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Mingchao Mao (Berlin)



Friederike Krippner (2017): Spielräume der Alten Welt. Die Pluralität des Altertums in Dramentheorie, Theaterpraxis und Dramatik (1790–1870). (Transformationen der Antike 40). Berlin / Boston: De Gruyter.


Mit der vorliegenden Dissertation der Berliner Germanistin Friederike Krippner wird jenes überaus erfolgreiche Sonderforschungsprojekt zur Transformationen der Antike, welches seit mehreren Jahren eine rege Rolle in der Forschungslandschaft spielt, weiter fortgesetzt. Die interdisziplinär angelegte Studie über die Pluralisierung der Altertumskulturen hinsichtlich der literarischen Gattung "Drama", deren theoretischer Fundierung sowie theatralischer Realisation ordnet sich ein in das Teilprojekt Konkurrenz der Altertümer. Deutschlands Antikentektonik in der Epoche der Historisierung und versucht selber, den konventionell auf Schriftlichkeit fokussierten Forschungsblick ihrerseits zu erweitern, zu vervielfachen, ja zu "pluralisieren". Ausgehend von den lexikalischen Definitionsangeboten über die "Altertümer" wird der Leser, ohne von dem in dieser Zunft manchmal unausweichlichen Wissenschaftsjargon ermüdet zu werden, über die zeitgenössischen Gattungsdiskurse, die Bühnenausstattungs- und Kostümpraxis sowie insbesondere über den poetologischen Stellenwert der Altertümer in der Dramatik Friedrich Hebbels informiert. Abermals stellt sich die Autorin, da sie bereits einen Sammelband zum Thema Das Geschlecht der Antike mitherausgegeben hat (Heinze/Krippner 2014), als Kennerin der literarischen Antikenrezeption unter Beweis.




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Eingeleitet wird diese Studie von der Übersicht enzyklopädischer Einträge zum Begriff "Altertum". Um die Jahrhundertwende 1800, so die These, sei die semantische Vervielfältigung des ursprünglich geschlossenen Altertumskonzepts besonders sichtbar. Die Normativität der griechisch-römischen als klassischen Antike impliziert die Konkurrenz der anderen, nicht klassischen Altertumskulturen, die dank archäologischer Funde stets an Bedeutung gewinnen. Dies führt zu jenem Ausdifferenzierungsprozess, der von Krippner passend als "Wende von einem synthetischen zu einem pluralen Altertumsbegriff" (22) bezeichnet wird. Wichtig hierbei ist, wie Krippner auch anmerkt, die Verflechtung verschiedener Diskurse in Bezug auf die Pluralisierung der Altertümer (30): Insbesondere das Nationale und eine durch Sprach- und Mythenforschung herauskristallisierte nationale Altertumskultur wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgehoben. Dabei ist eine deutliche Aufwertung von Persien und Indien, die maßgeblich den Brüdern Schlegel zu verdanken ist, zu beobachten. Die von Friedrich Schlegel postulierte Wesensaffinität der Deutschen mit Persern führe dazu, dass das Studium des persischen und indischen Altertums als "Äquivalent zum Studium der Antike im Humanismus" gelte (35). Diese Konstellation hat Krippner anhand von Schlegels Schrift Über die Sprache und Weisheit der Inder gut beschrieben.

Sodann wendet sich die Untersuchung dem Stellenwert der nun pluralen Altertümer im gattungstheoretischen Diskurs der Zeit zu. Der zentrale Bezugspunkt ist die Ästhetik Hegels. Vor allem konstatiert Krippner die Analogie der Dramatik mit der Weltgeschichte in Hegels philosophischer Poetik, nach der die teleologische Selbstrealisierung des Weltgeists mit der Thematik der dramatischen Kunst und der Entwicklung der Gattung korrespondiert (48, 52). Das Drama der konkurrierenden Altertümer diene als Medium der Veranschaulichung des welthistorischen Verlaufs in nuce. Jedoch habe Hegel erkannt, dass das Model der Analogie von Geschichtsprozess und Dramenstruktur angesichts der zunehmenden Subjektivierung der modernen Dramatik brüchig wird: Das vom partikularen Interesse dominierte Individuum vermöge nicht mehr stellvertretend für eine welthistorische Epoche zu stehen (56). Kunstvoll wird schon auf das Hebbel-Kapitel angedeutet, indem gezeigt wird, dass die Altertumsdramatik einer vielschichtigen Motivierung bedarf, um den Verlust des welthistorischen Potentials zu kompensieren.

Während Hegel in seiner theoretischen Überlegung vornehmlich die attischen Tragödien im Blick behält, mischen sich mit Herders Übersetzung des altindischen Trauerspiels Sakuntala (veröffentlicht 1792) die anderen Altertümer in den Gattungsdiskurs ein. Anhand von Sakuntala überprüft und widerlegt Herder den Anspruch der aristotelischen Poetik der Einheitslehre auf Allgemeingültigkeit und bekräftigt seine These von der Historizität der literarischen Gattung (74). Der Einsatz des Wunderbaren sowie der epische Charakter des altindischen Dramas seien – insbesondere bei August Wilhelm Schlegel – bewusst als "Opposition zum attischen Drama" verstanden, sodass Sakuntala wie Shakespeare zum entscheidenden Vorläufer der romantischen Dramatik avanciere (85).




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Nicht nur auf gattungstheoretische Überlegungen, sondern auch auf Bühnen- und Kostümpraxis nimmt der Diskurs der pluralen Altertümer Bezug. Anhand zahlreicher Bildmaterialien argumentiert Krippner überzeugend, dass die neue theatrale Ausstattungsstrategie "sich maßgeblich in der Auseinandersetzung mit der Antike und […] den anderen Altertumskulturen entwickelt hat." (93) Dennoch wird in diesem bühnenpraktischen Zusammenhang jener Konflikt zwischen Historizität und Idealität der Antike, sei es klassisch oder nicht, ebenfalls evident. Die polychrome Gestaltung der Antike sowie verfremdende, weil der historischen Überlieferung treu nachgebildete Kostüme der orientalischen Figuren stießen nicht selten auf Abneigung und Kritik der Zeitgenossen (139). Sehr aufschlussreich ist Krippners Feststellung von einer Ästhetik der theatralischen Musealität (141), welcher der Intendant der Berliner Königlichen Schauspiele Karl von Brühl besonders verpflichtet war. Das Theater dient nicht zuletzt auch "wissenschaftliche[r] und kulturhistorische[r] Bildung" (143), indem durch Altertumsdramatik historisches Wissen anschaulich vermittelt werden könne.

Einen großen Sprung nun wagt die Autorin, sich nach diesem interdisziplinären Exkurs wieder der Textinterpretation anzunähern. Zunächst soll die Dynamik der heterogenen Altertümer am Beispiel der Konjunktur von Alexanderdramen im 19. Jahrhundert erhellt werden. Kraft Gegenüberstellung verschiedener dramatischer Bearbeitungen desselben Stoffs wird die konzeptionelle Verschiebung deutlich: Während in den 1820er Jahren der dramatische Akzent auf der Antithese der konkurrierenden (im Falle von Alexanderdramen der griechischen mit der persischen) Altertumskulturen liegt (170), wird Alexander in den späten 1860er Jahren zur Figur der Synthese stilisiert. Alexander sei unter anderem auch darum bemüht, "die verschiedenen Altertumskulturen in einem Reich aufgehen zu lassen." (177) Allerdings unterlässt Krippner, diese neue Figuration mit dem offenkundigen zeitgeschichtlichen Hintergrund der Einigung Deutschlands in Zusammenhang zu bringen. Wenn am Ende des Alexandros von Georg Conrad (Erstveröffentlichung 1868) sich "Griechen, Perser, Inder, Aegypter, Juden, Priester aller Religionen" vereinigt im "Thronsaal zu Babylon" versammeln (184), so kann selbst der Tod des Titelhelden nicht über die Inszenierung und Vorwegnahme der sich anbahnenden deutschen Einigung hinwegtäuschen.

Der umfangreichste Teil – fast ein Drittel der Dissertation – ist der Analyse der Hebbelschen Dramen gewidmet. Charakteristisch für ihn sei die "regelmäßige Konfrontation mehrerer Altertümer miteinander", sodass man von einer regelrechten "Altertumsdramatik" sprechen könne (187).




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Krippner geht von der in der Hebbel-Forschung dominanten These des ästhetischen Formalismus1 aus und wertet sein Festhalten am antiken Stoff als Kritik gegen die "Dekontextualisierung" der zeitgenössischen Geschichtsdramatik auf (208). Dabei hebt Krippner den Begriff der "Atmosphäre" (200), also die Einbettung des tragischen Konflikts in eine konkrete historische Umwelt, besonders hervor. So solle, um mit Hebbel selber zu sprechen, die dramatische Kunst zur "höchsten Geschichtsschreibung" werden, indem sie die "Atmosphäre der Zeiten mit zur Anschauung" bringe (Hebbel 1965: 547).

Hebbels Poetik der Altertümer versucht Krippner anhand zweier Tragödien, nämlich Herodes und Mariamne und Gyges und sein Ring, zu verdeutlichen. Im Falle von Herodes und Mariamne nimmt Krippner vor allem den doppelten Schluss unter die Lupe und bezeichnet – gegen die "hegelianische" Lesart, die das Drama als Vergegenwärtigung des eigentlichen Geschichtsverlaufs mit dem aufkommenden Christentum interpretiert – den Auftritt der drei Könige als "skeptisch-ironische[n] Kommentar zur Tragweite des idealistischen Geschichtsmodells", weil ihm eine überzeugende Motivierung fehle (250). Gyges und sein Ring wird auf der anderen Seite als Zusammenstoß der verschiedenen Altertumskulturen betrachtet, da die Figuren und ihre Handlungen, vor allem die halbindische Königin Rhodope, "maßgeblich über die ihnen zugeordneten Altertümer und deren Bedeutungshorizonte determiniert" seien (275). In beiden Dramen, aber auch in seiner Judith wird die Altertumsdramatik aufs engste mit anderen Thematiken verflochten. Der Ehetragödie von Herodes und Mariamne werde beispielsweise die Verdinglichungsproblematik am Beispiel der Mensch-Uhr Artaxerxes (230) hinzugestellt. Der Konflikt der Altertümer in Gyges und Judith sei andererseits an die "Geschlechtspolarität" gekoppelt (278).

Die an sich durchaus zutreffende Feststellung von Überlagerung verschiedener Problemhorizonte in Hebbels Altertumsdramatik verrät jedoch die argumentative Weichenstelle der vorliegenden Untersuchung. Bedeutet der Zusammenschluss von weiteren, zusätzlichen Konfliktstrukturen etwa nicht, dass die Konfrontation der Altertümer allein keine wirkmächtige Tragik begründen könnte? Impliziert der Begriff der Atmosphäre nicht ferner, dass die Thematisierung der Altertümer das Wesentliche nur wenig zu berühren vermöchte? Der Auftritt der drei Könige in Herodes und Mariamne beispielsweise bildet meiner Ansicht nach keineswegs den umrahmenden Abschluss, sondern ist selber ein Kunstgriff, um den verzweiflungsvollen Kindermordsbefehl zu motivieren und dadurch die zertrümmerte Seele von Herodes abermals zu akzentuieren.




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Tektonisch wird dieser blutige Befehl seinerseits vorbereitet durch die Erzählung des Gärtners, nach welcher Herodes alle männlichen zum Tode Verurteilten, die sich im selben Alter wie sein verlorener Sohn befinden, am Leben lässt, um nicht aus Unwissen den eigenen Sohn hinzurichten (Hebbel 1963: 562). Alle zu schonen, um nicht den einen zu treffen, oder alle zu töten, um nicht den einen freizulassen – beides diente in erster Linie der Gestaltung des argwöhnischen Herodes. Die Altertümer werden zur Folie, aufgrund derer sich die Seelendramatik am spannungsvollsten entfalten kann.

Trotz Krippners detaillierter Analyse der Hebbelschen Altertumsdramatik bleibt also noch einiges offen. Es wäre etwa noch weiter zu fragen, warum Hebbel immer den letzten Spross eines alten Geschlechts zu seinem Protagonisten wählt: Mariamne ist die letzte Makkabäerin, Kandaules der letzte Heraklide; Herodes, zwar Begründer der herodianischen Dynastie, steht jedoch schon am Anfang dem Abgrund nah, auch Holofernes wird explizit als "de[r] erst[e] und de[r] letzt[e] Mann der Erde" (Hebbel 1963: 73) bezeichnet; dann Die Nibelungen, wo das ganze Königshaus der Burgunden ausgerottet wird. Wie verhält sich dieses Theater des endzeitlichen Verfalls mit der von Hegel geprägten teleologischen Konstruktion der Geschichte?

Des Weiteren wäre es wünschenswert gewesen, auf die Aufführungspraxis der Hebbelschen Dramatik einzugehen. Hier sei auf Annemarie Stauss' Arbeit über den Kostümstil des Wiener Burgtheaters verwiesen, die unter anderen auch die Wiener Judith-Aufführung 1849 behandelt (Stauss 2011: 215ff.). Darüber hinaus vermisst man eine strenge Systematik der gesamten Untersuchung, weil sich die einzelnen Kapitel jeweils mit einer anderen Altertumskultur befassen. Zwar wird dadurch die Dynamik der pluralen Altertumskulturen demonstrativ vor Augen geführt, jedoch wirkt jedes Teil von den Übrigen isoliert. Nicht einmal wird explizit erläutert, wofür die im Titel gesetzte Periodisierung von 1790–1870 steht – erst im Nachherein wird klar, dass sich die beiden Jahreszahlen wohl auf Herders Sakuntala-Übersetzung 1792 und die Alexanderdramen von Georg Conrad und Hans Herrig um 1870 beziehen. Dass diese Werke, vor allem die Letzteren, keine eigentlichen literaturgeschichtlichen Zäsuren darstellen, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung.

Darüber hinaus lässt sich die Analyse über den Stellenwert der Altertümer in Hebbels poetologischen Schriften noch weiter verschärfen und vertiefen. In Mein Wort über das Drama schreibt Hebbel: "Die materielle Geschichte […] wird früher oder später das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, und das neuere Drama, besonders das Shakespearesche, […] könnte auf diesem Wege zur entfernteren Nachwelt ganz von selbst in dieselbe Stellung kommen, worin das antike zu uns steht." (Hebbel 1965: 547)




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Die Aktualität des antiken Dramas besteht angesichts der Distanz der Zeit also nicht in seinem materiellen Reichtum, sondern in seinem Symbolcharakter: Denn das Drama müsse "schon in jedem seiner Elemente symbolisch" und "als symbolisch betrachtet werden" (Hebbel 1965: 547). Es müsste also, um Hebbels Altertumsdramatik gerecht zu werden, auch nach dem symbolischen Gehalt der theatralisch veranschaulichten Konfrontation der alten Welt gefragt werden.

Letztlich aber hat Krippner doch recht, dass sie das Theater als "Spielraum" der pluralisierten Antike begreift. Gerade die mannigfaltigen Umgangsformen mit den alten Welten unterstreichen das (Schau-)Spielerische in der Vergegenwärtigung der Altertümer. Umsonst wird man bei Hebbel nach einem Drama der römischen Antike suchen. Wahrscheinlich liegt der Grund darin, dass Hebbel dank seines Reisestipendiums 1844/45 Italien bereist hatte. Die konkrete Erfahrung versperrt die spielerische Imagination der Antike. So wird Italien Schauplatz seiner sozialen Tragikomik der modernen Welt: Julia und Ein Trauerspiel in Sizilien.

Zusammenfassend darf man das breitangelegte Forschungsprojekt als gelungen bewerten. Sowohl literatur- als auch theatergeschichtlich wird die Ausdifferenzierung des geschlossenen Altertumsbegriffs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar. Die pluralisierten Altertumskulturen stellen neue Herausforderungen dar, die die zeitgenössischen theoretischen Diskurse, Bühnenpraxis und literarisches Schaffen tiefgreifend geprägt haben. Diesen konstruktiven Beitrag der Vervielfältigung der Altertümer hat Friederike Krippners Dissertation uns überzeugend dargelegt.


Bibliographie

Hebbel, Friedrich (1963): Ders.: Werke, Bd. 1, hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, München: Carl Hanser Verlag.

Hebbel, Friedrich (1965): "Mein Wort über das Drama" [1843], in: Ders.: Werke, Bd. 3, hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, München: Carl Hanser Verlag, 545–576.

Heinze, Anna / Krippner, Friederike (Hg.) (2014): Das Geschlecht der Antike. Zur Interdependenz von Antike- und Geschlechterkonstruktionen von 1700 bis zur Gegenwart, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.




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Reinhardt, Hartmut (1989): Apologie der Tragödie. Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels, Tübingen: Max Niemeyer Verlag.

Schlaffer, Heinz (1975): "Friedrich Hebbels tragischer Historismus", in: Ders. / Schlaffer, Hannelore (Hg.): Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Stauss, Annemarie (2011): Schauspiel und nationale Frage. Kostümstil und Aufführungspraxis im Burgtheater der Schreyvogel- und Laubezeit, Tübingen: Narr Verlag.


Anmerkungen

1 Die These, dass Hebbels unbedingter Wille zur Tragödie die innere Notwendigkeit des dramatischen Stoffs überwiege, dergestalt dass der dramatische Konflikt teilweise um des tragischen Endes willen herbeigerufen werde, wird insbesondere von Heinz Schlaffer (Schlaffer 1975) kritisch und Hartmut Reinhardt (Reinhardt 1989) apologetisch vertreten.