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Marina Ortrud Hertrampf (Regensburg)



Sidonia Bauer (2017) (Hg.): Unterwegs. Aufsätze zu Wandernden, Fremden und Außenseitern. Herne: Gabriele Schäfer Verlag (Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 13)



Der von Sidonia Bauer konzipierte und herausgegebene Sammelband Unterwegs. Aufsätze zu Wandernden, Fremden und Außenseitern handelt nicht nur von unterschiedlichsten Literarisierungen des mobilen Fremden und Anderen, sondern weist sich in seinem Konzeptionsansatz selbst durch seine ungewöhnliche Andersartigkeit aus: Das Außergewöhnliche des Bandes besteht nämlich darin, dass er Aufsätze von Studierenden vereint, die im Anschluss an Pro- und Hauptseminare entstanden sind, die Sidonia Bauer in den vergangenen drei Jahren an der Universität zu Köln abhielt. Diese Konzeption stellt insbesondere in hochschuldidaktischer Hinsicht einen innovativen Ansatz im Sinne eines auf den akademischen Forschungsbetrieb vorbereitenden Praxiskonzeptes dar. In literaturwissenschaftlicher Hinsicht bedeutet dies allerdings zugleich, dass der Band ebenso wenig eigenständige und neuartige Forschungsansätze liefern kann wie tiefergehende theoretische Reflexionen. Hierauf weist die Herausgeberin in ihrer Einleitung auch selbst hin, wenn sie davon spricht, dass es sich bei den im Band versammelten Aufsätzen um einzelne "Bausteine der Forschung"(10) handelt, bei denen die "themenkritische Analyse" (10) im Vordergrund steht. Über den literaturwissenschaftlichen Erkenntniswert und die Relevanz für die Forschung einer derartigen Publikation lässt sich zweifelsohne streiten. Auf den ersten Blick scheint die Tatsache, dass zumindest ein Teil des fokussierten Themenfeldes – und zwar der der Roma-Literaturen1, also des literarischen Selbstausdrucks von Vertretern der Minderheiten der Roma – noch Neuland in der (romanistischen) Literaturwissenschaft darstellt, das Panorama ausgewählter Ergebnisse engagierter Studierender der Literaturwissenschaft jedoch ebenso zu rechtfertigen wie der Projektcharakter des Unternehmens an sich.2 Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass just der Forschungsaspekt, dessen tiefergehende Untersuchung ein Desiderat (nicht nur romanistischer) Literaturwissenschaften darstellt, gerade nicht von den Studierenden behandelt wird, sondern lediglich in einem einzigen Beitrag, der zudem von der Herausgeberin und damit von einer bereits erfahrenen Nachwuchswissenschaftlerin mit entsprechend umfassender literaturwissenschaftlicher Kenntnis und Umsicht verfasst wurde.




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Das Potential des kreativ und produktiv vielfältig nutzbaren 'Freiraums' des bis dato kaum Erforschten, das sich gerade für die in der wissenschaftlichen Forschung noch wenig erfahrenen Studierenden hervorragend für Schreibprojekte angeboten hätte, wurde damit bedauerlicher Weise nicht genutzt. Die vierzehn studentischen Beiträge nehmen mit der Fokussierung auf (wandernde) Außenseiterfiguren, der mehrheitsgesellschaftlichen Fremddarstellung von Roma und ihrer Inszenierung als 'Künstlerfigur' des Bohemien sowie der Figur des Fremden und Anderen hingegen thematische Schwerpunktsetzungen in den Blick, die in den Literaturwissenschaften bereits intensiv aus den unterschiedlichsten methodischen und theoretischen Blickwinkeln heraus erforscht wurden. Eine Tatsache, die die Beiträge der Studierenden unweigerlich in 'Konkurrenz' zu Forschungsansätzen und -beiträgen etablierter und renommierter Wissenschaftler setzt, mit denen sie freilich nicht mithalten können.

Im Mittelpunkt des Bandes rund um literarisch-theatrale Formen und Inszenierungen von sozialer bzw. geographischer Mobilität und Wanderschaft steht dabei die "Inszenierung der Bohémien- und 'Zigeuner'-Figuren" (11). Im Rahmen der Konzeption des Buches als "offenes Netzwerk" (11) wird die "konstruierte Gestalt des 'Zigeuners' oder des Bohémien" (14) als "Extrem an Fremddarstellungen" (14) verstanden, zu denen hier aber "überdies jüdische, schwarze und arabische Figuren" (14) gezählt werden." Thematisch ist der Band in die drei Kapitel "Außenseiter", "Wandernde Fremdkonstruktionen der 'Zigeuner'-Figur" und "Fremde" untergliedert, wobei das zweite Kapitel entsprechend der 'bedingten' Fokussierung auf literarische Roma-Repräsentationen konsequenterweise das umfangreichste ist. Hinsichtlich ihrer Gattung und nationalliterarischen Zugehörigkeit sowie ihrer historischen Verortung decken die im Einzelnen behandelten Theaterstücke, Gedichte und narrativen Texten aus Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien ein breites Spektrum vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart ab. Den roten Faden oder wie die Herausgeberin schreibt die "Knotenpunkte des Netz-Werkes" (14) bilden dabei die genannten Aspekte des Unterwegsseins.




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Der erste Beitrag des Kapitels "Außenseiter"– "Die commedia dell'arte: eine Bühne der Außenseiter?" von Linda Mannina und Debora Gallina – illustriert bereits die Problematik, die sich ergibt, wenn sich noch unerfahrene Studierende mit einem umfassend erforschten Gegenstand wie der commedia dell'arte beschäftigen, recht eindringlich. Für eine Proseminararbeit ist die mitunter ins Populärwissenschaftliche rutschende, oberflächliche Einführung in die Geschichte der commedia dell'arte und der Entwicklung ihrer Rollenfächer soweit recht gut gelungen: Standardeinführungen und einschlägige Forschungsarbeiten wurden konsultiert und paraphrasierend wiedergegeben. Dabei weist die sprachlich-stilistische Gestaltung (nicht nur) dieses Aufsatzes jedoch auf geradezu exemplarische Weise sämtliche Kennzeichen (noch) ungeübter Schreiber auf, wie sie für Studienanfänger ausgesprochen typisch sind (z.B. sprachlich-stilistisch ungeschickte und unglückliche Formulierungen, orthographische und syntaktische Fehler, Schachtelsätze, fehlende Verben, lexikalische wie inhaltliche Repetitionen und schwammige Pauschalisierungen). Dies ist mit Blick auf die Studierenden, die sich ja am Anfang ihrer Ausbildung und damit mitten im Lernprozess befinden, durchaus entschuldbar, doch muss man sich fragen, warum bei der redaktionellen Über- und Bearbeitung seitens der Herausgeberin nicht stärkere Einflussnahme ausgeübt wurde. Dies hätte nicht nur in sprachlich-stilistischer und formaler Hinsicht (z.B. Tippfehler, inkonsequente Formatierungen, unmotivierte Formatwechsel) zu einer Qualitätssteigerung beigetragen, sondern sicherlich auch zu einer thematisch zielführenderen Engführung der Darstellung beitragen können.

Der zweite Beitrag des ersten Kapitels beschäftigt sich mit Peter Härtlings Gilles. Ein Kostümstück aus der Revolution (1970). Über den Protagonisten, den Komödianten Gilles, der (realiter) von Antoine Watteau gemalt wurde und letzten Endes auf die Bühne der revolutionären Politik geriet, geht es also auch in diesem Beitrag um das Theater in der Tradition der commedia dell'arte. Zentral beleuchtet wird – so kündigt es der Titel des Aufsatzes auch an3 – die Bipolarität, die sich hier, der Autorin Lina Thomas zufolge, (auf diegetischer Ebene) vor allem auf psychologischer Ebene in dem Charakter Gilles manifestiert, zugleich aber auch auf formaler Ebene hinsichtlich der unklaren Gattungszuordnung einerseits (Lesedrama) als auch der Mischung von Elementen realistischer Darstellungsweise und solchen des Brechtschen Verfremdungstheaters andererseits.




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Der Aufsatz stellt eine im Großen und Ganzen recht anschauliche Textlektüre dar, bei der die Beobachtungen jedoch vielfach wie im nachstehenden Beispiel terminologisch kaum adäquat artikuliert bzw. gattungs- und literaturhistorisch nicht kontextualisiert werden. Diese gewisse Naivität – gepaart mit einer nachlässigen formalen Korrektur – zeigt sich auch in der folgenden Passage: "Gleichzeitig greift Peter Härtling auf viele Elemente aus dem Realismus zurück. Die meisten handelnden Charaktere des Stückes sind Personen, die tatsächlich existiert haben, wie Robespierre oder Marat. Es werden ausserdem [sic] typische Handlungen gezeigt, wie sie auch damals vorstellbar waren. In der 11. Und [sic] der 15. Szene siebt Susanne bei [sic] Mehl, um es von Maden zu befreien." (51) Bezüglich des thematischen Zugangs der Analyse geht die Autorin vor allem auf die Bedeutung der Kostümierung, den Bezug zur commedia dell'arte sowie auf die Mobilität des Gilles ein, der zum Spielball der Revolutionäre wird. So schließt der Aufsatz mit der treffenden Aussage, dass Gilles im übertragenen Sinn ein solcher Wanderer sei, dessen einziges Zuhause die Erinnerung an einen ganz besonderen Moment sei (64). Die Außenseiterrolle, Thema des Kapitels, dem der Aufsatz zugeordnet ist, wird hingegen nicht weiter diskutiert.

Das zweite Kapitel des Bandes wird mit Viktoria Kriegers Aufsatz "Die Darstellung der gitanos als 'Zigeuner'-Figuren in Cervantes' La Gitanilla" eröffnet. Die Autorin beginnt mit einer Skizze von Roma-Darstellungen in historischen Dokumenten. Dabei rekurriert sie allerdings vor allem auf Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum, was für die sich anschließende Beschäftigung mit literarisch konstruierten Fremdbildern von Roma auf der Iberischen Halbinsel aufgrund der dort anders verlaufenden Geschichte der Roma nur bedingt zielführend ist.4 Der Hauptteil des Aufsatzes widmet sich der stark inhaltsorientierten Präsentation der stereotypen Darstellungen von Roma in Cervantes' Novelle. Natürlich ist gegen ein eigenständiges Textstudium grundsätzlich überhaupt nichts einzuwenden, bei einem Textklassiker wie er in diesem Falle vorliegt, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschungsliteratur – auch zu der gewählten Thematik – aber nicht nur unumgänglich, sondern hätte zudem sicher auch neu zu diskutierende Interpretationsansätze eröffnen können.5 Der abschließend noch gelieferte, sehr oberflächliche und letztlich Bogdals (2011) und von Hagens (2009) Studien referierende Ausblick auf den "Einfluss von La gitanilla auf spätere Literatur" (82) hätte nicht zuletzt deshalb getrost gestrichen werden können, weil dieser nicht Teil des eigentlichen Themas ist.




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An dieser Stelle sei auch die befremdliche Setzung einer Sammelbibliographie zum zweiten Kapitel erwähnt: Während der Leser zunächst befürchtet, dem Aufsatz Kriegers fehle die Bibliographie, so belehrt ihn das Durchblättern des zweiten Kapitels eines Besseren, denn die bibliographischen Angaben sämtlicher Beiträge dieses Kapitels werden erst am Ende präsentiert. Leider führte diese Regelung aber offenbar dazu, dass der ein oder andere Titel 'unter den Tisch fiel' (z.B. Brown 1985, Hildebrand/Sting 1995), die Zitierkonventionen nicht einheitlich eingehalten wurden und die Reihung der Titel zudem nicht konsequent alphabetisch ist.

Mit dem im ersten Aufsatz des Kapitels kurz referierten Erzähltext Carmen von Prosper Mérimée beschäftigt sich dann der Folgebeitrag von Sabrina Basic mit dem etwas sperrigen Titel "Der Einfluss von Prosper Mérimées Spanienbild und des 'Zigeuner'-Bildes des 19. Jh. in Frankreich auf die Darstellung der Carmen" eingehender. Auch in diesem Aufsatz überrascht, dass die Autorin ohne jedweden Einbezug der reichen Forschungslandschaft auskommt. Entsprechend banal ist letztlich dann auch das Fazit: "Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Zusammenhang zwischen der Figur Carmen, Mérimées Spanienbild und dem französischen Zigeunerbild des 19. Jahrhunderts groß ist." (96) Mérimées Novelle steht auch im Mittelpunkt des Beitrages "Prosper Mérimées Carmen: Darstellung als Frau und als Bohémienne" von Katharina Reim und Aileen Neumann. Obwohl dieser Aufsatz ebenso wenig zu neuartigen oder überraschenden Ergebnissen kommt, so wird hier doch sauber mit der Forschungsliteratur gearbeitet und der Zusammenhang zwischen (männlicher) Faszination für das Exotische, (erotisch) Anziehende und zugleich Bedrohliche und der stereotypen Fremddarstellung der Roma als femme fatale argumentativ gut nachvollziehbar dargestellt. Die beiden folgenden Aufsätze beschäftigen sich ebenfalls mit Mérimée. Eva-Maria Röhrbein will in ihrem Beitrag "Die Selbstbestimmtheit von Prosper Mérimées Carmen und Victor Hugos Esmeralda. Ein Vergleich" ausgehend von der Charakterisierung der beiden fiktiven Protagonistinnen das Spannungsfeld von temperamentvoll-wilder Autonomie und (soziokultureller) Abhängigkeit und Fremdbestimmtheit ausloten. Ein an sich durchaus interessanter Ansatz, wäre doch beispielsweise zu fragen, inwiefern (und mit welcher Absicht) hier ein positives Fremdbild weitgehend selbstbewusster und selbstbestimmter Frauen konstruiert wird, dass den realen Lebensbedingungen von Roma-Frauen weder innerhalb der (insbesondere damaligen) Mehrheitsgesellschaft noch innerhalb der ethnischen Gruppe gerecht wird.




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Der Beitrag geht jedoch über das Nebeneinander von (in sich durchaus gelungenen) Figurencharakterisierungen leider nicht hinaus. Aurelia Poletti widmet sich in dem Aufsatz "L'archétype de la femme fatale dans Carmen, nouvelle 'mythologique' de Prosper Mérimée" noch einmal der Inszenierung von Carmen als femme fatale. Unter Rekurs auf Fonyis (1999) These der Carmen als einer "mère archaïque" versucht die Verfasserin den Typus der femme fatale in seinen mythisch-archaischen Dimensionen zu fassen. Dabei wird die von Mérimée unternommene Verknüpfung der fiktiven Carmen-Figur mit mythenumwobenen historischen Frauenfiguren (Kleopatra und María de Padilla), denen Männer bedingungslos verfielen, in die Argumentation aufgenommen, der höchst spannende Aspekt, dass Mérimée hier den in der Selbstdarstellung der calé verbreiteten Gründungsmythos der gitanos als unmittelbare Nachfahren der ägyptischen Pharaonen in seine quasi-historiographische Fremddarstellung der Roma aufnimmt, wird dabei aber leider nicht tiefergehend diskutiert.

Die im 19. Jahrhundert in Frankreich verbreitete 'Mode' der literarischen Inszenierung von Roma findet sich auch in der Lyrik wieder, so etwa in Baudelaires Sonett "Bohémiens en voyage". Diesem Gedicht widmet sich Sara Khadembashi, die in ihrem Beitrag "Baudelaires Bohémiens en voyage – eine Orientierung an den Stichen Jacques Callots" den intermedialen Wechselwirkungen von Text und Bild nachgehen will. Der Aufsatz gibt zunächst eine punktuelle Paraphrase der Gedichtinterpretationen von Fernandes (2003) und Menemenciouglu (1965) und skizziert unter Bezugnahme auf Scott (1988) die vielfältigen Interrelationen von Literatur und Kunst im 19. Jahrhundert. Die Ausgangsfrage des intermedialen Vergleichs – der Begriff oder gar das methodische Analysekonzept der Intermedialität wird in dem Beitrag jedoch überraschenderweise überhaupt nicht benannt – ist freilich in dieser Eindimensionalität und Loslösung aus dem literarischen und soziokulturellen Kontext recht naiv, so fragt die Autorin, warum Baudelaire den Dichter (und damit sich selbst) durch Bohémiens darstellte und fragt weiter, was Baudelaire dazu bewegt haben könnte, sein Gedicht an den Stichen Callots zu orientieren (153). Während die erste Frage in der Forschungsliteratur hinlänglich beantwortet worden ist, kann die zweite Frage von der Verfasserin ebenso wenig beantwortet werden wie von Scott, dessen motivgestützter Text-Bild-Vergleich hier resümiert wird.




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Meriem Hammami beschäftigt sich in dem Beitrag "Die Erziehung Miarkas zwischen Fiktionalität und Faktualität als identitätsbildende Komponente" mit dem Roman Miarka, la fille à l'ourse (1888) des nicht-kanonischen Autors Jean Richepin, der sich eigenen Angaben zufolge eine Zeitlang nomadisierenden Roma angeschlossen hatte und daher – zumindest vermeintlich – gewisse Einblicke in das Leben der Minderheit gewinnen konnte. Wie die Autorin im Anschluss an die ausführliche Inhaltsbeschreibung des Romans ganz richtig feststellt, bleibt die Darstellung der Roma jedoch eine literarisch-konstruierte, die vornehmlich damals gängige Stereotype der Mehrheitsgesellschaft perpetuiert.

Mit dem Aufsatz "Die Figur der Bohémienne in Alice Ferneys Grâce et dénouement im Vergleich zu Das Zigeunermädchen von Miguel de Cervantes" von Ricarda Peil erfolgt ein zumindest partieller Sprung ins 20. Jahrhundert. Auch in diesem Beitrag soll es um die mehrheitsgesellschaftliche Darstellung von Roma-Frauen gehen. Ziel des stark inhaltsparaphrasierenden Beitrages ist es, mit Blick auf die Inszenierung von Roma-Frauen Parallelen zwischen dem zeitgenössischen französischen Roman von 1997 und Cervantes' Novelle La gitanilla – hier allerdings in deutscher Übersetzung rezipiert – herauszuarbeiten. Welchen Erkenntniswert dieser Vergleich genau haben soll, bleibt dabei allerdings unerwähnt; allein die Tatsache, dass sich die Darstellungen mit Blick auf gewisse Stereotype unterscheiden, ist bei zwei Texten derart unterschiedlicher historischer und soziokultureller Provenienz und Zielsetzung (Alice Ferneys engagierter Roman setzt sich etwa explizit gegen Vorurteile und für die Anerkennung von Roma ein) wenig überraschend. Der Aufsatz von Karina Bleich6 beschäftigt sich ebenfalls mit Ferneys Roman, stellt hierbei aber einen Vergleich der Darstellung der Lebensbedingungen der Roma mit soziologischen Erhebungen an. Problematisch ist hierbei allerdings, dass die Autorin vornehmlich Untersuchungen aus Deutschland als Vergleichsfolie nutzt. Dies ist insofern nicht unproblematisch, als sich die Situation der Roma in Frankreich (auch in rechtlicher Hinsicht) von der Deutschlands (und anderer europäischer Länder) unterscheidet.




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Das dritte Kapitel des Sammelbandes unterscheidet sich deutlich von den beiden vorangegangenen. Zum einen wird der Blickwinkel weg von dem Fokus auf literarische Roma-Darstellungen hin zu dem Aspekt des Fremden ganz allgemein verschoben. Zum anderen heben sich die vier hier vereinten Beiträge aber auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen, methodischen und formalen Qualität stark von den anderen Beiträgen des Bandes ab.

Der erste Beitrag beleuchtet mit Ourika (1823) von Claire de Duras einen lange so gut wie vergessenen und erst mit den Postcolonial und Gender Studies wieder entdeckten Kurzroman des frühen 19. Jahrhunderts. Jan Holst gelingt es in "Ourika – Versuch einer Identitätskonstruktion zwischen subjektiver Identität und négritude" einen guten Ein- und Überblick in bzw. über den Roman und aktuelle Forschungsliteratur zu liefern. Auf der Basis einer narratologisch fundierten Textanalyse und unter Berücksichtigung gängiger gedächtnistheoretischer Ansätze (Assmann) sowie des postkolonialen Konzeptes der négritude (Césaire) untersucht der Autor unterschiedliche Motive der Marginalisierung. Am Beispiel der von Claire de Duras als höchst problematisch inszenierten Identitätskonstruktion der zwischen den Kulturen stehenden Protagonistin bringt Jan Holst die im Roman verarbeiteten aufklärerischen Ideale von Toleranz und bedingungsloser Gleichheit aller Menschen mit Stimmen postkolonialer Autoren in Verbindung und kommt schließlich zu dem Urteil, dass Claire de Duras mit Ourika als Vorreiterin der négritude avant la lettre bezeichnet werden kann.

Ganz anders geartete Formen des Anders- und Fremdseins nimmt Lisa Wolfson in ihrem Aufsatz "Figurationen des Fremden in Lion Feuchtwangers Jüdin von Toledo" in den Blick. Der stark textimmanent arbeitende Beitrag kristallisiert unterschiedliche Aspekte von intern-subjektiver und extern-gesellschaftlicher Fremdheit der Protagonisten im religiösen Spannungsfeld zwischen Christen, Muslimen und Juden vor dem historischen Hintergrund der Reconquista im Spanien des 12. Jahrhunderts heraus. Dabei wird besonders deutlich, dass Feuchtwanger die Thematik der Fremdheit in seinem 1954 erschienenen Roman komplex behandelt und "die Rolle des Fremden bzw. die Attestierung der Fremdheit je nach Perspektive wechselt" (253). Am Ende dominiert jedoch die ablehnende Furcht vor dem – wie es bei Feuchtwanger heißt 'Urfremden' des Arabischen und Jüdischen – und führt im Roman mittels der Ermordung von Raquel und ihrem Vater personifiziert dargestellt zur Vertreibung der Sephardim.




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Florian Simonis' Beitrag7 schließt gewissermaßen an den Aufsatz von Jan Holst an, beleuchtet die Frage nach Fremdheit und Alterität im kolonialen Kontext Frankreichs jedoch aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts und damit vor dem Hintergrund der De-Kolonialisierung. Konkret geht es um die literarische Darstellung des identitären Verhältnisses von Camus zu Algerien und 'den' Algeriern in seinem unvollendet gebliebenen autofiktionalen Roman Le premier homme. Dabei soll die vielfach vertretene These, Camus vertrete eine dezidiert kolonialistische und negative Sicht der indigen algerischen Bevölkerung, hinterfragt werden. Anhand gelungener Textanalysen zeigt der Autor, dass Camus ein durchaus realistisches Bild vom Alltagsleben in Alger liefert, wobei jedoch zahlreiche sozio-ökonomische und politisch-rechtliche Aspekte des Lebens der muslimischen Bevölkerung ausgespart bleiben. Camus' Verknüpfung der Darstellung der ersten Kolonialisierungswelle mit dem Algerienkrieg interpretiert Simonis als bewusste Konstruktion, durch die deutlich wird, dass es "die alltägliche Gewalt [ist], die zum roten Faden in der Geschichte des kolonialen Algeriens wird." (273) Gerade mit Blick auf die Präsentation des Algerienkrieges fällt die starke Differenzierung von Eigenem (d.h. Französischem) und Fremden (d.h. Arabisch-Muslimischen) auf, die in unauflöslichem Widerstreit zu Camus Ideal des individuellen, von humanistischen Idealen geleiteten Verhaltens steht. Damit ist Le premier homme Ausdruck des persönlichen Dilemmas Camus' zwischen "moralischem Anspruch und kolonialer Identität" (280).

Der letzte Beitrag des Kapitels wie des Bandes nimmt – wie bereits eingangs erwähnt – eine ganz andere Fokussierung vor: Sidonia Bauer lotet in "Poetik der Philomena Franz. Ein cante jondo?" die Parallelen der Poetik der deutschen Sintizza-Autorin Philomena Franz zu dem cante jondo, dem Flamencogesang andalusischer gitanos aus. Dabei rekurriert sie auf die Prägung des cante jondo durch Federico García Lorca und dessen Rezeption durch den französischen Gegenwartsdichter André Velter, der das poetologische Konzept des chant profond als Teil seiner nouvelle oralité poétique als 'gelebte Poesie' losgelöst von dem ursprünglich andalusischen Kontext im Sinne einer universalen Weltpoesie versteht (289). Kennzeichnet sich der cante jondo durch die Gleichzeitigkeit der extremen Gefühle von Schmerz und Liebe, so spiegelt sich diese Polarität auch in Franz' Gedichten gelebter Poesie über den Holocaust. Dem inhaltlich wie methodisch fundierten Beitrag gelingt es schließlich, mittels des Vergleichs der zentralen Aspekte der expliziten Poetiken des "tiefinneren Gesangs" (Lorca, Velter) mit den implizit geäußerten metapoetischen Aussagen der Autorin einerseits (autorzentrierter biographischer Ansatz) und pointierten Textanalysen (textimmanenter Ansatz) andererseits Parallelen aufzuzeigen, die letztlich als Basiselemente der auch in schriftlicher Form präsentierten weiterhin stark oral geprägten 'gelebten' und emotiven Roma-Dichtung verstanden werden können.




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Welches Fazit kann man nach der Lektüre des Bandes Unterwegs. Aufsätze zu Wandernden, Fremden und Außenseitern ziehen? Keine ganz einfach zu beantwortende Frage. Grundsätzlich ist es der Herausgeberin zugute zu halten, dass sie ein Wagnis eingegangen ist, das mit Blick auf die hochschuldidaktische Praxis im Sinne der Motivation von Studierenden zweifelsohne positiv zu bewerten ist. Und doch drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob ein derartiges Wagnis nicht mit sehr viel größerer redaktioneller und editorischer Hilfestellung, Nach- und Weiterbearbeitung hätte verbunden werden müssen. Schließlich muss man ehrlicherweise auch fragen, an welche Leserschaft sich der Band eigentlich richten möchte. Dem literaturwissenschaftlichen Fachpublikum liefert der Band – mit Ausnahme allerdings der vier Beiträge des dritten Kapitels – keinerlei Erkenntniswert. Die Mehrzahl der Beiträge, die sich ohne literaturwissenschaftliches oder literaturgeschichtliches Vorwissen lesen lässt, könnte sich so gesehen grundsätzlich an eine interessierte breite Öffentlichkeit richten. Abgesehen von der Tatsache, dass die inhaltlichen Schwächen und Lücken, die terminologischen Schwammigkeit und die unzähligen sprachlichen wie formalen Unsauberkeiten unabhängig von der intendierten Leserschaft negativ auffallen, hätte man im Falle einer allgemeinen Leserorientierung mit einer Online-Publikation beispielsweise auf der Universitätshomepage sicherlich mehr Leser erreichen können.




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Bibliographie

"Littératures Romani: construction ou réalité?" (2009): Études tsiganes 36.1 und 2.

Blandfort, Julia (2015): Die Literatur der Roma Frankreichs. Berlin: De Gruyter Mouton.

Blandfort, Julia/Hertrampf, Marina Ortrud M. (Hg.) (2011): Grenzerfahrungen: Roma-Literaturen in der Romania. Berlin: LIT.

Bogdal, Klaus-Michael (2011): Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin: Suhrkamp.

Eder, Beate (1993): Geboren bin ich vor Jahrtausenden… Bilderwelten in der Literatur der Roma und Sinti. Klagenfurt: Drava.

Fernandes, Ana (2003): "Les bohémiens de Baudelaire, une métamorphose possible", in: Mathesis 12, 233–243.

Fonyi, Antonia (1999): "La passion pour l'archè", in: Dies. (Hg.): Prosper Mérimée, écrivain, archéologue, historien. Genf: Droz, 197–207.

Hackl, Erich (1987): Zugvögel seit jeher. Freude und Not spanischer Zigeuner. Wien: Herder.

Hagen, Kirsten von (2009): Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film. München: Fink.

Hertrampf, Marina Ortrud M.(2011): "Camelamos naquerar: Literarische Stimmen spanischer Roma-Autoren", in: Blandfort, Julia/Hertrampf, Marina Ortrud M. (Hg.): Grenzerfahrungen: Roma-Literaturen in der Romania. Berlin: LIT, 169–188.

Leblon, Bernard (1997):"Le regard ambigu de la littérature espagnole", in: Études tsiganes 9,‎ 96–106.

Menemenciouglu, Melâhat (1965): "Le thème des bohémiens en voyage dans la peinture et la poésie de Cervantes à Baudelaire", in: Cahiers de l'Association internationale des études françaises 18.1, 227–238.

Pym, Richard (2006): "The Errant Fortunes of 'La gitanilla' and Cervantes's Performing Gypsies", in: Journal of Iberian & Latin American Studies 12.1, 15–37.

Scott, David (1988): Pictorialist Poetics. Poetry and the Visual Arts in Nineteenth-century France. Cambridge: Cambridge UP."

Steingress, Gerhard (2013): Cante flamenco: Zur Kultursoziologie der andalusischen Moderne. Berlin:Logos.

Tinguely, Frédéric (2008): "Métamorphoses du Bohémien au XVIIe siècle: de Cervantes à la scène française"color: black;, in: Moussa, Sarga (Hg.): Le mythe des Bohémiens dans la littérature et les arts en Europe. Paris: L'Harmattan, 41–59.

Toninato, Paola(2014): Romani Writing: Literacy, Literature and Identity Politics. New York: Routledge.




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Anmerkungen

1 Der Dachbegriff wird hier als Hyperonym für sämtliche Untergruppen wie Sinti, Roma, Calé, Kalderasch, Manouches, Gitanos etc. verwendet.

2 Literatur und Film von Roma wurden in den romanistischen Literaturwissenschaften noch nicht eingehend untersucht. Wegweisende Pionierarbeiten sind Blandfort (2015), Eder (1993), Hertrampf (2011), Hertrampf/Blandfort (2011), Toninato (2014) sowie die beiden Themenhefte "Littératures Romani: construction ou réalité" der Zeitschrift Études tsiganes (2009). Ferner beschäftigt sich derzeit das von der DFG geförderte und von Marina O. Hertrampf geleitete Forschernetzwerk "Ästhetik(en) der Roma: Literatur, Comic und Film von Roma in der Romania" mit diesem Thema.

3 Der Titel des Aufsatzes lautet: "Bipolarität in Peter Härtlings Gilles. Ein Kostümstück aus der Revolution".

4 Vgl. hierzu z.B. Hackl (1987), Hertrampf (2011: 169–172). Ferner bleibt unerwähnt, ob und wenn ja welcher Unterschied zwischen den hier parallel verwendeten Begriffen 'gitano' und 'calé' besteht. Ferner klärt der Beitrag auch nicht, worin sich der im Titel gebrauchte Terminus 'gitano' denn nun von den 'Zigeunern' unterscheidet. Dieser Kritikpunkt betrifft den gesamten Band: Ein trennschärferer Gebrauch der Begrifflichkeiten, eine einheitliche Sprachregelung sowie eine konsequente formale Widergabe der gewählten Termini hätte zur Kohärenz des Bandes wesentlich beitragen können.

5 Die Autorin rekurriert lediglich auf einen seinerseits überblickshaften Beitrag von Frédéric Tinguely (2008). Unter den zahlreichen einschlägigen Forschungsarbeiten hätte der Einbezug z.B. von Leblon (1997), Pym (2006) oder Steingress (2013: 245–246) die Darstellung stark bereichern können.

6 Der Titel des Aufsatzes lautet: "Findet eine Annäherung von Roma und Mehrheitsbevölkerung statt? Ein Vergleich des Romans Grâce et dénouement mit aktuellen Studien".

7 Der Titel des Aufsatzes lautet: "Le premier homme: Albert Camus und das koloniale Andere".