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Torsten König (Dresden)



L'Empire et les Nouveaux Barbares – Geopolitik der Migration, populäre Medien und Erzählung: Zu Affekt und Wissen in gegenwärtigen Migrationsnarrativen (Text, Karte, Film)



L'Empire et les Nouveaux Barbares – Geopolitics of Migration, popular Media and Narration: on Affect and Knowledge in current Migration Narratives (Text, Map, Film)
In recent years, in polemics concerned with migration to Europe, parallels have been constantly drawn between present times and the so-called 'Völkerwanderung' of late antiquity. The historical narrative of the decline of the Roman Empire, which was caused by invading 'barbarians', appears in political discourse—but it also appears as a citation or an adaptation of structural features in literary and cinematic narratives. With regard to the framing of the public perception of migration, this paper discusses the functional logic and the communicative functions of these representations in different social, communicational, and media contexts. In particular, it deals with the territorial semantics of historical migrations, which essentially makes migration a geopolitical problem. Although the narrative of 'barbarian invasions', as an element of popular geopolitics, addresses people at an emotional level, it requires a context of knowledge as a precondition to its functioning. With the aim of analyzing this correlation, this paper examines political, historical, cartographic, and geopolitical knowledge. It places this knowledge (as in Jean Christophe Rufin's L'Empire et les Nouveaux Barbares) in relation to examples of literary narrative (such as Jean Raspail's Le camp des saints) and cinematic narrative (such as Zack Snyder's 300) as modes of popularizing emotions and geopolitical knowledge.


Öffentliche Diskussionen zur 'Migration' sind derzeit in Europa wie nur wenige andere Themen durch Polemik geprägt. Der Kampf um die Deutungshoheit über Migrationsphänomene wird mit Persuasionsstrategien geführt, die politisches Handeln ermöglichen, plausibilisieren und legitimieren. Zu diesen Strategien gehört die Anreicherung des Diskurses mit wirkmächtigen Topoi, die einerseits rhetorische Funktionen haben, andererseits als Narrative kollektives Erleben in sinnhafte Strukturen überführen.

Im Folgenden soll der Fokus auf einen Gemeinplatz gerichtet werden, der im Migrationsdiskurs der jüngeren Vergangenheit besonders virulent erscheint: der historische Vergleich aktueller Migrationsbewegungen nach Europa mit der sogenannten 'Völkerwanderung', also dem vermeintlich gewaltsamen, abrupten Eindringen von großen kulturfremden Gruppen in das Römische Reich ab dem 4. Jahrhundert und dem hieraus resultierenden Zerfall desselben.




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Die historische Faktizität dieses Geschichtsnarrativs ist mittlerweile stark in Frage gestellt. Von einer 'Wanderung der Völker' zu sprechen, wie es die Historiographie seit dem 18. Jahrhundert tat, führe in die Irre, sind sich viele Historiker heute einig. Die Gruppen, die in das römische Territorium migrierten, seien vergleichsweise klein gewesen, ethnisch heterogen und erst in einem längeren Prozess der Wanderung und Sesshaftwerdung gewachsen. Dieser Prozess und nicht akutes militärisches Eindringen habe primär zur Verdrängung der alten politischen Eliten und zum Zerfall staatlicher Strukturen geführt.1 Die Darstellung des gewaltsamen Einbruchs zerstörerischer 'Horden' in das Römische Reich dominierte dagegen seit dem 18. Jahrhundert die Historiographie der Spätantike und wurde maßgeblich initiiert durch Edward Gibbons The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire (1776–1788). Ab dem 19. Jahrhundert avancierte sie zum vielzitierten Narrativ der Auslöschung einer dekadenten Zivilisation durch äußere Einwirkungen.2

Allein der Umstand also, dass der Referent des Konzeptes 'Völkerwanderung' historisch nicht klar definiert werden kann und es als Comparandum folglich nicht tauglich ist, lässt einen Vergleich mit gegenwärtigen Konstellationen problematisch erscheinen. Hinzu kommt, dass die geostrategischen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen in einem Grad differieren, der bestenfalls oberflächliche, unseriöse Analogiebildungen zulässt, einen methodologisch fundierten Vergleich aber nicht.3

Trotz dieser Befunde vermag der Topos von der 'Völkerwanderung' oder von den'barbarian invasions', den 'invasions barbares', wie es im Englischen und Französischen heißt, in der Figur historischer Parallelisierungen in populären Kontexten nach wie vor Wirkkraft zu entfalten. Die aktuelle Situation Europas wird angesichts gegenwärtiger Migrationsereignisse in einer Vielzahl unterschiedlicher medialer Formate mit der des Imperium Romanum unter dem 'Einfall der Barbaren' verglichen. Der folgende Beitrag geht der Entfaltung dieser Figur und ihrer Virulenz, sei es in Form direkter Zitate, sei es als Adaption von Strukturmerkmalen, im europäischen bzw. westlichen Migrationsdiskurs seit etwa 1990 anhand von exemplarischen Fallstudien nach.4 Er fragt nach der Spezifik ihrer medialen Erscheinungsweisen, zunächst in politischer Rede und Kartographie. Im Zentrum der Überlegungen steht allerdings die Modellierung des intermedial zirkulierenden Topos in literarischen und filmischen Erzählungen und damit dessen Popularisierung in medialen Formaten, die aufgrund ihrer Struktureigenschaften wichtige Funktionen in politischen Prozessen wie der Positionierung gesellschaftlicher Gruppen und politischer Entscheidungsträger zu Fragen der Migration übernehmen. Erzählungen grundieren diese Prozesse, insofern sie "im Medium sozial geteilten Wissens" sozialen Sinn aushandeln (Koschorke 2012: 37–40) und Erklärungsmuster kollektiver Welterfahrung liefern (Müller-Funk 2002: 101). Von besonderem Interesse ist dabei ihre Fähigkeit, in einem "kommunikativen Fluidum" wie dem Migrationsdiskurs Affekte freizusetzen oder zu binden: sie können Ängste schüren bzw. zu ihrer Bewältigung beitragen, Gruppenzugehörigkeiten modellieren, Aggressionen formen und instrumentalisieren etc. (Koschorke 2012: 103–104). Politisch ist die kollektive Welterschließung über geteilte Erzählungen auch, weil in ihnen gouvernementales Wissen zirkuliert, mit dem Geo- und Biopolitiken staatlicher Akteure bzw. gesellschaftlicher Eliten unterlegt sind.5 Angesichts der durch den Völkerwanderungstopos aktivierten Affekte und Emotionen richtet sich das Interesse der folgenden Analysen einerseits auf Diskursphänomene postfaktischer Politik,6 andererseits auf deren epistemische Rahmung als Möglichkeitsbedingung für ihr Wirken.




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Dabei wird insbesondere nach der territorialen Semantik zu fragen sein, die dem historischen Vergleich eingeschrieben ist. Denn das Narrativ der 'Völkerwanderung' ist strukturell geprägt durch zwei einander entgegenstehende, angrenzende und unterschiedlich konnotierte Räume – den Raum des Reiches und den der Barbaren. Die im historiographischen Diskurs generierte Referentialität dieser Räume macht sie zu Territorien,7 die Auflösung der Grenzen zwischen ihnen durch grenzüberschreitende Akteure begründet den fortschreitenden Verlust der territorialen Souveränität Roms und den nachfolgenden Untergang – so die reduktionistische Version der populären Geschichtserzählung. Damit erscheint der historische Prozess wesentlich durch geopolitische Fragen determiniert.8 Durch die Parallelisierung werden folglich auch gegenwärtige Migrationsprozesse als primär geopolitisches Problem modelliert. Diesen Modellierungen wird mit dem Ziel nachgegangen, ihre Funktionslogiken und ihre kommunikativen Funktionen in unterschiedlichen sozialen, kommunikativen und medialen Kontexten zu verstehen.


1 Rhetorik und Evidenz

Die Struktur des Argumentationsmusters soll zunächst auf der Ebene verbaler Aussagen im Bereich 'politischer Kommentar' durch zwei prominente Beispiele illustriert werden. Erwartungsgemäß ist es in politischen Milieus zu finden, die eine ausgeprägte kritische Haltung zur Migration vertreten. So verteidigte Marine Le Pen, Chefin der französischen Partei Front National, in einem Interview am 15.9.2015 auf France Inter den von ihr wiederholt bemühten Vergleich der gegenwärtigen Situation mit der des 4. Jahrhunderts:

J'ai dit que nous pourrions assister dans les années qui viennent à l'équivalent des invasions vécues au quatrième siècle. C'est à dire ce gigantesque mouvement migratoire qui d'ailleurs n'était pas en réalité des invasions au départ mais qui étaient des installations. Je pense que gouverner c'est prévoir.9

Das zweite Beispiel stammt von dem ebenso renommierten wie umstrittenen britischen Historiker Niall Ferguson, der am 16.11.2015 einen vieldiskutierten Artikel mit dem Titel "Paris and the fall of Rome" im Boston Globe veröffentlichte. In unmittelbarer Reaktion auf die Attentate vom 13.11.2015 in Paris beschreibt er die gegenwärtige Situation Europas als eine historische Parallele zu der des späten Rom. Er wertet die Ereignisse von Paris als Symptom für Europas Schwäche angesichts der grenzüberschreitenden Migrantenströme, eine Schwäche, die zur Vernichtung der Zivilisation führen werde:




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I am [...] going to tell you that this is exactly how civilizations fall. [...] Like the Roman Empire in the early fifth century, Europe has allowed its defences to crumble. As its wealth has grown, so its military prowess has shrunk, along with its self-belief. It has grown decadent in its shopping malls and sports stadiums. [...] The distant shock to this weakened edifice has been the Syrian civil war, though it has been a catalyst as much as a direct cause for the great Völkerwanderung [sic.] of 2015. As before, they have come from all over the imperial periphery – from North Africa, from the Levant, from South Asia – but this time they have come in their millions. (Ferguson 2015)

Die Aussagen, wie sie von Le Pen gemacht wurden, lassen sich in Variationen an anderen einschlägigen Stellen im politischen Diskurs seit dem Sommer 2015 europaweit finden.10 Während mit Le Pen eine Politikerin den Vergleich bemüht, tut Ferguson dies in seiner gesellschaftlichen Rolle als Historiker. Allerdings markieren Publikationsort, Adressaten und Argumentationsführung seines Beitrages diesen ebenso wie den von Le Pen klar als politischen Kommentar.

In seiner verkürzten Form kommen dem historischen Vergleich in beiden Beispielen in erster Linie rhetorische Funktionen zu.11 Er transportiert ähnlich einer tropischen Übertragung eine ganze Reihe ausgesprochener und unausgesprochener Aspekte der historischen Semantik, die dem Topos der Völkerwanderung eingeschrieben sind und auf aktuelle Konstellationen projiziert werden. Zunächst fällt der quantitative Aspekt auf: Le Pen spricht von einem "gigantesque mouvement migratoire", Ferguson von Millionen, die kommen. Es ist die schiere Masse der Migranten, die in Analogie zu vermeintlichen germanischen und asiatischen Horden zum Problem wird. Zweitens evoziert der Vergleich den gewaltsamen Charakter des Einbruchs und die hohe Geschwindigkeit der mit ihm verbundenen Transformationen, die angesichts einer solchen Bedrohungslage akuten politischen Handlungsbedarf begründen. Dazu noch einmal Ferguson: "[...] the process of Roman decline was in fact sudden – and bloody – rather than smooth: a 'violent seizure [...] by barbarian invaders' that destroyed a complex civilization within the span of a single generation."(Ferguson 2015) Drittens gehört zur Erzählung vom Zerfall des Römischen Reiches der Verweis auf die wohlstandsbedingte innere Schwäche, d.h. die Korruption des Staates sowie den Verfall der Werte und der militärischen Widerstandskraft. Schließlich ist viertens herauszuheben, dass die Folge der Invasion als zivilisatorischer Totalschaden beschrieben wird, als komplette Zerstörung der kulturellen Ordnung. "Gouverner c'est prévoir", lautet die Konklusion bei Le Pen angesichts dieses Szenarios, womit sie aus dem geschichtlichen Vergleich ausdrücklich politische Handlungsaufforderungen ableitet.

Der rhetorische Vergleich in diesen Aussagen zielt offensichtlich auf affektive Ansprache und erweist sich damit zunächst als Phänomen postfaktischer politischer Argumentation. Er versucht mit der Evokation eines topischen Inventars an Impulsgebern – Masseninvasion, Gewaltszenarien bis hin zum Krieg, Kulturverfall – Ängste und Abwehrhaltungen hervorzurufen. Wenngleich diese Impulsgeber unabhängig von einer rationalen Bewertung historischer und gegenwärtiger Faktenlagen über kognitive Framingprozesse Emotionen generieren,12 bedarf es einer epistemischen Rahmung, um den Aussagen, in denen die Impulsgeber eingebettet sind, Akzeptanz zu verleihen.




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Die historische Analogie erhält ihre Plausibilität durch ein komplexes System institutioneller und medialer Kontexte, die mit Michel Foucault als régime de vérité beschrieben werden können. Es handelt sich dabei um epistemische Dispositive, welche die Möglichkeitsbedingungen der Akzeptanz von Aussagen determinieren. Als 'wahr' akzeptierte Aussagen kommen demnach nicht als Folge einer tatsächlichen adaequatio intellectus et rei zu ihrem Status, sondern sie basieren primär lediglich auf effets de vérité, die ihren Evidenzcharakter im Rahmen der Wahrheitsregimes erlangen.13 So gründen historiographische Aussagen, vor allem wenn sie in populären Kontexten rezipiert werden, die Akzeptanz ihrer prätendierten Referentialität auf eine Art epistemischen Kredit, dessen Bürgschaften durch institutionelle Rahmen (akademische Institutionen, Schule, Verlage etc.), die Affichierung fachtypischer wissenschaftlicher Methoden wie Quellenforschung oder bestimmte Formen des sprachlichen Duktus gestellt werden. Auch das wirklichkeitsbehauptende Geschichtsnarrativ 'Völkerwanderung' erlangt in diesem Rahmen einen hohen Grad an Plausibilität und Akzeptanz. Die parallelisierenden Behauptungen zur aktuellen Migration entfalten ihr persuasives Potenzial gewissermaßen im Schatten dieses régime de vérité und können vom Plausibilitätskredit der historiographischen Aussagen profitieren. Auf der Grundlage oberflächlicher struktureller Analogien erhalten sie "semantische Evidenz" im Sinne einer "unproblematische[n] Geltung von medialem Sinn".14 Dabei wird nicht nur die Behauptung plausibel, die Migrationsereignisse der Gegenwart glichen denen der Antike, sondern es werden vor allem deren Folgen als evidentes Zukunftsszenario entwickelt. Werden die Aussagen von Historikern selbst getätigt, scheint der Kredit besonders hoch zu sein, agieren sie doch als personales Element des historiographischen Wahrheitsregimes. Dies ist bei Ferguson der Fall, der als Historiker in seinem polemischen Artikel den historiographischen Diskurs ausdrücklich aufruft. Er beginnt ihn mit einem Zitat aus Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire und verweist mit den Namen von Bryan Ward-Perkins und Peter Heather (2009) auf weitere Vertreter der Zunft als Gewährsmänner für die Richtigkeit seiner historischen Analogiebildung.15

Le Pens und Fergusons Argumentation erlangt ihr Evidenzpotenzial nicht nur durch Kontiguität zum historiographischen Diskurs allgemein. Sie funktioniert auf der Ebene oberflächlicher Analogien vor allem auch, weil sie an populäre Vorstellungen historischer Geographien anknüpfen kann. Der 'Einfall der Barbaren' aus dem Osten und Norden bzw. nachfolgend aus dem Süden über das Mittelmeer in das Territorium des Römischen Reiches wird seit den 1920er Jahren in Geschichtskarten wie der französischen Schulwandkarte in Abb. 1 visualisiert.




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Abb. 1: Französische Schulwandkarte zur 'Völkerwanderung', Nathan Eduscope, 2006.


Charakteristische Elemente dieses Kartenbildes,16 das sich in unzähligen Variationen in westlichen Schulbüchern oder Geschichtsatlanten findet, sind die Grenzmarkierungen des Römischen Reiches sowie die Repräsentation der einfallenden 'Barbarenvölker' durch Pfeilsignaturen, welche Herkunft, Itinerarium und Destination der jeweiligen Gruppen anzeigen. Die Pfeile visualisieren in Verbindung mit den Grenzlinien kartosemiotisch das zentrale Strukturelement des Völkerwanderungstopos: die Grenzverletzung und das Eindringen fremder Gruppen in das römische Territorium. Dabei wird die Prozesshaftigkeit durch unterschiedliche, in einer einzigen Karte verzeichnete Entwicklungsstufen verdeutlicht.

Kartographiegeschichtlich lässt sich die Markierung von historischen Dynamiken in Geschichtskarten durch expressive Pfeilsignaturen ab den 1920er Jahren beobachten. Sie ist ein spezifisches ikonographisches Merkmal populärer Geographie unter dem Einfluss der zeitgenössischen geopolitischen Schulen und wirkt bis in heutige kartographische Ästhetiken fort.17 Berücksichtigt man die Präsenz des Kartenbildes in populären historiographischen Medien seit dieser Zeit,18 kann davon ausgegangen werden, dass es die geographische Imagination19 der 'Völkerwanderung' wesentlich geprägt hat. Wird die 'Völkerwanderung' rhetorisch als Analogie zu gegenwärtigen Migrationsereignissen aufgerufen, evoziert man unausgesprochen auch diese Geographie. Der Vergleich bewirkt ein spezifisches framing20 der Wahrnehmung gegenwärtiger geopolitischer Konstellationen: ein als homogen imaginiertes Territorium – Europa, der Westen, das 'Abendland' – steht dynamischen Versuchen der Grenzüberschreitung durch territoriumsfremde Akteure bzw. Gruppen – Migranten, 'Flüchtlinge', 'Terroristen' – gegenüber.21 Damit rücken die geopolitischen Kategorien 'Territorium' und 'Grenze' ins Zentrum des Migrationsdiskurses. Die imaginative Geographie der 'Völkerwanderung' und ihre Übertragung suggerieren deterministische Beziehungen zwischen den Grenzüberschreitungen und dem Zerfall des Territoriums bzw. der durch dieses repräsentierten, kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung.




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Der Vergleich erweist sich damit auf einer ersten Ebene als Mittel zur Komplexitätsreduktion. Er identifiziert Migration als destruktive Kraft und insinuiert als Remedium den Abschluss des Territoriums gegen Eindringlinge. Damit negiert er gegenwärtige Migrationsphänomene als komplexe soziale Vorgänge, die durch multidirektionale Dynamiken geprägt sind. Sie betreffen die soziale Mobilität der Akteure ebenso wie die grenznegierende Kommunikation oder die interkulturelle Zirkulation von Wissen und können daher nicht mit territorialen Logiken beschrieben und erfasst werden.22

Durch die historische Parallelisierung werden darüber hinaus binäre Zugehörigkeitskonstruktionen vermittels territorialer Imaginationen geschaffen.23 Ein transnationales 'wir', das innerhalb der Grenzen des 'Reiches' bzw. seines Gegenwartsäquivalents (Europa, 'Abendland') verortet wird, steht den Bewohnern des extraterritorialen 'Außen' gegenüber. Letztere sind über die historische Analogiebildung invektiv als kulturell inferiore Andere konnotiert. Mit Reinhart Koselleck lässt sich dieses Verfahren als Schaffung "asymmetrischer" Gruppenkonstellationen beschreiben. Das 'wir' formt sich zur "sozialen und politischen Handlungseinheit", indem es als alleiniger Repräsentant der Zivilisation zu einer exklusiven Singularität hochstilisiert wird. (Koselleck 1975: 212) Die Nichtzugehörigen erfahren ihre Definition dagegen nicht nach dem Äquivalenzprinzip über die Zuschreibung positiver Eigenschaften, sondern asymmetrisch als "Negation der eigenen Position". Koselleck zeigt anhand "asymmetrischer Gegenbegriffe" (ebd.), von Hellenen vs. Barbaren bis hin zu Arier vs. Nichtarier, dass dieses Strukturmuster epochenübergreifend zu beobachten ist. Seine jeweilige historische Besonderheit allerdings, die sich in der Wahl je verschiedener konkreter Motive manifestiert, lässt sich aus diskursiven und epistemischen Kontexten erklären, wie im Folgenden weiter vertieft werden soll.


2 Geopolitiken

Die Modellierung geopolitischer Konstellationen im Horizont von Migrationsereignissen als binäre Raumopposition unter Heranziehung des historischen Vergleichsmoments 'Völkerwanderung' bzw. 'Rom vs. Barbaren' ist nicht erst seit der sogenannten 'Flüchtlingskrise' 2015 virulent. Sie ist seit dem Zusammenbruch der Blöcke und des globalen Ost-West-Antagonismus 1989 in signifikanten Applikationen beobachtbar. Um die Konjunktur der Analogiebildung in der jüngeren Vergangenheit verstehen und einordnen zu können, ist ein Blick auf diesen Moment hilfreich.




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1991 analysiert der Franzose Jean-Christophe Rufin mit seinem vielbeachteten Essay L'Empire et les Nouveaux Barbares die geopolitische Situation der Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und unter dem Eindruck des Zweiten Golfkrieges.24 Der engagierte Arzt, Politikwissenschaftler und Autor stellt dabei nicht nur mit dem Titel seines Essays einen Bezug zur Antike her. Seine Argumentation baut auf dem strukturellen Vergleich zwischen der Gegenwart und der Situation Roms im 2. Jahrhundert v. Chr. auf.

Damals habe Rom mit dem Sieg über Karthago schlagartig seinen geopolitischen Gegenpol verloren. In die entstandene Leere hinein entwarf es mit Historikern wie Polybios ein neues Selbstverständnis. Es sah sich nunmehr als alleiniger Träger der "responsabilité de la civilisation, de sa défense, de son expansion à la dimension de l'univers." (Rufin 1991: 23) Diese universelle Mission habe ihren Ausdruck in einer neuen geopolitischen Figur gefunden: dem 'Imperium', als das Rom seine territoriale Einflusssphäre fortan definierte. Ihm gegenüber stand ein 'Außen' als dessen Negation, das Territorium der Barbaren. Dabei unterscheidet sich die neue Doppelmasse von der alten durch ihre Asymmetrie. Die heteroklite Masse der Barbaren wird allein über ihre Bestimmung als das Nicht-Zugehörige zu einer Einheit verschmolzen. Diese hat vor allem die Funktion, das Reich und seine Werte positiv definierbar zu machen. (24)

Ebenso sei nach dem Verschwinden des Ost-West-Antagonismus 1990 eine neue Hemisphärenkonstellation konstruiert worden, die keine gleichgewichteten Pole mehr kennt: Einem technologisierten, reichen und politisch relativ stabilen Norden wurde als Gegenmasse ein strukturschwacher, armer und politisch instabiler Süden gegenübergestellt. Wie das Territorium der Barbaren für Rom sei der Süden als Negation des Nordens definiert. "L'opposition Nord/Sud ressuscite cette idéologie de l'inégalité, de l'asymétrie", hält Rufin als Konklusion zu seinem historischen Vergleich fest. (25)

Strukturelle Analogien dieser Konstellation zum 2. Jahrhundert v. Chr. sieht der Autor auch durch die Form der Grenze zwischen den Hemisphären belegt, die er mit dem historischen Begriff 'Limes' beschreibt. Es handele sich bei diesem nicht um eine Frontlinie, die zwei gegeneinanderstehende, ebenbürtige Lager voneinander trennt. Vielmehr habe der 'Limes' die Aufgabe, das Imperium gegen ein zivilisatorisch inferiores 'Außen' abzuschirmen.25 Er stelle eine Pufferzone dar, deren Verlauf nicht immer klar markiert ist und deren Aufgabe es ist, das zivilisatorische und ökonomische Gefälle zwischen dem Reich und seinem 'Außen' abzufedern sowie die Bewohner des Imperiums angesichts des unbeherrschbaren 'Außen' zu beruhigen.26 Der moderne Limes verläuft weltumspannend, von der mexikanisch-texanischen Grenze durch das Mittelmeer bis nach Japan, wie Abb. 2 zeigt.




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Abb. 2: Der moderne Limes im Jahr 1991 nach Rufin


Rufins im historischen Vergleich modellierte Hemisphärenopposition schreibt sich in einen Diskursraum ein, in dem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sowohl die obsolet gewordene Ost-West Opposition als auch die Einteilung des Globus in eine 'erste', 'zweite' und 'dritte' Welt durch ein neues kritisches geopolitisches Paradigma ersetzt wird. Es handelt sich um die Konzepte 'globaler Süden' und 'globaler Norden', die ab den 1990er Jahren mit wachsender Tendenz vor allem einen Diskussionskontext prägen, in dem westliche Geo- und Biopolitiken kritisch hinterfragt werden.27 So bemüht Rufin, anders als Le Pen und Ferguson, den Gegensatz 'Römisches Reich vs. Barbaren' nicht, um polemisch das Bedrohungspotenzial der Situation in seiner Gegenwart zu modellieren. Bei ihm hat das historische Comparandum die Funktion, die Genese neuer Territorialordnungen und Grenzregime über strukturelle Analogiebildungen zu erklären. Insbesondere die Biopolitiken des Nordens werden dabei kritisch analysiert.28 Die "idéologie du limes", wie Rufin sie nennt (211), sei Teil geopolitischer Praktiken des Nordens, die u.a. auf Bevölkerungsregulierung und Kontrolle der sozialen Mobilität im Süden setzen.29

Der diskursive Kontext, in dem Rufin 1991 schreibt, ist nicht nur durch die Erfindung der Nord-Süd-Opposition geprägt, sondern durch eine generelle Repopularisierung geopolitischen Denkens wie u.a. sehr prominent durch Samuel P. Huntington belegt wird, der seine These vom "Clash of Civilizations" erstmalig 1993 lancierte.30 Es spiegelt eine Renaissance der 'Geopolitik' als operationales Konzept im politischen Diskurs. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dieses Konzept, kontaminiert durch seine Rolle in der nationalsozialistischen Lebensraumideologie sowie durch wissenschaftlich obsolet gewordene Theoreme weitestgehend abwesend. Erst ab den 1970er Jahren kehrt es als geopolitics bzw. géopolitique in amerikanischen und französischen Kontexten unter veränderten Vorzeichen in die sozialgeographischen, politikwissenschaftlichen und strategischen Diskussionen zurück. Geopolitik bezeichnet in diesem Zusammenhang die territoriumsbezogenen Machtpolitiken staatlicher Akteure.31




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Parallel zur Renaissance eines öffentlichen geopolitischen Diskurses entwickelt sich unter dem Label 'critical geopolitics' zunächst in der Humangeographie ein Ansatz, der von einem spezifischen konstruktivistischen Verständnis geographischer Räume ausgeht. Die kritische Geopolitik untersucht im Horizont von Machtdispositiven, wie öffentliche diskursive Bedeutungszuschreibungen funktionieren, die durch mediale Repräsentationen oder politische Praxis Räume zu Territorien machen. Sie analysiert also, wie spatiale Beziehungen, Ordnungen und Vektoren geschaffen werden, die geographische Räume als eigen oder fremd, Freunden oder Feinden zugehörig, als sicher oder gefährlich, zivilisiert oder barbarisch etc. identifizieren, so Gearóid Ó Tuathail, ein maßgeblicher Impulsgeber des Ansatzes.32 Dabei stehen Rückkoppelungsprozesse zwischen staatlicher Geopolitik und deren Echokammern in populären Text- und Bildmedien wie Nachrichtenbildern, populärer Kartographie, literarischen und filmischen Erzählungen etc. im Fokus. Physische Territorialisierungsprozesse, realisiert durch das Errichten von Grenzanlagen, militärische Interventionen oder biopolitische Maßnahmen erweisen sich so als flankiert von diskursiven Territorialisierungen. Untersucht wird deren Verzahnung, insbesondere Funktion und Funktionieren letzterer beim framing von imaginativen Geographien, die politisches Handeln rahmen, sei es das gouvernementaler Eliten, sei es das von gesellschaftlichen Gruppen wie Wählern.

"Geopolitik der Migration", wie sie im Titel dieses Beitrages aufgerufen wird, bedeutet vor dem skizzierten Theoriehintergrund zweierlei: einerseits das Handeln gouvernementaler Akteure mit Blick auf Migrationsphänomene, andererseits die Schaffung eines Diskurses durch verschiedene Akteure, Medien und Institutionen, der das geopolitische Bewusstsein gesellschaftlicher Gruppen prägt.

In diesem Sinne wird Rufins Essay als kritische geopolitische Analyse lesbar. Er beschreibt einen Paradigmenwechsel in westlichen Geopolitiken, der in Form neuer Hemisphärenkonstruktionen eine neue geographical imagination motiviert.33 Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass er seine Argumentation auf Analogien zur römischen Antike aufbaut. Die Figur des Imperiums inklusive vergleichender Überlegungen zu ihrem westlichen Prototyp, dem Römischen Reich, erscheint in der globalen Analyse geopolitischer Räume nach 1989 bis etwa 2005 von besonderer Virulenz, sei es in kritischer Form wie bei Rufin oder etwa, sehr populär, bei Michael Hardt und Antonio Negri, sei es in Form strategischer Überlegungen wie bei Zbigniew Brzezinski.34 Diese Virulenz zeichnet sich als mögliche diskursive Matrix ab, in der das Völkerwanderungsnarrativ aktualisiert werden konnte. In besonderer Form erfolgt dies durch literarische und filmische Erzählungen, wie im Folgenden anhand exemplarischer Fallstudien zur Adaption des Narrativs und entsprechender politischer Raumsemantiken vor dem Hintergrund einer kritischen Geopolitik vertieft werden soll.




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3 Demographische Angst(szenarien) erzählen

Die Ursprünge der topischen Raumsemantik 'empire' vs. 'barbares' im Zusammenhang mit modernen Migrationsphänomenen lassen sich in Erzählungen weit vor dem geopolitical turn Anfang der 1990er Jahre ausmachen. Sie werden in Jean Raspails 1973 erschienenem Roman Le Camp des Saints exemplarisch greifbar.35 In der dystopischen Erzählung, die in einer nicht näher bestimmten Gegenwart spielt, landet eine Million Armutsflüchtlinge aus Indien nach einer längeren Odyssee mit einer Armada von einhundert rostigen Schiffen an der Südküste Frankreichs. Während das Heer der Ausgehungerten mit seiner schieren Masse das Land förmlich überflutet, dabei aber relativ friedlich ist, erheben sich im Land unterprivilegierte, überwiegend migrantische Schichten, ein "peuple des rats" (Raspail 1973: 71) und "tiers monde intérieur" (308), gewaltsam. Diese Kräfte, unterstützt durch einheimische Kollaborateure – "bougnoulisés" (372) – und befördert durch die Passivität der politisch Verantwortlichen, lassen Frankreich in Chaos und Anarchie versinken und innerhalb kürzester Zeit die alte Ordnung vollständig stürzen. So berichtet es der unbeteiligte Erzähler, der die Ereignisse rückblickend schildert.

Als diskursiver Kontext für Raspails Apokalypse, in der die Migration als Kraft mit unmittelbar zerstörerischer Wirkung dargestellt wird, erscheinen weniger durch akute Migrationsereignisse motivierte Debatten,36 als vielmehr neo-malthusianische Theorien, die in den 1970er Jahren in besonderer Weise die öffentliche Diskussion prägen. Angestachelt durch aufsehenerregende Publikationen wie The Population Bomb (1968) des Biologen Paul H. Ehrlich oder die im Auftrag des Club of Rome erstellte Studie The Limits to Growth (1972) wird die wachsende Bevölkerung in den unterentwickelten Staaten Afrikas und Asiens mit dem erwachenden Bewusstsein von schrumpfenden Ressourcen zunehmend als globales Problem identifiziert.37

Raspails Roman scheint diese Diagnosen aufzugreifen und im Laboratorium der Erzählung Szenarien zu entwerfen, die in Form von hochsymbolischen Topographien, Akteuren und Plotstrukturen vorgeben, deren Konsequenzen durchzuspielen.38 Das fiktionale Frankreich wird dabei als Hort der Zivilisation beschrieben, der über eine Wohlstand garantierende Infrastruktur verfügt – das Ergebnis in Jahrhunderten gewachsenen Wissens über Natur, Technik und Gesellschaft – ein Ort, an dem literarische und künstlerische Traditionen ebenso zu Hause sind, wie eine Kultur des guten Essens.39 Dieser Raum sieht sich einem Außen gegenüber, das in Form der Flotte an seine Grenzen heranrückt und sich schließlich förmlich in ihn ergießt. Raspail zeichnet die Herannahenden als animalische Horde, in der keine Individuen identifizierbar sind, die als ein "énorme animal à un million de pattes et cent têtes alignées" (Raspail 1973: 93) über das Land herfällt. Auf die hinsichtlich ihres Resonanzpotenzials als klar rassistisch zu klassifizierenden Invektiven bei der Beschreibung der Migranten, dargestellt als stinkende Masse grotesker Körper, getrieben von niedersten Instinkten, soll an dieser Stelle ebenso wenig vertiefend eingegangen werden wie auf die literarästhetisch simple, plakative Symbolik. Festzuhalten ist dagegen, dass der Gegensatz zwischen Raum der Zivilisation (Frankreich bzw. der gesamte Westen40) und eindringenden Barbaren (die Armutsflüchtlinge aus Indien) eines der zentralen Strukturprinzipien von Raspails Erzählung darstellt.41




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Wie Fergusons Kurzdiagnose zum Zustand Roms im Moment der Barbareninvasion verweist Raspails Erzählung auf die innere Schwäche des fiktionalen Abendlandes. "Son ignorance insondable, la veulerie de ses réactions, la vanité crasse et le mauvais goût de ses élans toujours plus rares" (98), sind der Grund für den Verlust an Vitalität und Energie, welche dessen Größe einst hervorbrachten. Die Dekadenz findet ihren Ausdruck in Linken und Liberalen, die der Erzähler mit einem Krebsgeschwür vergleicht, das den Westen von innen heraus zerstört. (48) Auch die politischen Entscheidungsträger sind davon befallen und zeigen sich, motiviert durch eine "dégénérescence de la pitié" (47), unfähig, die Eindringlinge mit harter Grenzpolitik abzuwehren. Allein aufgrund dieser Schwäche gelingt die Invasion. Wenngleich die Migration bei Raspail als das "principe d'une eschatologie" (Moura 1988: 121) erscheint, weist der Text somit Auswege aus der Apokalypse: Überwindung der inneren Schwäche und Durchsetzung eines harten Grenzregimes, um die Zivilisation nach innen und außen zu verteidigen. Diese rettende Aufgabe kommt jenen zu, die frei von dégénérescence sind, im Roman repräsentiert durch eine kleine Widerstandsgruppe weißer, älterer Männer, die getragen vom "esprit de résistance de l'Occident" (Raspail 1973: 164) ihr Territorium mit Waffengewalt (heroisch aber vergeblich) verteidigt.

Im Moment seines Erscheinens war Le Camp des Saints kein breiter Publikumserfolg beschieden. Jean-Marc Moura macht als Primärrezipienten die einschlägigen, limitierten Milieus der sich in den 1970er Jahren formierenden Nouvelle Droite aus.42 Dass der Roman über die folgenden Jahre in informierten Kreisen dennoch eine klandestine Notorietät genießt, verdankt er sicher auch seinem geopolitisch inspirierten Stoff.43 Mit den Neuauflagen 2002 und 2011 erfährt die migrationskritische Parabel in Frankreich dagegen eine wachsende Popularität, insbesondere im Zusammenhang mit der öffentlichen Wahrnehmung der Migrationsdynamiken nach dem sogenannten 'arabischen Frühling' 2011 und den Bürgerkriegen in Libyen und Syrien.44 Dabei wird dieses Interesse auch außerhalb Frankreichs aus einschlägigen Kreisen befeuert, wie zahlreiche Neuübersetzungen, u.a. ins Deutsche, sowie Lektüreempfehlungen von politischen Akteuren wie Steve Bannon zeigen.45 Die Geschichte der Rezeption von Le Camp des Saints in Verbindung mit aktuellen Migrationsphänomenen zeigt den topischen Charakter von Narrativen, wie dem von der drohenden Zivilisationszerstörung durch Migration und deren motivischer Ausgestaltung in binären Raumszenarien. Eine Variante dieses Narrativs, die Notwendigkeit der Herrschaft westlicher Zivilisation angesichts des zivilisatorischen Vakuums jenseits des 'Limes', lässt darüber hinaus die Kolonialität46 der territorialen Topik erkennen. Seit dem 16. Jahrhundert, in besonderem Maße seit dem 19. Jahrhundert, gehört die binäre Raumfigur 'zivilisierte Welt' vs. 'zu zivilisierende Welt' zum Grundinventar europäischer kolonialer Legitimationsrhetorik.47 In der Zeit des Ost-West-Konfliktes des 20. Jahrhunderts, die mit der Auflösung der Kolonialreiche zusammenfiel, hat diese Raumfigur als globales geopolitisches Narrativ an Bedeutung verloren. Nach dem Zerfall der Blöcke taucht sie dagegen in den Debatten wieder auf, wie Rufins Diagnose aber auch das wachsende Interesse an Raspails symbolischer Erzählung belegen.

Offenbar vermag Le Camp des Saints in einer spezifischen Form wirklichkeitsbehauptend zu wirken. Das Attribut, das die affirmative Kritik dem Text seit Erscheinen am häufigsten zugeschrieben hat, ist "prophetisch".48 Jean Cau nennt Raspail 1973 mit Blick auf den Roman in einer vielfach wiederzitierten Wendung einen "implacable historien de notre futur" (Moura 1988: 116) und rückt damit den fiktionalen Text rhetorisch in die Nähe referentieller Aussagen.49 Fragt man nach den möglichen Evidenzgründen, die diese Urteile für einen Teil des Publikums plausibel machen, wäre zunächst auf die Topik des Barbarennarrativs und seine Legitimation im historiographischen régime de vérité zu verweisen. Kritiker wie Louis Pauwels vergleichen Raspails Untergangsphantasmagorie ausdrücklich mit der "première mort de l'Occident", die Rom in historischer Präzedenz ab dem 2. Jahrhundert erfahren habe (117).

Wichtiger für die Wahrnehmung des Romans erscheint allerdings seine Fähigkeit, andere zeitgenössische Diskursphänomene verstärkend zu reflektieren und damit ähnlich wie die Echokammern in sozialen Medien zu wirken.50 Während es in den 1970er Jahren neo-malthusianische Theorien waren, die der Leser in der fingierten Welt bestätigt finden konnte, sind es nach 2000 mediale Bilder akuter Migrations- bzw. Fluchtphänomene. So bekommt die Fiktion einer massenhaften Anlandung von Armutsflüchtlingen ihre konkreten Referenten durch mediale Topoi in der Berichterstattung zur Mittelmeermigration. Neben dem notorischen Bild des mit Menschen übervoll beladenen Bootes sind es u.a. kartographische Visualisierungen von Migrationsereignissen wie in der Karte zu den nach Europa führenden Migrationsrouten auf der Webpräsenz der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX. (Abb. 3) Die Karte zeigt das Territorium der EU als homogene graue Fläche, in der lediglich die Grenzen der Staaten als Binnendifferenzierung eingezeichnet sind. Pfeilsignaturen, ergänzt durch eine erläuternde Legende, markieren die Dynamiken der Migrationsbewegungen aus außereuropäischen Räumen nach Europa. Die monochrome Kolorierung kommt als traditionelles kartographisches Mittel zum Einsatz, Territorien als politische und kulturelle Einheit darzustellen. Diese sieht sich an ihren Grenzen durch die Penetrationssemantik der farbigen Pfeile in ihrer Integrität in Frage gestellt, wobei die breit auslaufenden Enden der Pfeile in kartosemiotischer Kodierung, ohne numerisch konkret zu werden, auf die großen Quantitäten der durch sie repräsentierten Migrantenströme verweisen.51 Der Publikationszusammenhang der Karte lässt auf ihre kommunikative Funktion schließen: Dokumentation und Legitimation der Arbeit von FRONTEX, einer Institution, die als Element des europäischen Grenzregimes an der Realisierung von Migrations- und Biopolitiken mitwirkt.




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Abb. 3: Karte zu den Migrationsrouten auf der Webpräsenz von FRONTEX 2017


Die Karte ist geeignet, Raspails fiktionalem Szenario in doppelter Hinsicht referentielle Plausibilität zu verleihen. Erstens visualisiert sie den Topos vom Ansturm der Migranten aus dem globalen Süden als ausgewiesen empiriebasiertes Diagramm mit wirklichkeitsbehauptender Funktion. Zweitens nimmt sie die Ikonographie des Kartenbildes zur historischen 'Völkerwanderung' – die charakteristischen Pfeilsignaturen, die Grenzverletzungen des Reichsterritoriums bzw. Europas markieren – auf und evoziert damit Analogien, welche die Faktizität der kartographischen Imagination untermauern.

Darüber hinaus entwickelt die Erzählung Raspails ihr persuasives Potenzial natürlich aus ihren spezifischen Möglichkeiten der emotionalen Adressierung. So fällt etwa auf, dass sie die Quantität der Migranten immer wieder mit drastischen, suggestiven Bildern ins Zentrum der Erzählung rückt.52 Diese Bilder vermögen in Verbindung mit den geschilderten Konsequenzen der Masseneinwanderung im Simulationsraum der Fiktion beim adressierten Publikum Ängste vor Status- und Sicherheitsverlust zu mobilisieren, die mit Jürgen Link als "Denormalisierungsängste" beschrieben werden können. Link sieht in der diskursiven Herstellung des "Normalen" als gesellschaftlicher Orientierungswert ein Dispositiv der Gegenwart mit systemstabilisierenden Funktionen. (Link 1997: 15‒27) Migration kann dementsprechend als Phänomen der Störung von Normalität, als "Denormalisierung" beschrieben werden, insofern sie als 'normal' gesetzte Parameter – ethnische Homogenität der Gesellschaft, Anzahl der Sozialleistungsberechtigten, gefühlte öffentliche Sicherheit etc. – verändert. Die bewusste oder unbewusste Wahrnehmung dieser Denormalisierungen verursacht Ängste.53




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Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich bei Raspail das Inventar jener territorialen Topik ausmachen lässt, die in bestimmten Formen der Migrationskritik nach 1989 beständig aktualisiert wird. Einem Raum der Zivilisation steht ein zivilisationsfremdes 'Außen' gegenüber. Akteure aus diesem Außenbereich dringen in großer Anzahl in die Zivilisation ein, was zu ihrem Niedergang führt. Dabei erscheint die Grenzverletzung und anschließende 'Invasion' allerdings als Folge innerer Dekadenz in Form von mangelndem Identitätsbewusstsein und modernistischem Liberalismus. Raspail illustriert damit exemplarisch die Stellung der Migrationskritik in neurechts inspirierten Gesellschaftsvisionen. Die Migration erscheint insofern als sekundär, als der Hauptfeind in der globalen, liberalen Moderne und der vermeintlichen Aufgabe von Identitäten ausgemacht wird.54 Die Verteidigung der Zivilisation erfolgt durch Grenzsicherung gegen Eindringlinge und Bekämpfung der inneren Schwäche. Diese Topik findet in historischen Analogien zu antiken Szenarien eine motivische Ausgestaltung, die ihrerseits topisch wird. Das zeigt sich am folgenden Beispiel.


4 Die Verteidigung der Zivilisation erzählen

Wenngleich Raspails Erzählung gemessen am Verkaufserfolg vor allem seit 2015 eine relative Popularität attestiert werden kann, bleibt der literarische Text in seinen Möglichkeiten, ein Massenpublikum zu erreichen, hinter dem Filmmedium zurück. Will man die gesellschaftliche Zirkulation bestimmter Topoi und Narrative als Phänomen untersuchen, das breiteste Schichten erreicht, ist daher insbesondere das Blockbuster-Kino US-amerikanischer Provenienz als Quelle in den Blick zu nehmen. Diese zweifellos populärste Form zeitgenössischen Erzählens wirkt darüber hinaus in Horizonten, die sprachliche und kulturräumliche Grenzen negieren.

Die Ausgestaltung des Topos 'Imperium bzw. Zivilisation vs. Barbaren' in diesem Medium lässt sich exemplarisch am US-amerikanischen Kinofilm 300 von Regisseur Zack Snyder aus dem Jahr 2006 beobachten.55 Die Handlung des Historienfilms ist sehr frei an die Überlieferung einer Episode aus den sogenannten Perserkriegen durch den Historiker Herodot angelehnt: die Schlacht am Thermophylen-Pass, in der sich eine kleine Gruppe Spartaner unter ihrem König Leonidas der Übermacht des persischen Heeres unter Xerxes entgegengestellt haben soll und von ihr aufgerieben wurde. Die Fiktionalisierung des Stoffes stellt ohne Anspruch an historische Genauigkeit neben der Schlacht die Lebensgeschichte des Helden Leonidas ins Zentrum, die rückblickend in der Rahmenhandlung von einem spartanischen Soldaten erzählt wird. Der Film geht auf die gleichnamige graphic novel von Frank Miller und Lynn Varley aus dem Jahr 1998 zurück. Er erweist sich zunächst als filmästhetisches Experiment, in dem versucht wird, unter Rückgriff auf neueste Technologien zur Herstellung virtueller Bildräume im Filmmedium die visuelle Ästhetik der graphic novel umzusetzen.56




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Während die offizielle Kritik von der "eigentümliche(n) Mischung aus blutrünstiger Kostümschlacht und Film noir" (Herwig 2010: 59) wenig überzeugt war, begeisterte sich das breite Publikum umso mehr. Der Blockbuster gehörte zu den erfolgreichsten Kinofilmen seines Jahres in den USA und Europa.57 Dieser Publikumserfolg verdankt sich einer mutmaßlichen Reihe von Faktoren. Zunächst wäre auf die Popularitätswelle von historischen Actionfilmen nach 2000 zu verweisen, die ihren Stoff aus der römischen und griechischen Antike beziehen, und an die 300 motivisch anknüpfen konnte.58 Auf bildlicher und szenischer Ebene wird das Publikum durch eine dem Comic entlehnte und für den Film adaptierte populäre Ästhetik der Übertreibung angesprochen, mit der sepiaeingefärbte Kampfszenen und reichlich spritzendes Blut ebenso in Szene gesetzt werden wie die "hyperbolische Maskulinität" der Körper der spartanischen Kämpfer.59 (Abb. 4) Wenngleich mit filmästhetischer Programmatik realisiert, ermöglicht die einfache Plotstruktur, die keine differenzierten Charaktere und entsprechende Handlungsmotivationen kennt, eine niedrigschwellige Rezeption.60


Abb. 4: Kampfszene, Still aus 300 (1:40:10)


Als weitere mögliche Begründung für den Erfolg zeichnet sich aber auch das Potenzial des Films ab, als fiktionaler Spiegel zeitgenössischer geopolitischer Konstellationen wahrgenommen zu werden. Schon unmittelbar nach seinem Erscheinen wurde die Frage diskutiert, inwieweit er als Propaganda für die amerikanische Interventionspolitik im Mittleren und Nahen Osten unter der Regierung Bush zu werten sei. Der Iran hat vor dem Hintergrund des damals akut schwelenden Konfliktes mit den USA das negative Perserbild moniert, das der Film zeichnet. Hinsichtlich dieser Deutungen ist allerdings jenen Kritikern zuzustimmen, die es müßig finden, die grobschlächtige Freund-Feind Logik des Films in ihrer Beliebigkeit als Referenz auf einen konkreten Regionalkonflikt auszudeuten.61 Gleichwohl lässt die Erzählung Strukturen erkennen, die eine Überblendung mit generischen geopolitischen Konfliktkonstellationen der Gegenwart in plausibler Weise möglich machen. Das zeigt sich u.a. an einer ganzen Reihe von Elementen, die zum Topos der gewaltsamen Barbareninvasion in das Imperium gehören, wie er bei Ferguson rhetorisch entwickelt wird. Dass dieser Topos hier mit leichter historischer Phasenverschiebung von Rom nach Griechenland transponiert wurde, kann an dieser Stelle vernachlässigt werden.




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Die fiktionale geopolitische Ausgangssituation als Movens der Handlung wird sehr konkret am Ende des Prologes durch den rückblickenden Erzähler in der Rahmenhandlung, den spartanischen Veteran Dilios entwickelt, indem er die Territorien der Handlung markiert. Griechenland mit seinen verschiedenen Stämmen wird von ihm als "the worlds one hope to reason and justice" (300: 0:06:26) apostrophiert, eine Wendung, in der ein zentrales Element imperialer bzw. kolonialer Herrschaftslegitimation aufscheint: die zivilisatorische Überlegenheit und daraus abgeleitet der Hegemonieanspruch einer Kultur.62 Jenseits von deren Grenzen liegt ein Außen, das als Negation und Bedrohung der Zivilisation definiert wird. "A beast approaches", heißt es mit Blick auf die anrückenden Perser. Ein Tier, das im Akt der Einverleibung die Zivilisation zu vernichten droht. Während Dilios Stimme ins Off gleitet und damit der Übergang von der Rahmen- zur Binnenhandlung markiert wird, tauchen in der Folgeszene Vorboten des Tieres am Horizont auf: die Gesandten des Perserkönigs. (Abb. 5) Ihr Habitus kann als geokulturelle Markierung gelesen werden, die wenig mit historischer Faktizität zu tun hat, viel dagegen mit geopolitischen Konfliktlagen der Gegenwart. Sie tragen Kopftücher, wie sie von Beduinen verwendet werden und populäre westliche Vorstellungen der muslimischen bzw. arabischen Welt prägen.


Abb. 5: Gesandte des Perserkönigs Xerxes, Still aus 300 (0:07:29)


Allerdings reduziert sich die Charakterisierung des Außen nicht auf diesen Verweis. Vielmehr ist es eine multikulturelle Horde, der sich die Verteidiger der künftigen westlichen Zivilisation gegenübersehen. Es sind "Asias endless hordes" und "barbarians" (1:09:05), wie der Erzähler an einer anderen Stelle kommentiert, die visuell effektvoll und pittoresk in Szene gesetzt werden. Ihre ethnische Heterogenität wird durch unterschiedliche Phänotypen der Kämpfer markiert, ihre zivilisatorische Differenz durch groteskes Kriegsgerät und Kleidung. Gleichermaßen wirkt die Konfrontation der hypertrophen, heteronormativen Männlichkeit des Spartanerführers Leonidas (Abb. 6), nach dessen Bild auch die übrigen Kämpfer Spartas geformt sind, mit der androgynen Ausnahmeerscheinung des Xerxes (Abb. 7), die ikonographisch auf Stereotype genderqueerer Rollenbilder wie Fetischästhetik und Cross-Dressing rekurriert, im Dienste der Differenzmarkierung.63


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Abb. 6: Spartanerkönig Leonidas (Gerard Butler), Still aus 300 (0:57:13)


Abb. 7: Perserkönig Xerxes (Rodrigo Santoro), Gegenschuss zu Abb. 6, Still aus 300 (0:58:11)



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Es ist das Denormalisierungspotenzial jener Differenz als die eigentliche Gefahr für Griechenland, welches der Film bildästhetisch in Szene setzt. Die militärische Verteidigung der Zivilisation gegen diese Gefahr wird zum erzählerischen Kern des Films. Wie bei Raspail ist es eine kleine Gruppe von Widerständlern, die sich dem durch die Invasoren drohenden territorialen Souveränitätsverlust und dessen Folgen entgegenstellen. Dreihundert Spartaner trotzen dem Heer von Xerxes.

In 300 lassen sich alle zentralen Elemente des geopolitischen Topos vom Einfall der Barbaren ausmachen. Der zu verteidigende Raum wird als Hort der Zivilisation mit imperialen Zügen modelliert, der durch ein zivilisationsdifferentes Außen bedroht wird. Durch die Lokalisierung der Handlung in einer Grenztopographie erfährt das Szenario eine raumsemantische Konkretisierung. Die Bedrohung manifestiert sich in der versuchten Überschreitung der physischen Grenze. Parallel zur wachsenden medialen Präsenz des Terrorismus nach 9/11 lässt sich in der Erzählung eine Dimension beobachten, die im Beispiel Raspail weniger stark ausgeprägt ist: der gewaltsame Angriff aus dem Raum jenseits des Limes. Die Evokation der Quantität der einfallenden Barbaren – "endless hordes" – als zentrales Strukturmerkmal des Narrativs wird durch die spezifischen Visualisierungsmöglichkeiten digital generierter, virtueller Szenarien mit neuen Evidenzeffekten realisiert.64 So werden die angreifenden Kämpfer im Dienste der Perser wiederholt als anbrandende Menschenwelle in Szene gesetzt (Abb. 8).65


Abb. 8: Die anbrandende Woge der Perser, Still aus 300 (0:44:40)


Und schließlich fehlt ebenso wenig wie in Raspail und Ferguson der Verweis auf die innere Schwäche des Imperiums. Denn während die protofaschistisch organsierten Spartaner die einzigen unter Griechenlands Stämmen sind, die den Persern mannhaft entgegentreten, erscheinen die Athener, einem anderen Gründungsnarrativ folgend die Ahnherren der Demokratie, als dekadente, knabenliebende und schwächliche Feiglinge. Die Priestergemeinde der Ephoren, die als Orakel befragt werden, lässt sich von den Persern bestechen und kommt als eine durch Inzest geprägte Gemeinschaft degenerierter Kreaturen zur Darstellung. Die Abweichung von sexuellen und körperlichen, durch Sparta markierten Normen, wird in der erzählerischen Engführung zum Indikator für mangelnde Tugend und dekadente Moral.




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Insofern dieses Stigma Xerxes als "drag queen" (Schätz 2007), eine mit urbaner Liberalität assoziierte Figur, ebenso trifft wie die demokratischen Athener, zeichnen sich für 300 ähnlich reaktionäre Rezeptionsmöglichkeiten ab, wie für Raspails Le Camp des Saints. Der Film hat das Potenzial antiliberale und antidemokratische Ressentiments in affektgenierenden Handlungskonstellationen und Figurencharakterisierungen zu bestätigen. Während die Modellierung ethnischer und kultureller Differenz der 'Barbaren' geeignet ist, in der fiktionalen Echokammer Denormalisierungsängste angesichts von außen kommender Gefahren aufzunehmen, erfüllt die Evokation 'modernistischer Dekadenz' diese Funktion mit Blick auf innere Normalitätsstörungen.

Auch wenn die Kritik drauf hinweist, dass die "die grobschlächtigen Bubenphantasien von 300" (Schätz 2007) sich aufgrund ihrer Übertreibungsästhetik letztendlich von jeder eindeutigen Rückbindung an diese Subtexte distanzieren und nicht zuletzt der Regisseur selbst den Vorwurf einer intentionalen Zurichtung des Films in diesem Sinne zurückweist,66 bleibt zu konstatieren, dass Plotstruktur, Figurenkonstellationen und geopolitische Semantiken Rezeptionshaltungen ermöglichen, die mit politisch reaktionären Ideologemen konvergieren. Eine entsprechende Übertragung geopolitischer Semantiken der Fiktion auf vorgebliche gegenwärtige Konstellationen, in denen sich Europa einem Ansturm von außereuropäischen, vorzugsweise muslimischen Migranten, wenn nicht Terroristen, gegenübersieht, wird ohne weiteres realisiert. Das zeigt sich in der Wahl des Symbols, das die europaweit agierende, migrationsfeindliche Mouvance identitaire als Emblem auserkoren hat. Es ist der griechische Buchstabe Lambda, der die Schilde der spartanischen Hopliten in Zack Snyders popkulturellem Action-Spektakel ziert und durch dieses populär wurde (Abb. 4).67 Durch die Verweisstruktur des Symbols wird der geopolitische Topos 'Zivilisation vs. Barbaren' in der politischen Symbolik der neurechten Bewegung prominent platziert und erfährt nach den im Vorangehenden explizierten semiotischen Mechanismen eine entsprechende politisch-ideologische Aufladung.

Die Beschreibung aktueller geopolitischer Konstellationen unter Bezugnahme auf historische Szenarien der europäischen Antike, sei es in Form struktureller Analogiebildungen sei es in Form einer historischen Erzählung, ließe sich in einer Reihe weiterer Beispiele literarischer und filmischer Narrationen seit 1990 vertiefend untersuchen. So arbeitet etwa der 1990 international erfolgreiche britische Fernsehfilm The March eine ähnliche georäumliche Semantik heraus wie Rufin, um – ebenfalls wie Rufin – zu entsprechenden kritischen Schlüssen zu kommen.68 Ganz anders dagegen nimmt Michel Houellebecq in Soumission (2015) auf historische Konstellationen Bezug, um seine Dystopie zu modellieren, die im Frankreich einer nahen Zukunft spielt. Die im Verfall begriffene spätrömische Republik wird dort mit der französischen und europäischen Gegenwart verglichen, inklusive der politischen Folgeerscheinungen in Form einer autokratischen Herrschaft, welche die dekadente Zivilisation zu konsolidieren verspricht. Die zukünftige europäische Herrschaft, die der neue fiktive Präsident Frankreichs, der charismatische Führer einer muslimischen Migrantenpartei, plant, knüpft territorial und von der imperialen Idee her an das alte lateinische Mittelmeerreich unter Augustus an, allerdings nicht in Form einer okzidentalen translatio imperii sondern als islamisches Reich. Houellebecqs Erzählung fügt damit den geopolitischen Fiktionen um Reich und Barbaren eine weitere Variante hinzu, indem er die Situation nach erfolgreicher 'Invasion' als 'Reichsbildung durch die Barbaren' imaginiert.




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Inwiefern diese Beispiele und die vorangehend eingehender analysierten hinsichtlich ihrer geopolitischen Modellierungen als paradigmatisch für die Zeit ab etwa 1990 gelten können, müsste auf der Grundlage einer weiter gefassten Materialbasis abschließend geklärt und systematisiert werden. Ausgehend von den Befunden aus den exemplarischen Analysen kann allerdings schon eine Reihe von Hypothesen festgehalten werden.

In historischer Hinsicht taucht das Raummuster 'Zivilisation vs. Barbaren' und entsprechende Analogiebildungen, die in der Geschichte der Antike schöpfen, verstärkt mit dem Verschwinden des Ost-West-Antagonismus und der Etablierung neuer globaler Raumoppositionen auf. Es zirkuliert als Topos oder in Form topischer geosemantischer Versatzstücke intermedial und kann mit unterschiedlichen politischen Aussagen besetzt werden. In populären Kontexten wird es im Sinne migrationskritischer Positionen semantisiert.

Hinsichtlich ihrer persuasiven Kraft profitiert die Analogiebildung zwischen historischen und gegenwärtigen geopolitischen Konstellationen vom intermedialen Verweisnetz der verschiedenen medialen Manifestationen des historischen Narrativs in Text, Karte und Bild. Die Erzählung vermag v.a. durch affektive Ansprache des Publikums und bildliche Verfahren der Evidenzgenerierung Wirkung zu entfalten. Dabei wird deutlich, dass postfaktische Argumentationen im politischen Feld und deren Aufnahme in ästhetisch geformten Erzählungen durch diskursive und epistemische Kontexte determiniert sind.

Durch die Parallelisierung werden komplexe Prozesse im gegenwärtigen Migrationsgeschehen, die sich gerade nicht entlang von oder über territoriale Grenzen hinweg vollziehen, vereinfacht, indem sie auf geopolitische Sachverhalte reduziert werden. Die Topik läuft immer auf die einfache Figur eines zu verteidigenden Territoriums hinaus und bietet plausible, kommunizierbare Lösungsvorschläge wie die Kontrolle der Territorien durch harte Grenzpolitiken an. Dabei schafft die Territorialisierung über binäre Zugehörigkeitskonstruktionen ein transnationales 'wir' innerhalb der Grenzen des 'Limes', als dessen asymmetrisches Gegenüber ein zivilisatorisch inferiores 'Außen' figuriert.

Damit bestätigt der aufgezeigte Rückgriff auf den historischen Topos des 'Barbarenansturms' und die Aktivierung entsprechender geopolitischer Semantiken in diskursiver Hinsicht den Befund von Achille Mbembe zu gegenwärtigen globalen Tendenzen der Grenzpolitiken im Zeichen von neuen "politiques de l'inimitié": "Les frontières ne sont plus des lieux que l'on franchit, mais des lignes qui séparent." (Mbembe 2016: 10)




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Abbildungsnachweise

Abb. 1: Französische Schulwandkarte zur 'Völkerwanderung', Nathan Eduscope, 2006. Les invasions barbares, Carte Murale, Paris: Éditions Nathan, 2006.

Abb. 2: Der moderne Limes im Jahr 1991 nach Rufin. In: Rufin, Jean-Christophe (1991): L'Empire et les Nouveaux Barbares. Paris: Jean-Claude Lattès. 151.

Abb. 3: Karte zu den Migrationsrouten auf der Webpräsenz von FRONTEX 2017. In: http://frontex.europa.eu, 15.8.2017.

Abb. 4: Kampfszene, Still aus 300. (1:40:10). In: 300. Regie: Zack Snyder. USA (Warner Bros u.a.) 2006. Warner Home Video – DVD 2007.

Abb. 5: Gesandte des Perserkönigs Xerxes, Still aus 300. (0:07:29). In: wie Abb. 4.

Abb. 6: Spartanerkönig Leonidas (Gerard Butler), Still aus 300. (0:57:13). In: wie Abb. 4.

Abb. 7: Perserkönig Xerxes (Rodrigo Santoro), Still aus 300. (0:58:11). In: wie Abb. 4.

Abb. 8: Die anbrandende Woge der Perser, Still aus 300. (0:44:40). In: wie Abb. 4.


Quellen

Primärquellen Texte:

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Miller, Frank / Varley, Lynn (1999): 300. Oregon: Dark Horse Books.

Raspail, Jean (1973): Le Camp des Saints. Paris: Robert Laffont 2011.

Rufin, Jean-Christophe (1991): L'Empire et les Nouveaux Barbares. Paris: Jean-Claude Lattès 2001.




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Filme:

Snyder, Zack (2006). 300 USA (Warner Bros u.a.). Warner Home Video – DVD 2007.

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Anmerkungen

1 Vgl. u.a. Pohl (2014) und Borgolte (2006). Einen guten Überblick über die Positionen der Forschung zur 'Völkerwanderung' bietet Meier (2016). Umfassend informieren Wiedemann / Hofmann / Gehrke (2017).

2 Vgl. zur Rolle Gibbons und zur Wirkgeschichte des Narrativs im 19. Jahrhundert Berghahn / Kinzel (2015).

3 Zu diesem Schluss kommt Meier (2016: 3).

4 Die Fallstudien konzentrieren sich auf französisch- und englischsprachige Quellen und Kontexte. Allerdings geht die Untersuchung von einer Zirkulation der Topoi und Narrative unter gegenwärtigen medientechnischen Bedingungen aus, die sprachliche und nationale Grenzen überschreitet.

5 'Gouvernementalität' wird hier mit Michel Foucault als Begriff allgemeiner Machtanalytik verstanden und bezeichnet "unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremd-Führung umfassen." (Lemke 2001: 109)

6 D.h. solche, die nicht aufgrund ihrer Faktizität Wirkung entfalten, sondern weil sie beim Rezipienten durch affektive Ansprache einen bestimmten Deutungsrahmen aktivieren. Vgl. zur Rolle der Emotionen im politischen Diskurs u.a. Sara Ahmed (2004).

7 Das heißt zu Räumen, die von Individuen oder sozialen Gruppen vermittels symbolischer oder performativer Praktiken geschaffen werden, mit dem Ziel, Einfluss und Kontrolle über Menschen, Dinge und Beziehungen auszuüben. Durch Signaturen erfahren die Räume im Prozess der Territorialisierung Bedeutungszuschreibungen und Begrenzungen mit der Funktion, sie als einer Gruppe zugehörig zu markieren. Vgl. zu diesem Territoriumsbegriff Delaney (2005: 10–16).

8 Also solche, die georäumliche Territorien betreffen. Das schillernde Konzept der 'Geopolitik' wird weiter unten eingehender besprochen ebenso wie der theoretische Zugriff auf den Gegenstand unter dem Schlagwort der 'kritischen Geopolitik'.

9 Interview von Patrick Cohen mit Marine Le Pen in der Sendung L'invité de 8h30auf France Inter, 15.9.2015 (https://www.franceinter.fr/emissions/l-invite/l-invite-15-septembre-2015, 15.8.2017), Transkription 3'51-4'14: Torsten König.

10 Le Pen selbst äußerte sie wiederholt. Alexander Gauland bemühte den historischen Vergleich ebenso wie der ehemalige tschechische Präsident Václav Klaus oder Victor Orbán, um nur einige weitere Beispiele zu nennen.

11 Rhetorik wird hier mit Joachim Knape (2000: 172) begriffen als strategische Kommunikation mit dem Ziel der Beeinflussung von Bewusstsein, Verhalten oder Handlungen von Personen oder Gruppen. Dieser Rhetorikbegriff, verstanden als Persuasionstheorie, zeichnet sich u.a. durch eine Erweiterung des medialen Horizontes im Vergleich zur klassischen Rhetorik aus. Nicht nur das Inventar sprachlicher Instrumente rückt in den Blick, sondern auch Bildmedien, Körpersprache etc. "Alles, was sich persuasiv instrumentieren lässt, kommt in Betracht." (173)

12 Vgl. zu kognitiven Frames, verstanden als Deutungsrahmen, die durch je individuelle oder gruppenspezifische "körperliche Erfahrungen", "abgespeichertes Wissen über die Welt" und damit durch nichtsprachliche Faktoren wie "Bewegungen, Geräusche, Gerüche, Emotionen, Bilder und vieles mehr" determiniert sind und über die Bewertung von Fakten als relevant oder irrelevant entscheiden Wehling (2016: 17–41, hier 17, 41).




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13 Michel Foucault entwickelt das Konzept des ''régime de vérité' zunächst in einem kleineren Beitrag, "La fonction politique de l'intellectuel", im Jahr 1976: "Chaque société a son régime de vérité [...]: c'est-à-dire les types de discours qu'elle accueille et fait fonctionner comme vrais; les mécanismes et les instances qui permettent de distinguer les énoncés vrais ou faux, la manière dont on sanctionne les uns et les autres [...]. La 'vérité' est liée circulairement à des systèmes de pouvoir qui la produisent et la soutiennent, et à des effets de pouvoir qu'elle induit et qui la reconduisent. 'Régime' de la vérité." (Foucault 1976: 112–114) In seinen Vorlesungen 1979–1980 am Collège de France vertieft er die Überlegungen zum régime de vérité: Michel Foucault (2012), Du gouvernement des vivants: Cours au Collège de France (1979–1980), Paris; Michel Foucault (2014), Subjectivité et vérité: Cours au Collège de France (1980–1981), Paris.

14 Ludwig Jäger schlägt die "semantische Evidenz" als Beschreibungskategorie für bestimmte epistemische Rahmungen vor. Es handele sich um "jenen Modus der unmittelbaren Geltung von Sinn, durch den der Inhalt, der in Zeichen/Medien zum Ausdruck gebracht wird, in seiner Wahrheit, seiner Glaubwürdigkeit oder seiner Authentizität den an der Kommunikation Beteiligten so vertraut und unanfechtbar erscheint, dass es ihnen konsensuell nicht in den Sinn kommt, ihn in irgendeiner Form zu thematisieren oder zu bezweifeln." (Jäger 2015: 46)

15 Fergusons Statement wurde gleichwohl von Fachkollegen wie Mark Humphries oder Guy Halsall vehement kritisiert. Dass seine Einlassungen kein Einzelfall sind, zeigt das gesteigerte Interesse, das dem historischen Thema der 'Völkerwanderung' seit 2015 im Feuilleton beigemessen wird. Wiederholt meldeten sich Historiker zu Wort, die teils auf die Abwegigkeit der Parallelisierung verweisen, wie Michael Borgolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 5.11.2015, teils aber auch durchaus eine Vergleichbarkeit mit entsprechenden Konklusionen betonen, wie der Althistoriker Alexander Demandt in der Welt am 11.9.2015.

16 Geographische Karten bzw. Geschichtskarten werden in der Kartosemiotik einerseits als Bilder behandelt, deren Elemente als Zusammenspiel von Formen, Farben, Symbolen etc. wahrgenommen, gedeutet und abgespeichert werden. Daher können für deren Analyse Theorien der Bildinterpretation wie etwa die ikonographisch-ikonologische Methode von Erwin Panofsky herangezogen werden. Andererseits gilt die Karte aufgrund ihrer spezifischen Verbindung von Text und Bildelementen auch als Gegenstand einer sequenziellen Lektüre. Vgl. zu den Grundlagen der Kartosemiotik – Raumbezug, Modellbildung, Visualisierungstechniken – übersichtshalber Nöth (2007), umfassend das Standardwerk von Hake / Grünreich / Meng (2002). Einen guten Überblick über die Semiotik der Geschichtskarte bietet Renz (2014: 67–77), zur Karte als Bild (ebd.: 80).

17 Vgl. zur Ikonographie der Pfeilsignaturen und historischer Geopolitik u.a. Boria (2012: 92–98).

18 Vgl. zur kartographischen Semantik von Wanderungsnarrativen in der Historiographie der Frühgeschichte und der Spätantike im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch Grunwald (2017).

19 Das Konzept der 'geographischen Imagination', im Englischen 'geographical imagination', steht in der kritischen Humangeographie für einen Ansatz, der mit Peirce davon ausgeht, dass alle zeichenhaften Verhandlungen geographischer Sachverhalte als triadisches System aufzufassen sind, d.h. die Bedeutung der Zeichen ist als mentale Repräsentation beschreibbar, während der Referent als Realgeographie von nachgeordneter Bedeutung erscheint. (Nöth 2007: 44–48) Der Ansatz geht auf die Arbeiten von Hugh Prince, David Harvey und Derek Gregory zurück. Die Humangeographen fragen mit ihm nach dem Zusammenhang zwischen der sozialen Konstruktion von geographischem Wissen und damit verbundenen machtpolitischen Optionen sozialer Akteure oder Gruppen. "Theoretical and applied uses of the term address how power and knowledge are deployed in and upon space on behalf of social justice.", heißt es in einer Überblicksdarstellung zu dem Ansatz. (Gieseking 2017: 1) Derek Gregory definiert das Konzept als "the complex of culturally and historically situated geographical knowledge and understanding that characterizes a certain social group." (Gregory 2005: 388)




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20 Frames, verstanden als Grundierung oder Rahmung sozialer Kommunikations- und Verstehensprozesse in Form von konventionalisierten Diskursen, Bildhaushalten, emotionalen Settings, Normen etc., die gruppenspezifische Kognitionsprozesse determinieren bzw. erst ermöglichen, sind in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung gewesen. Vgl. zum '>framingals Theorieparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften Matthes (2014: 9–23), zum 'framing kartographischer Imagination und dessen Rolle in politischen und gesellschaftlichen Kontexten Debarbieux / Giraut / Sohier / Staszak (2012).

21 Die relative Ähnlichkeit des Kartenbildes von Europa und vom Römischen Reich unterstützt als tertium comparationis den Vergleich, ist allerdings kein notwendiger Grund für seine Realisierung. Mit entsprechenden Modifikationen wird die imaginative Geographie der 'Völkerwanderung' auch als Comparandum für die Beschreibung der Situation der USA oder, weiter gefasst, des Westens allgemein herangezogen.

22 Zu Ursachen und Dynamiken moderner Migration vgl. u.a. Hanlon / Vicino (2014: 1–24).

23 Der Begriff der 'Zugehörigkeitskonstruktion' bezieht sich in den Sozialwissenschaften auf die subjektive Selbstverortung von Individuen in sozialen und kulturellen Kontexten. Dabei geht es nicht um die effektive Mitgliedschaft in Gemeinschaften, sondern um "subjektiv erwünschte und anerkannte, individuelle und kollektive Formen des Fühlens und Handelns" (Strasser 2009: 31 f.), mit denen sich der Einzelne identifiziert.

24 Jean-Christophe Rufin (1991): L'Empire et les Nouveaux Barbares. Paris: Jean-Claude Lattès. Informationen zu Rufin unter: http://www.academie-francaise.fr-/les-immortels/jean-christophe-rufin.

25 "Le front", heißt es bei Rufin, "ne naît qu'au point de friction, de contact, entre deux masses. Le limes, lui, définit une masse isolée, il la contient et l'identifie par rapport à ce qui l'entoure et qui en est la négation." (146)

26 Es handelt sich also in den Kategorien politischer Grenztheorie um eine frontier, eine ausgedehnte Grenzzone mit teilweise unscharfen Rändern und nicht um eine boundary, eine klare Grenzlinie.

27 Eine kritische Erörterung der Konzepte 'globaler Süden' und 'globaler Norden' inklusive Anmerkungen zur Genese findet sich in (Eriksen 2015).

28 Auch wenn Rufin den Begriff 'Biopolitik' nicht verwendet, stehen im Fokus seiner Aufmerksamkeit Praktiken und Diskurse, die das natürliche Leben und die physische Existenz menschlicher Individuen und Gruppen zum zentralen Ziel politischen Kalküls machen. Vgl. zur Definition des Begriffes 'Biopolitik' in Kulturtheorie und politischer Philosophie und zu seinen Ursprüngen bei Michel Foucault, Giorgio Agamben oder Michael Hardt: Folkers / Lemke (2014), zur Diskussion des Konzeptes in der aktuellen Politikwissenschaft Pieper u.a. (2011).

29 Rufin widmet ein ganzes Kapitel der Bevölkerungspolitik, ein weiteres der globalen Apartheit.

30 Die erste Skizze Huntingtons zu den konkurrierenden Kulturräumen erscheint 1993 in der Zeitschrift Foreign affairs. Größere Aufmerksamkeit erzielt er mit dem Ausbau der These in der gleichnamigen Monografie 1996 (Huntington 1996).

31 Das geopolitische Paradigma prägte politisches Handeln auf internationaler Ebene von etwa 1900 bis 1945 wesentlich. Auch wenn der 'Kalte Krieg' von Anbeginn durch geopolitische Motivationen geprägt war, ist ein expliziter geopolitischer Diskurs, der von Theorien gestützt wird und an die Tradition anknüpft, in der Nachkriegszeit nicht auszumachen. Leslie Hepple spricht schon 1986 von einem "Revival of Geopolitics" (Hepple 1986). Vgl. zur Geschichte der Geopolitik und ihrer Renaissance überblicksweise Osterhammel (1998), vertiefend Lorot (1995) und Werber (2014).




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32 Ó Tuathail (2006: 1). Von einer "Schule" der kritischen Geopolitik, zu der neben Ó Tuathail u.a. Simon Dalby, John Agnew oder Jason Dittmer gezählt werden, sprechen u.a. Glasze / Mattissek (2009: 36). Eine umfassende Darstellung des Ansatzes liefert Redepenning (2006).

33 Die Pertinenz von Rufins Thesen, sei es mit Blick auf den historischen Moment ihres Erscheinens, sei es mit Blick auf nachfolgende Entwicklungen bis heute, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Insbesondere der Verlauf des 'Limes' bedürfte aus heutiger Sicht sicher einer differenzierteren Beschreibung. Während die Entwicklungen in Asien oder auch in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion den Grenzverläufen bei Rufin widersprechen, zeigt sich der Limes an anderen Stellen wie zwischen Mexiko und den USA oder im Mittelmeer von einer unhintergehbaren physischen Realität.

34 Vgl. Hardt / Negri (2000) und Brzezinski (1997). Zahlreich sind auch die Beiträge aus historischer Perspektive, die das Thema 'Imperium' diachron behandeln, um über Befunde aus der Geschichte zur Befragung der Gegenwart zu kommen, vgl. dazu etwa Burbank / Cooper (2010) und Münkler (2005).

35 Die Erstausgabe erscheint bei Robert Laffont, Paris 1973, um Vorworte des Autors erweiterte Neuauflagen 2002 und 2011. Trotz seiner Notorietät ist es schwierig, jenseits des Feuilletons kritische Fachliteratur zu dem 1925 geborenen Jean Raspail zu finden. Vgl. zu dem sich selbst hinsichtlich seiner politischen Überzeugungen als "royaliste" und "ultraréactionnaire" bezeichnende Raspail (Dupuis 2011) und zu Le Camp des Saints aus kritischer, literaturwissenschaftlicher Sicht Moura (1988) und Moura (1992: 258–159).

36 Die 1970er Jahre waren in Frankreich durch eine zunehmend restriktive Migrationspolitik gekennzeichnet. Insgesamt erhöht sich die absolute Zahl der Immigranten im Vergleich zu den 60er Jahren nur unwesentlich und bleibt bis nach 2000 relativ konstant. Vgl. zur Migrationspolitik in Frankreich Weil (2005), zu den 1970er Jahren ebd.: 101–143.

37 Die Ölkrise 1973 schien die Prognosen der Ressourcenskeptiker zu bestätigen. Die kritische Literatur zum westlichen Neo-Malthusianismus der Nachkriegszeit ist mittlerweile sehr umfangreich. Vgl. zum Überblick über die Thematik und zum Einfluss der genannten Studien sowie zu ihren Vorläufern Desrochers / Hoffbauer (2009).

38 Auf den Zusammenhang zwischen neo-malthusianischen Theorien und Raspails Roman verweist auch Moura (1988: 119).

39 Vgl. zur Modellierung dieser Attribute z.B. Kapitel 3, in dem der Erzähler die Gedanken von Professor Calguès, einem der Protagonisten der Erzählung, während eines einsamen Abendessens schildert Raspail (1973: 53–58).

40 Die Logik der Erzählung macht das fiktionale Frankreich als Synekdoche lesbar, die für die gesamte westliche Welt steht. Stellenweise wird die Ersetzung auch ausgesprochen, vgl. z.B. Raspail (1973: 81–83).

41 'L'opposition entre espace civilisé (Occident et surtout France) et forces barbares (venues de l'Inde) est absolue. [...] Trois traits fondamentaux composent l'intrigue: les figures du bonheur et de l'ordre occidentaux, les figures de la barbarie venue du tiers monde, la destruction de l'ordre occidental consécutive à la migration." (Moura 1988: 117–118)

42 Während die etablierte Literaturkritik den Roman nach seinem Erscheinen weitestgehend ignorierte, waren es Stimmen wie die von Jean Cau oder Thierry Maulnier, die ihn mit lobenden bis begeisterten Rezensionen bedachten. Zur Rezeption des Romans vgl. Moura (1988: 116–117), zur Konvergenz von Raspail und den Ideologemen von neurechten Vordenkern wie Alain de Benoist ebd.: 119–120.




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43 Huntington zitiert ihn als Beleg für "a significant strand of demographic pessimism", der die französische Erfahrung mit der "migrant tide" präge (Huntington 1996: 203), Ronald Reagan soll von ihm ebenso beeindruckt gewesen sein wie François Mitterrand (Dupuis 2011).

44 Vgl. zur Entwicklung der Verkaufszahlen Dupuis (2011).

45 Raspails Roman erscheint 2015 in einer deutschen Neuübersetzung im Antaios-Verlag, der von Wissenschaftlern als neurechte Publikationsplattform eingestuft wird (vgl. u.a. Weiß 2016). Zu Bannon vgl. Blumenthal (2017). In Frankreich empfiehlt u.a. Marine Le Pen die Erzählung nachdrücklich zur Lektüre, um über sie die Gegenwart zu begreifen vgl. Albertini (2015).

46 Das Konzept der 'Kolonialität'wurde von Aníbal Quijano etabliert und beschreibt die Tradierung von kolonialem Wissen und kolonialen Vorstellungen sowie ihre gesellschaftliche Virulenz weit über die historische Kolonialzeit hinaus. Vgl. dazu zusammenfassend Mignolo (2012: 58–96).

47 Vgl. dazu u.a. das Kapitel "Le colonialisme comme mission européenne" in Costantini (2006: 130–158).

48 Schon im Moment seines Erscheinens haben Kritiker wie Louis Pauwels oder Jacques Benoist-Méchin dem Roman prophetische Eigenschaften attestiert (vgl. Moura 1988: 116). Das irrationale Prophetieprädikat wird der Erzählung besonders gern nach 2011 gegeben, u.a. von affirmativ urteilenden Vertretern des deutschen Feuilletons wie Michael Klonovsky oder Jürg Altwegg.

49 Ebenso verfährt Huntington, der Raspail in einem Atemzug mit dem Demographen Jean-Claude Chesnais zitiert, um den "demographic pessimism" der Franzosen zu belegen (Huntington 1996: 203). Die Kontiguität ist geeignet, den prätendierten Fiktionalitätsstatus des Textes zu ändern.

50 Der auf Roland Barthes zurückgehende Begriff der 'Echokammer' – 'chambre d'echos' im französischen Original (Roland Barthes par Roland Barthes, 1975) – wird in der Kommunikations- und Medienwissenschaft verwendet, um die selbstreferentiellen Verstärkungseffekte in Medien, insbesondere den sozialen Medien zu beschreiben. Die Aufmerksamkeit, die medialen Ereignissen durch andere Medien entgegen gebracht wird, erzeugt eine exponentiell gesteigerte Präsenz des Ereignisses in sozialen Kommunikationsräumen.

51 Vgl. zur kartosemiotischen Modellierung von Quantitäten durch unterschiedliche Signaturengrößen Hake / Grünreich / Meng (2002: 128).

52 Vgl. z.B. den Blick des Erzählers auf die anlandenden Schiffe: "On ne voyait plus les bateaux non plus. Leurs flancs grouillaient comme une coupe dans une fourmilière. Par tous les filins qu'on avait pu trouver à bord, par des échelles de corde, des coupées vermoulues, des filets à palanquée tendus le long des coques, la foule glissait jusqu'à l'eau. Une cascade de corps dont le mouvement ininterrompu paraissait liquide. Les bateaux se vidaient de toute part comme une baignoire qui déborde. Le tiers monde dégoulinait et l'Occident lui servait d'égout." (Raspail 1973: 333) Zahlreich sind Metaphern mit denen die Migrantengruppe als Menschenmasse dargestellt wird, in der keine Individuen identifizierbar sind: emporgereckte Arme dicht und unzählbar wie die Bäume eines Waldes (41), "la cascade des corps" (333) etc.

53 Zur Denormalisierungsangst bei Link (1997, u.a. 248‒258). Vgl. zum Zusammenhang von Migration, Denormalisierung und Angst Knobloch (2013). "Die Angst, die durch Demographie und Migration medial mobilisiert werden kann,", heißt es dort, "ist das Gegenstück des massendemokratischen Sicherheitsversprechens, sie ist in der Hauptsache Angst vor Status- und Sicherheitsverlusten." (ebd.: 352)




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54 Vgl. dazu u.a Weiß (2017: 19‒22).

55 Der Film ist eine Co-Produktion von Warner Bros, Legendary Pictures, Atmosphere Entertainment MM, Virtual Studios und Hollywood Gang Productions. Premiere war beim Austin Butt-Numb-A-Thon Festival am 9.12.2006, am 9.3.2007 wurde er auf der Berlinale außer Konkurrenz gezeigt. Offizieller Filmstart war in den USA der 14.2.2007, weltweit, u.a. in Deutschland, in den Folgemonaten. (vgl. Internet Movie Database, http://www.imdb.com, 15.8.2017)

56 Vgl. Miller / Varley (1999). Zum Verhältnis von Filmhandlung, graphic novel und historischem Stoff vgl. Murray (2007).

57 Vgl. zu den Zahlen: http://www.boxofficemojo.com, 15.8.2017.

58 U.a. Gladiator, USA 2000, Regie Ridley Scott; Troja, USA 2004, Regie: Wolfgang Petersen; Alexander, USA 2004, Regie Oliver Stone.

59 Vgl. hierzu Herwig (2010: 66). Wie die "Überzeichnung heterosexueller, aggressivmaskuliner Normen insbesondere bei der Darstellung der Spartaner-Riege" (ebd.) als Rezeptionslenkung und hinsichtlich der Rezeptionspotenziale zu bewerten ist, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Herwig räumt ein, dass diese Art von Übertreibung durchaus kritische Funktionen haben kann, insofern sie auf die "Konstruiertheit heteronormativer Sexualität verweisen kann." (ebd.) Andere Kritiker sehen die Darstellungen dagegen durch eine ungebrochen faschistoide Ästhetik determiniert (vgl. Moore 2007). Vgl. zur Körperlichkeit bei Snyder auch Turner (2009).

60 Vgl. dazu Schätz (2007): "Auch von der klassischen Zeit- und Erzähllogik des Spielfilms hat sich 300 weitestgehend verabschiedet: Zwischen exzessiven Zeitlupenaufnahmen vom Perserprügeln und der stur seriellen Aufeinanderfolge von Schlacht zu Schlacht wird kaum mehr im engeren Sinne gehandelt. Nicht mehr Comic und noch nicht Videospiel, sieht 300 aus wie das hybride missing link einer Verwertungskette."

61 Zusammenfassung der Diskussion in Murray (2007: 12). Nach dieser allegorischen Leseweise repräsentierten die Spartaner in einer extremen Verzerrung tatsächlicher Machtverhältnisse die westlichen Militärallianzen gegen die "Achse des Bösen" in Form einer zwar zahlenmäßig unterlegenen aber unbeugsamen, heroischen Kämpfergruppe. Nicht minder widersprüchlich aber möglich wäre es nach dieser Logik dagegen auch, in den Persern eine Allegorie des degenerierten, übergriffigen westlichen Imperiums zu sehen. Vgl. zur Kritik Murray (2007: 12) und Schätz (2007).

62 Zur Konnotierung Griechenlands als Raum der Zivilisation durch traditionelle Attribute trägt neben der Zuschreibung von "Vernunft" und "Recht" eine Reihe von weiteren, ikonographisch besetzten Elementen bei. Zu diesen gehören u.a. die Kornfelder, also kultiviertes Land, die den Hintergrund für viele Szenen bilden, in denen Leonidas in Kreis seiner Familie zu sehen ist. Sie stehen in auffälligem Kontrast zur wüsten Landschaft, in denen die Kampfhandlungen spielen.

63 Die Differenzmarkierung durch normabweichende Körper ist in 300 ein zentrales Mittel, um den Antagonismus von Zivilisation und Barbarentum zu modellieren. Kämpfer mit grotesken Hörnerhelmen, andere auffällig geschminkt oder mit in die Arme integrierten Hiebwaffen auf Seiten der Perser fallen in diese Kategorie ebenso wie das Hofpersonal von Xerxes: "Nicht eindeutige, abweichende Körper sind unmittelbar 'verdächtige' Körper – auch 300 verwendet diese simple Strategie zur Kennzeichnung suspekter Charaktere und bevölkert etwa das Harem des Perserkönigs mit armlosen, brustlosen, wie Transvestiten geschminkten Personen, mit ziegenköpfigen Musikanten oder entstellten Lesbierinnen in lethargischer Umarmung." (Herwig 2010: 65)

64 Zum Konzept der 'visuellen Evidenz', mit dem gegenwärtig die epistemische und rhetorische (d.h. persuasive) Funktion von ikonischen, aufgrund bildhafter Ähnlichkeit wirkenden Zeichen diskutiert wird, vgl. Boehm (2010), zum Stand der gegenwärtigen Diskussion kritisch Geimer (2015).




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65 "Allein der erste Anblick des Perserheeres ist Furcht einflößend: Wie ein kollektiver Körper bedeckt es den Landstrich jenseits der Thermopylen." (Herwig 2010: 72)

66 Snyder in einem Interview mit der Zeitschrift 'Comic Book Resources im Jahr 2007: "When I see someone use words like 'neocon[servative]', 'homophobic', 'homoerotic' or 'racist' in their review [of 300], I kind of just think they don't get the film and don't understand. It's a graphic novel film about a bunch of guys that are stomping the snot out of each other. As soon as you start to frame it like that, it becomes clear that you've missed the point entirely." (Murray 2007: 12) Gleichwohl diskutiert die Kritik, inwiefern Autor Frank Miller und Zack Snyder zur Genese eines "cryptofascist Hollywood" beigetragen haben (Moody 2011).

67 Dass die popkulturelle Geschichtserzählung und nicht historiographische Quellen der Ursprung der politischen Symbolik ist, wird an der Übereinstimmung der spezifischen Ikonographie bzw. Typographie des Zeichens deutlich. Zu den popkulturellen Anleihen der Mouvance Identitaire als systematischer Öffentlichkeitsstrategie vgl. Weiß (2017: 106–112).

68 The March nach einem Drehbuch von William Nicholson und unter Regie von David Wheatley lief 1990 in mehreren europäischen Sendeanstalten. Die Geschichte spielt in einer unbestimmten Zukunft. Vom Elend getrieben bricht eine Gruppe von Geflüchteten aus dem Sudan, geführt von dem charismatischen Isa El-Mahdi, zu Fuß nach Europa auf. Auf dem Weg über Libyen, Algerien und Marokko wächst der Zug auf mehrere hunderttausend Menschen an. Gleichzeitig wächst das mediale Interesse und die Aufmerksamkeit in Europa.