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Daniel Winkler (Wien)



Der Golf von Neapel als Bühne eines doppelt bewegten Ich.

E/motions in Vittorio Alfieris Vita scritta da esso (1808)



The Gulf of Naples as a Stage of a 'Moved' Self. E/motions in The Autobiography of Vittorio Alfieri the Tragic Poet (1808)

In the late 18th century, Naples was the third largest European metropolis after London and Paris, taking an important role in the Grand Tour of travelling savants and writers. Many prominent representatives such as Johann Wolfgang Goethe have not only documented the city as a site of archaeological and modern attractions, but, with their travelogues, they have also contributed to the imagination of a foreign Southern city, which they describe as an archaic counterpart to the hotspots of Central and Northern European Enlightenment and to which they attribute a theatrical and operatic everyday life.

This contribution offers a complementary perspective on Naples, a notable site of Italian Enlightenment, that is included in the autobiography of the Italian classical writer Vittorio Alfieri (1749–1803), The Autobiography of Vittorio Alfieri the Tragic Poet (publ. 1808). Alfieri, the descendant of a Piedmontese, feudal aristocratic family, dedicates two episodes of his life to Naples and its gulf (1767/81). I will argue that they both correspond with the paradigm of theatrality in a twofold manner: Alfieri's autobiographical writing is strongly related to his dramatic production and theatrical experiences. At the same time, Alfieri also performs a highly theatrical and ironic version of himself as an unusual and eccentric, deeply melancholic and constantly itinerant author in his Autobiography. By referring to the performative character of life, the episodes located in Naples, which intentionally and ironically neglect the Grand Tour's attractions, thus take an important place in his political aesthetics and accentuate his overly strong e/motions as a doubled expression of his sublime self.


Neapel ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit über 400.000 Einwohner_innen nach London und Paris die drittgrößte europäische Metropole. Die città partenopea gilt als dicht bevölkerte und laute Stadt, die zentraler Bestandteil der Grand Tour ist. Doch gleichzeitig imaginieren viele nord- und zentraleuropäische Reisende in ihren Berichten das erst von den Habsburgern und dann den spanischen Bourbonen regierte Neapel als Gegenort zu den philosophisch-aufklärerischen Zentren Europas. Dabei werden oftmals das Theatermilieu, die Antikenstätten und der Vesuv, der 1767 einen größeren Ausbruch verzeichnet, zu Markern eines von dramatischen Szenen und spektakulären Empfindungen geprägten Stadtbildes. Wenn beispielsweise Johann Wolfgang Goethe, der im Februar/März und Mai/Juni 1787 in Neapel weilt, in seiner Italienischen Reise die Neapolitaner als fröhlich-naiv und das Leben der Stadt als komödiantisch-bühnenhaft fasst,1 so wird die Stadtwahrnehmung im Sinn des "'gusto melodrammatico'" mit eigenen Theater­er­fahrun­gen und populären Gattungen verwoben (Amodeo 2007: 20–36).2 In dieser Gestalt haben viele reisende Autoren Teil an der Konstruktion Neapels als Ort der Alterität.




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Der Blick des nach Neapel reisenden Literaten Vittorio Alfieri (1749–1803), der im Zentrum dieses Artikels stehen soll, unterscheidet sich von diesem Grand Tour-Dispositiv. Gleichzeitig ist die an Anekdoten reiche Vita di Vittorio Alfieri da Asti scritta da esso, die nach der Publikation in den Opere postume (1808 bei Piatti in Florenz) alsbald von Goethe gelesen (um 1808/09) und von Ludwig Hain erstmals auf Deutsch publiziert wird (1811/12), ebenso deutlich von theatralen Anleihen durchzogen.3 Die Perspektive des frankophonen Alfieri, der aus einer feudalaristokratischen Familie aus dem piemontesischen Asti stammt, zeichnet sich dadurch aus, dass er kein sesshafter, in Staatsdiensten stehender Literat, sondern vielmehr, wie Richard Schwaderer formuliert hat, ein "undogmatischer und individualistischer Geist" ist (1998: 58, vgl. 57–79), dessen zentrale Leitkategorie die politische und persönliche, materielle und intellektuelle Autonomie, sprich: Individualität darstellt.4 Er rückt vor diesem Hintergrund in relativ kompakter Form seine eigenen Empfindungen ins Zentrum stark selbstbezüglicher Episoden, die deutlich intertextuell und selbstironisch markiert sind und u.a. mit dem "hyperbolischen Ton" und Umfang der rousseauschen Confessions (publ. 1782/89) kontrastieren (Scholler 2015: 240). Alfieris Leben erscheint in der Vita nicht zuletzt dadurch charakterisiert, dass Neapel für ihn (anders als für Goethe) nicht die größte selbst bereiste Stadt darstellt, sondern er zum Zeitpunkt der Niederschrift der Vita (in zwei Teilen zu den Jahren 1749–90 bzw. 1790–1803: 1790 in Frankreich, 1803 in Italien) auf ein bewegtes Leben zurückblicken kann, u.a. markiert durch wechselnde Wohnsitze – in Asti, Turin, Florenz, Pisa, Siena, Rom, Colmar und Paris – und ausgiebige Reisen in diverse Haupt- und Hafenstädte und bis an die äußersten Ränder Europas. Neben Paris und London kennt er so Wien und Budapest, Berlin und Kopenhagen, Stockholm und St. Petersburg, aber auch Südeuropa, das in der Vita u.a. durch die Stationen Marseille und Barcelona, Madrid und Lissabon, Sevilla und Cádiz repräsentiert wird.5


Vittorio Alfieri und die Theatralität des Lebens

Alfieri, dem heute ironischerweise im peripher-industriellen Osten Neapels eine Straße gewidmet ist – etwa auf halber Strecke zwischen Capodimonte und Vesuv –, setzt sich mit seiner Vita im anbrechenden bürgerlichen Zeitalter – nicht zuletzt aufgrund seiner Doppelrolle als standesbewusster Graf und illuministisch-sensualistischer Autor – als 'marginale' und außergewöhnliche Figur in Szene. Seine Reisen in ferne Destinationen und sein exzessives Bewegtsein spiegeln dieses ambivalente Ich. Sein autobiographisches Schreiben steht im Stil dieser Selbststilisierung im Zeichen der affektpoetischen Leitkategorie des forte sentire, als zu stark empfindender Zeitgenosse, der das 'alte' höfisch-galante Modell der "Interaktionsrationalität" als unmenschlich von sich weist (Wegmann 1988: 56). Alfieri zeigt sich so als selbstbewusster und republikanischer "Self-Made Classic" (Baron 2017), der für sich in Anspruch nimmt, intuitiv eine neue, kraftvoll-energetische italienische Literatur zu erschaffen. Als Feudalaristokrat, der seinem Stand entsagt, konstituiert er sich damit – im Vorfeld des romantischen Geniekults – als den höfischen Machtstrukturen und klassizistischen Konventionen scheinbar erhabener Mensch und Autor.6 Er tut dies nicht zuletzt, indem er in der Vita ausführlich und ironisch die Entstehung seiner 21 (Freiheits-)Tragödien expliziert, als ab 1774 'geborene', leidenschaftlich und temporeich verlaufende Dramen (vgl. z.B. Vita: 4.4, 4.9), die mit seinem Kampf gegen die Tyrannei überkommener Strukturen korrelieren.7




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Auf diese Weise zeigt sich Alfieri in der Vita, die in vier Epochen strukturiert ist (puerizia, adolescenza, giovinezza und virilità), die insgesamt 61 Kapitel umfassen, als von dramatischen Kämpfen geprägter, politisch und intellektuell, affektiv und ästhetisch konsequenter Mensch wie Autor, sprich: als Inbegriff von Autonomie und Authentizität. Um sich und seine Literatur als radikal subjektiv und damit modern zu markieren, rekurriert Alfieri aber kontinuierlich auf das Dispositiv des Theaters als Inbegriff ästhetisch modellierter Performanz: Er geht nicht nur vielfach auf Theater­konzeptionen und -erfahrungen ein, sondern akzentuiert auch ganz plastisch – im Sinn von Erika Fischer-Lichtes Definition von Theatralität (2004: 8–9) – den "Aufführungscharakters des menschlichen Lebens" in Hinblick auf "Prozesse der Selbst­inszenierung", die das eigene Empfinden für andere wahrnehmbar machen. Alfieri verdeutlicht mit dieser übersteigert selbstbezüglichen, oft ironisch gebrochenen Form der Theatralität, dass ihm mit seiner Vita im Generellen und den Neapel-Episoden im Speziellen nichts ferner liegt als eine konventionelle Literarisierung eines gelehrten Lebens und einer entsprechenden Grand Tour, wie sie im 18. Jahrhundert vielfach vorgelegt worden ist – als eine auf äußerliche Erlebnisse und Bildungsschritte hin, letztlich nord- und zentraleuropäisch perspektivierte Erzählung.

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass Alfieris Neapel-Episoden (1767/81), die nach London (1769ff.) seine zweiten wirklich metropolenhaften Reiseerfahrungen literarisieren, gegenüber diesem Grand Tour-Dispositiv v.a. deshalb theatral sind, weil sie doppelt im Zeichen der Bewegung stehen. Alfieri positioniert die Episoden an strategisch wichtigen Stellen seiner Autobiographie, wendet aber seinen Blick demonstrativ von dem lebendigen Leben und der spektakulären Optik der Stadt und des Golfs von Neapel ab. Selbstbezüglich und selbstironisch zeigt er sich als einsamer Melancholiker und exzentrischer Pferdenarr, der aufgrund seines besonders bewegten Ich zu einem unsteten Leben gezwungen ist und die Gesellschaft von Pferden der von Menschen vorzieht. Das impulsive und extensive Reiten – in der Vita mehrfach durch das exzessive Anschaffen von Pferden illustriert – wird also zum Sinnbild seiner dynamisierten Eigenwahrnehmung und -inszenierung.8 Die im Angesicht der doppelten Bewegtheit dramatisch fokussierten Neapel-Episoden können so veranschaulichen, dass die Vita Alfieri als durch und durch von "motions und emotions" (Ette 2012: 39) bestimmt charakterisiert und damit inhaltlich-räumlich wie ästhetisch-affektiv den intensivierten gesellschaftlichen Wandel reflektiert, der das späte 18. Jahrhundert zunehmend in ganz Europa kennzeichnet.


Neapel 1759/67: Vulkanische 'Noblesse' und 'einfache' Tugend

Die Stadt Neapel tritt in der Vita vor Alfieris eigenen Reisen in Form einer kurzen Episode zum Jahr 1759 auf, die seiner adolescenza gewidmet ist. Im Kapitel 2.3, in dem er u.a. die Beziehung zu seinem Onkel, dem Turiner Hofarchitekten Benedetto Alfieri, ausführt, den er als einzigen warmherzigen Verwandten schildert, erwähnt er dessen Neapel-Reise mit seinem Vater Antonio, die er zwei Jahre vor der Hochzeit seiner Eltern datiert. Die Episode ist bemerkenswert, da sie eine der wenigen Informationen über seinen früh verstorbenen Vater enthält, die er in seiner Autobiographie verarbeitet. Neapel wird vor diesem Hintergrund aus zeitlich-räumlicher Distanz damit singulär wie theatral-ironisch konnotiert: Alfieri ruft hier nämlich (und nur hier) in Form eines heroischen Szenarios das vulkanische Imaginäre Neapels im Stil des intensiven Naturerlebens seiner Zeit wach: Der abwesende Vater wird zum kraftvollen Abenteurer, der im Zeichen des Erhabenen mit all seinen Sinnen das tiefe, vulkanische Erschaudern auskosten will, so dass er sich mit Seilen von der "sommità della voragine esterna" des Vesuvs in den Krater hinuntergleiten lässt: "mio padre a viva forza si era voluto far calar dentro sino alla crosta del cratere interno, assai ben profonda" (Vita: 71–72).




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Im letzten Satz des Kapitels kommentiert Alfieri diese Episode unter Bezugnahme auf seine zweite Neapel-Reise von 1781 und hält im Stil der für ihn typischen Kontrast- und Bewegungsästhetik fest: "Circa vent'anni dopo, ch'io ci fui la prima volta, trovai ogni cosa mutata, ed impossibile quella calata." (Vita: 72). Der Gipfelpunkt der erhabenen Katastrophen­sehnsucht ist ihm zufolge vorbei, als er sich selbst der Stadt nähert. Aber freilich will er hier im Sinn seines Anspruchs, ein die italienische Literatur erneuernder Erzähler zu sein, auch mit klassischen Erwartungshaltungen brechen. Entsprechend wird der Vesuv in seiner Vita keine einzige Erwähnung mehr finden, obwohl er sich ihm offensichtlich 1781 angenähert hat. Alfieris Sinn für dramatische Darbietungen, (selbst-)ironische Reflexionen und erzählstrategische Positionierungen von Reiseerfahrungen lässt freilich im dritten, seiner giovinezza gewidmeten Teil der Autobiographie nicht nach.

Im Winter 1767 reist Alfieri schließlich zum ersten Mal über Rom nach Neapel, das zeitlebens seine südlichste italienische Destination bleiben wird, mit der Absicht, dort den ganzen Karneval zu verbringen; er bleibt aber letztlich nur den Monat April dort. Begleitet wird er dabei von einer achtköpfigen Mannschaft, darunter seinem Hofmeister und Kammerdiener. Schon der Übertitel des dritten Teils der Vita, "Abbraccia circa dieci anni di viaggi, e dissolutezze" (Vita: 93), macht als eine Art Motto deutlich, das die folgenden Episoden von seinen eigenen ausschweifenden Jugendabenteuern erzählen werden. Dementsprechend wird dieser im ersten Teil auch mit Alfieris erster Italienreise eingeleitet (Vita: Kap. 3.1), die ihn 1766 erst einmal aus dem savoyardischen Piemont, das seit 1720 mit Sardinien ein gemeinsames und von Turin aus verwaltetes Königreich bildet (Regno di Sardegna), nach Mailand, Florenz und Rom führt. Darauf folgt im nächsten Kapitel die Neapel-Reise (Vita: Kap. 3.2), die – wie schon 1759 bei seinen Ahnen – mit einer singulären und theatralen Geste versehen wird. Hatte sein Onkel seinen Vater zum Begleiter, wird hier der Kammerdiener Elia zum Gefährten Alfieris und (tragikomischen) Heroen der Vita: Das literarische Ich berichtet, dass Elia in der Nähe des toskanischen Radicofani unter das Kurierpferd geraten sei und sich einen Arm gebrochen habe, aber während des Wartens auf einen Chirurgen diesen selbst versorgt und Mut, Aufmerksamkeit und Stärke – klassische Charakteristika von Alfieris republikanischen Tragödienhelden – bewiesen habe, so dass die Kutsche bereits nach einer Stunde weiterfahren konnte: "Molto coraggio e presenza di spirito e vera fortezza d'animo aveva mostrato costui in codesto accidente" (Vita: 97).

Doch damit nicht genug: Der Verletzung Elias folgt das Brechen der Wagendeichsel, was die Besatzung zu einem mehrstündigen Anhalten in Acquapendente in der Provinz Viterbo zwingt. Es ist wieder Elia, der die Kutsche fahrtüchtig macht und die Mannschaft nach Rom und Neapel führt. Schon die episodische Doppelung von tragikomischen Vorkommnissen deutet an, dass sich mit dem Standeswechsel von Alfieris Helden – vom väterlichen Grafen zum untergebenen Diener – auch die Erzählhaltung ändert. Die heroisch-erhabene Zeichnung der Figur erscheint hier gebrochen und durch Wiederholungen, Reihungen und Steigerungen markiert, denn Elia wird (nur) als über seinen Stand hinaus edel charakterisiert. Sein Verhalten zeige, so Alfieri, einen "tratto caratteristico di un uomo di molto coraggio e gran presenza di spirito, molto piú che al suo umile stato non parea convenirsi" (Vita: 97–98).




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Nach und nach wird aber klar: Umso mehr Elia gelobt wird, desto deutlicher wird die Aufmerksamkeit der Leser_innen nicht nur auf die Dienerfigur, sondern auch auf die großzügige Nobilitierung durch Alfieri bzw. auf die aufklärerisch-reflexive Kunst des Erzählers gerückt. Der letzte Satz, mit dem Alfieri die Episode kommentiert, macht diese Dimension besonders evident. Denn hier gerät ganz das Gefallen des Erzählers in den Fokus, die Vorzüge Elias zu bewundern und sie den erbärmlichen Eigenschaften der Herrschenden gegenüberzustellen: "Ed in nessuna cosa mi compiaccio maggiormente, che nel lodare ed ammirare quelle semplici virtú di temperamento, che ci debbono pur tanto far piangere sovra i pessimi governi, che le trascurano, o le temono e le soffocano." (Vita: 98)

Alfieri nutzt diese Episode über seinen Diener Elia also, um sich selbst ins Zentrum zu rücken, als auctor eines dramatischen Zweikampfes zwischen Held und Antiheld, der der Tränen würdig ist. Er macht unter Anleihe an seine Tragödienästhetik, aber auch der für Alfieri typischen, u.a. durch Steigerung und Kontrast, Reihung und Hyperbolik markierten Prosastilistik (vgl. Schlüter 2010: 541–542), Elia zu einem erhabenen Freiheitshelden, der über einfache Charaktertugenden verfügt und den er gegenüber den schlechten wie tyrannischen Regierungen Europas charakterlich-moralisch nobilitiert.


Neapel als Dispositiv einer "lunghissima romba di melanconia"

Alfieris Optik ist somit bereits klar justiert, bevor er seine Aufmerksamkeit der Stadt Neapel widmet und dabei auf wenigen Seiten Stadt- und Selbstdarstellung in dramatischen wie ironischen Episoden fusioniert. Er beschreibt also in Bezug auf seinen ersten Aufenthalt von 1767 (Vita: Kap. 3.1) seiner eigenbezüglichen Perspektivierung entsprechend plastisch den ambivalenten Charakter der Metropole. Gleich der erste Absatz zur Stadt Neapel, die sich ihm an Mariä Lichtmess bei Frühlingswetter von Westen her präsentiert, steht in klarem Kontrast zur pannenreichen Anreise sowie seiner Herkunft aus dem Piemont, das im 18. Jahrhundert als 'Preußen Italiens' gilt: Die Metropole erscheint ihm also erst einmal in Form einer Art Panoramaperspektive durch und durch positiv: als eindrucksvolle, heiterste und bevölkerungsreichste Stadt, die er mit seinen 18 Lebensjahren bisher gesehen hat: "L'entrata da Capo di China per gli Studj e Toledo, mi presentò quella città in aspetto della piú lieta e popolosa ch'io avessi veduta mai fin allora, e mi rimarrà sempre presente" (Vita: 98).

Sobald Alfieri sich Neapel annähert, scheint sich aber seine erhabene Ader bemerkbar zu machen. D.h. es blitzt die 'dunkle' Seite Neapels auf, die gedrängte, laute und dreckige Stadt, wie sie sich in vielen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts im Topos des "'Paradies bewohnt von Teufeln'" manifestiert hat (Hoyer 2012: 122–123). Alfieri kann demgemäß keine ihm ebenbürtige Unterkunft in einem ansprechenden Viertel Richtung Golf finden, was ihm seine Freude an Neapel beinahe ganz verdirbt. Ihm bleibt nur, sich mit einer "bettolaccia posta nel piú bujo e sozzo chiassuolo della città" (Vita: 98) zufrieden zu geben. Doch freilich steht das Herbeizitieren eines Gemeinplatzes (der Quartieri Spagnoli?) bei Alfieri mehr im Dienst der effektvollen Ausgestaltung seines Selbst im Rahmen seiner Erzählung als dem der Abwertung der Stadt. Im Zeichen von Kontrast und Steigerung gerät daher mit dem 'dunklen' Neapel v.a. das hypersensible, ja infantile Gemüt Alfieris in den Fokus, das sich bei der Konfrontation mit solchen Örtlichkeiten sofort betrübt zeigt: "in me la località lieta o no della casa, ha sempre avuto una irresistibile influenza sul mio puerilissimo cervello, sino alla piú inoltrata età." (Vita: 98)




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Alfieris Ziel einer kontrapunktischen Selbststilisierung, die sein Leben als abwechslungsreich in Szene setzt und damit gleichzeitig der Leser_in Spannung bietet, lässt aber alsbald wieder positive Eindrücke dominieren: Aus dem Blickwinkel seiner bisherigen Lebenserfahrungen im theaterarmen Piemont erscheint ihm Neapel in der Karnevalsaison als schillernde Kulturstadt, ja aufgrund des abwechslungsreichen Angebots an öffentlichen Aufführungen, privaten Festen und diversen sonstigen Veranstaltungen geradezu als Inbegriff von Muße und Vergnügen, Unterhaltung und Spektakel: "sí per gli spettacoli pubblici, che per le molte private feste e varietà d'oziosi divertimenti, mi riusciva brillante e piacevole piú ch'altro mai ch'io avessi veduto in Torino." (Vita: 98)

Der Autor, der sich in seiner Vita gerne als leidenschaftlicher Theater- und Musikliebhaber inszeniert, macht so seine Besuche des Teatro Nuovo, das erst 1723 nach Plänen von Domenico Antonio Vaccaro in den Quartieri Spagnoli errichtet worden und v.a. der Opera buffa gewidmet war, zum Höhepunkt seines Aufenthalts in Neapel:

Il mio piú vivo piacere era la musica burletta del Teatro Nuovo; ma sempre pure quei suoni, ancorché dilettevoli, lasciavano nell'animo mio una lunghissima romba di melanconia; e mi si venivano destando a centinaja le idee le piú funeste e lugubri, nelle quali mi compiaceva non poco, e me le andava poi ruminando soletto alle sonanti spiagge di Chiaja e di Portici. (Vita: 98)

Doch die Passage verdeutlicht zugleich auch, dass die detaillierte Schilderung seiner Großstadterfahrungen und Bildungsschritte nicht Alfieris Anliegen ist. Die Opernbesuche sind für ihn vielmehr Anlass, um mittels eines zweifach theatralen Szenarios deutlich zu machen, wie sehr seine sensible Seele bewegbar ist. Er unterstreicht so – nicht ohne Selbstironie –, dass er trotz der "nuovi e continui timulti" in Neapel (Vita: 98) und trotz seiner Freiheit und Jugend, seines Aussehens und seiner finanziellen Verhältnisse nichts gegen seine Stimmungsschwankungen anrichten kann: "io ritrovava per tutto la sazietà, la noja, il dolore" (Vita: 98). Sogar die erfreulichsten Töne der heiteren Opera buffa lösen in ihm also starke melancholische Zustände aus, so dass sein Gemüt nachhaltig überdrüssig und finster gestimmt ist. Kurz gesagt, Alfieri erscheint mehr und mehr in der Pose des melancholisch-leidenden, aber auch exzentrischen Poeten, der seiner Verfassung offensichtlich einen emotionalen wie ästhetischen Genuss abgewinnen kann: Er durchstreift daher emphatisch die Strände von Chiaia und Portici, also die Richtung Meer bzw. Vesuv und Vomero weisenden, im 18. Jahrhundert noblen und grünen Orte im Golf von Neapel. Gleichzeitig lässt er diese leid- wie genussvolle Performanz, die das Zitat unterstreicht, mit einem zweifach ausgerichteten clin d'oeil enden: Indem er den Theatergenuss durch Einsamkeit, die Musik durch Meeresklänge ersetzt, also die Natur den Platz der Kultur einnehmen lässt, setzt Alfieri zwei gezielt (selbst-)ironische Pointen ein – gegenüber dem idealisierten Menschenbild und ästhetisierten Naturbegriff seiner Zeit (Rousseaus état de nature), aber auch gegenüber seiner eigenen dramatisch-melancholischen Inszenierung seines erhabenen Ich.




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Anders gesagt: Die geschilderte Episode hat eine doppelte Funktion. Sie weist Alfieri über das Oszillieren seiner Emotionen als besonders sensiblen und damit edlen Menschen aus, sie verweist aber im Sinn einer effektvollen Ästhetik auch auf den Poeten Alfieri und seine an Wendungen, Pointen und Ironie reiche Erzählkunst. Seine schwankend-schaurigen Gefühle quälen und nobilitieren ihn also gleichermaßen als außergewöhnlich kreativen Menschen, ganz im Sinn antiker Traditionen, die Genialität eng an Melancholie gekoppelt sehen.9 Sie deuten aber – ästhetisch-philosophisch gesehen – auch auf den spätaufklärerischen Skeptizisten Alfieri hin, der im Spannungsfeld von Eigendiagnose und Selbststilisierung seinen 'marginalen' Status wie seine zeitlose 'Größe' als nicht-bürgerlicher, melancholisch-skeptizistischer Spätaufklärer akzentuiert.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass das soziokulturelle Leben Neapels in Alfieris Ausführungen – ähnlich wie bei anderen Stationen seiner Vita – recht kompakt gerät. Konkrete Kontakte geraten hier zu nichtssagenden Bekanntschaften, nur en passant deutet Alfieri an, dass er in Neapel über den nicht namentlich genannten Giuseppe Lascaris di Castellar, der hier bis 1770 savoyardischer Botschafter ist, in "parecchie case" eingeführt wird (Vita: 98, vgl. 329, Fn 8). Damit umschreibt er nur andeutungsweise rekonstruierbare Kontakte zu den für die italienische Aufklärung zentralen reformistischen Milieus Neapels. In anderen Kapiteln der Vita und seinem Briefwechsel, die die 1770er bis 1790er Jahre betreffen, erwähnt er einige wenige, aber zum Teil zentrale aristokratische Aufklärer wie Bernardo Tanucci (um 1750 bourbonischer Minister in Neapel), Domenico Caraccioli (neapolitanischer Gesandter in London bzw. in den 1780er Jahren Vizekönig von Sizilien und Premierminister in Neapel), dem aus Asti stammenden Paolo Giovacchino Carlo Luigi Amico di Castellalfero (ab 1786 sardischer Botschafter in Neapel, Wien, Berlin und Florenz), Vincenzo Maria Imperiale (als Sosare Itomeio Mitglied der Arcadia und als General der Malteser auf Galeeren gegen Piraten und Osmanen im Einsatz) sowie den jungen in Neapel ansässigen sizilianischen Autor Tommaso Gargallo. Ob er mit ihnen allerdings vor Ort Kontakt hatte oder nur in späteren Jahren korrespondierte, lässt sich nur vermuten.10

Kurz: Nähe und Freundschaft sind im Rahmen von Alfieris erhabener Selbststilisierung Kategorien, die Zeit seines Lebens nur wenigen edlen Seelen vorbehalten sind. Entsprechend einsam setzt er sich auch in Neapel in Szene: "Con parecchi giovani signori napoletani avea fatto conoscenza, amicizia con niuno" (Vita: 98). Auch von Begegnungen mit Frauen bleibt im Zeichen der melancholischen Poetenpose nicht mehr als ein "cuor vuoto" zurück (Vita: 98). Denn, so Alfieri selbstnobilitierend wie selbstironisch, es sei ihm während seines Aufent­halts in Neapel unmöglich gewesen, eine zu seinem sittsamen Charakter passende Dame zu finden: "non mi piacendo se non le modeste, io non piaceva pure che alle sole sfacciate" (Vita: 98).




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Angesichts dieses theatral dargebotenen Weltschmerzes gerät freilich nicht nur die gehobene Gesellschaft, sondern auch die Metropole Neapel selbst in den Hintergrund. Denn als Kulisse für seine melancholische Inszenierung eignet sich die weite und offene Anlage des Golfs von Neapel bestens. Sie wird in seiner Schilderung zum Gegenort der verhassten, Melancholie und Klaustrophobie stiftenden piemontesischen Berge: Alfieri erwähnt so ausgedehnte ganztägige Kutschenfahrten, die ihn bis weit ins kampanische Hinterland führen, auch wenn die Leser_in davon nur vage topographische Anhaltspunkte erhält. Auf diese Weise wird die nicht näher spezifizierte, aber unentwegte äußere Bewegung im Sinn einer Dekonstruktion der Konventionen der Grand Tour zu einer Art Leitmotiv. Die Neapel-Episode steht damit ganz im Zeichen von Alfieris zu starker innerer Bewegtheit, die es ihm verbietet, zu lange an einem Ort und mit Menschen zu verweilen:

Oltre ciò, l'ardentissima voglia ch'io sempre nutriva in me di viaggiare oltre i monti, mi facea sfuggire di allacciarmi in nessuna catena d'amore; e cosí in quel primo viaggio uscii salvo da ogni rete. Tutto il giorno io correva in quei divertentissimi calessetti a veder le cose piú lontane; e non per vederle, che di nulla avea curiosità e di nessuna intendeva, ma per fare la strada, che dell'andare non mi saziava mai, ma immediatamente mi addolorava lo stare. (Vita: 98)

Alfieri setzt sich hier letztlich als weder neugieriger noch gebildeter Exzentriker in Szene, den weder die Liebe noch das Panorama des Golfs von Neapel fesseln kann. Motivation seines Reisens ist also nicht die Neugier für 'fremde' Menschen und Sehenswürdig­keiten; diese dienen ihm nur als Anhaltspunkte für weitere und möglichst entfernte kampanische Destinationen. Damit rückt das Motiv der permanenten Bewegung in unendlichen landschaftlichen Weiten ins Zentrum der Neapel-Episode, quasi als Sinnbild seiner seelischen Disposition. Alfieris Rastlosigkeit zeigt also die Unmöglichkeit an, sein Innenleben zu besänftigen, und wird zum theatral-ironischen Signum seiner außergewöhnlichen Marginalität, als alle gesellschaftlichen Konventionen flüchtender, ihnen aber auch erhabener Gefühls- und Charakter'aristokrat'. Klarerweise finden vor diesem Hintergrund populäre Topoi wie die von Goethe beschriebenen Lazzaroni oder der Vesuv, den dieser in den 1780er Jahren gleich dreimal besteigt, weder in Alfieris zweiter Neapel-Episode noch in seinem Briefwechsel Erwähnung. Nicht einmal das erst seit 1763 zugängliche Pompeji blitzt hier als Ort lehrreicher und erhabener Attraktion auf.11 Neapel steht so paradigmatisch für seine episodenhaft-pointierte "Poetik der Bewegung" als ästhetischer Chiffre seines Andersseins (Ette 2012: 39).


Maritime Befreiungen

Diese Selbstinszenierung Alfieris als durch und durch von e/motions bestimmte Figur und damit authentisch-moralischer Autor ist dramaturgisch wohl gesetzt, als dass auf sie sogleich eine umfassende Kritik am Absolutismus folgt. Alfieri wählt also den neapolitanisch-bourbonischen Hof als Bühne für sein zentrales politisches Thema, die Tyrannenkritik und den schreibenden Kampf um Selbstbestimmung. In der Folge schildert er daher, wie er dem 16-jährigen Ferdinando IV vorgestellt wird, der bereits seit 1759 Neapel regiert. Wie schon bei vorausgehenden royalen Begegnungen hält er keine besonderen Spezifika dieses Königs fest, sondern stellt ihn in eine Reihe mit ihm bisher persönlich bekannten Herrschern.12 Denn die europäischen Könige würden sich als machtbesessene und intrigante Herrscher alle gleichen: "Onde intesi benissimo fin da quel punto, che i Principi tutti non aveano fra loro che un solo viso, e che le corti tutte non erano che una sola anticamera." (Vita: 99)




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Analog zu seinem Tragödien der 1770er und 1780er Jahre sowie v.a. dem 1777 entstandenen politischen Traktat Della tirannide wird Ferdinando IV hier zum Inbegriff des absolutistischen Tyrannen, dem Alfieri in der Person des Botschafters von Sardinien bzw. v.a. sich selbst einen republikanischen, d.h. überlegenen Freiheitshelden gegenüberstellt. Der Diplomat hatte ihm vom Turiner Hof die Erlaubnis besorgt, im Folgenden ohne Hofmeister alleine weiterreisen zu dürfen. Damit steht die Figur im Dienst der theatral-ironischen Darbietung seiner eigenen Befreiung von höfischen Zwängen. Alfieri entwirft dabei für sich das Szenario einer möglichen Diplomaten­karriere – da ihm dieser Beruf von allen für ihn denkbaren noch als am wenigsten sklavenhaft erscheint – und rückt wieder sich selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Er zeigt sich als freien und frühreifen Menschen, aber auch dramatisch-kunstvoll erzählenden Autor – mit einer Episode, die so abrupt wie pointiert verpufft: Denn seine Poetennatur habe es ihm verboten, den Wunsch nach einer solchen Laufbahn auch nur auszusprechen. Daher habe er ihn ganz in sich verschlossen und sich darauf beschränkt, sich für sein Alter ungewöhnlich würdevoll zu verhalten:

La cosa mi piacque assai; e mi parve allora, che quella fosse di tutte le servitú la men serva; e ci rivolsi il pensiero, senza però studiar nulla mai. Limitando il mio desiderio in me stesso, non l'esternai con chicchesia, e mi contentai di tenere frattanto una condotta regolare e decente per tutto, superiore forse alla mia età. (Vita: 99)

Die folgenden Schilderungen seines Neapel-Aufenthaltes sind so frei von Berufsvisionen oder sonstigen konkreten Plänen. Stattdessen erhalten in Form der bekannten Kontrastästhetik wieder seine Melancholie und Selbstzweifel Oberhand. Er konstatiert als Grund dafür einen doppelten Mangel, den einer würdigen Liebe und Beschäftigung, die sein Herz und seinen Geist erfüllen könnten ("di avere ad un tempo stesso il cuore occupato da un degno amore, e la mente da un qualche nobile lavoro", Vita: 99). Auf diese Weise kehrt er wieder zu den Motiven der Einsamkeit und des Überdrusses zurück, die ihn zutiefst unglücklich stimmen, aber gleichzeitig als authentisch-autonomen Poeten nobilitieren. Dementsprechend tröstet er sich umso emphatischer damit, auf seiner restlichen Reise von den gefängnishaften Zwängen des Piemonts befreit zu sein. Seine "nuova indipendenza totale" (Vita: 100) wird also mittels eines Szenarios unterstrichen, das stilistisch durch Freiheitsmetaphern und Steigerungs­formen angereichert ist. Alfieris zunehmender Drang nach erhaben performierter Unabhängigkeit geht freilich mit dem nach einsamer Bewegtheit einher, so dass sich im März 1767 unter mehrfachem Rekurs auf das Dispositiv des Theaters eine räumliche Zäsur andeutet:

Io, impaziente di lasciar Napoli, di rivedere Roma; o, per dir vero, impazientissimo di ritrovarmi solo e signore di me in una strada maestra, lontano trecento e piú miglia dalla mia prigione natia; non volli differire altrimenti, e abbondonai i compagni; ed in ciò feci bene, perché in fatti poi essi stettero tutto l'Aprile in Napoli, e non furono per ciò piú in tempo per ritrovarsi all'Ascensione in Venezia, cosa che a me premeva allora moltissimo. (Vita: 100)




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Das hier mit Christi Himmelfahrt angezeigte Ende des Karnevals markiert traditionell das Ende der Theaterattraktionen. Aber auch Alfieris Neapel-Episode geht deutlich theatral zu Ende: Er verlässt Neapel Richtung Rom, mit dem Anspruch einsamer Herr seiner selbst zu sein, nicht ohne bereits eine weitere Reise und ein maritimes Spektakel als Zeichen seiner Bewegtheit zu platzieren: In Venedig will Alfieri der alljährlichen festlichen Inszenierung der Vermählung der Stadt mit dem Meer beiwohnen, bei der der Doge einen Ring an die See übergibt.13 In Korrelation mit der persönlich-politischen Autonomie, die zuletzt im Zentrum von Alfieris Reflexionen stand, überführt so das Ende der Episode die melancholische in eine erhabene Selbststilisierung. Denn die im Zitat akzentuierten permanenten e/motions verlangen klar nach unendlicher Weite und einsamer Größe, die schließlich im Sinnbild des maritimen Spektakels, d.h. der Symbiose mit dem Meereselement ihren erhabenen Ausdruck finden.


Neapel 1781: Von den melancholischen zu den tragischen e/motions

Es vergeht einige Zeit, bis Alfieri in seiner Vita zu Neapel zurückkehrt. Erst als er seine ausgedehnten Kavaliersreisen an die Ränder Europas hinter sich hat und sich im vierten Teil seines Lebens, der virilità befindet, kommt er wieder auf die Stadt zu sprechen. Er hat bereits 1778 gegen eine jährliche Pension seinen ererbten piemontesischen Besitz seiner Schwester Giulia übergeben und sich aus dem Herrschaftsgebiet der Savoyer ausbürgern lassen (Vita: Kap. 3.6). So kann er ohne Erlaubnis frei reisen und fern des Königreichs Bücher drucken lassen, sprich: sich als moderner "entirely self-reliant intellectual" konstituieren (Baron 2017: 102–103). Seine Leidenschaften zum Schreiben/Publizieren und zur Gräfin Albany, Louisa Stolberg-Gedern, die er 1776 in Florenz kennengelernt hat, füllen nun ein neues und scheinbar stabiles Leben aus (Vita: Kap. 4.5–6). Doch seine zweite Neapel-Reise von Februar bis Mai 1781 (Vita: Kap. 4.8), die sich an seine Etablierung als sesshafter Tragödienautor und Lebensgefährte anschließt, zeigt keinen gereiften und in sich ruhenden Alfieri. Sie ist zwar keinem jugendlichen Impuls geschuldet, sondern mindestens seit Dezember 1780 geplant,14 aber die Episode inszeniert sein Ich gewohnt tumultös bewegt und kontrastreich unterhaltsam: Denn die hochrangigere Stolberg-Gedern ist noch bis 1784 mit dem britischen Thronprätendenten Charles Edward Stuart verheiratet. Als es ihr endlich gelingt, sich von dem gewalttätigen Gatten zu trennen, und sie erst in ein florentinisches, schließlich römisches Kloster flüchten kann, sind Alfieri ob des Skandals erst einmal Besuche verwehrt.

Die zweite Neapel-Episode führt ihn entsprechend von Florenz über Rom in die città partenopea und kreist thematisch um die Befreiung seiner Geliebten und damit auch um die Wiedergewinnung seiner eigenen Handlungsfreiheit. Sie ist also wieder durch und durch dramatisch moduliert, interferiert aber noch stärker mit dem alfierianischen Theater: Der Autor stilisiert sich hier – analog zu manchen seiner Tragödienhelden, etwa dem Egisto in Merope (1782) – zum republikanischen Helden, der unter schwierigsten Bedingungen versucht, seine ehrenhafte Geliebte aus der "tirannide d'un irragionevole e sempre ubriaco padrone" zu befreien (Vita: 219). Das Leitmotiv der e/motions kommt dabei ins Spiel, weil er auch als Liebender zu stark empfindet, so das Getrenntsein nicht ertragen kann und außerstande ist zu schreiben. Er versucht sich erfolglos mittels eines Besuchs bei seinem Sieneser Freund Francesco Gori Gandellini abzulenken. Doch es zieht ihn unweigerlich nach Rom zu Stolberg-Gedern, die er nur hinter Klostergittern erspähen kann. Da er die Stadt aufgrund der Umstände alsbald wieder verlassen muss, fährt er weiter in die Metropole Neapel.




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Schon in der Schilderung seiner Abreise wird unter Rekurs auf die Melancholie seine ehrenhafte Gesinnung und sein gesteigertes Leid akzentuiert (vgl. Vita: 220). Die Ungewissheit, wann er seine Lebensgefährtin wieder sehen kann, bringt Alfieris Ich derart aus dem Gleichgewicht, dass ihm der Ortswechsel kaum Erleichterung bringt. Er spricht nur kurz die Schönheit des ihm schon bekannten Golfs von Neapel an, zeigt sich aber v.a. als erst einmal ganz zur Passivität verurteilter Poet und als von Liebeskummer dramatisch gebeutelter Briefeschreiber, der die Post Stolberg-Gederns immer wieder von Neuem in sich aufsaugt:15

Partii per Napoli, come promesso l'avea, e come, delicata mente operando, il dovea. […] In Napoli la vista di quei bellissimi luoghi non essendo nuova per me, ed avendo io una sí profonda piaga nel cuore, non mi diede quel sollievo ch'io me ne riprometteva. I libri erano quasi che nulla per me; i versi e le tragedie andavan male, o si stavano; ed in somma io non campava che di posta spedita, e di posta ricevuta, a nullaltro potendo rivolger lanimo se non se alla mia donna lontana. (Vita: 221)

Noch stärker als in der ersten Neapel-Episode von 1767 erscheint Alfieri hier ganz als Melancholiker: Das Lesen und Schreiben bedeutet ihm nichts, seine zu starken Empfindungen stehen ganz im Zeichen der abwesenden Geliebten und werden mit Tränen belegt. Seine innere Bewegtheit unterstreicht Alfieri dabei, indem er auf seine Pferdeleidenschaft als einzig mögliche Kultivierung seines Ich während der Monate Februar und März 1781 rekurriert. Der gesteigerten Melancholie entspricht dabei, dass er sich diesmal nicht bei Kutschenfahren, sondern alleine reitend in Szene setzt. Er verweist damit nicht nur auf den in wohlhabend-aristokratischen Kreisen verbreiteten Pferdekult als Marker seines noblen Ich. Vielmehr akzentuiert er auf diese Weise v.a. seinen leidenschaftlichen Charakter mittels einer betont organischen Form der Mobilität (vgl. Vita: 237–238). Vom Pferd aus werden der Golf und das Hinterland von Neapel als landschaftlich weit und körperlich-seelisch bewegt perspektiviert, was Alfieri in Form konkreter neuer räumlicher Referenzpunkte versinnbildlicht: die südwestlich der Stadt gelegenen Strände von Posillipo und Baiae bzw. die nordwestlichen Orte Caserta und Capua:

E me n'andava sempre solitario cavalcando per quelle amene spiagge di Posilipo e Baja, o verso Capova e Caserta, o altrove, per lo piú piangendo, e sí fattamente annichilato, che col cuore traboccante d'affetti non mi veniva con tutto ciò neppur voglia di tentare di sfogarlo con rime. Passai in tal guisa il rimanente di Febbrajo, sin al mezzo Maggio. (Vita: 221)

Freilich bleiben auch bei seinem zweiten Neapel-Aufenthalt die Ortsreferenzen de-kontextualisiert. D.h. Alfieri erwähnt im Stil seiner kontrapunktischen Selbstinszenierung mit keinem Wort, dass sie für zentrale Stätten der Grand Tour stehen und zum Teil vielfach literarisiert sind – als römisch-vulkanische Thermen, frühneuzeitliche Krönungs- und Kriegsstätten sowie (Land-)Sitze diverser weltlicher und kirchlicher Eliten. Insbesondere das Beispiel Caserta als Ort des seit 1751 in Bau befindlichen spektakulären Palazzo Reale, der für die bourbonischen Herrscher Neapels dem Modell Versailles nachempfunden wird, kann Alfieris verächtlich-ironisches Verschweigen von zeitgeistigen Antikentrends und höfischen Attraktionen deutlich machen.




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Doch diese Haltung steht freilich auch im Dienst literarisch-theatraler Effekte: Alfieri erscheint hier vor der Kulisse sprechender Ortsreferenzen und hoch zu Pferde umso mehr als einsamer, von Tränen überwältigter, sprich: großer Melancholiker, den es nicht einmal zum Reimen drängt.16 Seine tiefe Melancholie nobilitiert ihn nicht nur abermals zum erhabenen Gefühls- und Charakter'aristokraten', sondern zeigt ihn auch als gekonnt mit seinem Selbstbild und literarisch-dramatischen Konventionen spielenden Erzähler. Alfieri leitet seinen zweiten Neapel-Aufenthalt also nicht von ungefähr dadurch aus, indem er diesen unter intertextueller Bezugnahme auf die doctrine classique als durch und durch dramatische Episode seines Lebens auflädt: Er kommentiert, dass er während der vier Monate von Februar bis Mai nur in einigen guten Momenten habe dichten können. U.a. habe er seine römisch-griechisch inspirierten, sprich: republikanischen Tragödien Ottavia und Polinice versifiziert bzw. neuerlich in Verse gefasst. Dabei unterstreicht er mittels der Parallelisierung von Dichtkunst und Leben, dass sein ganzer Aufenthalt in Neapel durch den tragischen Konflikt zwischen leidenschaftlicher Liebe und Pflicht schicksalshaft bestimmt gewesen sei. Sein weiches und ehrenhaftes Herz sei von diesem furchtbarsten, ja tödlichen menschlichen Konflikt erst erlöst worden, nachdem Stolberg-Gedern per päpstlicher Erlaubnis das Kloster habe verlassen dürfen und er wieder nach Rom zurückgekehrt sei:

I contrasti che prova un cuor tenero ed onorato fra l'amore e il dovere, sono la piú terribile e mortal passione ch'uomo possa mai sopportare. Io dunque indugiai tutto l'Aprile, e tutto il Maggio m'era anche proposto di strascinarlo cosí, ma verso il dodici d'esso mi ritrovai, quasi senza saperlo, in Roma. (Vita: 222)

Freilich erwarten das gebeutelte Ich Alfieris auch in Rom diverse Dramen: Er muss, wie er zu Ende des Neapel-Kapitels berichtet, erst einmal wie ein Höfling agieren, d.h. den Klerus günstig stimmen, um in der Stadt bleiben und Stolberg-Gedern sehen zu können. Aber alsbald, so Alfieri zu Beginn des folgenden Kapitels (Vita: 4.9), hat er die "codesti esercizj di semiservitù" hinter sich (Vita: 222) und kann auch seiner zweiten Leidenschaft wieder frei nachgehen. Die Möglichkeit, die Geliebte jeden Abend zu besuchen, stimmt ihn heiter und lässt ihn wieder Kraft schöpfen. Die wiedergewonnene Handlungsfreiheit, die "onesta libertà" (Vita: 222), löst bei ihm einen geradezu exzessiven Kreativitätsschub aus, der ihn in kürzester Zeit die Arbeit an insgesamt zehn (Freiheits-) Tragödien (mit der Ottavia), aber auch an episch-lyrischen Werken aufnehmen lässt:

Ripreso dunque il Polinice, terminai di riverseggiarlo; e senza piú pigliar fiato, proseguii da capo l'Antigone, poi la Virginia, e successivamente l'Agamennone, l'Oreste, i Pazzi, il Garzia; poi il Timoleone che non era stato ancor posto in versi; ed in ultimo, per la quarta volta, il renitente Filippo. E mi andava tal volta sollevando da quella troppo continuità di far versi sciolti, proseguendo il terzo canto del Poemetto; e nel Decembre di quellanno stesso composi d'un fiato le quattro prime odi dell'America Libera. (Vita: 222)

Die Botschaft Alfieris ist klar: Sein Leben und Schaffen steht ab nun wieder ganz im Zeichen der politischen und künstlerischen Individualität, die symbolisch mit der Überarbeitung der Tragödien sowie der Kreation eines neuen Werkes reetabliert wird, der die Amerikanische Revolution (1775–83) preisenden Ode L'America libera. Alfieris neuer, revolutionär inszenierter Schaffensdrang nimmt gewissermaßen schon die Drucklegung von zehn seiner Tragödien in drei Bänden vorweg (Pazzini Carli, 1783), die er als Beleg autonomer Praxis in der Vita entsprechend dramatisch darbieten wird (Vita: Kap. 4.9–11).




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Neapel im dramaturgischen Rückblick

Neapel bleibt damit in Vittorio Alfieris Vita eine (Reise-)Episode, die er 1781 beschließt. Allerdings kommt der Autor im Kapitel 4.11 noch einmal auf indirekte, aber bedeutsame Weise auf die Stadt zu sprechen: Er erwähnt hier Kritiken über seinen ersten Tragödienband, der in Neapel in dem monatlich erscheinenden aufklärerischen Organ Scelta miscellanea (01/1783–12/1784) im Jahr 1783 mehrfach diskutiert wird und fast zeitgleich vom bekannten neapolitanischen Theaterhistoriker Pietro Napoli Signorelli erstmals in einem Brief kommentiert wird.17 Alfieri berichtet in dem Kapitel auch vom Druck der beiden weiteren Tragödien-Bände und betont, dass seine Dramen u.a. in Neapel positiver aufgenommen wurden als in der Toskana (Vita: 4.10). Vor allem kommt er aber auf einen umfangreichen Brief von dem lange in Neapel ansässigen Ranieri de' Calzabigi (1714–95) zu sprechen,18 die mit 20.08.1783 datierte Lettera di Ranieri de' Calzabigi sulle prime quattro tragedie dell'Alfieri, die für die Rezeption von Alfieris Tragödien eine nachhaltige Referenz darstellen wird.

Calzabigi, der heute als Librettist von Christoph Willibald Gluck bekannt ist und mit Alfieri das Ideal eines erneuerten Klassizismus teilt, wird von dem Tragiker in Bezug auf den Brief in einer kurzen Passage der Vita zum Jahr 1782 erwähnt und hier zum einzigen von ihm akzeptierten Kritiker seiner Tragödien nobilitiert.19 Den vom Umfang her eher traktathaften Brief wird Alfieri später im ersten Band seiner luxuriösen fünfbändigen Pariser Tragödienedition (Didot, 1787–89) als eine Art Vorwort publizieren.20 Kurz gesagt, Calzabigi, dem Alfieri 1785 auch ein Exemplar des dritten Bandes der Sieneser Tragödienedition nach Neapel schicken lässt,21 wird für ihn zum Ebenbild: als Librettist, der die opera seria unter Anleihe an die tragédie lyrique ästhetisch konzentriert und im Stil des verosimile auf die großen tragischen Affekte zurückführt (vgl. Gallarati 1989: 5–13), aber auch als ganz den Leiden­schaften verschriebener, herrschaftskritischer und mobiler Spätaufklärer, der im Zuge von Konflikten mehrmals den Wohnort wechseln muss und so temporär auch in Paris, Wien und Pisa sesshaft ist.22

Alfieris Bezugnahme auf Calzabigi kann abschließend noch einmal verdeutlichen, dass die Neapel-Referenzen der Vita nicht zuletzt deshalb von Interesse sind, weil sie auf plastische Weise Alfieris dramatische Ader in einer gattungs­übergreifenden Perspektive veranschaulichen können. Die città partenopea markiert hier, als Paradeort der Grand Tour und Alfieris südlichste italienische Reisedestination, seine kontrapunktische Selbstinszenierung als außergewöhnlich theateraffiner und leiden­schaftlicher, den Trends seiner Zeit rundum erhabener Autor. Neapel verkörpert damit auch eine Kulisse, vor der der betont autonome und melancholische Alfieri in Form extremer e/motions ironisch-distanziert und different auf seine Zeit blicken kann. Seine theatrale Selbst- und Weltwahrnehmung wird so auch als Reflektor einer von soziopolitischen Transformationen und kulturellen Über­lagerungen geprägten Zeit am Übergang von der Neuzeit zur Moderne lesbar.




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Anmerkungen

1 Vgl. z.B. Goethes Eintrag vom 28.05.1787 (1950: 369): "Ich kehre wieder zu dem geringen Volke in Neapel zurück. Man bemerkt bei ihnen, wie bei frohen Kindern, denen man etwas aufträgt, daß sie zwar ihr Geschäft verrichten, aber auch zugleich einen Scherz aus dem Geschäft machen. Durchgängig ist diese Klasse von Menschen eines sehr lebhaften Geistes und zeigt einen freien richtigen Blick. Ihre Sprache soll figürlich, ihr Witz sehr lebhaft und beißend sein. Das alte Atella lag in der Gegend von Neapel, und wie ihr geliebter Pulcinell noch jene Spiele fortsetzt, so nimmt die ganz gemeine Klasse von Menschen noch jetzt Anteil an dieser Laune."

2 Dies gilt auch, wenn Goethe Topoi wie den der untätigen Lazzaroni korrigiert. Er geht u.a. auf Johann Jacob Volkmanns Historisch-kritische Nachrichten von Italien (1770/71) zurück, die Goethe auf seiner Reise mit sich führt. Vgl. zu Goethe: Richter 2007: 80–113; ders. 2012: 33–47; zur Grand Tour und Italien in exotistischer Perspektive im Generellen: Imorde / Wegerhoff 2012.

3 Vgl. zur Vita die Bibliografie in: Alfieri 2010 (556–571) sowie zur dichten Intertextualität des Werkes: Winter 2000.

4 Vgl. dazu bzgl. der Vita: Baron 2017: 94ff.; Schlüter 2010: 529ff.

5 Vgl. Alfieris umfangreichen Briefwechsel der 1760/70er Jahre aus diversen Städten Europas (Alfieri 1963, Vol. 1) sowie v.a. die dritte Epoche seiner Vita (1766–75)




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6 So hält er etwa in seiner Autobiographie fest, dass er zur Überzeugung gelangt sei, dass der forte sentire den "primo sapere richiesto" bilde, um gute Tragödien schreiben zu können, und man diesen eben nicht erlernen könne (Alfieri 2001: 195). Vgl. zum Begriff z.B. Santato 2003: 25–27. Die Zitate aus der Vita werden im Folgenden nur noch mit der Angabe Vita und der Seitenangabe belegt.

7 Seine Tragödie zeigt als genere sublime anhand weniger Figuren einen sprachlich-dramaturgisch knappen Verlauf auf, der mittels eines erhabenen Freiheitshelden, der einen Tyrannen zum Gegenstück hat, auf ein Eskalationsszenario zuläuft. Mit dem Konflikt von Tyrannei und Freiheit korrelieren einerseits das griechische Tragödientheater mit der Hochzeit um 500–400 v. Chr., andererseits das hellenistische Longinus-Traktat Über das Erhabene (Peri hypsos) aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., das Alfieri als Leitlinie für seine Ästhetik dient. Er greift mit dieser erneuerten Form das klassizistische Reformtheater des frühen 18. Jhs. auf, das schon das Programm einer ästhetisch-moralischen Tragödie formuliert hatte. Vgl. dazu und zur Geburtsmetaphorik bei Alfieri: Winkler 2016: 18–34, 85–131, 168–190.

8 In der Vita macht er neben der Literatur und der Liebe so das Pferd zu seiner dritten "rabidissima passione" und sich zum "Cavallajo" (Vita: 237–238).

9 Vgl. dazu: Alfieri 2010: 464–465 (Fn 115).

10 Ganz punktuell wird so Neapel im Rahmen seiner Reise nach Nordeuropa bzw. London von 1770 zur illuministischen Referenz, in Form des Botschafters von Neapel in Dänemark, Graf Catani, und dessen Onkel, Marchese Tanucci, sowie Marchese Caraccioli (Vita: Kap. 3.8–9).

Alfieri schickt (verm. im Dezember 1798) aus Florenz einen kurzen Brief an den Feudalaristokraten Imperiale in Neapel, in dem er sich für ein Exemplar seiner Gedichtsammlung Fanoiade bedankt. Caretti bemerkt in seinem editorischen Kommentar, dass er Imperiale womöglich von seinem ersten Neapel-Aufenthalt kennt (Alfieri 1981: 278–280). Zu den Briefen vgl. Fn 18.

11 Vgl. zu Goethes Reise: Wild 1997: 338–339, 361–365; Richter 2012: 49–81.

12 U.a. Carlo Emanuele III di Savoia (Piemont-Sardinien), Maria Theresias Statthalter Francesco II d'Este (Mailand) und ihr Sohn Peter Leopold von Habsburg-Lothringen (Großherzog der Toskana).

13 Vgl. Alfieri 2010: 463 (Fn 109).

14 Vgl. den Florentiner Brief an seinen Schwager Giacinto Cumiana in Turin vom 07.12.1780 (Alfieri 1963: 118–119).

15 Der dreibändige Epistolario enthält lediglich einen Brief aus Neapel, den er an seine Schwester Giulia schickt (10.04.1781) und in dem er recht sachlich die Hochzeit seiner verwitweten Halbschwester Giuseppina und ähnliche Familien­angelegenheiten kommentiert (Alfieri 1963: 122–124). Die Korrespondenz Alfieris ist allerdings nur zum Teil erhalten. Stolberg-Gedern und Alfieri mussten im Zuge der Französischen Revolution aus Frankreich flüchten und den Großteil ihrer Schriften zurücklassen. V.a. aber dürfte Stolberg-Gederns Liebhaber, der Maler François-Xavier Fabre, bzw. dessen Testamentsvollstrecker nach Stolberg-Gederns Tod 1824 Alfieris Briefe an diese entsorgt haben. Vgl. Alfieri 2010: 508 (Fn 382).

16 Die Grand Tour entlang antiker Schauplätze spiegelt sich ab dem 17. Jh. u.a. in der Etablierung von Fremdenführern, sogenannten Ciceroni, die auch durch die Phlegräischen Felder, diverse Grotten und an das mutmaßliche Grab von Vergil im Norden Neapels führen. Vgl. Emslander 2012: 13–23.

17 Der Brief aus Madrid stammt vom 26.07.1783 und ist an den piemontesischen Historiker und Politiker Giuseppe Vernazza adressiert. Zur Rezeption von Alfieris Tragödienedition in Neapel vgl. Fabrizzi / Ghidetti/Mecatti 2011: 20–25.




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18 Im Epistolario findet sich keine Korrespondenz mit Calzabigi, aber ein Brief des Grafen Amico di Castellalfero vom 16.10.1788 aus Paris, dem Alfieri 50 Subskriptionsblätter für seine Didot-Tragödienedition schickt. Interessant ist dabei Alfieris Bitte diese (für Neapel zu hohe Anzahl) auch im Königreich und in Sizilien zu verteilen, da dies Aufschluss über die Selbsteinschätzung der Nachfrage seiner Tragödien gibt (vgl. Alfieri 1963: 409). Ansonsten tritt Neapel in seiner Korrespondenz v.a. im Rahmen des Austauschs, der Suche nach und Bezahlung von Schriften und Büchern auf. Seine Briefe an den engen Freund Tommaso Valperga di Caluso in Turin (20.01.1794) und an Tommaso Gargallo in Neapel (30.05. und 18.07.1796) belegen dies (vgl. Alfieri 1981: 139–141, 182–183, 184–185). Vgl. Fn 10.

19 "Mentr'io stava quasi per finire la stampa, ricevei dal Calsabigi (sic!) di Napoli una lunghissima lettera, piena zeppa di citazioni in tutte le lingue, ma bastantemente ragionata, su le mie prime quattro tragedie. Immediatamente, ricevutala, mi posi a rispondergli, sí perché quello scritto mi pareva essere stato finora allora il solo che uscisse da una mente sanamente critica e giusta ed illuminata" (Vita: 236).

20 Alfieris mit 06.09.1783 datierter Antwortbrief aus Siena, die ausführliche Risposta dell'Alfieri al Calzabigi, wird ebenso in der Didot-Edition publiziert. Vgl. zu den unterschiedlichen Fassungen und Publikationen dieses Briefs und desjenigen Calzabigis – beide sind nicht im Epistolario enthalten – die kritischen Editionen der Tragödienparatexte: Alfieri 1978: 171ff.; Fabrizzi / Ghidetti/Mecatti 2011: 49ff.

21 Im Brief vom 08.04.1785 aus Pisa an Mario Bianchi nach Siena erwähnt Alfieri, dass er 30 Exemplare des dritten Bandes nach Neapel schicken lässt, von denen 9 verschenkt werden sollen, u.a. an Calzabigi (vgl. Alfieri 1963: 256–258).

22 Damit wird er auch zum Gegenmodell des Wiener Hofpoeten Pietro Metastasio, der in den 1710/20er Jahren eine Zeitlang in Neapel weilte. Alfieri charakterisiert diesen in einer berühmt gewordenen Episode der Vita als Höfling Maria Theresias (Vita: Kap. 3.8). Vgl. zu Alfieri und Metastasio bzw. dem Briefwechsel Alfieris mit Calzabigi: Winkler 2016: 153–225.