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Sina Dell'Anno (Basel)



Philip Ajouri, Ursula Kundert, Carsten Rohde (2017) (Hg.): Rahmungen. Präsentationsformen und Kanoneffekte (Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie). Berlin: Erich Schmidt Verlag.

Als einen "Beitrag zur Kanondebatte" (8) wollen die Herausgeberin und die beiden Herausgeber das Sonderheft "Rahmungen" verstanden wissen. Gegenüber der im Schwange befindlichen Paratextforschung narratologischer resp. literaturtheoretischer Provenienz befasst sich das Bändchen – "in freier Anlehnung an den Soziologen Erving Goffman" – mit dem, "was ein kanonisches Werk bei jeder neuen Publikation oder Präsentation in einem anderen Medium für die jeweiligen Rezipienten verständlich und relevant macht" (7). Es geht also um die materialen oder medialen Re-Inszenierungen, mittels derer sich Texte in ihrer Kanonizität konstituieren. Der Blick kann sich dabei auf materielle Ausstattung (I), paratextuelle Beigaben (II), Textkonstitution (III) oder Sammlungsverfahren (IV) konzentrieren; und in diese vier Rubriken unterteilen die Hrsg. das Heft. Eigentlich ist mit diesem Blick ins Inhaltliche aber bereits vorgegriffen.

Wenn sich nämlich ein Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie den Phänomenen paratextueller Rahmung und ihren Kanoneffekten annimmt, könnte die Versuchung groß sein, den Sicherheitsabstand zwischen Forschung und Gegenstand zugunsten einer umfassenden Selbstreflexion aufzugeben. Ist nicht schon die von einem offiziellen Logo markierte Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung emblematischer Inbegriff literaturwissenschaftlicher Kanonisierungsprozesse? "Materialität" lautet die erste fettgedruckte Überschrift des Inhaltsverzeichnisses (5), während auf der gegenüberliegenden Seite der 'vorausgehende' Hinweis prangt: "Dieses Papier erfüllt die Frankfurter Forderungen der Deutschen Nationalbibliothek und der Gesellschaft für das Buch bezüglich der Alterungsbeständigkeit […]" (*4). 'Alterungsbeständigkeit' lautet auch das Stichwort der paratextuellen Vermittlungsstrategien, denen sich die Beiträge des Heftes annehmen: "Der Rahmen ermöglicht es, Werke während langer Zeitspannen den veränderten Rezeptionsbedingungen und technischen Möglichkeiten anzupassen." (7)




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Erstaunlicherweise gerät die Partizipation der vorliegenden Textsammlung an den von ihr beschriebenen Rahmungs- oder Kanonisierungsphänomenen an keiner Stelle in den Blick. Dass die Papierqualität der Publikation nicht mitreflektiert wird, mag man noch gut verstehen. Durchaus eine Bemerkung wert gewesen wäre allerdings die dezidiert historische, tendenziell weimarzentrierte Anlage des Heftes; scheint es doch, als handle es sich beim 'Kanon' um einen literaturwissenschaftlichen Selbstläufer, dessen unaufhaltsame Konsolidierung nach und nach sogar "Goethes Hosenträger" (so der Titel von Carsten Rohdes Beitrag) einem wachsenden Monument einzuschreiben vermag. Statt einer Reflexion dieser Meta-Ebene schließt das Vorwort mit dem Hinweis auf das Rahmen-Projekt (im doppelten Sinne), in dessen Kontext die Publikation zu situieren ist ("Text und Rahmen. Präsentationsmodi kanonischer Werke"), und auf die einzelnen Forschungsunterfangen der Hrsg. Diesem nachgereichten 'Framing' vermag die geneigte Leserin etwa den versteckten Hinweis auf den kanonischen Text schlechthin zu entnehmen: Erst die Erwähnung von Ursula Kunderts Forschungsprojekt zur "Mediengeschichte der Psalmen" (15) lässt am Horizont der Einleitung das Buch der Bücher, Inbegriff der paratextuellen Kanonisierung, auftauchen.

Im Bewusstsein darum, dass mit diesen kritischen Bemerkungen zur Einleitung der Hauptteil dieser Rezension zu genüge aufgeschoben wurde, soll es nunmehr um die einzelnen Beiträge gehen.

Vorab sei angemerkt: Es gehört zu den Stärken des Heftes, dass die darin versammelten Aufsätze die Abkehr von der dekonstruktiven Konzeption des Rahmens (Paratextes, Parergons) nicht annähernd so dezidiert vollziehen, wie das Vorwort der Hrsg. dies zu suggerieren scheint. Der folgende Durchgang referiert in unterschiedlichem Detailreichtum die Beiträge der einzelnen Autorinnen und Autoren im Bemühen, einen – naturgemäß von persönlichen Interessen inspirierten – kritischen Überblick über das Heft zu bieten.

An den Beginn setzen die Hrsg. drei Aufsätze, die sich den Fragen der "Materialität" annehmen. Richard B. Parkinson befragt die verschiedenen institutionellen Rahmen von Museum und Universität auf ihre Fähigkeit hin, altägyptische Papyri in Konstellationen zu überführen, die eine 'ästhetische Erfahrung' ermöglichen. Ausstellung und Edition erscheinen angesichts der ursprünglich performativen Aktualisierung dieser Texte als defiziente Modi der Präsentation. Parkinson regt deshalb im Sinne einer "holistic 'warm' philology" (33) an, den Texten durch Aufführung und Rezitation ihre emotionale Wirksamkeit aufs Neue zu verleihen. Sein Beitrag verschafft einer für den material turn charakteristischen und von Hans Ulrich Gumbrecht (2004; 2011) prominent vertretenen Sehnsucht nach Präsenz ("touch of the real", 34) Ausdruck, über deren Ursprünge sich nachzudenken lohnte.




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Eine überraschende Entdeckung bietet Cornelia Ortliebs inspirierte Auseinandersetzung mit einem Kuriosum aus Goethes Sammlung: dem "Backwerk aus Kasan". Es handelt sich um ein – getrennt archiviertes – Ensemble aus einem unförmigen dunklen Klümpchen und einem handschriftlichen Zettel, der das kaum zu identifizierende Stück als einen Brotbrocken kosakischer Provenienz ausweist. Die Autorin nimmt, ausgehend von der poststrukturalistisch inspirierten Paratextualitäts-Forschung, "die materielle Grundlage von 'Rahmungen' im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn" in den Blick (39). Mit beeindruckender Umsicht stellt Ortlieb am kuriosen Beispiel von Back- und Beiwerk heraus, inwiefern jedes Rahmen-Phänomen von einer dekonstruktiven Logik der Supplementarität betroffen ist: Das beigegebene Zettelchen unterläuft seine vermeintliche Nebensächlichkeit dadurch, dass es die Identifikation des (Back-) Werks allererst ermöglicht. Salopp gesagt: Ohne die paratextuelle Beschreibung des Zettels wäre das Objekt als ein kümmerliches Häufchen Geschichtsmüll der Bedeutungslosigkeit anheimgegeben gewesen; Goethe-Sammlung hin oder her. Die Autorin des lustvoll zu lesenden Beitrags führt die subversive Übermacht des schriftlichen Paratextes äußerst anschaulich vor, indem sie die in ihm komprimierte Geschichte des Backwerks zum Anlass für einen weitführenden Epilog nimmt. Unter dem Titel "Goethe und das Brot" wird darin performativ mit der erzählerischen Rahmung des Goethe'schen Relikts experimentiert.

Ebenfalls am Beispiel von Goethe nimmt sich Carsten Rohde den theoriegeschichtlichen Fragen an, die der material turn aufwirft. Sein aufschlussreicher Blick auf die "Logik geisteswissenschaftlicher Forschung" rekonstruiert die Genealogie des Materialitätsparadigmas vor dem Hintergrund einer antagonistisch geprägten Wissenschaftsgeschichte, in der "idealistisch-materialistische[] Voreinstellungen" den Zugang zum Inneren des Kanons regulieren" (59). Die diskursiven Emergenz-Bedingungen des material turn verortet der Verfasser 'um 2000', wo komplementär zum "Materialismus der kleinen Form" (Philipp Felsch), wie ihn die Theorieszene der 1970er propagierte (61), unter den Fahnen von Editionsphilologie, Paratext-Forschung und 'Schreibszene' die lange Zeit marginalisierte Materialität von Texten in den Fokus der Literaturwissenschaft rückt. Bei aller Diversität teilen die materialsensiblen Forschungsansätze der aktuellen Literaturwissenschaft eine prinzipiell "apolitisch[e]", "mikrologisch[e]" und "antihermeneutische" Ausrichtung (63). Der Blick auf das Beispiel des (Literatur-)Archivs offenbart außerdem eine "semantische Schlagseite des Materialitätsparadigmas", insofern die museale Ausstellung von materialisierter Literatur dazu tendiert, sie mit einer an den modernen "Dingkult" heranreichenden "Bedeutsamkeitsaura" zu umgeben (64f.).




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Inwiefern die neuentdeckte Materialität als Rahmung an der Konstitution des literarischen Kanons partizipiert, beleuchtet Rohde in den zwei exemplarischen Fällen von Goethes Hosenträgern und Liebeslyrik. So zeige die Dauerausstellung des Goethe-Nationalmuseums: Wo die Dinge des Autoren-Alltags bis anhin entweder gänzlich ignoriert oder in den überhöhten Status von Reliquien gehoben wurden, finde man seit dem material turn zu einer gemäßigten "Form der Sinnaufladung" (67), die "zu einer Steigerung des symbolischen Kapitals der Autor-Imago Goethes" führe und "das kanonisierte Autor-Werk-Gebilde" an die "neuere[n] Theoriediskurse" anschließt (69). Vollen Lobes ist Rohde auch für die materialsensible Literaturwissenschaft eines Gerhard Neumann, der den Blick auf Goethes Liebeslyrik um die Aufmerksamkeit für jene materiellen Gaben bereichert hat, die seine Kommunikation mit Charlotte von Stein supplementieren (Neumann 2013). Eine gewisse fachpolitische Stoßrichtung kann der Beitrag des Herausgebers kaum verbergen, wenn zuletzt gleichsam in eigener Sache bekräftigt wird, der "Aktzentwechsel" werde "nicht unvermittelt und naiv […], sondern komplex und reflektiert" vorgenommen (72). Ohne diese wohlwollende Perspektive grundsätzlich in Abrede stellen zu wollen, hätte sich die Leserin doch zum Ausgleich etwa eine Konfrontation mit der an den Rand gedrängten "Unschärfe" (59) des Materialitätsbegriffs durchaus gewünscht.

Der üppig illustrierte Beitrag von Esther Laufer eröffnet die zweite Abteilung des Heftes: "Paratexte". Laufer zeigt, mit welchem paratextuellen Aufwand die frühneuzeitlichen Terenz-Übersetzungen den Anschluss an eine Leserschaft suchten, die mit gelehrten Publikationsformaten nicht vertraut war. Bei der Anwendung Genette'scher Kategorien auf vormoderne Bücher und ihr Beiwerk legt die Verfasserin besonderen Wert auf die Historisierung des Textbegriffes, die Anlass zu einer Reevaluation der Abhängigkeit kanonischer Texte von paratextuellen Vermittlungsinstanzen gibt. Diesen aufschlussreichen Bemerkungen zur Begriffsgeschichte von textus und Text verdankt das Heft den wichtigen Hinweis auf "die Heilige Schrift als wohl einflussreichstes Paradigma von Text und Kanonizität" (82). Keineswegs selbstverständlich ist nämlich die am paradigmatischen Bibeltext gewonnene Einsicht, dass der vormoderne Text stets in definitorischer Abhängigkeit von seinem Kommentar, den Glossen, zu denken ist: "Text [erscheint] vor allem als das, was erklärt, kommentiert oder übersetzt wird." (82) Bemerkenswert an den detailliert beleuchteten Terenz-Inkunabeln ist, dass die den Komödientext erläuternden Glossen selbst wiederum von Leseanleitungen flankiert werden. Die Terenz-Ausgaben realisieren also in ihrem Bestreben, einen noch nicht ganz so kanonischen Text zu vermitteln, gleichsam eine Paratextualität zweiter Potenz. Laufer streicht freilich heraus, dass diese "ambitionierte[n] Pilotprojekte" (102) im Hinblick auf ihr Kanonisierungsbestreben als gescheitert gelten dürfen, insofern sie keine weitere Auflage erlebten.




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Einem ähnlichen Untersuchungsgebiet entstammt auch der nächste Beitrag der Abteilung: Brigitte Burrichter beleuchtet die divergierenden paratextuellen Rahmungen, die Sebastian Brants Narrenschiff in seinen verschiedenen Übersetzungen einem spezifischen Publikum 'verkaufen' sollten. Insbesondere die lateinische Übersetzung zeugt von typischen Kanonisierungsverfahren: So wenden sich die Paratexte an eine gelehrte Leserschaft, indem sie Brants Text einerseits in die (antike) Gattungstradition der Satire einreihen und andererseits auf die volkssprachige Autorität Dantes und Petrarcas verweisen.

Till Dembeck wiederum eröffnet eine neue Perspektive auf Herders Volkslied-Publikation. Sein Beitrag entdeckt die peritextuelle Rahmung der Volkslieder als das Projekt, über das "Medium" der Anthologie (143) allererst den dynamischen Gattungszusammenhang der Lyrik zu begründen. Ein weiteres Mal lässt sich hier die subversive Dynamik des Paratextuellen beobachten, insofern, wie Dembeck darlegt, das Hauptinteresse der Anthologie nicht in den versammelten Texten liegt, sondern in der aus ihrer Versammlung hervorgehenden Idee eines selbstorganisierten generischen Evolutionsprozesses. Kanonisiert wird also durch die Publikation weniger die hybride Auswahl der Volkslieder als 'Lyrik' im modernen Sinn einer Gattung und damit – "projektiv" (143) – zukünftige 'originale' Texte. Die intensive Auseinandersetzung mit den Herder'schen Prämissen fördert Überraschendes zu Tage: So erweist sich das Publikationsprojekt in seinem offenen Ausgang als nachgerade 'experimentelles' Unterfangen, das "nicht im geringsten Sinne bewahrend orientiert, sondern durchweg avantgardistisch" sei (142). Das paratextuelle Beiwerk zeugt dabei noch von den Spannungen, die Herders Entwurf einer "zukunftsfähige[n] Lyrik" (129) in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern auszutragen hatte. Dembeck arbeitet erhellend heraus, dass "Modulation", verstanden als "Veränderung überkommener Formen" (143), das zentrale Kriterium des Herder'schen Originalitätsbegriffs ist. Damit macht sein Beitrag die augenfällige Heterogonie der Volkslieder-Sammlung als das Produkt einer komplexen und avancierten Gattungstheorie lesbar.

Über den philologischen Tellerrand blickt – als einziger im Heft – der letzte Beitrag der Sektion von Alexander Zons. Gleich mit einem ganzen Repertorium von Theoremen unterschiedlichster disziplinärer Provenienz wagt sich der Verfasser an den hybriden 'Text' des Films. Auch für den filmischen Vorspann gilt die Ambivalenz des paratextuellen Einstiegs, zugleich den Zugang zu ebnen und den Beginn des eigentlichen Werks aufzuschieben.




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Zons widmet seine Überlegungen zwei Film-'Klassikern' aus dem 20. Jahrhundert (Monkey Business, 1952, und Bunny Lake Is Missing, 1965). Eine Anschlussfrage daran wäre etwa, wie sich gegenüber dem Werkcharakter solcher Filme ein zeitgenössisches Format wie die Serie ausnimmt; man denke etwa an den dynamischen, sich mit dem Verlauf des epischen Narrativs verändernden Vorspann des schon jetzt 'kanonischen' Serienepos Game of Thrones. Die Serie wäre nicht zuletzt deshalb besonders interessant im Zusammenhang mit der Rahmen-Frage, weil an ihr neue Formen der 'Kanonisierung' beobachtbar sind: Jede der ca. fünfzigminütigen Folgen flankieren hunderte Stunden von You-Tube-Kommentaren, in denen mehr oder weniger laienhafte Aficionados sich an der Exegese der Episode versuchen.

Damit ist diese Besprechung bei der mit zwei Beiträgen nur halb so umfangreichen dritten Abteilung ("Textkonstitution") angelangt: Grundüberlegungen zu 'Autor' und 'Text' aus editionswissenschaftlicher Perspektive steuert Rüdiger Nutt-Kofoth bei. Sein Beitrag beleuchtet die Werkausgabe als Inbegriff der Kanonizität eines Autors und hebt dabei insbesondere die editorischen Herausforderungen eines erweiterten, dynamischen und materialsensiblen Textbegriffs hervor. Insofern es sich bei Editionen um "kaum hintergehbare Rahmungen für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk" handelt (198), lohnt sich die kritische Reflexion auf die historisch veränderlichen Prämissen, der eine Werkausgabe implizit oder explizit folgt.

Diese Reflexion leistet exemplarisch der im Heft vorausgehende Beitrag von Dorothea Klein, die an den zahlreichen Auflagen der Lyrik-Anthologie Des Minnesangs Frühling aufzeigt, wie historisch variabel die Grundsätze der editorischen Textkonstitution sich gegenüber der überzeitlichen Kanonizität der Texte ausnehmen.

Philipp Ajouris "heuristische[] Skizze" (221) zur Erforschung von Werkausgaben eröffnet sodann die ebenso kurze letzte Sektion des Heftes ("IV. Textsammlungen"), wobei die Nähe zu den Überlegungen Nutt-Kofoths die markante paratextuelle Abgrenzung zwischen den beiden Beiträgen fragwürdig erscheinen lässt. Man mag darüber spekulieren, ob die sich allenthalben anbietenden Querverweise zwischen den Texten unterlassen wurden, um die quadripertita ratio des Heftes nicht zu gefährden.




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Am Titel der letzten Rubrik (Textsammlungen) lässt sich überdies ein begrifflich-konzeptuelles Problem festmachen, das sich schon in der Einleitung der Hrsg. andeutet. Dort wird nämlich, in der Vorschau auf Ajouris Beitrag, von der Werkausgabe als einer vernachlässigten "Textgattung" respektive "Textsorte" (14) gesprochen. Tatsächlich ist diese Bezeichnung schon insofern nicht unproblematisch, als der  Singular im offensichtlichen Widerspruch zur Rubrizierung des IV. Teils steht: Wenn sich etwas Allgemeines über eine Werkausgabe aussagen lässt, dann, dass sie aus mehreren Texten besteht; im Falle von Gesamtwerkeditionen sogar aus mehreren Gattungen oder Textsorten. Erst diese konstitutive 'Pluralität' macht die Werkausgabe zu einem für die Erforschung von Präsentationsformen und Kanoneffekten interessanten, ja einschlägigen Gegenstand. Denn sie impliziert vielfältige Rahmenentscheidungen, die sich nach Ajouri wie folgt unterscheiden lassen: Textauswahl, Herausgebertyp, Textpräsentation, Parerga, Anordnung der Texte, materielle Ausstattung, Verlag und Vertrieb, Auftraggeber und Finanzierung (201). Der heuristische Wert dieser Unterscheidungen soll hier nicht angezweifelt werden. Dennoch fallen der pragmatischen Ausrichtung des Beitrags theoretische Grundfragen zum Opfer: Offensichtlich fällt es nicht immer leicht, die im Heft pauschal als Rahmungen apostrophierten Phänomene auf etablierte literaturwissenschaftliche Begriffe zu bringen. Die "Textsammlung" ist dafür symptomatisch. Ajouris titelgebende Leitfrage "Wie erforscht man eine Werkausgabe?" lässt doch zunächst die Frage aufkommen, was eine Werkausgabe aus texttheoretischer Sicht überhaupt ist. Rubrik II. ("Paratexte"), namentlich Till Dembecks Beitrag, gibt hier wichtige Hinweise. Ihm gelingt es, Herders heterogene Volkslieder-Sammlung nicht nur "von ihrem Rahmen her", sondern "als Rahmen" (129) lesbar zu machen, indem er ihr eine Theorie dynamischer Gattungsevolution abgewinnt. Die Sammlung ist hier als ein verlebendigtes Textkorpus zu begreifen, als fruchtbare 'Gattung' im wörtlichen Sinne eines generativen organischen Zusammenhangs. Fragen nach dem Zusammenhang des Heterogenen sind aber nicht nur an Anthologien, sondern auch an Werkausgaben heranzutragen: Wie und in Gestalt welcher Instanzen konkretisiert sich der kohärenzstiftende Rahmen einer Edition? Im Falle von Ajouris Beitrag, der die Werkausgabe als "institutionelle[s], semantische[s] und materielle[s] Bedingungsgefüge" (204) zugleich in den Blick nimmt, weist vor allem der zweite Teil seiner Skizze in die besagte Richtung. Als besonders spannend zeigt sich etwa die metonymische 'Verwechslung' von Autor und (Gesamt-)Werk, der Ajouri vor allem am Beispiel Goethes Aufmerksamkeit widmet. Hier wäre eine interessante Spannung auszumachen gewesen zwischen der gleichsam naturwüchsigen Individualität des Autor-Subjekts und der konstanten Selbst-Redaktion, der feilenden und polierenden Arbeit an den Texten bis zur 'letzten Hand'. Gerade diese Form der Selbst-Kanonisierung hätte – als ein für den erklärten Schwerpunkt des Heftes einschlägiges Thema – Vertiefung verdient.




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Bemerkenswerterweise wird die von der Einleitung ins Zentrum des Interesses gerückte Kanon-Frage in nicht wenigen der Beiträge eher am Rande berührt. Insbesondere vom Herausgeber und Klassiker-Experten Ajouri hätte man sich diesbezüglich etwas mehr erhofft als eine exkulpierende Bemerkung am Ende seines Beitrags (221).

Dem im Zusammenhang mit Textsammlungen sich aufdrängenden Thema der Kohärenzstiftung begegnet der abschließende Beitrag von Annegret Pelz. Sie nimmt sich der "Mappen-Werke" aus dem 18. und 19. Jahrhundert an, deren charakteristische Hybridität grundsätzliche Fragen zum Text- oder Werkbegriff virulent werden lässt, indem sie (fiktive) Herausgeber auf den Plan ruft, die den "lückenhaften, regellosen und ungeordeneten" (227) Zustand des versammelten Materials entschuldigen. Gerade in ihrer dissoziativen Tendenz zeigt sich die Mappe, mitunter auch unter der Bezeichnung "Album" (227), als ein bemerkenswert selbstreflexives Konvolut aus Texten und Bildern. Der beispielreichen Fallstudie von Pelz fehlt allerdings der historische Bezug auf die Tradition der Buntschriftstellerei, die seit Aulus Gellius die programmatische Flüchtigkeit und Unordnung einer 'Blütenlese' geltend macht. Solcherlei hybride Kompilation erlebt im 18. / 19. Jahrhundert in der journalistischen Publikationsform 'Vermischter Schriften' (eng. miscellany) eine ungekannte Konjunktur. Die 'museale' Poetik dieser unter verschiedensten Namen firmierenden Textsammlungen wäre für die Eigenheiten der von Pelz beleuchteten Mappen einschlägig gewesen. Dennoch wartet Pelz' Mappen-Panorama mit interessanten Einsichten auf: So zeichnet sich der Sonderfall der "Novellen-Mappe" (1834) etwa dadurch aus, dass er die Funktion, die normalerweise dem genretypischen "Gesprächsrahmen" zukommt, "an die äußere Form der Mappe delegiert" (229). Besondere Aufmerksamkeit kommt sodann den Mappen-Werken Kellers und Stifters zu, in deren Unabschließbarkeit die Verfasserin "etwas Monströses" (229) erkennt. Die abschließenden Bemerkungen, zu denen die Leserin sich einige zusätzliche Nach- und weiterführende Hinweise gewünscht hätte, profilieren die Mappe insbesondere in Abhebung vom "einheitlich durchkonstruierten Roman" und bemühen dafür Roland Barthes' Idee der "Anti-Bücher" (231).

Aus diesem Überblick sollte hervorgegangen sein: Das Heft beleuchtet eine Vielzahl von unterschiedlichen Aspekten der Kanonisierung, allerdings mit einem bei aller Breite größtenteils historischen Spektrum (Altes Ägypten bis 19. Jahrhundert). Ausgenommen ist hier der filmhistorische Beitrag von Zons, dem jedoch der Bezug auf die neuesten Entwicklungen ebenfalls abgeht (s.o.).




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Gänzlich ausgeblendet bleiben dabei in literaturwissenschaftlicher Hinsicht die veränderten Bedingungen einer Gegenwart, in der mit der zunehmenden Digitalisierung der Geisteswissenschaften neue 'Präsentationsformen und Kanoneffekte' virulent wären. In diesem Kontext ist etwa auch zu bedauern, dass Carsten Rohdes Hinweis nicht nachgegangen wird, der material turn sei als "Reaktion auf Phänomene der Derealisierung und Virtualisierung in den post(post-)modernen Mediengesellschaften der Gegenwart" (65) zu begreifen. Aus philologischer Perspektive stünde dem die Beobachtung entgegen, dass gerade die Digitalisierung jener im Heft thematisierten Editionspraxis neue Möglichkeiten eröffnet, die die verschiedenen Erscheinungsweisen eines literarischen Textes (vom Manuskript über den Erstdruck bis zur annotierten kritischen Ausgabe) zur Geltung zu bringen sucht.

Unangemessen wäre es wohl, eine Publikation, die sich einer 'materialsensiblen' Philologie verschreibt, auf eine besondere Sorgfalt im Hinblick auf die eigenen Texte zu verpflichten. Dennoch hätte man sich an verschiedenen Stellen eine etwas akribischere Redaktion gewünscht, um kritische Fehler wie die falschgeschriebene différance ("differánce", 80) zu vermeiden. Von (unfreiwilliger) Komik ist es dagegen, wenn Alexander Zons' Beitrag zum "unauffindbaren Text" des Films eine unauffindbare, auf die Folgeseite gerutschte Fußnote verzeichnet (163/164, Anm. 44) – oder wenn das Abstract zu Carsten Rohdes Theoriegeschichte der neuesten literaturwissenschaftlichen Wende vom "material run" (57) spricht.

Von diesen Kleinigkeiten ist jedoch abzusehen angesichts der Tatsache, dass das Heft eine interessante Vielfalt von Perspektiven auf unterschiedliche Rahmungen eröffnet und damit nicht zuletzt dazu beiträgt, der Perspektive 'von den Rändern her' an literaturwissenschaftlicher Relevanz zu verleihen.


Bibliographie

Neumann, Gerhard (2013): Goethes "Zettelgen" an Frau von Stein. In: Carsten Rohde und Thorsten Valk (Hgg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin/Boston, 87–106.

Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Gumbrecht, Hans Ulrich (2011): Unsere breite Gegenwart. Aus dem Englischen von Frank Born. Berlin: Suhrkamp.