PhiN 86/2018: 70



Gerhard Poppenberg (Heidelberg)



Erich Auerbach (2018): Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Matthias Bormuth, Martin Vialon (HG.) 2., ergänzte Auflage, Tübingen, Narr Francke Attempto.


Sechzig Jahre nach dem Tod des Autors und zu seinem 125. Geburtstag – Erich Auerbach wurde 1892 in Berlin geboren und ist 1957 in den USA gestorben – legt der Verlag die Gesammelten Aufsätze zur romanischen Philologie in einer Neuausgabe vor, die als "ergänzte Auflage" firmiert. Die erste Auflage war 1967 von Gustav Konrad und Fritz Schalk "im Einverständnis mit der Witwe des Verfassers, Frau Marie Auerbach" zusammengestellt worden. Schalk, mit dem Auerbach seit den frühen 30er Jahren und durch die Zeit des Exils in brieflichem Kontakt stand, war seit 1936 Professor für Romanistik in Köln. Konrad, der bei Auerbach und Werner Krauss Romanistik studiert hatte, war Deutschlehrer an einem Gymnasium in Wuppertal. Martin Vialon gibt in seinen einleitenden Bemerkungen zur Bibliographie der Schriften Auerbachs Informationen zu Konrads Leben und Wirken (395). Das Vorwort von Fritz Schalk zur ersten Ausgabe ist in die zweite übernommen worden. Hinzugefügt wurden ein Nachwort von Matthias Bormuth und eine sämtliche bis heute gefundenen Schriften Auerbachs sowie Übersetzungen umfassende "Primärbibliographie: Werke (1913-1958) und Briefe (1923-1957)" von Martin Vialon (399-411). Die beiden Herausgeber, zumal Martin Vialon, haben sich seit vielen Jahren durch die Herausgabe von Briefen und anderen Quellen zu Auerbachs Leben große Verdienste erworben. Außerdem bringt die Neuausgabe vier zusätzliche Aufsätze (361-392).

Die Bibliographie enthält alle bislang erreichbaren Titel Auerbachs. Sie lässt aber auch erkennbar werden, dass die Ergänzungen der Neuauflage nichts weniger als alle Aufsätze und Rezensionen Auerbachs enthalten. Nicht einmal "Epilegomena zu Mimesis" (1954), Auerbachs Auseinandersetzung mit den ersten großen Kritiken zu Mimesis. Darstellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946), wurde aufgenommen. Aus Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung (1951) hatten Schalk und Konrad den Essay zu Pascal und den zu Baudelaire übernommen, nicht aber den über Paul Louis Courier und den vielrezipierten Aufsatz "La cour et la ville". Bormuth und Vialon belassen es dabei. Hinzugefügt wurden drei Texte zu Vico sowie der bedeutende Aufsatz von 1933: "Romantik und Realismus". Das ist verdienstvoll, zeigt aber auch, dass es an der Zeit ist, angesichts der zunehmenden Bedeutung Auerbachs in der internationalen philologischen Diskussion, eine verlässliche Gesamtausgabe seiner Schriften zu erstellen. Vor allem die bibliographischen Angaben zu den Briefen Auerbachs, die bislang in Auswahlen an über dreißig verschiedenen Stellen verstreut publiziert wurden, machen deutlich, dass eine Ausgabe der Korrespondenz Auerbachs, der offenbar ein großer Briefschreiber war, dringend erforderlich ist. Sie würde nicht nur, wie die zugänglichen Briefe zeigen, substanzielle Einblicke in die Entwicklung des Denkens von Auerbach liefern, sondern auch Auskunft über die Netzwerke der jüdischen Exilanten sowie des literaturwissenschaftlichen Betriebs im Deutschland der Dreißiger- bis Fünfzigerjahre und in den USA der Nachkriegszeit geben.




PhiN 86/2018: 71


Die neu hinzugekommenen Aufsätze machen noch einmal deutlich, dass Vico, zu dem sich Publikationen von den Zwanziger- bis in die Fünfzigerjahre wie ein roter Faden durch Auerbachs Werk ziehen, der leitende Geist seiner Geschichtsauffassung allgemein und Konzeption von Literaturgeschichte besonders ist. Noch in der kurz vor seinem Tod geschriebenen Einleitung "Über Absicht und Methode" zu seinem letzten Buch Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter (1958) bezieht er sich erneut ausführlich auf Vico und dessen Neue Wissenschaft, die Auerbach als junger Mann 1924 ins Deutsche übersetzt hatte, als den geschichtsphilosophischen Anreger seines eigenen Denkens und Forschens. Besonders verdienstvoll ist die Publikation eines Textes von 1921, der aus einem Seminar von Ernst Troeltsch hervorgegangen ist und in dem Auerbach das Verhältnis von Vico und Descartes behandelt. Dieses Seminarpapier ist allerdings zu guten Teilen in Auerbachs Einleitung zu seiner Übersetzung der Neuen Wissenschaft (1924) eingegangen. Matthias Bormuth hat die Spur Vicos in seinem Nachwort hervorgehoben, beschränkt sich aber weitgehend auf längere Zitate aus den Aufsätzen, ohne zum problematischen Kern der Auseinandersetzung zu kommen, die Auerbach lebenslang mit Vico geführt hat. Überhaupt ist die Darstellung von Auerbachs Schriften in diesem recht ausführlichen Nachwort sonderbar uninspiriert. Alles wird kurz angesprochen, aber nicht in seiner konzeptuellen Dimension erschlossen. Auerbach "distanziert" sich von Balzac, er "moniert", Zola sei dem "fortschrittsoptimistischen Pathos der Zeit ergeben" gewesen. Baudelaire sei "nicht frei von der Gefahr eines effekthascherischen Ästhetizismus" gewesen, und Prousts Recherche hat einen "heiklen Zug ins Elitäre". Hätte Auerbach nicht mehr als ein paar banal kritische Anmerkungen zu den behandelten Autoren gemacht, müssten die Texte wohl nicht nachgedruckt werden. Der andere große Bezugsrahmen für Auerbachs Denken ist Dante und die Welt des Christentums. Deshalb hat Bormuth zu Recht eine christologische Dimension in Auerbachs Konzeption der Geschichte ausgemacht. Das akzentuiert die Einschätzung des Werks auf eine bislang wenig beachtete Weise.

Von den "großen Romanisten", die Hans Ulrich Gumbrecht vor zwanzig Jahren in biographischen Skizzen vorstellte, hat Auerbach national wie international die größte Fortune gehabt und die höchste Reputation erhalten. Curtius gilt als konservativ und trocken gelehrt, Vossler und Spitzer sind über die Fachgrenzen hinaus kaum bekannt, obwohl sie zu ihrer Zeit ebenfalls mit wichtigen Beiträgen in die Diskussionen über geistesgeschichtlich bedeutende Fragen integriert waren. Auerbach hingegen gilt – vielleicht vermittelt über seinen Schüler Werner Krauss und die Romanistik der DDR – irgendwie als fortschrittlich, gar links, jedenfalls wird er immer wieder mit den jeweiligen Zeitgeistmoden für kompatibel gehalten. Das Schicksal teilt er mit Walter Benjamin, mit dem er befreundet war und in brieflichem Austausch gestanden hat. Das Berliner Zentrum für Literaturforschung hat diese Deutung hierzulande stark gemacht. Karlheinz Barck und Martin Treml haben zum fünfzigsten Todestag Auerbachs einen bedeutenden Band mit Studien zu Auerbachs Leben und Werk publiziert: Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen (2007). Und Edward Said hat ihn mit einer Einleitung zur Jubiläumsausgabe des fünfzigsten Jahrestags der Übersetzung von Mimesis ins Englische (2003) endgültig zu einem festen Posten dieser Tendenz der internationalen Literaturkritik gemacht.




PhiN 86/2018: 72


Deshalb ist die andere Akzentuierung Bormuths zu begrüßen und verdient, verstärkt zu werden. Allerdings befällt einen bisweilen der Verdacht, Bormuth wolle den deutschen Juden Erich Auerbach, der im Umfeld des Berliner Kulturprotestantismus der Jahrhundertwende aufgewachsen ist, aber offenbar sowohl im Verhältnis zum Judentum wie zum Christentum ein weitestgehend säkulares Leben geführt hat, der erst nach 1933 mit seinem Judentum konfrontiert wurde und ins Exil gehen musste, fürs Christentum reklamieren. Er betont die "religiöse Grundierung seines literaturhistorischen und kulturphilosophischen Denkens", das für die "aufgeklärte Moderne im besten Sinne ein frag- und merkwürdiges Phänomen" bleibt; die "religiös beeinflusste Botschaft einer künstlerisch wie kulturphilosophischen Synthese" grundiert seine Schriften. Ob sich hier nach dem "linken" nun ein "christlicher" Auerbach abzeichnet, bleibt abzuwarten; das hätte er nun wirklich nicht verdient.

Ein Punkt, den Bormuth macht, ist jedoch sehr triftig. Im Unterschied und "in stiller Konkurrenz" zu Curtius hat Auerbach nicht das Nachleben der Antike und die Kontinuität von Antike und Christentum im Blick, sondern gerade das spezifisch Neue der christlichen Weltdeutung. Curtius zeigt das Fortleben der antiken Topoi in der Literatur des Mittelalters und der Neuzeit. Auerbach zeigt die Brüche zwischen Antike und Christentum: die christliche Stilmischung im Gegensatz zur antiken Stiltrennung; die Passion der Kreuzigung als Figur des Erhabenen; das figurale Geschichtsdenken und die Konzeption von Geschichte als Entwicklung. Das steckt eine problematisches Feld ab, das noch zu erkunden ist: Auerbachs Deutung des Christentums im Verhältnis zur Antike und zur nachchristlichen Moderne.

Auch wenn es grundsätzlich zu begrüßen ist, dass der Verlag eine Neuauflage der Gesammelten Aufsätze zur romanischen Philologie vorlegt, ist festzustellen, dass der Band im Buchhandel 98 Euro kostet. Die verdienstvolle Neuauflage ist damit durch den Preis verdorben, der geradezu verhindert, dass der Band Käufer findet. Das ist traurig und ärgerlich. Aber der Zusatz "ergänzte Auflage" wird die Fachbibliotheken anhalten, das Buch zu erwerben, so dass der Band zumindest einige Leser finden wird.