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Kathrin Engelskircher (Mainz/Germersheim)



Marc Föcking, Michael Schwarze (2015) (Hg.): Una gente di lingua, di memorie e di cor. Italienische Literatur und schwierige nationale Einheit von Machiavelli bis Wu Ming. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.



Das Risorgimento als Zeit der italienischen Nationalstaatsbildung nimmt im Rahmen der Prozesse des nation-building im Europa des 19. Jahrhunderts eine Sonderrolle ein. Italien ist damals ein zweifach gespaltenes Land: zum einem durch die Fremdmächte, die das Territorium auf dem Wiener Kongress unter sich aufgeteilt haben, um Europas Machtgleichgewicht und damit den Frieden zu erhalten; zum anderen durch die (bis heute) stark ausgeprägte regionale Identität, die über das stets problematisierte Nord-Süd-Gefälle hinausgeht und nicht nur die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Nation Italien erheblich erschwert, sondern Kommunikation zwischen den stark dialektal geprägten Gebieten nahezu unmöglich macht. Italienisch als Nationalsprache muss sich erst etablieren – wozu die Literatur einen erheblichen Beitrag leistet. In dieser artikuliert sich einerseits wiederum die Problematik des Regionalismus, vor allem aber das Thema des Mezzogiorno, das die Diversität innerhalb Italiens auch literarisch augenscheinlich werden lässt. Andererseits ist es gerade auch das literarische Feld, auf dem Konzepte und Ideen zur Einheit Italiens immer wieder erprobt werden (vgl. Isnenghi 2011: 65; (Banti 2004: VI). Im Kontext von Selbstvergewisserung und Identitätsbildung greifen Autoren "gemäß der Methode von storia ed invenzione nicht die 'faktische', sondern die 'erinnerte' und damit 'mythische' Geschichte" (vgl. Lukenda 2012: 27) auf, um im Dienste der Nation zu publizieren.

Hier setzt der von Marc Föcking und Michael Schwarze herausgegebene Sammelband an, der sich in einem historisch-chronologischen Abriss der literarischen Auseinandersetzung mit der Einheit Italiens annähert, die sich in einem Spannungsfeld zwischen "'unità' im Singular der Nation und im Plural des Lokalen" (IX) positioniert. Die Vielseitigkeit der 13 auf Deutsch und Italienisch verfassten Beiträge des Sammelbands – hervorgegangen aus Vorträgen des Hamburger Italianistentags im März 2012 – ist denn auch dessen große Leistung: Die Einzelfallstudien belegen die Bandbreite im Umgang mit der Einheit bzw. den Einheiten Italiens und zeigen auf, wie patriotisches Denken im Großen und im Kleinen vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart ein Kontinuum bildet und die Literatur mehr als alle anderen Themen durchgehend beschäftigt –und damit politisiert. Die traditionelle Verflochtenheit von Kultur und Politik, wie sie bereits das Risorgimento und der Romanticismo eingehen – der Romanticismo wird auch als "revolutionäre Romantik" (Mayer 1989: 188) bezeichnet – legt den Grundstein für eine Literatur des impegno, die sich bis heute in der Literaturlandschaft Italiens niederschlägt und immer wieder wissenschaftliches Interesse weckt.




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Anne Lübbers' Eröffnungsbeitrag beschäftigt sich mit dem Italien-Konzept Machiavellis und dessen Aneignung durch risorgimentale Denker, die den humanistischen Autor als Vorbild für den Einigungsprozess stilisieren – und "nebenbei" seinen Ruf als "skrupelloser und amoralischer Vertreter der Machtpolitik" (10) widerlegen. Machiavelli gilt wegen des Schlusskapitels des Principe zunächst in dem Sinne als innovativ, als er ganz Italien als "politisches Kollektiv" (4) sieht, also auch den Süden miteinbezieht, und auf der Begründung einer Republik besteht, die über den Kampf gegen die Fremdherrschaft aus eigener Kraft erreicht werden soll. An den Beispielen Alfieri, Foscolo und Manzoni macht Lübbers deutlich, wie der Principe als Enthüllungsbuch tyrannischer Herrschaftsmethoden und Machiavelli als Prophet der italienischen Einheit inszeniert werden.

Auch Alessandro Tassonis Werk aus dem 17. Jahrhundert sowie seine Person werden im Risorgimento, etwa wiederum durch Foscolo, patriotisch ausgelegt, wie Stephanie Neu nachweist. Die spanienfeindliche Attitüde von La secchia rapita als poema eroicomico eigne sich als Traditionslinie und Kontinuum nicht nur dafür, ein Feindbild zu entwerfen, sondern appelliere "gleichzeitig an ein italienisches 'Nationalbewusstsein'" (21). Die karikierende und komische Konzeption von (Anti-)Helden und Ereignissen in Form eines "Negativ-Epos" (28) fordere in diesem Rahmen dazu auf, innere Streitigkeiten zugunsten einer höheren, gemeinsamen Sache zu begraben.

An die beiden Eröffnungsbeträge schließen sich drei Aufsätze an, die thematisch durch die Auseinandersetzung mit der Literatur des Ottocento verbunden sind. Hierbei steht das Schreiben von Foscolo bzw. Manzoni und Verga im Fokus des Interesses, das belegt, dass nach der Einigung das "Bedürfnis nach identitätsstiftenden Konzepten und einheitsfördernden Losungen" (Schultze 1997: 159) scheinbar nachlässt, zugunsten einer vermehrten Aufmerksamkeit für die Diversität des geeinten Italiens.

Foscolo als politisch engagierter Poet sei Teil einer Strömung, die zu der Überzeugung gelange, dass nach der Erfahrung der Französischen Revolution für die Nation Italien ein eigener Gründungsmythos konstruiert werden müsse, der sich gerade nicht auf Historie und Tradition stütze, so Winfried Wehle. Mit seinen Ultime lettere di Jacopo Ortis (1802) versuche Foscolo vielmehr, ein Gemeinschaftsgefühl über die amor per la patria zu begründen und eine Nationbildung auf literarisch-ästhetischem Weg herbeizuführen, denn "der Roman ist entscheidend auf eine Metonymie zwischen dem Schicksal des Ortis und Italiens hin angelegt" (39). Wehle definiert die Ultime lettere – spannenderweise – als "narratives Laboratorium" (45) auf der Suche nach einer neuen Ausdrucksform für eine neue Realität, die jedoch erst noch geschaffen werden muss.




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Gino Tellinis zweigeteilter Beitrag untersucht Manzonis und Vergas Schaffen, quasi als Anfangs- und Endpunkt risorgimentalen Schreibens, als Beispiele für "unità e policentrismo" (49) in der Literatur. Die Promessi Sposi (1821) stehen noch ganz im Zeichen einer sprachlichen sowie politischen und regionenübergreifenden Einheit Italiens, die Voraussetzung für die Erneuerung aller weiteren Bereiche darstelle. Damit widerspricht Tellini der weitläufigen Meinung, die Promessi Sposi seien in der Landschaft risorgimentaler Literatur ein wenig patriotisch geprägtes Werk. Manzonis Verständnis von Kunst mit pädagogischem Anspruch setze sich zum Ziel, eine gesamtitalienische Identität, ein Heimatgefühl über Literatur zu evozieren: "Fare gli italiani era e resta una faccenda complicata. I Promessi Sposi sono riusciti, alla perfezione [...]." (53) Vergas Schaffen widme sich dagegen einem Erkunden der Heimat und ihrer regionalen Besonderheiten über das Schreiben. Die Malavoglia (1881) legen nahe, den in Italien herrschenden Pluralismus in eine neue Einheitsidee zu überführen, die ersterem gerecht werde und die gerade auch für die Zukunft der Nation Bedeutung erlange als "[u]na e tante Italie" (59).

Ist Vergas Neugierde auf die Kultur der Peripherien Italiens positiv konnotiert, so spiegelt die Reiseliteratur aus den 1870er und 1880er Jahren vermehrt auch eine Desillusionierung hinsichtlich der Einheitskonzeption, wie Ricciarda Ricorda herausarbeitet. Sie untersucht Francesco De Sanctis Viaggio elettorale, Antonio Stoppanis Il bel paese (beide 1876) sowie Städtebeschreibungen De Amicis', Nievos und Fucinis. Dabei konstatiert sie, dass das Motiv für diese Reisen das Kennenlernen der "unbekannten" Heimat ist, das ein wachsendes Bewusstsein für die Vielfalt innerhalb der jungen Nation bedingt, gleichzeitig aber auch ein wachsendes Bewusstsein für deren Probleme und schwierige Dynamiken enstehen lässt.

Nach dieser noch eher staunenden Feststellung regionaler Unterschiede im Bereich der Lebensumstände und Mentalität sowie einer Auseinandersetzung damit entstehen Strömungen, die sich im 20. Jahrhundert für eine Vollendung des Risorgimento engagieren. Was der Politik nicht gelingt, soll die Literatur schaffen, indem eine gemeinsame nationale Ästhetik begründet bzw. konstruiert wird.

Gabriele D'Annunzio versucht, dies über die Darstellung der Musik und des Musiktheaters in seinen Werken umzusetzen. Florian Mehltretters These lautet dahingehend, dass D'Annunzio einerseits über eine (Teil-)Adaptation von Nietzsches rituellem Drama eine italienische, deutlich nationalistisch geprägte Alternative zu Wagners Opern aufzuzeigen intendiert. Gleichzeitig macht er über einen historischen Abriss der Musikgeschichte bei D'Annunzio ein Kontinuum hinsichtlich der Darstellung des mediterranen Stils fest; über seine Expressivität und Schlichtheit werde dieser als überlegen inszeniert. Dabei machen Mehltretter zufolge gerade die intertextuellen und intermedialen Kunstreferenzen in D'Annunzios Werk, die diesem eine gewisse Deutungsoffenheit verleihen, dessen Wert aus – da es "ansonsten in nationalem Getöse untergehen müsste" (88).




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Der Beleg eines Kontinuums ist auch wesentlicher Anspruch der Futuristen bei der Umsetzung ihres Ziels eines intellektuellen Risorgimento. Garibaldi als der Held des Einigungsprozesses bildet hier den entscheidenden Bezugspunkt. Wie Monica Biasiolo analysiert, dienen Paolo Buzzi der Mythos Garibaldi und dessen Ikonisierung als Möglichkeit, seinen Appell, die Einheit Italiens zu vollenden, literarisch zu lancieren. Der Krieg werde in diesem Rahmen als notwendiges Mittel dargestellt, um Freiheit und Einheit zu erreichen – auch wenn "das Italien des Faschismus, an das die Futuristen glaubten, ein schon früh nicht nur physisch zerstörtes Land" (99) geworden sei.

Andere Perspektiven auf und Zugänge zu Italiens innerer Verschiedenheit entwickeln sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Neuausrichtung des Landes im secondo dopoguerra. Ein sich formierendes ethnologisches bzw. binnenethnografisches Interesse ist in diesem Rahmen zu verorten. Torsten König führt dies insbesondere auf Gramsci zurück, dem zufolge es der Riss zwischen Eliten- und Populärkultur sei, der einer "echten" nationalen Kultur entgegenstehe. Hiervon ausgehend untersucht König exemplarisch die geforderte Aufwertung der subalternen Klassen in Werken der Zeit. Jedoch konstatiert er, dass in den Texten Levis sowie Ernesto De Martinos die Fokussierung auf primitive, archaische Strukturen, Mythen und Magie vor allem als Antwort auf die Krise der Moderne genutzt wird. Das so geschaffene, breitere öffentliche Bewusstsein für die Alterität innerhalb Italiens sei eher ein Nebeneffekt, so Königs interessante These, der in den Prozess der sprovincializzazione münde. Seine dritte Fallstudie zu Pavese stellt darüber hinaus fest, dass dessen "mythopoietisches Schreiben" (120) vielmehr den ethnologischen Diskurs seiner Zeit auf einer Metaebene spiegelt und ebenfalls nicht (primär) in Gramscis Sinne einer Aufwertung der regionalen Besonderheiten fungiert.

Einen zweiten Zugang zu regional geprägter Wirklichkeit – neben der Binnenethnografie – eröffnet in der Zeit des secondo dopoguerra der Neorealismo. Silke Segler-Meßner argumentiert im Sinne einer Zweiteilung dieser Strömung. Zunächst gelte die Resistenza-Bewegung als literarisches Sujet zur Verarbeitung des kollektiven Kriegsleidens, wobei der Widerstand gegen die Nazis als Kampf gegen Unmenschlichkeit und Unterdrückung inszeniert werde, der allerdings die Trennungslinie zwischen Norden und Süden ignoriere. Bereits ab den 1950er Jahren trete jedoch der Bruderkonflikt – hier zwischen Partisanen und camicie nere – bereits wieder in den Blickpunkt und unterwandere "damit den konsensuellen Zusammenschluss der unterschiedlichen Parteien diskursiv" (127). Gerade die Literatur werde so zu einem entscheidenden Medium, das vereinfachende Mythen und Lesarten der Kriegserfahrung problematisiere und hinterfrage.




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Fabien Kunz-Vitalis Beitrag beschäftigt sich mit Giuseppe Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo (1958) und liest den Roman nicht als Zeugnis sizilianischer (rückständiger) Lebensart, sondern als sizilianischen Blick auf die Einheit. Erstere Interpretation widerlegt Kunz-Vitali spannenderweise mit einem psychoanalytischen Blick auf Lampedusas Protagonisten Don Fabrizio und verbindet dessen (und Siziliens) Wunsch nach Ruhe und immobilità mit Freuds Todestrieb. Die im Gattopardo dargestellte unità aus Sicht der Insel ist für ihn dagegen eine paradoxe: Italien besitze die Voraussetzungen für einen modernen Nationalstaat nicht, weswegen das Risorgimento scheitern müsse. Lampedusa stelle aufgrund dieser tragischen Diskrepanz die Einheit folgerichtig als melodramma bzw. spettacolo dar.

Das spettacolo spielt weiterhin eine große Rolle bei Pier Vittorio Tondellis Blick auf die regionale Identität Italiens in seinem Roman Rimini (1985). Caroline Lüderssen zeigt in ihrer Analyse nicht nur Tondellis Anleihen aus dem Bereich der Musik auf, sondern auch seine "Oszillationen von Wirklichkeit und Fiktion" (167) insgesamt. So positioniere sich Tondelli zwar auf Seiten der regionalen Identitäten Italiens, mache am Beispiel Riminis aber deutlich, wie der Massentourismus und der fremde Blick auf die Heimat sowohl einen Verlust derselben bedeuten als auch nur noch ein medial perspektiviertes Erleben ermöglichen.

Susanne Kleinert nähert sich über den Mikrokosmos Südtirol literarischen Konzepten regionaler und nationaler Identität. Sie stellt fest, dass Differenz oft erst politisch konstruiert wird und die Unterteilung in Sprach- und Volksgruppen keinesfalls realen – bikulturellen – Zugehörigkeiten entspricht. Ihre vergleichende Analyse von Joseph Zoderers Der Schmerz der Gewöhnung (2002) und Francesca Melandris Eva dorme (2010) offenbart einerseits eine literarische Auseinandersetzung mit tiefverwurzelten Klischees sowie die Problematik um interkulturelle Identität, die ohne Abgrenzung in die Gefahr einer Auflösung rutscht. Andererseits belegt Kleinert eine ironische Herangehensweise an das Sujet der Volksgruppen, die Identitäten in einem kosmopolitischen, globalisierten Zusammenhang verortet und Kommunikation als brückenbauendes Mittel heranzieht. Sie konstatiert, dass beide Romane schlussendlich dieselbe Intention verfolgen: "durch die Erinnerung an die Vergangenheit und die Perspektivierung der Standpunkte zu einem Verständnis geteilter Geschichte beizutragen und Interkulturalität zu fördern" (186).

Den Abschluss des Bands bildet der Beitrag Christina Schäfers zum Schriftstellerkollektiv Wu Ming und dessen New Italian Epic (NIE). Das systemkritische, aber dennoch humorvolle Vorgehen der Gruppe, die ein breites Publikum ansprechen will, entwickele aus seinem doppelten Feindbild – dem politischen Zustands Italiens und der Welt nach dem Kalten Krieg sowie der apolitischen Literatur der Postmoderne – ihr Plädoyer für eine engagierte, nicht-kommerzielle Literatur. Im Fokus stehe hierbei die Ausrichtung auf die Zukunft, die abseits von Weltuntergangsszenarien die Krise als Chance begreife, Verantwortung zu übernehmen und kollektiv eine Neuorientierung herbeizuführen – wobei Wu Ming sowohl in Italien als auch auf internationaler Ebene Resonanz erzielen will und erzielt hat.




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Föckings und Schwarzes Band überzeugt durch sein weitreichendes Panorama, das durchaus neue Zugänge im Hinblick auf die literarische Umsetzung der Einheit(en) Italiens eröffnet und interessante Thesen aufstellt, über die es sich weiter nachzudenken lohnt. Gleichzeitig zeigt er ein Kontinuum nicht nur im Hinblick darauf auf, wie Politik und Kultur in Italien traditionell Hand in Hand gehen, sondern wird auch dem "Sonderfall" des dortigen nation-building gerecht, das noch immer nicht abgeschlossen ist und immer wieder – sowohl konstatierend, propagandistisch oder auch konstruktiv – hinterfragt und diskutiert wird.


Bibliografie

Banti, Alberto Mario (2004): Il Risorgimento italiano. Rom/Bari: Laterza.

Isnenghi, Mario (2011): Storia d'Italia. I fatti e le percezioni dal Risorgimento alla società dello spettacolo. Rom/Bari: Laterza.

Lukenda, Robert (2012): Die Erinnerungsorte des Risorgimento. Genese und Entfaltung patriotischer Symbolik im Zeitalter der italienischen Nationalstaatsbildung. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Mayer, Hans (1989): Weltliteratur. Studien und Versuche. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Schultze, Brigitte (1997): "Innereuropäische Fremdheit: der polnische cham – übersetzt und umschrieben, fremdgehalten und akkulturiert", in: Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 140–161.