebt, mit der sie sich göttlicher Hand anvertraut. Hier wird der göttliche Wille, der den Dichter bei der Elaboration seiner Schöpfungen unterstützt, angesprochen. So erscheint die Palme nicht völlig isoliert und auf sich gestellt.76 Str. 4 stellt einen Bezug zur Musik her: Feines Gold erklingt bei der bloßen Berührung mit der Luft, die ebenfalls belebt und personifiziert erscheint. Die Palme, in deren Blättern der Wind spielt, wird zum Musikinstrument. Der Lufthauch symbolisiert die Inspiration des Dichters, die auch bei Valéry - abgesehen von den bekannten skeptischen Einschränkungen - eine große Bedeutung einnimmt. Zugleich verweist dieses Bild auf den antiken Topos, dem zufolge im Blätterrauschen Gottheiten ihre Anwesenheit kundtun und dabei weissagen, wie etwa Apollon im Rauschen der Lorbeerblätter gegenwärtig ist (vgl. v.8!). Eine Synästhesie wird durch die Verbindung des optischen Eindrucks, des schimmernden Goldes, mit dem auditiven Eindruck des Flüsterns, "murmure", erreicht. Die "soyeuse armure", ein Oxymoron, steht metaphorisch für die faserige Rinde der Palme, die sie umhüllt und schützt wie ein Panzer.




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Die Palme verleiht dem Wind eine unvergängliche Stimme, während der Wind ihr einerseits Sand entgegenweht, mit dem er sie - anstatt mit nährendem Regen - besprengt. Der Wind erscheint ebenfalls personifiziert. Ein gelungenes Oxymoron besteht in der Assoziation von Sand und Bewässern bzw. Besprengen, "sable" und "arroser". Die Abwesenheit von Wasser steht für die lebensfeindlichen, nur für wenige Pflanzenarten erträglichen Bedingungen. Im übertragenen Sinn bezeichnet die Situation der Palme diejenige des Dichters und Denkers, der sich gegen widrige Umstände, oder gegen eine nicht immer wohlwollende Umwelt behauptet. Er gefällt sich darin, seinen "chagrin", Kummer oder Groll, durch Transformation in Dichtung zum Klingen und Tönen zu bringen (v. 9-10). Die geschilderten Natureindrücke, Wind, Sand, Sonne, das Blau des Himmels wirken am schöpferischen Prozess mit.77 Die Palme steht zwischen Sand und Sonne, Erde und Himmel, sie hat an zwei Welten Anteil (Str. 5, v. 1-2). Ihre Unkenntnis über sich selbst ("elle s'ignore") ist auf die nachfolgenden Verse zu beziehen. Jeder Tag bringt ihr einen Gewinn, denn sie erreicht mit jedem Tag ein wenig mehr Süße, die in ihre Früchte eingeht (v. 3-4). Die Süße der Früchte ist durch göttliche Dauer festgelegt, d.h. die Palme kennt selbst nicht die Dauer des Reifungsprozesses und ist nicht in der Lage, ihn selbst zu bestimmen, wie auch der Dichter die Dauer seiner eigenen Entwicklung und der Vollendung seines Werkes nicht abzumessen vermag. Zu bemerken ist, dass dieser Gedanke genau in der Mitte des Gedichtes formuliert wird (v. 5-6). Die zahlreichen sonnigen Tage scheinen zu verschwinden, ihr Licht wird indessen assimiliert und geht ein in den "suc où s'accumule tout l'arôme des amours": Aus dem Saft, in dem der Duft (oder: das Aroma) aller Liebe gespeichert wird, werden die Früchte gebildet. Ebenso gewinnt der Dichter aus so elementaren und eindrücklichen Erfahrungen wie der Liebe Stoff für sein Werk.

Die folgende Strophe thematisiert die scheinbare Unerbittlichkeit und den Geiz, den man der Palme zu Unrecht vorwerfen würde. Manchmal mag man verzweifeln und ihr Härte und Unnahbarkeit unterstellen, da nicht einmal Tränen sie beeindrucken. Ebenso verhält sich der Dichter und Denker zuweilen unnahbar, versunken ("dans l'ombre de langueur", v. 4), schein- bar geizig, da er alles für sich behält, solange er es nicht vollendet hat. In der Mitte der Strophe (v. 5-6) wird in der zweiten Person die Bitte formuliert, der Palme keinen Geiz zu unterstellen.78 Der Engel spricht noch immer zum lyrischen Ich, wobei aber diese Aufforderung auch dem Leser gilt. Weise ist sie zu nennen, da sie Bedeutendes, Kostbares hervorbringt ("tant d'or et autorité"). Durch den edlen Saft, der die Früchte entstehen lässt (Str. 4, v. 9), steigt eine ewige Hoffnung zur Reife hinauf (v. 8-10). Die Hoffnung kann sich sowohl auf den Dichter beziehen, der ja an die Früchte seiner Bemühung, an die Vollendung seines Werkes glaubt, als auch auf diejenigen, welche sie ebenfalls erwarten. Auffallend ist in dieser Strophe die Häufung von qualifizierenden Ausdrücken, welche die besondere Würde der Palme unter- streichen; "l'adorable rigueur", "sage", "or et autorité", "solennelle", "maturité".





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Strophe 7 widerlegt die scheinbare Untätigkeit der Palme. Anstelle ihrer Blätter, in welchen der Wind spielt, werden hier ihre Wurzeln in den Blick gerückt, und zugleich die Anstrengungen, welche sich unterhalb der Erde, im Verborgenen, vollziehen. Alle Unbeteiligten mögen die Zeit als verloren betrachten (v. 1-2), doch unsichtbar arbeiten sich die Wurzeln unermüdlich durch den Wüstengrund; dies evoziert den Vorgang des Beackerns und Bebauens. Die tiefen Wurzeln der Palme werden personifiziert (v. 5-10). Im Dunkeln streben sie unermüdlich weiter ins Erdinnere, um das verborgene Wasser zu finden, die Nahrung, die unverzichtbar und notwendig ist für den Gipfel, die Krone, die Früchte tragen soll.79 Ebenso sucht der Dichter und Denker unermüdlich nach Nahrung, nach geeignetem Stoff für sein Werk, der sich auch für Valéry in der Tiefe der Seele, im Bereich des Unbewussten, der Gefühlswelt, der Welt der Träume, befindet. Dieses verborgene Wasser, die Nahrung aus der Tiefe, gilt es umzuwandeln, zu assimilieren.80 Erinnert sei an den zuvor zitierten Vergleich des Unbewussten mit einem Schatz, der in der Finsternis liegt ("le trésor ténébreux", Anm. 48).

Strophe 8 beginnt mit einer beschwörenden Mahnung (v. 1-2), die eine Entsprechung zur Eingangsstrophe ("calme, calme") darstellt, die Wiederholung (Geminatio) intensiviert die Aussage in ihrem beschwörenden Klang. Der Engel wendet sich hier nochmals an das lyrische Ich mit dem Appell an Geduld und Gelassenheit. Die Stille erlaubt den Früchten, heranzureifen, sie ermöglicht ihre Vollendung (v. 3-4). Der Zeitpunkt der Reife, der "Geburt" des ausgereiften Werkes, wird kommen, und es wird, trotz ungeduldiger Erwartung, wie eine Überraschung sein: Wenn der Zeitpunkt erreicht ist, genügt die geringste Berührung, durch eine Taube, einen Windhauch, eine Frau, die sich an die Palme lehnt, um das Herabfallen der Früchte zu bewirken. Dieses wird mit einem beglückenden Regen verglichen, der ja eine Erlösung von langer Trockenheit bedeutet.81 Die sich anlehnende Frau verweist auf die Anwesenheit eines geliebten Menschen, auf welche der Dichter und Denker letztlich nicht verzichten kann, mag er sich auch zurückziehen und lieblos wirken (Str.6). Die neunte und letzte Strophe beschreibt die Menschen, die gleichsam außer sich geraten und sich unaufhalt- sam auf die Früchte stürzen. In der Mitte der Strophe wendet sich der Engel bestätigend an das lyrische Ich (v. 5): Die Geduld und die Gelassenheit werden schließlich belohnt, womit auf Str. 1 und 7 rekurriert wird. Das Gedicht endet mit der Erkenntnis, dass die Palme durch die Trennung von ihren Früchten erleichtert wird (v. 6-7). Zugleich wird hier die Parallele zu einem Geburtsvorgang evoziert. Bezüglich des Vergleichs mit dem Baum zeigt sich ein intertextueller Bezug zu einem Brief Rilkes aus dem Jahre 1903. Rilke legt dem jungen Dichter Franz Xaver Kappus nahe, achtsam und geduldig mit dem Wachstum seines inneren Lebens umzugehen; er soll seinen Empfindungen und Gedanken die Zeit zugestehen, die sie benötigen, so wie der Baum seine Früchte nicht zur Reife drängt. Zugleich stellt auch Rilke die Parallele zu Schwangerschaft und Geburt her und verweist überdies auf die grundlegende Bedeutung des Unbewussten für das künstlerische Schaffen:




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Lassen Sie Ihren Urteilen die eigene, stille und ungestörte Entwicklung, die, wie jeder Fortschritt, tief aus innen kommen muß und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann. Alles ist austragen und dann gebären. Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewußten, dem eigenen Verstande Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen. Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts, Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen möchte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit 82


5. 5 Das Symbol des Baumes

Das Hauptsymbol des Gedichtes ist die im Titel bereits genannte Palme. Der Baum stellt allgemein ein gängiges, seit der Antike bekanntes Symbol des Lebens dar. Den Weltenbaum, die Esche Yggdrasil, kennt z. B. das germanische Epos. Vielfach repräsentiert der Baum auch als Traumsymbol das menschliche Leben. Mit seinen zahlreichen Ästen, die auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen, symbolisiert er im Sinne des “Stammbaumes“ die Generationenfolge von Menschen. In seiner Entstehung und langjährigen Entwicklung, seiner Entfaltung, seiner Blütezeit, seinen Früchten stellt der Baum eine passende Entsprechung zur persönlichen Entwicklung und Entfaltung des menschlichen Individuums dar. Der Baum ver- anschaulicht ebenso die condition humaine, die körperliche und die geistige Natur des Menschen. Beide sind verwurzelt in der Erde und bedürfen irdischer Nahrung, während sie andererseits in die Höhe, zum Licht, zum Himmel streben. Wenn auch der Mensch, solange er lebt, an die Erde und an seinen Körper, die Materie, gebunden bleibt, ist er doch befähigt, selbst unter schwierigen Bedingungen und wenigen Mitteln, alle seine Seelenkräfte zu entfalten, zur Blüte und zur Vollendung zu bringen. Die Früchte symbolisieren, wie leicht zu erkennen ist, den Erfolg langer Bemühungen.83 Der Baum repräsentiert zudem ein Sinnbild par excellence der menschlichen Beständigkeit, Leidensfähigkeit, Tapferkeit: So wie er auch unter schlechten, lebensfeindlichen Bedingungen überlebt, allen destruktiven Einflüssen von außen - Hitze und Trockenheit, Kälte, Unwetter - schutzlos ausgeliefert ist, so muss sich der Mensch sein Leben lang gegen Gefahren aller Art wie auch gegen Schmerzen behaupten: In Vergils Aeneis versinnbildlicht die vom Sturm geschüttelte Eiche den furchtbaren emotionalen Konflikt des Aeneas, der gezwungen ist, sich von Dido trennen, d.h. seine Liebe zu opfern, um seinen göttlichen Auftrag, die Gründung Roms, zu erfüllen.84 Hohe Bäume können auch auf menschliche Hybris verweisen; der vom Blitz getroffene Baum wie etwa die Zeder, dient in der Emblemkunst des 16. und 17. Jahrhunderts zur Warnung vor göttlicher Strafe. Die aus Ovids Metamorphosen bekannte Verwandlung von Menschen in Pflanzen (und Tiere), wobei sie den ihnen eigentümlichen Charakter oder Wesenszug beibehalten, verweist auf die schon in der Antike empfundene




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Verwandtschaft zwischen den Lebewesen. Die Vorstellung, dass bestimmten Bäumen eine göttliche oder magische Kraft, eine bezaubernde und weissagende Fähigkeit innewohnt, findet sich in diversen Religionen, so auch in der griechischen Antike: Es sei erinnert an den inspirierenden Lorbeer des Apollon, den Dichterlorbeer, den Ölbaum der Athene und die dem Zeus geweihten Eichen in Dodona, die nicht gefällt werden durften.85


5.6 Der Symbolgehalt der Palme

Die Palme gilt in der Psychoanalyse als Symbol der menschlichen Seele, der inneren Entwicklung und Entfaltung des Individuums.86 Aufgrund ihres Standortes ist die Palme in besonderem Maß lebensfeindlichen Bedingungen wie extremer Hitze, Trockenheit oder Wassermangel, Sandstürmen und wenig nahrhaftem Boden ausgesetzt. Zugleich besitzt sie wie kein anderer Baum die spezifische Fähigkeit, sich diesen Bedingungen anzupassen und kann bis zu 300 Jahre alt werden. Daher symbolisiert die Palme auch in besonderer Weise die menschliche Beständigkeit und Überlebensfähigkeit. Ihre immergrünen Blätter werden im Christentum als Symbol des ewigen Lebens und der Auferstehung gedeutet, Palmzweige gelten außerdem als Symbol des Friedens und der Freude. In der griechischen und römischen Antike war die Palme Attribut des Sonnengottes Helios, der Palmwedel galt als Siegessymbol. Aufgrund ihrer süßen, nahrhaften Früchte, die sie abwirft, sobald der Moment der vollen Reife gekommen ist, gilt die Dattelpalme mit dem signifikanten botanischen Namen Phoenix, der auf ihre Überlebens- und Regenerationsfähigkeit hinweist, auch als Symbol der Großzügigkeit. Im Fall des vorliegenden Gedichtes wird die Palme zum Sinnbild des Dichters. Diese lässt sich aber auch auf die Forscher, Denker und Literaten allgemein beziehen, die sich dem Postulat Valérys gemäß für ausgereifte Ergebnisse den nötigen Aufwand treiben sollten, besonders in einem Zeitalter der Reizüberflutung und Massenproduktion.87 Mit unendlicher Geduld, Sorgfalt und Beharrlichkeit sucht der Dichter den Stoff für sein Werk, das reine Wasser, assimiliert ihn, transformiert ihn zu dem, woraus die kostbaren Früchte entstehen. Die scheinbare Untätigkeit und Passivität täuscht; mit den tiefen Wurzeln sucht die Palme unermüdlich reines Wasser und nimmt zugleich mit ihren Blättern Licht auf, um Früchte tragen zu können. Das besondere Merkmal der Dattelpalme besteht im langen Reifungsprozess der Früchte: Die Palme trägt vor ihrem zehnten Lebensjahr keine Früchte. Diese können nach relativ früher Blütezeit im Februar erst im November oder Dezember geerntet werden.

Die Früchte der Palme stellen daher in vielfacher Hinsicht ein passendes Sinnbild für die ausgereiften, wertvollen dichterischen Werke dar, wie Paul Valéry sie schuf.




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Zusammenfassung

Die gewählten Beispiele aus der Malerei veranschaulichen, wie die Thematik der Selbstreflexivität speziell auf die Dichtung übertragen wurde. In den erwähnten Gemälden sowie in den behandelten Gedichten Valérys kommt die Selbstdarstellung des Künstlers wie auch der Gestaltungs-und Entstehungsprozess eines Kunstwerkes zum Ausdruck. Mittels der detaillierten Interpretation von Palme sollten der metapoetische, der autoreflexive und zugleich der autobiographische Charakter des Gedichtes verdeutlicht werden. Die Aktivität des Dichters wird von Paul Valéry in genialer Weise in allen Details auf die nach außen hin nicht sichtbare, stille und unablässige Assimilationstätigkeit des Baumes übertragen. Die Gründe für die Auswahl der Palme als Sinnbild des schöpferischen Menschen und zugleich als poetisches Selbstporträt Valérys sind deutlich zu erkennen: Ihre Größe und ihr hohes Alter, das sie erreicht, ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber lebensfeindlichen Bedingungen, der lange Reifungsprozess ihrer Früchte, der sich nicht erzwingen lässt, verleihen ihr eine Würde, die für das Selbstverständnis des Dichters spricht. Abschließend ist hervorzuheben, dass die Figuren Narziss, Monsieur und Madame Teste, die junge Parze und schließlich die Palme die innere Entwicklung des Dichters und Denkers Valéry widerspiegeln und verkörpern. In Monsieur Teste manifestiert sich seine Phase der ausschließlich intellektuellen Tätigkeit. Narcisse, La jeune Parque und Palme sind in zweierlei Hinsicht autoreflexiv, da sie einerseits starke autobiographische Prägung aufweisen, gleichsam Selbstporträts des Dichters darstellen, andererseits im metapoetischen Sinn die Entstehung poetischer Schöpfungen und die von Valéry gesetzten Kriterien thematisieren. Zugleich lassen sie seinen beständigen, schmerzlich empfundenen inneren Konflikt zwischen Intellekt bzw. Ratio und Sinnlichkeit bzw. Unbewusstem erkennen. Im Gedicht Palme manifestiert sich außerdem das lange Schweigen des Dichters, der endlich nach mehr als zwanzig Jahren zu seiner poetischen, schöpferischen Tätigkeit zurückgefunden hat.


Literaturverzeichnis

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Becker, Udo (2005): Lexikon der Symbole. Freiburg: Herder Spektrum.

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Die Bibel: Die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, vollständige Ausgabe, übers. und hrsg. von Vinzenz Hamp/Meinrad Stenzel/Josef Kürzinger. Gütersloh: Prisma Verlag.

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Anmerkungen

1 Dazu Seiler (1997), S. 2f.; 168ff.; Ambühl (2005) S. 7f.; 29/30; 392f. Der Begriff "Metapoesie" wird vermieden, stattdessen wird von "selbstreflexiver Dichtung" gesprochen.

2 Die Natureindrücke wirken als schöpferische Kräfte, "forces créatrices", an der Entstehung des Gewebes mit. Spitzer (1959), 343ff. Zugleich handelt es sich bei La Fileuse aus dem Album des vers anciens von 1920 um ein Gewebe intertextueller Bezüge, die von Spitzer aufgezeigt werden: Als Vorlagen des Gedichts dienten Valéry ein griechisches Gedicht über den Tod einer Webkünstlerin sowie eine Fileuse von Heredia und das Gedicht Sainte von Mallarmé. Zum Text als Gewebe vgl. Stierle (1996), 188f. Zu den Parzen als Spinnerinnen des Lebensfadens: Ovid, Amores I 4., v. 17–18. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass der lateinische Begriff textum ursprünglich ein Gewebe bezeichnet.

3 Rauhut (1930) zu Aurore: 188f.; 199 f.; 211; 218; 234ff., zu Eupalinos: 194f.; 239ff.; 249–250.

4 Bertholet (2011), 503ff.; 526–527; 580. Im Jahre 1937 wird Valéry Professor für Poetik am Collège de France, dazu Schmidt-Radefeldt (1999), 141ff.

5 Stoichita (1998), 25ff. In Poussins Selbstporträt von 1650 sind z. B. im Hintergrund Bilderrahmen zu erkennen, darüber hinaus sieht man links im Vordergrund auf einem Bildausschnitt eine weibliche Gestalt im Profil, was als Beispiel für die selbstreflexive Technik des "Bildes im Bild" gelten kann.

6 Das Bild Der Heilige Lukas malt die Madonna von v. Heemskerck (16. Jahrhundert) ist interpretiert und abgebildet in: Kruse (2003), 198 ff.; 258–59.

7 Ebd. 50ff.; 55. Zu Murillo 239: "Die Hand durchstößt die Fläche, die Darstellung und Wirklichkeit trennt." Vgl. auch 46ff. Die kunstvolle Täuschung des Betrachters wird auch als trompe-l’oeil bezeichnet, dazu zählen etwa auch gemalte Säulen oder Treppen, die plastisch wirken sollen, d.h. Räumlichkeit simulieren.




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8 Ebd. 61. Zu weiteren Beispielen für Selbstporträts im Spiegel (verdoppelte Bildebene) vgl. Kruse (2003), 194–95; 329; 335.

9 Ebd. 108ff. Folgende Fragen ließen sich hier anführen: Welchen künstlerischen Wert hatten gemalte Gemäldesammlungen? Besaßen sie einen Dokumentationscharakter? Dienten sie als Bestandsaufnahme oder der Eitelkeit des stolzen Sammlers? Ein Kuriositätenkabinett bezeichnet eine Sammlung von Liebhaberobjekten, nicht etwa von merkwürdigen, "kuriosen", Dingen. Als curieux (neugierig) gilt im 17. Jahrhundert ein Liebhaber oder Sammler von Kunstwerken. 

10 Ebd. 276–77. Im 17. Jahrhundert war neben der Begeisterung für die Illusion und den trompe l’oeil auch eine Kritik der Malerei als vorsätzlicher Täuschung, als Schein und Trug, als vanitas, verbreitet.

11 Dazu Brandt (2001), 115ff.; Stoichita (1998), 280ff.

12 Auch hier finden sich Bilder innerhalb des Bildes. Zur Ablehnung der Interpretation Justis: Brandt (2001), 117; 122f.

13 Ebd. 130–32: "Das gespiegelte Gemälde erzeugt die Illusion, kein Reflex eines Bildes zu sein, sondern das anwesende Königspaar widerzuspiegeln."

14 Ebd. 136–38.

15 Ebd. 126–27. Ovid, Metam. VI 6-145, v. 18: "cum fierent" (während ihres Entstehens). Einem literarischen Zeugnis gemäß sah der König oft Velázquez beim Malen zu, um den Schaffensprozess zu verfolgen. Interessanterweise bezeichnet ein ‚Text’ tatsächlich ursprünglich ein Gewebe, "textum"; die Parallele zwischen dem Verweben von Fäden zu einem kunstvoll geordneten Ganzen und der Erschaffung eines literarischen Kunstwerkes ist offensichtlich antik. Ovid vergleicht sogar das Zusammenfügen und Verflechten seiner Metamorphosen mit einem Gewebe. Stierle (1996), 188f. verweist auf die Aktualität des Sinnbildes von der Verflechtung und webenden Verknüpfung der Erzählstränge im Yvain des Chrétien de Troyes und in der italienischen Renaissance.   

16 Stierle (1996) zur Reflexionsstruktur des Werkes: 14f.

17 Ebd. 178ff. zur Memorierbarkeit von Texten und Musikstücken.

18 Ebd. 18. Hinzuzufügen wäre der Aspekt, dass bereits die Übersetzung in eine andere Sprache einen provisorischen, oft korrekturbedürftigen und das Werk auf eine bestimmte Deutung festlegenden Interpretationsversuch darstellt. Stierle nennt die Übersetzung die Kunst einer Kompromissbildung vgl. 213. Zur horizontsetzenden Rezeption: 322f.




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19 Stillers (1987) verweist in seiner Untersuchung zur humanistischen Deutung antiker Texte darauf, dass jeder Leser ein Interpret ist, dessen Wissenshorizont unmittelbar die Rezeptionsweise bedingt. Ebd. 12ff.; 19ff., 27f.; 49f.

20 Stierle (1996), 83ff.; 98: "Es (sc. das Werk) springt jedes Mal neu und anders in seine Fremdheit und Nähe zurück". Vgl. auch 314–15.

21 Ebd. 47 zu metapoetischen Äußerungen bei Baudelaire.

22 Zur lyrischen Phase Valérys: s. Bertholet (2011), 76–82; 84.

23 Zu Madame de Rovira s. Bertholet (2011), 82; 124–126; 141–142; 149–150, zur langen Nacht in Genua: 142ff.

24 Aus den Aufzeichnungen geht nicht klar hervor, was die Ursache dieser Krise war, ob es sich um ein traumatisierendes Erlebnis, einen Angstzustand oder eine erneute aufwühlende Begegnung handelte. Nach Jarrety (1999), 149 löste die zu einer Obsession gewordene Leidenschaft für Madame de Rovira die Krise aus, die dann vermutlich durch das beängstigende Unwetter in dem hochsensiblen Valéry forciert wurde.

25 Descartes hatte in ähnlicher Weise im Jahre 1619 aufgrund einer Erleuchtung seine Philosophie entwickelt: Ein Engel soll ihm in drei aufeinander folgenden Nächten im Traum erschienen sein. Zu Valérys Cartesianismus vgl. Löwith (1971), 9ff.

26 Zitiert bei Wuthenow (1997),17. Hierin knüpft Valéry an Platon und dessen skeptische Nachfolger (4./3. Jh. v. Chr.) sowie Kant an, welcher zwischen Dingen an sich und Erscheinungen unterscheidet. Bei Valéry fehlt allerdings der metaphysische Rahmen, da er keine unsterblichen, göttlichen Ideen annimmt. Zur Wiederentdeckung der skeptischen Philosophie im 17. Jahrhundert sei verwiesen auf Friedo Ricken (1994): Antike Skeptiker, München.

27 Phaidon 80e-81a; 82cff.

28 Vgl. hierzu Kayling 2010 u. 2012 zur Rezeption und Modifikation des platonischen Erosbegriffs.

29 Vgl. dazu Bertholet (2011), 185f. Die Doppeldeutigkeit von "teste"(1. der Kopf, 2. der Zeuge, lat. testis) ist beabsichtigt. Sein alter ego, Monsieur Teste, wird Zeuge seiner eigenen Denkprozesse und Reflexionen. Das Narziss-Thema wurde unter dem Titel Les fragments de Narcisse in den Lyrikband Charmes (1921) aufgenommen. Zu Narziss s. auch Löwith (1971), 46f.; 57f.





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30 Zur Gestalt und Funktion der Emilie Teste als anima (der empfindenden Seele bzw. der Gefühlswelt nach C. G. Jung) vgl. Rauhut (1930), 101ff.; zum Widerstreit zwischen Geist und empfindender Seele: 274. Platons Dialoge wie auch Valérys philosophischer Dialog Eupalinos stellen im aristotelischen Sinn Dichtung dar, denn sie stellen handelnde, in diesem Fall sich unterhaltende, Menschen dar. Zur Mimesis: s. Aristoteles, Poetik Kap. 6. Valéry hat sich jedoch nirgendwo explizit auf eine Definition von Dichtung festgelegt.

31 Vgl. Curtius (1925), 154ff.; Rauhut (1930), 159–60. Der reine Geist muss wieder hinabsteigen in den "unreinen" Bereich der Sprache und des Irrationalen, Zufälligen.

32 Zum Thema Kunst und Unbewusstes vgl. Sigmund Freud (1975), 22f.; 284f.; 295; Otto Rank (2000); Bertram Müller (2016)

33 Zur "Wiedergeburt des Dichters" s. Bertholet (2011), 269ff.; 285ff., s. auch Rauhut (1930), 154ff.

34 Bertholet (2011), 301.

35 Zum Narziss-Thema bei Valéry: Rauhut (1930), 40ff.; 46-47. Das Spiegelbild des Narziss im stillen Wasser ist vollkommener als sein Betrachter, da es "sein Ideal des Geist-Seins" (Rauhut) darstellt. Zugleich ist es so ephemer, dass es bei der geringsten Bewegung des Wassers, das für die körperlich-sinnliche Regung und die Leidenschaften steht, verschwindet.

36 Narziss wurde von Leon Battista Alberti als Erfinder der Malerei gedeutet. Zur metamalerischen Interpretation des Narziss s. Kruse (2003), 307ff.; 312 ff.; 318 ff. Narziss verzehrt sich nach einer selbst erzeugten Illusion, einem unerreichbaren Trugbild.

37 In: Klettke u.a. (Hg.) (2000), 29ff. Klettke verwendet jedoch in ihrem Aufsatz nicht den Begriff Metapoesie oder metapoetisch. Vgl. auch Köhler in: Klettke u.a. (Hg.) (2000), 48-50.

38 Klettke a.a.O. 29–31.

39 Ebd. 31ff.

40 Ebd. 41.

41 Ebd. 37–38; 40–41.

42 Vgl. Rauhut (1930),172–73.





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43 Die Sammlung Charmes wurde 1921 publiziert. Zu Aurore als programmatischem Gedicht: Curtius (1925), 161f., zur Selbstreflexivität vgl. Rauhut (1930),188ff.; 212ff.; 218: Valéry bezeichnet das Abschütteln der Verwirrungen und Träume als Morgentoilette des Geistes, als rituelle Reinigung. Im Gedicht Semiramis steht der Turm, der erstiegen wird, für die Warte des wachen, überlegenen Intellekts.

44 Dazu Wuthenow (1997), 104; 129; 142f.

45 Ebd. 176f.

46 Der Enthusiasmus als Quelle wahrheitskündender Dichtung oder gelungener Kunst wurde bereits in der Antike angezweifelt. Zur Enthusiasmus - Kritik s. z. B. Platons Dialog Ion. Hier wird erörtert, welches Kriterium ein guter Dichter erfüllen solle. Er kann nur als Sprachrohr der Götter gelten, wenn er philosophisch, d.h. weisheitsliebend, ist, wenn er über Kenntnis des Guten und Wahren verfügt und sich daran orientiert.

47 Zum Thema des Amour/Eros bei Valéry vgl. Larnaudie (1992), 123f.;355ff.; 403f. Sein Verhältnis zur Liebe erscheint zwiespältig; Einerseits ist sie ihm suspekt als eine Macht, die den Geist seiner Autonomie zu berauben droht, andererseits bejaht er - im Sinne des platonischen Eros - die Liebe in ihrer beflügelnden, inspirierenden Wirkung. Zur Bedeutung des platonischen Eros und seiner Rezeption in der abendländischen Literatur s. Kayling (2010 und 2012 (2 Bde)).

48 Dieser Gedanke findet sich in einem Vortrag von 1921: "Les dieux, gracieusement, nous donnent pour rien tel ou tel premier vers, mais c’est à nous de façonner le second qui doit consonner avec l’autre, et ne pas être indigne de son aîné surnaturel." PI I 482. Vgl. das Zitat bei Michaut (1962), 306–7: "Ce métier (sc. du poète) consiste à savoir discerner et utiliser les merveilles que l’inspiration nous accorde de temps à l’autre." Zur Ablehnung des Enthusiasmus vgl. Rauhut (1930), 70.

49 Dazu Rauhut (1930), 188ff.; 199f.; 203; 210; 224ff. Von Valéry soll die Behauptung stammen: "Tout classicisme suppose un romantisme antérieur.", Michaut (1962), 308. Vgl. Löwith (1971), 120.

50 Einem seiner Freunde, Abbé Bremond, gelang es, eine Verbindung zwischen der Dichtung Valérys und der Konzeption der poésie pure zu entwickeln und ihn als Klassiker darzustellen. Dies wirkte sich förderlich auf seine Aufnahme in die Kommission für Kunst und Literatur im Jahre 1925 aus. Dazu Bertholet (2011), 398-401.

51 Dazu Larnaudie (1992), 69ff.; 276 f. Die Musikalität der Sprache lässt sich z. B. auch im Herbstgedicht des Symbolisten Verlaine erkennen: "Les sanglots longs des violons / De l’automne / Blessent mon coeur / D’une langueur monotone."




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52 Holzkamp (1997), 166–67. Ebenso bezieht die Palme ihre Nahrung aus den Tiefen der Erde, in der sie verwurzelt ist, diese Nahrung wird bis in die Krone hinaufgeleitet und erfährt, wie im Stoffwechsel der Pflanze, eine qualitative Umwandlung. Dazu in der anschließenden Interpretation.

53 Vgl. Freud 1975 Bd. III. 22f.; 252ff.; 283ff.; 295, Bertram Müller: Die Psychologie des künstlerischen Schaffens.

54 Horaz, Satiren I 10, v. 72. Stilum vertere, den Stift wenden, bedeutet: wegradieren; korrigieren. Mit dem stilus aus Holz oder Metall schrieb man im antiken Rom auf Wachstäfelchen, mit dem spatelförmigen Ende des stilus konnte das Geschriebene wieder gelöscht werden. Zur Tradition des Gebotes der Ausfeilung: Curtius (1950), 339. Wie schon der Alexandriner Kallimachos, der das Gedicht als ausgefeilte Kleinkunst betrachtete, fordert auch Théophile Gautier: "Sculpte, lime, cisèle", was sich in der Bezeichnung seiner Gedichte als Emaux et Camées manifestiert.

55"Jeder Europäer ist ein Grieche, der es nicht weiß" (wörtlich: "…der sich nicht kennt")! Larnaudie (1992), 11; vgl. 63ff.; 158; 169ff. Außerdem ist es das Land der Weisheit und des Logos, was er 1932 in dem anlässlich des Congrès de l’Association Guillaume Budé gehaltenen Vortrag Hellas et Nous formuliert hat. Zu Valérys Lehrveranstaltungen über die Kultur des Mittelmeerraumes in den dreißiger Jahren vgl. Bertholet (2011), 472.

56 Ebd. 141f.; 143ff.

57 Die Seele wird durch die Musik in einen poetischen Zustand versetzt. Zu diesem Dialog hatten ihn die Balletttänzerinnen von Edgar Degas inspiriert, den er persönlich kannte.

58 Zur Interpretation von Die Seele und der Tanz vgl. Rauhut (1930), 236ff.; 255f.; 264ff.

59 Die Unabgeschlossenheit kennzeichnet nach Valéry wesentlich den poetischen Schöpfungs- und Produktionsprozess. Vgl. dazu auch Schnelle (1978), 265–66. Um die Unzulänglichkeit der Sprache zu verdeutlichen, vergleicht Valéry die Wörter und Sätze mit dünnen Brettern, die über einem Abgrund liegen, die nur tragen, wenn man schnell über sie hinwegläuft, anstatt darauf zu verweilen und ihre Festigkeit zu prüfen. Schnelle (1978), 258.

60 In: Robinson-Valéry (1993) (Hg.), 244–266.

61 Ebd. 250–251.




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62 "Il n’y a pas de vrai sens d’un texte. Pas d’autorité d’auteur. Quoi qu’il ait voulu dire, il a écrit ce qu’il a écrit. Une fois publié, un texte est comme un appareil dont chacun peut s’en servir à sa guise et selon ses moyens : il n’est pas sûr que le constructeur en use mieux qu’un autre." Zitiert in: Löwith (1971), 72.
Platon thematisiert im Dialog Phaidros sein tiefes Misstrauen gegenüber der Schrift: Sie ist unzulänglich, da einmal niedergeschriebene Aussagen, Ergebnisse etc. fixiert und damit nicht mehr lebendig, nicht mehr hinterfragbar und korrigierbar sind wie die gesprochene Rede. Herbarisierte Gedanken sind aufgrund der Abwesenheit ihres Urhebers der Nachwelt ausgeliefert und nicht geschützt vor Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Phaidros 275d -277a. Zur Erfindung der Schrift: 274d ff.

63 Zum "offenen Kunstwerk" s. Stierle (1996), 180–81. Kruse stellt eine gelungene Parallele zwischen Dichtung und Malerei als "Inkarnation". Beide Medien vermögen etwas Abwesendes oder abstrakte Prinzipien, Erinnerungen oder Empfindungen mitzuteilen und zu "verkörpern". Petrarca sieht seine Dichtung als Inkarnation im Sinne der Abbildung und Vergegenwärtigung von Erinnerungen an seine verstorbene Geliebte. Zugleich ist sich Petrarca der Unzulänglichkeit seiner bloß abbildhaften Dichtung bewusst. Kruse (2003),175ff.; 182–84.

64 Zur magischen Wirkung der Poesie s. Löwith (1971), 31f.; 54ff.; 118f.; 125.

65 Der Begriff "charmes" (lat. carmen, Pl. carmina: Lied; Gedicht) bezeichnet sowohl in Anlehnung an den lateinischen Begriff Gedichte wie auch Zaubergesänge oder magische Gedichte, womit Valéry auf die antike Vorstellung von der Magie der Dichtung angespielt wird. Zur Datierung von Palme und Aurore s. Bertholet (2011), 301.

66 Brunsch (1998). Schmidt-Radefeldt nennt als Erscheinungsjahr der Übersetzung von Rilke das Jahr 1922. In: Bertholet (2011), 10 (Vorwort). Zur Bewunderung Rilkes für Valéry ebd. 312.

67 In Alphabet (1924), einer Sammlung von Prosagedichten, die fortlaufend mit einem Buchstaben des Alphabets beginnen, bekundet Valéry seine liebende Bewunderung für Bäume allgemein und äußert den Wunsch, sich diesen edlen, würdevollen Wesen anzugleichen, denen er sich tief verbunden fühlt. Das Prosagedicht endet mit einem hymnischen Preis an den Baum. Jarrety (1999), 83–84.

68 Ebenso sind die Hirten zunächst erschrocken, als ihnen der Engel erscheint, um die Geburt Jesu mitzuteilen "Fürchtet euch nicht (…)!" Lukas 2, 9–11. Vgl. auch die Epiphanie von Gottheiten im antiken Epos: Achill erblickt Athene und erschauert: Homer, Ilias I 197-200, Merkur erscheint vor Aeneas und zwingt ihn zum Aufbruch, was ihn tief erschüttert ("attonitus"): Vergil, Aeneis IV v. 279-80. Die berückende Schönheit von Göttinnen wie Aphrodite wirkt zugleich erschreckend, z. B. im Homerischen Aphrodite-Hymnos. Das Erscheinen der Geliebten wird bei Ovid zur Epiphanie einer Göttin stilisiert: Amores 5.




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69 Der Engel stellt einen Vermittler zwischen göttlicher und menschlicher Welt dar sowie eine beschützende, helfende und rettende Macht. Geliebte Frauen werden häufig mit Engeln verglichen, die den Liebenden veredeln, idealisiert zu Vermittlerinnen zwischen dem Liebenden und den Göttern. Engel repräsentieren nach C. G. Jung auch: "noch unfertige, abgespaltene, überraschend-neue Geistesgaben, unbekannte Aspekte des Selbst, Gedankenkräfte oder Persönlichkeitsideale.", so Vollmar (1998), 83–84.Valérys Gedicht Les Pas beschreibt die leisen Schritte, mit denen ein anonym bleibendes Wesen, eine Geliebte, eine Muse oder eine personifizierte Eingebung, sich dem lyrischen Ich nähert.

70 Vollmar (1998), 187; Becker (2005), 189. Zur Symbolik des Brotes vgl. Vollmar (1998), 58–59. Becker (2005), 48 thematisiert die sakrale Bedeutung des Brotes, nämlich die so genannten Schau-Brote, die den Leib Christi symbolisieren.

71 Vor dem Hintergrund der Bejahung des Lebens und der Rückkehr von der rein geistigen Meditation zur Sinnlichkeit in La Jeune Parque und Le Cimetière marin entspricht die Milch den Gaben des Intellekts, der Fähigkeit zur Abstraktion und Konstruktion, das Brot entspricht den der Wahrnehmung und der Phantasie entspringenden Vorstellungen, die es zu ordnen gilt.

72 Valéry lehnt zwar den Zustand des Enthusiasmus als völlig ungeeignet für einen Dichter ab, doch schließt er nicht aus, dass sich der erste gelungene Vers durch göttliche Inspiration zusammenfügt. Dies können wir jedoch weder erbitten noch erzwingen. Vgl. Anm. 41 u. 43.

73 Die Beschwörungsformel "patience, patience" lässt sich mit einer Bibelstelle assoziieren (Ps 40, 1; 2 u. Ro 7, 15;3), die der Hl. Franz von Sales (1567-1622) in einem Brief an die Baronin Jeanne de Chantal verwendet, um seine langjährige Vertraute zur Gelassenheit, zum Wartenkönnen zu animieren: "Attendez donc, ma chère Soeur, attendez, en attendant, afin que j’use des paroles de l’Écriture. Or, attendre en attendant, c’est de ne s’inquièter point en attendant, car il y a plusieurs qui en attendant n’attendent pas, mais se troublent et s’empressent. Brief 117, in:  Ravier (1980), 263f.

74 In Str. 8, v. 6-10 ist der entscheidende Moment erreicht, in dem die leichteste Berührung bewirkt, dass die Früchte dem Naturgesetz der Anziehungskraft der Erde folgen.

75 Zur Bedeutung der Sibyllen in der Antike: Sie genossen hohen Respekt und wurden als Prophetinnen zu Rate gezogen. Die Sibylle von Cumae, Priesterin des Apollon, tritt im 6. Buch der Aeneis Vergils als Wegweiserin und Führerin des Aeneas auf.




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76 In Str. 5 (v. 5-6), exakt in der Mitte des Gedichts, wird nochmals auf göttliche Einwirkung hingewiesen: Die Palme bestimmt nicht die Dauer der Reife, sondern eine göttliche Macht hat dies festgelegt.

77 Zu den Natureindrücken als "forces créatrices" vgl. Spitzers Interpretation von La Fileuse.

78 Vielmehr gilt ja die Palme als Symbol der Großzügigkeit und Freigebigkeit. Vgl. die Emblemsammlung von Henkel/Schöne (1967), 191f.; 201.

79 "Les sommets" kann zugleich als Metapher für die zuvor angesprochene "maturité" und "autorité" gelten, denn große, wertvolle Ergebnisse setzen entsprechende Mühen voraus!

80 Zur Alchimie des Baumes s. auch Curtius (1950), 176–77.

81 Es bildet einen Kontrast zum sandigen Wind und der Abwesenheit von Regen in Str. 4, ebenso verweist die Fülle der Früchte auf den unberechtigten Vorwurf des Geizes an die Palme: Str. 6.

82 Rilke (1903) (Online-Ressource). Die Vermutung liegt nahe, dass Valéry die zitierte Passage aus dem Brief Rilkes kannte.

83 Mensch und Baum haben sozusagen an zwei Welten Anteil, vgl. Vollmar (1998), 46.

84 Vergil, Aeneis, IV, Buch, 441–449. Die Eiche repräsentiert Aeneas, der als Sohn der Venus ein durchaus empfindsames Wesen besitzt und dem der von Jupiter bzw. Merkur befohlene Abschied von Dido, wie seine Tränen zeigen, keineswegs leichtfällt. Der Sturm und das Gewitter veranschaulichen den inneren Kampf, den emotionalen Konflikt, in dem er sich befindet. Wie die wankende Eiche letztlich bestehen bleibt, überwindet Aeneas seinen Schmerz und verlässt Karthago heimlich. Dido begeht in ihrer grenzenlosen Verzweiflung Selbstmord, nicht ohne Aeneas bzw. die Römer zu verfluchen und zugleich in prophetischer Weise die Feindschaft zwischen Rom und Karthago zu verkünden.

85 Zum Baumkult vgl. Becker 2005, 35f.; 85 zu Buddhas Erleuchtung unter einem Feigenbaum. Ovid, Met. I 547–567: Die in einen Lorbeerbaum verwandelte Daphne ist das geheiligte Attribut des Apollon, des Schutz- gottes der Dichter. In dem Säuseln der Blätter ist der Gott selbst gegenwärtig, so wie auch Pan seine Anwesen- heit im Rauschen des Waldes kundtut.

86 Becker (2005), 212. Valéry selbst soll die Gedichte als "die bei der Entwicklung einer Persönlichkeit abfallenden Produkte" bezeichnet haben: Schnelle (1978), 250–51.

87 Wuthenow zitiert eine Passage aus den Cahiers, in welcher Valéry die Massenproduktion und das Bedürfnis des modernen Menschen nach immer stärkeren Reizmitteln beklagt. Kein moderner Mensch hat mehr die Zeit oder kann sie sich nehmen, um etwas Ausgereiftes und hinreichend Vollständiges zu erschaffen. Er stellt fest, dass der Zustand eingetreten ist, den Goethe bereits vorausgesehen haben soll: "Das Progressiv-Veloziferische werde die künftige Welt beherrschen". Wuthenow 1997, 100–101. Der Anklang an Luzifer ist sicherlich intendiert!