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Luisa Drews (Wien)



Beate Ochsner / Robert Stock (Hg.) (2016): senseAbility. Mediale Praktiken des Sehens und Hörens. Bielefeld: transcript Verlag. 448 S.


In den letzten Jahren ist in den Kultur- und Sozialwissenschaften vielfach ein practice turn diskutiert worden, der auch in der deutschsprachigen Medienforschung seine Spuren hinterlassen hat. So setzte die Jahreskonferenz des European Network for Cinema and Media Studies 2017 den Schwerpunkt auf "Sensibility and the Senses. Media, Bodies, Practices"; das DFG-Projekt "Connect and Divide" unter Leitung von Erhard Schüttpelz ist dezidiert diesem practice turn und den mit ihm verbundenen Dynamiken gewidmet. Das verstärkte Interesse für die Interaktionen zwischen menschlichen Organismen und technischen Apparaturen sowie den verschiedenen Stufen der Hybridisierung, für Denkmodelle wie Prothese, 'extension' und 'interface', mithin für utopische und dystopische Visionen eines zukünftigen posthumanen Zustandes ist jedoch kein gänzlich neues. Abgesehen von der Tatsache, dass Marshall McLuhans Medienontologie "Understanding Media" in vielerlei Hinsicht als überholt gilt, etwa für ihren reduktionistischen Zugang zum Medium, ihren Technodeterminismus und ihre Ausblendung des Inhalts kritisiert worden ist, scheinen Fragen nach der Offenheit medialer Settings, dem Grad der Teilhabe und Involvierung von Körpern und Sinnen aktuell wie nie. Zur Vorhut der neuen, dezidiert praxeologischen beziehungsweise praxistheoretischen Bemühungen in den Medienwissenschaften gehören dabei auch ein erweiterter Medienbegriff und Forderungen nach neuen Medientaxonomien sowie der Befund, dass es im strikten Sinne keine Medien gibt.




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Der von Beate Ochsner und Robert Stock herausgegebene Sammelband "senseAbility" ist daher den "mediale[n] Praktiken des Sehens und Hörens in unterschiedlichen historischen, medialen, sozialen und environmentalen Anforderungsdispositiven" (9) gewidmet. Er ist aus den Forschungen des DFG-Projekts "Das Recht auf Mitsprache. Das Cochlea-Implanatat und die Zumutungen des Hörens" hervorgegangen, welches ein Teilprojekt der DFG-Forschergruppe "Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme" darstellt. Die Beiträge gehen von der Annahme aus, dass "sensorische Prozesse der Wahrnehmung niemals direkt zugänglich oder einfach vorhanden sind, sondern immer schon in gewisser Weise in sozialen, technologischen und medialen Milieus übersetzt und produziert werden, die sie ihrerseits (mit-)verfertigen" (9). Wenn Sehen und Hören durch mediale Praktiken konfiguriert werden, verändern sich auch die physiologischen Wahrnehmungen: "Im Prozess der Denaturalisierung des sogenannten 'natürlichen' oder Hörens", so die HerausgeberInnen, "werden zugleich 'anästhetische Felder' erzeugt, die die Differenz zwischen Sicht- und Unsichtbarem bzw. Hör- und Nicht-Hörbarem neu verhandeln" (9) (vgl. auch Vogl 2001: 115–123).

Die zwanzig Beiträge präsentieren Fallstudien zu historisch unterschiedlichen technosensuellen Praktiken, die auf die Verflechtungen zwischen Menschen, Medien, Dingen und Umwelten befragt werden. Daher ist es nur konsequent, dass der Band nicht nach Praktiken des Sehens und Hörens, sondern nach methodischen Zugängen untergliedert wurde. So folgen auf eine erste Gruppe mit Beiträgen aus "diskurshistorischen Perspektiven" "Perspektiven auf Medialität und Materialität", "Medienethnografische Perspektiven auf Disability" und schließlich "Perspektiven auf künstlerisch-ästhetische Praktiken". Der Titel des Bands, "senseAbility", soll hierbei der "Vielfalt von Fähigkeiten und Unfähigkeiten sensorischer Wahrnehmung" (10) Rechnung tragen. Die Beiträge reichen dabei von Erörterungen der historisch bedingten Veränderlichkeit der visuellen und auditiven Wahrnehmungstechniken, alltäglichen urbanen Medienpraktiken des Sprechens und Hörens am Telefon sowie Navigationspraktiken blinder Menschen über Betrachtungen zum Zusammenspiel und zur Neukonfiguration des Audiovisuellen in der Digitalkultur bis hin zur Diskussion neuer Praktiken des Hörens (etwa durch Cochlea-Implante), Sehens (durch militärische Drohnenoperationen und "blickloses Sehen" in Fotografien) und Sprechens (in Form menschlicher Mikrophone oder im Hörspiel).




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Besonders interessant ist der Band an jenen Stellen, wo er die Möglichkeitsbedingungen seiner Redeweisen thematisiert oder Reflexionen zur Methodologie und Theorie anbietet. So ist ein Beitrag aus der Sektion künstlerisch-ästhetischer Praktiken (von DIETER DANIELS) der Schnittstelle von Klang und Vision und mithin den Symptomen und Denkmodellen der Hybridisierung von Kunst, Wissenschaft, Industrie und Unterhaltung gewidmet. Dabei wird nicht nur deutlich, dass die "Ideengeschichten ebenso wie die Funktionsprinzipien der optischen und akustischen Medien in einem ständigen Dialog" (397) standen; mit dieser Einsicht ist auch eine Methodenfrage verbunden, die die genuine Unentschiedenheit der Forschungsgegenstände betrifft. Die "Unauflösbarkeit" der Hybridität in der wissenschaftlichen Bearbeitung bedinge zugleich die "interdisziplinäre Verlorenheit" des Forschungsgegenstandes, welche sowohl die kulturelle und wissenschaftliche Bewertung von einzelnen Phänomenen als auch das Fehlen einer eigenständigen Geschichtsschreibung und der Weitergabe von Wissen und Bildung von kulturellen und intellektuellen Traditionen betreffe (404). Ziel der Audiovisuology sei daher nicht die Begründung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin; das Arbeitsfeld des Audiovisuellen, in dem sich die Interessen unterschiedlicher Disziplinen überschneiden (vgl. auch Daniels/Naumann 2011), müsse vielmehr ein Modell skizzieren, um mit dieser immer schon gegebenen Hybridität umzugehen (411). Orientierung versprechen hier vor allem zwei von Bruno Latour entlehnte Begriffe (die Arbeiten von Latour bilden auch für andere Beiträge des Bandes einen wichtigen Anschlusspunkt): einerseits der Neologismus 'Pragmatogonie', mit der die iterative Wechselwirkung sozialer Prozesse und technischer Artefakte beschrieben werden soll, andererseits der Begriff des soziotechnischen Netzwerks, welcher die Trennung zwischen Natur und Kultur aufbricht und den Entstehungs- und Untersuchungsort hybrider Artefakte markiert. Damit würde Audiovisuology im besten Falle auch dazu beitragen, "aufbauend auf einer historischen Basis den Abstand der Theorie zur heutigen Praxis etwas zu verringern" (410).

Ähnliche Überlegungen zur Theorie und Methode werden auch in einem Beitrag zur Praxis des HiFi-Hörens um 1979 (von JENS SCHRÖTER und AXEL VOLMAR) entwickelt, welcher dem Kapitel "Perspektiven auf Medialität und Materialität" angehört. Die Fallstudie konzentriert sich dabei auf das zentrale Problem der Analyse historischer Medienpraktiken, die Frage also, wie Rückschlüsse auf ein vergangenes 'Doing Hearing' gezogen werden können.




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Der Sammelband stehe hierbei in einer Reihe mit der gegenwärtig beobachtbaren Verlagerung der deutschen medienwissenschaftlichen Diskussion, die sich insbesondere für praxistheoretische oder praxeologische Forschungen interessiere. Dass sich die Debatte von den Medien und ihren Spezifika hin zu medialen Praktiken und dem Gebrauch von Medien verschiebe, sei allerdings nicht unproblematisch und werfe begriffliche wie methodische Fragen auf. Das erste zentrale Problem einer praxeologischen Mediengeschichte bestehe in der Auswahl der Medienpraktiken, die immer schon von einem Zirkelschluss bedroht sei: "Es scheint, als müsse man die klassische Einteilung in Einzelmedien schon voraussetzen, um überhaupt historisches Material selektieren zu können" (150). Das zweite große Problem betreffe ein Methodendefizit: Verfahren, mit denen mediale Praktiken in situ beobachtet werden können, wie die teilnehmende Beobachtung, lassen sich nicht auf historische Praktiken anwenden. In der medienwissenschaftlichen Diskussion wurde daher nach den Möglichkeiten einer 'historischen Ethnographie' (Jens Wietschorke) oder einer 'technischen Gebrauchsgeschichte' (Erhard Schüttpelz) gefragt – Ansätze, die, so der Beitrag, selbst wiederum Probleme bergen. Einen Ausweg sehen die Autoren erstens in einer Klassifikation nach unspezifischeren übergreifenden Kategorien, wie sie im Sammelband als Sinnesqualitäten Sehen und Hören adressiert werden, und zweitens, unter Berufung auf die Arbeiten von Jens Wietschorke (Wietschorke 2010: 197–224) und Andreas Reckwitz (Reckwitz 2008: 188–209), in der notwendigen Transformation des Praxeologen zum Textanalytiker in der historischen Forschung. Um Aussagen über die Erziehung von Hörern und die Ausbildung und Stabilisierung medialer Praktiken des Hörens im 20. Jahrhundert treffen zu können, sei man, so die ernüchternde Schlussfolgerung, auf Anleitungen zum Gebrauch technischer Schallreproduktionsmedien, aber auch auf Leserbriefe, oral history und Ähnliches angewiesen.

In einem der medienethnographisch perspektivierten Beiträge, die die Konstruktion performativer Praktiken des 'Doing Seeing' beziehungsweise 'Doing Hearing' von Menschen mit Behinderungen zum Inhalt haben, geht es noch einmal um die Schwierigkeiten, die den wissenschaftlichen Modellen aus starren Dichotomien entstehen. Wie schon zuvor bei der medienwissenschaftlichen Diskussion hybrider Artefakte in soziotechnischen Netzwerken sind dies in den Disability Studies die Bereiche Natur und Kultur; ihre strikte Unterscheidung ist verantwortlich für die jeweils gegensätzlichen Lesarten von 'Behinderung' als soziales, medizinisches oder technowissenschaftliches Modell. Der Beitrag (von MICHAEL SCHILLMEIER) beleuchtet, "wie der Umgang mit Geld und Geldtechnologien behindernde bzw. ermöglichende Praktiken im Leben von blinden Menschen erzeugt" (282). Der Blick auf die sensorischen Praktiken erscheint hier als Ausweg, um nicht a priori zwischen sozial zugeschriebenen Behinderungen (disabilities) und individuellen körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen (impairments) unterscheiden zu müssen.




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Spätestens an dieser Stelle wird der innere Zusammenhang der Sektionen und die dem Band inhärente Gewebestruktur offenbar: Das Projekt, 'Behinderung neu zu denken', der Paradigmenwechsel der Medienwissenschaften und das Arbeitsfeld der Audiovisuology, treffen sich im Feld der Praktiken.

Damit ist auch das wichtigste Verdienst des Sammelbandes bezeichnet: Im Brückenschlag zwischen medienwissenschaftlichen, -historischen, soziologischen, literatur- und kunstwissenschaftlichen Perspektiven auf Hören und Sehen entsteht tatsächlich so etwas wie ein Dialog. Dass die Beiträge trotz ihrer Heterogenität zueinander sprechen, macht nicht zuletzt die längst fällige Überwindung disziplinärer Grenzen und selbst Forschungsrichtungen bei der Untersuchung von Sehen und Hören evident. Der Band bildet insofern auch die Zusammenführung von Fragestellungen der Visual Culture, Sound Studies und Medienwissenschaften ab. Dass hierbei ebenfalls den (Critical) Disability Studies ein Mitspracherecht eingeräumt wird, muss zumindest in der deutschsprachigen Debatte noch als Novum gelten. Bemühungen um eine Verbindung von media studies (bzw. history) und disability studies (bzw. history) konnten in den letzten Jahren vor allem in US-amerikanischer Forschung, etwa bei Mara Mills (in diesem Kontext vgl. auch Mills/ Tresch 2011) und Bill Kirkpatrick (vgl. den jüngst erschienenen Band von Ellcessor/ Kirkpatrick 2017), beobachtet werden. Beispielhaft für diese auch hier an Bedeutung gewinnende Perspektive steht nicht zuletzt das Gespräch zwischen der Medienwissenschaftlerin und Disability-Forscherin KARIN HARRASSER und dem Hörakustiker JÜRGEN TCHORZ, welches die Sektion "Medienethnographische Perspektiven auf Disability" beschließt und zugleich einen größeren Fragehorizont öffnet. Unter diesen Vorzeichen ist auch der Umfang des Bandes mit etwa 450 Seiten zu verschmerzen. Zwar darf nicht unerwähnt bleiben, dass es sich nicht bei allen Artikeln um Originalbeiträge handelt; vier der Aufsätze wurden zuerst in englischer Sprache an anderer Stelle publiziert. Dies mindert den Wert der Publikation allerdings nur unwesentlich: Der Stand der Forschung und die zentralen Debatten der vergangenen Jahre erscheinen hier gebündelt aufgearbeitet, die Beiträge bieten ausreichend Diskussionsstoff für zukünftige Debatten; der Band kann damit Forschenden, Lehrenden und nicht zuletzt Orientierung suchenden Studierenden und NachwuchswissenschaftlerInnen aus Medienwissenschaften, Literatur- und Kulturwissenschaften sowie aus der Kultursoziologie empfohlen werden.




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Bibliographie

Daniels, Dieter / Naumann, Sandra (Hg.) (2011): Audiovisology 2. Essays. Histories and Theories of Audiovisual Media and Art. Köln: Walther König.

Ellcessor, Elisabeth / Kirkpatrick, Bill (Hg.) (2017): Disability Media Studies, New York: NYU Press.

Mills, Mara / Tresch, John (Hg.) (2011): Special Issue "Audio/Visual". Grey Room 43.

Reckwitz, Andreas (2008): "Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation", in: Herbert Kalthoff / Stefan Hirschauer / Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevant qualitativer Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 188–209.

Vogl, Joseph (2001): "Medien-Werden. Galileos Fernrohr", in: Mediale Historiographien 1, 115–123.

Wietschorke, Jens (2010): "Historische Ethnographie. Möglichkeiten und Grenzen eines Konzepts", in: Zeitschrift für Völkerkunde 106, 197–224.