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Leonie Krutzinna (Göttingen)



Julia Nantke (2017): Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters. Zwischen Transgression und Regelhaftigkeit. Berlin/Boston: De Gruyter. 441 S.

Die europäischen Literaturen erscheinen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als ästhetischer Pluralismus. Im Mit- und Gegeneinander schließen sich einzelne Akteure zu Gruppen zusammen und deklarieren Distinktion. Mit Arp und Lissitzky lässt sich dieses Phänomen als Zeitalter der "Kunstismen" benennen. Bereits 1925 systematisieren sie die parallelen Strömungen, Gruppen, Bewegungen und differenzieren neben Stilrichtungen wie Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus, Futurismus auch Merz (Arp/Lissitzky 1925: VII) – das Kunstkonzept von Kurt Schwitters.

Schwitters (1887–1948) inszeniert sich mit Merz als Ein-Mann-Projekt. Am Standort Hannover findet er weder Anschluss an Dada Zürich, noch an Dada Berlin, auch die Kontakte zu Herwarth Walden und dem Sturm-Kreis bilden nur eine flüchtige Annäherung an den Expressionismus. Mit Merz beharrt Schwitters auf seiner Singularität und stemmt sich gegen die Vereinnahmung durch bestehende avantgardistische Konzepte. Merz verzichtet auf den Ismus und grenzt sich schon dadurch von den Kunstismen der Zeitgenossen ab. Unberührt von dieser Selbstdeklaration bleibt die Frage, wie autonom Schwitters' Ästhetik tatsächlich im Kontext der Avantgarde ist.

Um diese literarhistorische und ästhetische Bestimmung hat sich die Schwitters-Forschung vor allem in der Hochzeit ihrer Tätigkeit, in den 1970er Jahren, bemüht. Hier nimmt auch Julia Nantkes 2016 von der Universität Wuppertal als Dissertation angenommene Studie Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters. Zwischen Transgression und Regelhaftigkeit ihren Ausgangspunkt.




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Im Wirkungskreis von Sturm, Expressionismus und Dada erscheint Merz als konkurrierendes Prinzip. Schwitters liefert einen "kunstpolitische[n] Kommentar zum Kampf der Dadaisten gegen den Expressionismus" (89), indem er die dadaistische Textsorte in expressionistischer Darbietung präsentiert. Der Rückgriff auf bestehende Diskurse und Ausdrucksformen bei gleichzeitiger Neuorganisation des Materials prägt sein Konzept. Schwitters' Werk ist, so Nantkes Argumentation, transgressiv hinsichtlich der "konventionellen Kategorisierungssystematiken der Literaturwissenschaft – Autor, Werk, Gattung, Medium" (1).

Im zeitgeschichtlichen Kontext bildet es damit allerdings keine Ausnahmeerscheinung: Ist doch die Auflösung der Grenzen zwischen Produktion, Rezeption und Distribution ein zentrales Anliegen der progressiven Kunst- und Kulturschaffenden in der Moderne. Nantke ergründet allerdings die Schwitters'sche Ästhetik der Transgression, indem sie die ihr zugrunde liegende Regelhaftigkeit sichtbar macht. Es zeigt sich, dass Schwitters' Ästhetik nicht die bloße Auflösung von Konventionen intendiert, sondern ihr vielmehr eigene Ordnungsprinzipien inhärent sind. Anders als in der Forschung bislang angenommen (Fischer 2001: 203), nimmt Schwitters also keine Destruktion der Werkkategorie vor, sondern implementiert Strukturprinzipien, in denen die eigene Autorposition verortet wird. Das Ziel der Studie ist somit, Schwitters' Unterwanderung des Regelsystems zu erfassen und zugleich die Regelhaftigkeit dieser Transgression herauszustellen.

Hat die Forschung Merz und Dada bisweilen gleichgesetzt und Schwitters vor allem vor der Folie konventioneller literaturwissenschaftlicher Kategorien gelesen, so veranschaulicht Nantkes Ansatz die daraus resultierende interpretatorische Einschränkung bei der Rezeption von Schwitters' Werk. Besonders Friedhelm Lach, Herausgeber der ersten Werkedition von Schwitters' Textzeugnissen (Schwitters 1973–1981), hat dazu beigetragen, dass die Texte Gattungskonventionen unterworfen wurden und ursprüngliche Werkzusammenhänge nicht mehr zu rekonstruieren sind.

In der Rezeption kommt es zu Fehlschlüssen, die die Regelhaftigkeit seines Umgangs mit Gattungskonventionen verkennen und den Texten teilweise sogar jede inhaltliche Relevanz absprechen (17). Hierin liegt zugleich ein Aspekt, der Schwitters' Merz-Kunst von Dada trennt: "Schwitters signifiziert also, er erzeugt ein Zeichen, während die Dadaisten eine neue Korrelation für ein bestehendes 'Funktiv' etablieren, wobei die ursprüngliche Codierung im Hintergrund aktiv bleibt" (136).




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Anstelle einer "Kategorisierung nach Gattungen, Kunstformen, Urheberschaft" (50) orientiert sich Nantkes Vorgehen eng am Material und nimmt dazu strukturalistische und diskursanalytische Perspektiven ein. Sie berücksichtigt die Materialität der Texte gleichermaßen wie die Intermedialität des Werks. Die Expertise der Autorin zeigt sich in ihrer editionsphilologisch-akribischen Arbeitsweise wie auch in der profunden Kenntnis der Werkzusammenhänge. Beides hat sie bereits als Bearbeiterin der erstmals edierten Sammelkladden von Schwitters unter Beweis gestellt, die 2014 den Auftakt der von Ursula Kocher und Isabel Schulz herausgegebenen Neuedition des Schwitters'schen Werks bildeten (Schwitters 2014).

In ihrer Dissertation berücksichtigt Nantke sowohl Schwitters' Publikationen zu Lebzeiten wie die prominenten Anna Blume. Dichtungen als auch Einzelwerke, wie die Programmschrift An alle Bühnen der Welt oder fiktionale Formen wie die Horizontale Geschichte, zudem bildkünstlerische Arbeiten (Kotsbild), Adress- und Notizhefte und schließlich die prominente archtitektonische Form des Merzbaus. Die Arbeit fußt damit auf einer breiten materiellen Basis, sodass die erarbeiteten Strukturen tatsächlich als werkübergreifend bezeichnet werden können und eine Bestimmung der Schwitters'schen Ästhetik greifbarer machen, als es der Forschung bislang gelungen ist. Die Studie schließt so auch die noch immer klaffende Forschungslücke zwischen den kunsthistorisch und literaturwissenschaftlich perspektivierten Schwitters-Rezeptionen, die jeweils in ihrer einseitigen Ausrichtung beschränkt bleiben.

Ordnungsstiftend und damit sinnfällig für die Schwitters-Rezeption sind, so Nantke, also nicht künstlerische Disziplinen und Gattungsbegriffe, sondern die Verfahren der "Montage", der "Produktiven Rezeption", der "Verkehrung" und die Strukturierung durch "Namen und Serien". Eingehend stellt sie diese Strategien und ihr Ineinandergreifen vor, woraus komplexe ästhetische Strukturen transparent werden. "Die Avantgarde-Strategie des Aufdeckens der Gemachtheit wird bei Schwitters ins Produktive gewendet und bildet selbst einen Teil der von ihm perspektivisch geformten Montage moderner künstlerisch-kultureller Strömungen" (114). So zeigt sich, wie Schwitters vom Palindrom der "Anna" ausgehend eine Ästhetik der Verkehrung entwickelt, die sich nicht nur auf graphematischer Ebene niederschlägt – etwa wenn Schwitters den Namen seiner Heimatstadt zu "Revonnah" umkehrt – sondern auch auf die narrative Struktur übergreift (exemplarisch zeigt das die Horizontale Geschichte). In der Forschung auf diesem Gebiet bereits entwickelte Positionen (u.a. Brandt 2004 und Fux 2007) werden so maßgeblich erweitert.




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Eine solche Erweiterung ist auch die Übertragung der "Verkehrung" auf die Raum-Modelle in Schwitters' Werk. Mit Bezugnahme auf Bachtin und Foucault beschreibt Nantke sie als "Verkehrte Welt" (227) und "Diskursive Formation" (258). So erscheinen die Sammelkladden als Orte der Archivierung fremder Diskurse. Die Wissensordnung erhält dabei wiederum selbst künstlerische Wirkung (279). Ähnlich verhält es sich auch beim Merzbau, Schwitters' Lebenswerk.

Bereits in Hannover gestaltet er Teile seines Wohnhauses zum architektonischen Kunstwerk. Als er 1937 nach Norwegen emigriert, nimmt er an seinem neuen Wohnort in Lysaker bei Oslo wiederum die Arbeit an einem Merzbau auf. Auch später in England, nachdem er infolge des Überfalls Nazi-Deutschlands auf Norwegen erneut geflohen war, beginnt er einen solchen zu konstruieren, die Merzbarn. Nantke macht den "verstärkten Eingang architekturbezogenen 'Materials' in Schwitters' Werk" (318) sichtbar und betont die "grundsätzliche[n] Raumbezogenheit des Werks" (ebd.). Die angesprochene "Problematik des fehlenden Objekts" (296) erscheint zunächst nachvollziehbar, schließlich wurde der Merzbau sowohl in Hannover als auch in Lysaker zerstört und der in Ambleside ist unvollendet geblieben, sodass es keine gesicherte materielle Grundlage gibt. Die Autorin erwähnt hier allerdings nicht, dass auch ein vierter Merzbau, die Merzhytta, auf der westnorwegischen Insel Hjertøya existiert – und zwar als einzige materiell erhaltene Verbindung von Kunst und Leben in Schwitters' Œuvre.

Erhellend bleibt dennoch Nantkes Einordnung der architektonischen Arbeiten am Merzbau im zeitgenössischen Diskurs. So erscheint er als "Montage verschiedener 'Zitate' moderner Architektur-Konzepte der 1920er Jahre" (313f.). Schwitters' Werk überbietet die zeitgenössische Ersetzung von Kunst durch Architektur, indem die Architektur selbst zur Kunst wird (316).

Nantkes Studie liefert einen fundierten wie komplexen Einblick in Schwitters' Ordnungsmuster, der zur Revision bisheriger Schwitters-Rezeptionen auffordert. Vor allem auf biografische Lesarten verzichtet die Autorin dabei bewusst, denn " [v]ielmehr sind jene biografischen 'Köder' wiederum als Teil des Spiels um die 'Position Schwitters' zu verstehen, die im Rezeptionsprozess erneut eine Transgressionserfahrung in Bezug auf das 'System Kunst' bzw. die von Foucault postulierte 'Autor-Funktion' bewirken" (367).

Nantkes Arbeit liefert die Grundlagen zur Annäherung an weitere Forschungsfragen, die insbesondere hinsichtlich des schriftstellerischen Werks erst auszugsweise in Angriff genommen wurden. Neben dem 2016 von Walter Delabar, Ursula Kocher und Isabel Schulz herausgegebenen Sammelband Transgression und Intermedialität. Die Texte von Kurt Schwitters (Delabar 2016) bildet Nantkes Monographie nun eine weitere tragfähige Säule zur theoretischen Erfassung von Schwitters' ästhetischen Strategien.




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Bibliographie

Arp, Hans / Lissitzky, El (1925): Die Kunstismen. Les Ismes de l'art. The Isms of Art. Erlenbach-Zürich u.a.: Rentsch.

Brandt, Marion (2004): "Von hinten wie von vorne erzählen. Umkehrung als Teil der künstlerischen Logik von Kurt Schwitters", in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9. München: Edition Text+Kritik, 11–31.

Delabar, Walter / Kocher, Ursula / Schulz, Isabel (Hgg.) (2016): Transgression und Intermedialität. Die Texte von Kurt Schwitters. Bielefeld: Aisthesis.

Fischer, Katrin (2001): "Kurt Schwitters: Selbsterfindung und Kunstleben", in: Ralph Köhnen (Hg.): Selbstpoetik 1800-2000. Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling. Frankfurt a. M. u.a.: Lang, 201–214.

Fux, Evelyn (2007): Schnitt durch die verkehrte Merzwelt. Berlin: Weidler.

Schwitters, Kurt (2014): Alle Texte. Bd. 3: Die Sammelkladden 1919-1923, hg. von Ursula Kocher, Isabel Schulz Kurt und Ernst Schwitters Stiftung in Kooperation mit dem Sprengel Museum Hannover. Berlin: De Gruyter.

Schwitters, Kurt (1973–1981): Das literarische Werk. Bde. I-V, hg. von Friedhelm Lach. Köln: Dumont.